Ein Stück Unendlichkeit von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Kapitel 1 Es war doch erstaunlich, wie fürchterlich und doch auch wunderbar einige Dinge manchmal gleichzeitig sein konnten. Die letzten Sonnenstrahlen, die einem herrlichen Tag ein Ende setzten, um einer schummrigen Nacht Platz zu machen. Ein letzter Abschiedskuss, voller Liebe und Sehnsucht und doch auch Trauer und unaussprechlichem Unglück, das einem fast das Herz zerriss. Das Blut, das ihm langsam über die Handgelenke lief, und seinem Leben langsam aber sicher ein Ende setzen würde. Ein Schritt in die Unendlichkeit, den er nun endlich gehen wollte, weil er doch in diesem Leben kein Glück mehr finden würde. Hatte er sich doch schließlich diese eine Chance, die er vielleicht noch gehabt hätte, selbst verdorben… Es war ein kleines Zimmer, gerade groß genug für ein Bett und einen Schreibtisch, auf dem zahlreiche Unterlagen verstreut lagen. Aber dennoch war es gemütlich, heimlich, einladend. Ganz anders als sein Zimmer, in dem zwar immer wieder Entwürfe für eines seiner Dramen oder einer Novelle herum lagen, das aber dennoch meist unpersönlich wirkte. Hier fühlte er sich wohl, hier würde er gerne den ganzen Tag bleiben. Vor allem heute, da er unglaublich traurig war. „Sie ist tot.“ Drei Wörter, die er, obwohl sie doch so kurz waren, kaum aussprechen konnte. „Ich liebe dich“, hatte er sagen wollen, um diese furchtbare Sehnsucht loszuwerden, um endlich seinen Gefühlen freien Lauf lassen zu können. Aber diese Aussage wäre, obwohl sie doch so viel positiver erschien, noch unaussprechlicher gewesen. „Sie ist tot, Ernst.“ Obwohl sich sein Freund schon längst zu ihm umgedreht und seine Worte mit Sicherheit auch schon beim ersten Mal verstanden hatte, verspürte er den Drang sie noch einmal aussprechen zu müssen. „Sie ist-“, ein Schluchzen entwich ihm und obwohl er sich so fest vorgenommen hatte nicht zu weinen, konnte er die Tränen nun nicht mehr unterdrücken. Er wusste nicht einmal wieso er weinte, schließlich hatte er sie doch selbst umgebracht. Gerade wollte er sich vor Scham schon wieder umdrehen, um das Zimmer seines Freundes zu verlassen, da spürte er, wie sich eine Hand sanft auf seine Schulter legte. „Wer ist tot, Heinrich?“, fragte Ernst leise und fuhr ihm beruhigend über den Rücken. „Ich dachte, du hättest gestern einen Brief von Ulrike erhalten? Es muss ihr doch also-“ „Nicht Ulrike“, brachte er hervor. „P-Penthesilea.“ Es herrschte einen Augenblick lang Stille, in dem Ernst über diese Aussage nachzudenken schien, während Heinrich sich kaum traute aufzusehen. Es war natürlich lächerlich deswegen so emotional zu sein, das wusste er selbst. Es war schließlich nur eine Dramenfigur. Ein fiktionaler Charakter, den er auch noch selbst umgebracht hatte. Wieso nur war er dann jetzt so aufgebracht? „Dann bist du also fertig mit dem Drama.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Eine Feststellung, die Heinrich fast den Verstand raubte. „Aber ich dachte, es wäre so geplant gewesen? Sollte sie nicht von Anfang an am Ende sterben?“ „N-natürlich sollte sie das, aber…- Ich weiß auch nicht, Ernst, bin ich nun endgültig wahnsinnig?“. Er wischte sich über die Augen, versuchte endlich aufzuhören zu weinen, aber er konnte nicht. Er hatte sogar das Gefühl, dass er niemals mehr würde aufhören können. „Setzt dich doch erst einmal.“ Heinrich spürte, wie er langsam von seinem Freund auf dessen Bett geschoben wurde und wie sich Ernst gleich darauf neben ihn setzte. „S-sie musste sterben“, setzte er dann auf einmal an, fast so, als müsste er sich nun rechtfertigen. „Sie musste s-sterben, weil sie sich nicht vertraut haben. Aber eine Beziehung kann doch nur funktionieren, wenn man sich gegenseitig vertraut.“ „Damit hast du sicher nicht Unrecht, Heinrich.“ „A-aber w-wieso … w-wieso…“. Er wollte sich nicht eingestehen, was er Ernst fragen wollte, er wollte es verdrängen, in den hintersten Winkel seines Herzens, um endlich nicht mehr daran denken zu müssen. Doch als er spürte, wie der Freund ihm vorsichtig über den Rücken strich, um ihn zu beruhigen, wusste er, dass er das niemals tun könnte. Dass er diese schrecklichen Gedanken bei jeder Berührung und jedem Lächeln haben würde. Und plötzlich wurde ihm auch klar, wieso er so sehr weinen musste. „P-Penthesileas Beziehung zu Achill ist nicht die einzige, die scheitern musste, weil sich beide Partner nicht genug v-vertraut haben.“ Hatte er das eben tatsächlich laut gesagt? Ängstlich blickte er zu Ernst auf, der aufgehört hatte ihn zu streicheln. „Was meinst du denn damit, Heinrich? Bist du etwa auch…-“ „… unglücklich verliebt? Ich g-glaube schon.“ „Aber dagegen muss man doch etwas tun können!“, rief sein Freund und es brach Heinrich fast das Herz, wie optimistisch er dabei klang. Er würde wohl nie verstehen können, wie Ernst immer so zuversichtlich sein konnte. Wie er immer wieder die Kraft fand von vorne anzufangen, wenn ihm etwas nicht gelungen war. „Wer ist die Glückliche, an die du dein Herz verloren hast?“. Wenn ihm vorher zum Weinen zu Mute gewesen war, dann erst recht jetzt, als er in die blitzenden Augen seines Freundes blickte. Er wusste es nicht. Er wusste es tatsächlich nicht. „Das k-kann ich dir nicht sagen. Das will ich dir nicht sagen.“ „Aber wieso das denn?“. Ernst war vor Aufregung aufgesprungen und kniete sich nun vor seinen Freund auf den Boden, sodass er mit ihm auf Augenhöhe war. Heinrich wollte seinen Blick abwenden, wollte endlich aufhören zu weinen, wollte dieses furchtbare Gefühl loswerden. Er wollte wieder atmen, wieder lachen, wieder glücklich sein. Doch er wusste, dass er das nicht konnte. Nicht allein. Und die einzige Person, die ihm helfen konnte, kniete vor ihm, war so nah bei ihm und doch so unglaublich weit weg. „Weil, w-weil…-“. Heinrich rang nach Atmen, versuchte sich zu beruhigen, versuchte sich zusammenzureißen, allerdings war ihm klar, dass es bereits zu spät war. Er hätte nie zu Ernst gehen sollen, zumindest nicht in diesem Zustand, in dem er vor Verzweiflung unberechenbar geworden war. Denn ohne noch einmal darüber nachzudenken, was er eigentlich tat, stürzte er sich nun nach vorne in die Arme seine Freundes und küsste ihn, wie er noch nie einen Menschen zuvor geküsst hatte. „Heinrich, um Gottes Willen!“ Er wollte nicht aufsehen. Wollte seinem Freund nicht in die Augen blicken, da er wusste, dass er nur Entsetzen und Wut in ihnen lesen würde. „Heinrich, was…- jetzt sieh mich wenigstens an!“ Er spürte, wie ihn Ernst an den Handgelenken auf die Beine zog, wie sich zwei starke Hände auf seine Schultern legten und ihn leicht schüttelten. „Du bist verwirrt, Heinrich, du weißt nicht, was du tust, nicht wahr?“ Doch als Heinrich seinen Blick endlich anhob, wusste er, dass er nicht mehr lügen konnte. Er liebte ihn. Er liebte seinen Freund Ernst, wie er wahrscheinlich noch nie jemanden geliebt hatte und es war zwecklos diese Tatsache nun weiterhin zu leugnen. „Sie ist tot. Sie ist tot, Ernst.“ Ein einfaches „Ich liebe dich“, hatte er nicht über seine Lippen gebracht. Er war zu aufgebracht gewesen, zu verwirrt, zu verletzt. Wie er es in diesem Zustand überhaupt noch fertig gebracht hatte das Zimmer zu verlassen, seine Sachen zu packen und sich auf den Weg nach Berlin zu machen, wusste er nicht mehr. Er konnte sich nur noch daran erinnern, wie er den Kutscher bezahlt und sich gleich nach seiner Ankunft auf den Weg zum kleinen Wannsee gemacht hatte. Und hier saß er nun schon stundenlang und dachte darüber nach, wie er die einzige Chance jemals wieder glücklich zu werden, vernichtet hatte. Wenn er sich nur in diesem Moment zusammen gerissen hätte, dann wäre er jetzt immer noch in Dresden und würde mit Ernst und Rühle wahrscheinlich in einem Gasthaus sitzen und über sein fertiggestelltes Drama sprechen. Er hätte Ernst zwar nicht als Geliebten gewonnen, aber ihn immerhin nicht als Freund verloren. Nun war er aber völlig allein, hatte alles verloren, was ihm jemals wichtig gewesen war, und wusste nicht mehr, was er tun sollte. Wieso nur war er immer zur falschen Zeit am falschen Ort? Das Glück schien wie sein eigener Schatten zu sein, immer dicht hinter ihm, doch immer so weit entfernt, dass er es nicht greifen konnte. Es war ein furchtbares Leben hier auf Erden, ein Leben, für das er nicht gemacht war. Wenn er nur an die Waffe gedachte hätte, als er seine Wohnung so plötzlich verlassen hatte. Dann würde er jetzt nicht auch noch auf den Tod warten müssen. Doch eigentlich spürte er die Schmerzen, die er sich selbst zugefügt hatte, schon gar nicht mehr. Er wusste schließlich, dass er es bald geschafft hatte. Es war nur noch ein kleiner, ein letzter Schritt. Kapitel 2: ----------- Kapitel 2 „Ah, Alexandre, le paysage est merveilleux! Wirklich, so habe ich mir deine Heimat gar nicht vorgestellt”. Fasziniert sah sich Aimé Bonpland um, als er zusammen mit seinem Freund Alexander von Humboldt durch das kleine Wäldchen in der Nähe des Wannsees ritt. Die beiden hatten sich vor einigen Jahren in Frankreich kennen gelernt und da sie sich nicht nur für die Natur, sondern allgemein für geographische Phänomene interessierten, hatten sie beschlossen gemeinsam nach Südamerika zu reisen, in der Hoffnung dort auf exotische Pflanzen und Tiere zu stoßen. Während den fünf Jahren, in welchen sie gemeinsam durch die verschiedensten Länder gereist waren, hatten sich alle ihre Wünsche erfüllt. Denn neben einheimischen Völkern, deren Traditionen und Bräuche sie kennen lernen durften, hatten sie unter anderem auch die Möglichkeit gehabt den Orinoco zu überqueren und den Chimborazo zu besteigen. Ein Jahr lang hatten sie dann gemeinsam in Paris ihre Studien ausgewertet und zahlreiche Aufsätze und wissenschaftliche Arbeiten geschrieben. Doch obwohl ihr Lebenswerk noch nicht beendet war und es immer noch viele Schriften für die Öffentlichkeit zu verfassen gab, hatte Alexander doch den Wunsch verspürt seine Familie wiederzusehen und war deswegen nach Berlin zurückgekehrt. Zwei Jahre waren seitdem vergangen und obwohl er in dieser Zeit immer in regem Briefkontakt mit seinem Reisebegleiter Bonpland gestanden hatte, wollten sich die beiden Freunde doch auch einmal wieder persönlich treffen und da Aimé bis auf einen kurzen Aufenthalt in seiner Kindheit Deutschland noch nie richtig kennen gelernt hatte, bot ihm Alexander an ihn in Berlin zu besuchen. Während sie die ersten Tage auf dem Familiengut der von Humboldts verbracht hatten, damit Bonpland auch endlich mit Alexanders Bruder Wilhelm und dessen Frau Caroline Bekanntschaft schließen konnte, so hatten sie es sich im Laufe der Woche zur Aufgabe gemacht auch die anderen Stadteile von Berlin näher kennen zu lernen. Der Ausflug an den kleinen Wannsee, einem der schönsten und idyllischsten Orte Berlins, sollte nun einen gelungenen Abschluss für Bonplands Reise bilden, bevor er am nächsten Tag wieder nach Frankreich zurückkehren würde. „Du hast recht, dieser Ort ist fürwahr einer der schönsten hier in Berlin“, antworte Alexander nun während er gemächlich neben Bonpland her ritt. „Allein schon der Ausblick auf den kleinen See ist super jolie. Was meinst du, sollen wir unseren Pferden ein wenig Ruhe gönnen und uns ein bisschen ans Ufer setzten?“ „Ja, wieso nicht“, meinte der Ältere, woraufhin die beiden Naturforscher von ihren Pferden stiegen und ein wenig am Ufer des Wannsees spazieren gingen. Sie wollten sich schon beinahe wieder auf den Weg nach Hause machen, als Alexander ein junger Mann ins Auge fiel, der scheinbar ganz allein etwas abseits am Rand des Sees saß. Eigentlich gehörte Alexander nicht zu den Menschen, die sich gerne in die Angelegenheiten anderer einmischten, doch der leblos wirkende Zustand des Fremden beunruhige ihn. „Bonpland? Siehst du den jungen Mann da vorne? Findest du nicht auch, dass es so aussieht, als wäre irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung?“ Alexander wusste nicht wieso, doch je länger er den Fremden betrachtete, desto seltsamer kam ihm die ganze Situation vor. Ohne auf eine Antwort seines Freundes zu warten, ging er deswegen langsam aber sicher auf den Unbekannten zu. „Entschuldigen Sie?“, rief er aus, nachdem sich der junge Mann immer noch nicht gerührt hatte, auch als Alexander schon um einiges näher gekommen war. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Doch wie Alexander schon bald darauf herausfinden musste, war nichts in Ordnung. Während er zuerst noch gedacht hatte der Fremde wäre vielleicht einfach eingeschlafen und würde die beiden Freunde deshalb nicht wahrnehmen, so musste er doch, als er letztendlich bei dem jungen Mann angekommen war, feststellen, dass es nicht der Schlaf war, der ihm das Bewusstsein geraubt hatte. Es dauerte einen Moment lang, bis Alexander gänzlich begriffen hatte, was er vor sich sah – der blutverschmierte Dolch, der nur unweit neben dem Fremden im Gras lag, das Blut, das dem jungen Mann über die Handgelenke lief, der reglose Zustand… „Bonpland! Bonpland, komm schnell!“ Alexander wusste später selbst nicht mehr, wie es ihm gelungen war so schnell zu handeln, er war nur dankbar, dass er es getan hatte. Denn hätte er in diesem Moment auch nur ein wenig mehr Zeit verschwendet, so wäre dem Schwerverletzten wahrscheinlich nicht mehr zu helfen gewesen. Bonpland war noch gar nicht bei ihm angekommen, da hatte er schon geistesgegenwärtig begonnen dem Fremden mit Hilfe eines Taschentuchs und einem Stück Stoff, das er von seinem Hemd abgerissen hatte, einen Druckverband anzulegen. „Alexander! Mon Dieu, was ist denn hier los?“ „Er ist schwer verletzt, Bonpland, wir müssen sofort Hilfe holen!“, antwortete Alexander hastig. „Kannst du dich noch an den kleinen Gasthof erinnern, an dem wir vorhin vorbei geritten sind? Stimmings Krug? Dort wird man bestimmt wissen, wo der nächste Arzt zu finden ist. Am Besten du reitest dorthin und ich passe währenddessen auf den Verletzten auf.“ Obwohl Alexander wusste, dass Bonpland sich mit Sicherheit so sehr beeilte, wie er nur konnte, kam ihm das Warten auf die Rückkehr seines Freundes wie eine halbe Ewigkeit vor. Ihm war das untätige Herumsitzen so zuwider, dass er schon den Entschluss gefasst hatte aufzustehen und den jungen Mann für einen Moment lang allein zu lassen, um die Wasserflasche zu holen, die er für den Ausflug mit Bonpland mitgenommen hatte, als der Unbekannte die Augen aufschlug und sich sichtlich verwirrt umsah. Einen Augenblick lang war Alexander so perplex, dass er, anstatt mit dem Fremden zu sprechen, einfach nur dessen blaue Augen anstarrte, die, auch wenn sie momentan etwas glasig wirkten, einen faszinierenden Kontrast zu seinem schwarzen Haar und der bleichen Haut bildeten. Erst als er bemerkte, dass ihn der Verletzte hilflos, ja fast schon beängstigt anblickte, fasste er sich wieder. „Sie müssen keine Angst haben“, fing er deswegen leise an, „ich habe Sie hier gefunden und mein Freund ist schon dabei Hilfe zu holen. Ihnen wird nichts passieren.“ Doch auch wenn diese Worte beruhigend gemeint waren, schienen sie den anderen nur umso mehr aufzuwühlen. Ohne etwas zu sagen, denn der Verletzte befand sich wohl in einem Zustand des Schocks, der es ihm unmöglich machte sich auch nur auf irgendeine Art und Weise auszudrücken, starrte er Alexander nur weiterhin an. „Machen Sie sich keine Sorgen“, flüsterte der Blonde daraufhin. „Können Sie mir vielleicht sagen, wie Sie heißen?“ Doch auch auf diese Frage bekam Alexander keine Antwort. Stattdessen warf der Fremde einen Blick auf seine Manteltasche und nickte zögerlich, fast so, als wollte er Alexander damit andeuten, dass er dort Papiere oder ähnliches finden würde. Vorsichtig streckte der Naturforscher deswegen seine Hand aus und als sich der andere nicht wehrte, zog er aus dessen Tasche tatsächliche zwei Schriftstücke hervor. Eines der Dokumente war ein Brief, der weder durch einen Umschlag, noch durch ein Siegel verschlossen war, das andere war ein kleines, gebundenes Heftchen, auf dessen Vorderseite Penthesilea. Ein Trauerspiel von Heinrich von Kleist. zu lesen war. „Heinrich von Kleist? Sind Sie das?“, fragte Alexander, doch als er wieder zu dem Verletzen aufblickte, waren seine Augen geschlossen und er schien erneut das Bewusstsein verloren zu haben. Nicht aus Neugier, sondern weil Alexander wusste, dass auch der Arzt nach dem Namen des Verletzten und der Ursache für seine Wunden fragen würde, entfaltete er den Brief und begann zu lesen: Meine liebste, teuerste Ulrike, es ist nicht lange her seit ich dir zuletzt geschrieben habe, vielleicht wunderst du dich gerade deswegen auch darüber, dass du schon wieder Post von mir bekommst. Doch ich kann und will mich nicht von dieser Welt verabschieden, ohne mich noch ein letztes Mal an dich gewendet zu haben. Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe und immer lieben werde. Ich wünschte fast du könntest jetzt bei mir sein, könntest mich begleiten an diesen Ort ohne Wiederkehr, doch ich weiß, dass das unmöglich ist. Denn du musst dich kümmern, um die Menschen, die ich nun zurücklasse, so wie du dich schon immer um mich gekümmert hast. Du sollst wissen, liebste Ulrike, dass niemand, du am aller Wenigsten, Schuld hat an der Entscheidung, die ich getroffen habe. Doch so sehr ich auch wünschte, dass es eine andere Lösung geben würde, irgendeinen Ausweg aus meiner hoffnungslosen Situation, so weiß ich doch, dass mir keine Möglichkeit bleibt, als mein Glück in einer anderen Welt zu finden. Ich habe hier auf Erden so gut es nur ging danach gesucht, das musst du mir glauben, doch egal wie sehr ich mich auch immer bemüht habe, es wollte mir nicht gelingen. Vielleicht bin ich auch einfach nicht für ein irdisches Leben gemacht – ich kann nur hoffen, dass es mir, wohin auch immer es meine Seele verschlagen mag, wenn sie endlich frei ist von meinem unglücksbringenden Körper, besser gehen wird. Zürne mir nicht, Ulrike, weil ich dich so plötzlich allein lasse, doch ich weiß mir nicht mehr anders zu helfen. Ich kann nur hoffen, dass wir uns eines Tages wieder sehen werden, in einem anderen, besseren Leben, in dem auch ich froh sein werde. Bis dahin wünsche ich dir das größte Glück auf Erden und hoffe, dass all deine Wünsche in Erfüllung gehen werden. In Liebe, Dein Heinrich Es dauert einen Augenblick lang, bis Alexander begriffen hatte, dass es nicht irgendein Brief gewesen war, den er da gerade gelesen hatte. Es war ein Abschiedsbrief, geschrieben von einem Menschen, der Selbstmord begehen wollte. Er hätte nicht erklären können, wieso in diese Tatsache so hart traf – der Dolch und die vielen Schnittwunden an den Armen und Handgelenken des jungen Mannes hatten schließlich schon von Anfang an darauf hingewiesen, dass er nicht überfallen worden war, sondern sich selbst diese Verletzungen zugefügt hatte. Doch zu wissen, dass das Licht dieser wundervollen blauen Augen nicht wegen einer Gewalttat, sondern aus freien Stücken für immer ausgehen sollte, jagte dem Blonden einen eiskalten Schauer über den Rücken. Es ängstigte ihn so sehr, dass er den Brief, als er hörte, wie Bonpland endlich wieder mit einem Arzt zurückkam, in seine eigene Manteltasche schob, um ihn vor den anderen zu verstecken. Er wusste selbst nicht, wieso er in diesem Moment so reagierte, ob es Angst war, Resignation, oder ein ganz anderes Gefühl, das er einfach nicht zuordnen konnte. Er wusste nur, dass er ganz tief in seinem Inneren bereits in diesem Augenblick den Entschluss gefasst hatte, dass er die Entscheidung des jungen Mannes nicht hinnehmen wollte. Er wollte nicht akzeptieren, dass der Fremde nur mit Trauer und Melancholie durchs Leben ging – er wollte sehen, wie die blauen Augen aussahen, wenn sie vor Freude strahlten. Kapitel 3: ----------- Kapitel 3 Es war so dunkel als Heinrich die Augen aufschlug, dass er einen schrecklichen Moment lang tatsächlich glaubte er wäre gestorben und seine Seele wäre nicht, wie er gehofft hatte, in den Himmel aufgefahren, sondern an einem grausamen, leeren und vollkommen hoffnungslosen Ort gelandet. Als sich seine Augen aber langsam an die Dunkelheit gewöhnten und er schemenhaft ausmachen konnte, dass er sich in dem geräumigen Zimmer befand, in dem nicht nur ein Bett, sondern auch ein Schrank, ein Nachtischkästchen und ein Schreibtisch stand, kehrten auch seine Erinnerungen an die vergangenen Tage zurück. Schmerzhaft musste er daran denken, wie er sich mit seinem Freund Ernst gestritten hatte. Wie er ihre Freundschaft einfach so weggeworfen hatte, weil er seine lächerlich sentimentalen Gefühle ihm gegenüber nicht unterdrücken konnte. Wie er ihn geküsst hatte und augenblicklich darauf erfahren musste, dass Ernst ihn nicht liebte und ihn auch niemals, zumindest nicht auf eine romantische Art und Weise, lieben würde. Heinrich erinnerte sich auch daran, wie er Dresden daraufhin geradezu fluchtartig verlassen hatte und nach Berlin gefahren war. Wie er eine Zeit lang am kleinen Wannsee spazieren gegangen war und das Wasser beobachtet hatte, das in der bereits untergehenden Nachmittagssonne so schön geglitzert und geglänzt hatte. Fast so schön wie die Schneide des Dolches, mit dem er daraufhin… Der junge Dichter hatte den Gedanken noch nicht vollendet, da schnellte er schon ruckartig beide Arme in die Höhe und musste feststellen, dass sie mit dicken Verbänden verbunden waren, die die vielen Schnittwunden, die er sich zugefügt hatte, verdeckten. Er brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen, um vollkommen nachvollziehen zu können, welche Bedeutung diese Verbände tatsächlich hatten, doch dann schien er zum ersten Mal seitdem er aufgewacht war gänzlich zu realisieren, dass er immer noch am Leben war, dass ihn jemand gerettet haben musste. Und ganz plötzlich, fast so als käme diese Realisierung einem gewaltigen Schlag auf den Kopf gleich, der ihn aus seinem Zustand der Verwirrung befreite, fühlte Heinrich, wie er panisch wurde. Er lag in einem ihm völlig fremden Zimmer, in einem unbekannten Haus, an einem Ort, von dem er nicht wusste, wo er sich befand. Er spürte wie sein Herz immer schneller schlug, wie er kaum noch Luft bekam, wie ihn der Gedanke, dass ihn womöglich ein Staatsdiener gefunden hatte, der seinen Selbstmordversuch durchschaut und die Tat dem König gemeldet hatte, fast um den Verstand brachte. Doch dann, so blitzartig, wie diese Angst in ihm aufgestiegen war, war sie auch schon wieder verschwunden, als eine ganz andere Erinnerung zu ihm zurückkam. „Sie müssen keine Angst haben. Ich habe Sie hier gefunden und mein Freund ist schon dabei Hilfe zu holen. Ihnen wird nichts passieren.“ Er erinnerte sich auf einmal wieder so lebhaft an den Mann, der diese Worte zu ihm gesagt hatte, dass er kaum glauben konnte, dass er bis jetzt nicht an ihn gedacht hatte. Dabei wusste er noch ganz genau wie der Fremde aussah, auch wenn er ihn nur kurz gesehen hatte, bevor er das Bewusstsein verloren hatte. Er hatte braunes, lockiges Haar gehabt und blaue Augen. Sie waren dunkler als seine eigenen gewesen, auch das wusste er noch, dafür hatten sie aber viel Wärme und Verständnis ausgestrahlt. Es waren unglaublich positive Eigenschaften, die Heinrich mit dem Fremden in Verbindung brachte, und doch spürte er, als er den ersten Schock überwunden hatte, wie er außerordentlich wütend wurde. Nicht unbedingt auf seinen Retter, vielmehr auf sich selbst. Denn er war zum Wannsee gefahren, um zu sterben, doch nicht einmal das war ihm gelungen. Er schaffte es nicht der Welt auf auch nur irgendeine Art und Weise nützlich zu sein und dennoch war es ihm ebenso wenig möglich gewesen diese zu verlassen. Es war eine so furchtbare und niederschmetternde Erfahrung, dass sie Heinrich die Tränen in die Augen trieb. Er konnte und wollte einfach nicht verstehen, wieso ihm nichts gelang, wieso er immer der Nichtsnutz sein musste, der nie erfolgreich war. Doch noch ehe er einen weiteren Gedanken an sein stetiges und enttäuschendes Versagen verschwenden konnte, wurde die Tür zu seinem Raum vorsichtig geöffnet und eine Person, die Heinrich auf Grund der Dunkelheit zunächst nicht weiter identifizieren konnte, trat ein. Erst als diese eine Öllampe entzündete, die den Raum ein wenig erhellte, konnte er erkennen, dass es sich um den Mann handelte, der ihn am Wannsee gefunden hatte. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so spät noch störe“, fing dieser an, nachdem er sich auf einen Stuhl, der dicht neben Heinrichs Bett stand, gesetzt hatte. „Aber ich war auf dem Weg in mein Zimmer und habe ein Schluchzen gehört, weshalb ich annahm, dass Sie endlich aufgewacht sind“. Ein erleichtertes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, fast so, als würde er sich über diese Tatsache freuen. Heinrich hingegen war es vielmehr peinlich, dass dem Fremden sein Weinen aufgefallen war. Ohne etwas zu erwidern, hob er deswegen hastig seine Hand und versuchte sich die Tränen von den Wangen zu wischen, was ihm wegen seinem Verband nicht so recht gelingen wollte. „Hier“, meinte der Ältere daraufhin und hielt seinem Gegenüber ein weißes Stofftaschentuch entgegen, „damit funktioniert es bestimmt besser.“ Wieder sah er Heinrich mit diesem verständnisvollen Lächeln an, das dem Jüngeren zumindest einen Teil seiner Scham nahm. „Ich kann gut verstehen, dass das alles ein sehr großer Schock für Sie sein muss. Deswegen bin ich so spät auch nochmal zu Ihnen gekommen, weil ich Sie wissen lassen wollte, dass Sie nichts zu befürchten haben. Ich weiß nicht, ob Sie sich daran noch erinnern können, aber ich habe Sie heute Nachmittag am Wannsee gefunden und zusammen mit der Unterstützung meines Bekannten, der einen Arzt zu Hilfe geholt hatte, konnten wir Sie retten. Ich bin Alexander von Humboldt und Sie befinden sich momentan auf dem Familiengut meines Bruders Wilhelm.“ Der Ältere machte eine kurze Pause, weil er wohl irgendeine Antwort von Heinrich zu erwarten schien. Da dieser aber weiterhin schwieg und den anderen nur aus großen Augen ansah, beschloss Alexander doch weiterzusprechen. „Wir… wir wollten Sie eigentlich in einem Gasthof unterbringen, da wir uns bereits gedacht haben, dass Sie ein vollkommen fremder Ort, wie es das Anwesen meines Bruders ist, wahrscheinlich noch mehr ängstigen würde, aber wir mussten, nachdem ihre Wundern aufs erste versorgt waren, schnell handeln und nachdem Sie kein Geld bei sich hatten, haben wir doch beschlossen Sie hier her zu bringen. Sie fallen hier aber niemandem zur Last, das Gebäude ist groß genug, darüber müssen Sie sich keine Gedanken machen.“ Heinrich, der sich zwar immer noch nicht dazu im Stande fühlte etwas zu sagen, aber wusste, dass er irgendwie auf die Erzählung des anderen reagieren musste, nickte nur vorsichtig. Es war eine einfache und vollkommen undankbare Geste, dessen war er sich bewusst. Er hätte dem Fremden eigentlich auf Knien danken müssen, dass er ihn einfach so an diesem Ort gebracht hatte und sich nun vollkommen selbstlos um ihn kümmerte, doch irgendetwas schnürte ihm die Kehle so fest zu, dass ihm kein Laut über die Lippen kam. Alexander allerdings schien allein schon froh darüber zu sein, dass der Schwarzhaarige ihm auch nur irgendwie gezeigt hatte, dass er seinen Erläuterungen folgte. „Ich habe das hier in ihrer Manteltasche gefunden“, erklärte er deswegen und hielt Heinrich sein Drama Penthesilea entgegen, „als ich nach Papieren gesucht habe, die mir Ihren Namen verraten würden. Ich gehe davon aus, dass Sie Heinrich von Kleist sind?“ Wieder nickte Heinrich nur schüchtern, ohne jedoch ein Wort der Zustimmung auszudrücken. „Nun, Herr von Kleist, dann muss ich Ihnen allerdings auch gestehen, dass ich diesen Brief von Ihnen gefunden und gelesen habe“, meinte Alexander und zog den Abschiedsbrief an Ulrike aus der Tasche seines Gehrocks hervor. „Es war keine böse Absicht, aber ich wusste, dass der Arzt Fragen stellen würde und wollte deswegen sicher gehen, dass sie auch tatsächlich Heinrich von Kleist sind.“ Damit legte er den Brief langsam auf dem kleinen Nachtischkästchen ab und sah Heinrich eindringlich an. „Ich… ich habe dem Doktor allerdings nichts über die Begleitumstände Ihrer Tat erzählt, da ich sie für zu privat hielt. Wenn Sie allerdings darüber sprechen möchten oder mit einem Ihrer Bekannten in Kontakt treten wollen, dann lassen Sie es mich wissen.“ Zumindest jetzt hatte Alexander eine Antwort erwartet, doch sein Gegenüber sah ihn weiterhin nur unsicher an und erwiderte nichts. „Nun es… es ist bereits spät, ich lasse Sie dann wieder in Ruhe“, sagte der Ältere und bemühte sich so gut es nur ging seine Irritation über Heinrichs Verhalten zu verstecken. „Wenn Sie irgendetwas brauchen, dann scheuen Sie sich nicht danach zu fragen.“ Damit war Alexander aufgestanden, um den Raum zu verlassen. Er hatte die Tür schon fast erreicht, als Heinrich ihn doch noch einmal mit brüchiger Stimme ansprach. „W-wieso haben Sie m-mich gerettet?“, stotterte er und fühlte augenblicklich, wie sich seine Wangen aus Scham für seinen Sprachfehler röteten. Es war wohl die letzte Frage, die Alexander in dieser Situation erwartet hatte und sie brachte ihn für einen Moment so sehr aus dem Konzept, dass er gar nicht wusste, was er erwidern sollte. „Wie bitte?“, fragte er deswegen und sah den Schwarzhaarigen verwirrt an. „I-ich meine, wieso h-haben Sie mich nicht einfach s-sterben lassen? Wieso haben Sie m-mir geholfen?“, wiederholte der Jüngere seine Frage so gut es nur ging. „Weil ich glaube“, und damit trat Alexander wieder etwas näher an das Bett des anderen heran, um ihn auch ansehen zu können, während er sprach, „dass jedes Menschenleben etwas ganz besonderes und wertvolles ist, das man nicht einfach so wegwerfen sollte. Ich weiß, dass sich das in Ihren Ohren bestimmt anmaßend anhört, weil ich gar nicht wissen kann, was Sie zu dem Entschluss, sich das Leben nehmen zu wollen, geführt hat, doch Sie schrieben in Ihrem Brief, dass sie keine andere Möglichkeit mehr sahen Ihrem Unglück entfliehen zu können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das stimmt. Ich glaube nämlich, dass es immer einen Weg gibt, der weiterführt, wenn man nur bereit ist ihn auch zu gehen. Oft ist es kein leichter Weg und manchmal scheint er für einen selbst unauffindbar zu sein. Doch das bedeutet nicht, dass er nicht vielleicht für eine andere Person sichtbar ist, die einem stattdessen weiterhelfen kann. Manchmal fällt man eben, aber das kann man nicht ändern und das ist auch gar nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass man wieder aufsteht.“ „Und w-wenn man nicht mehr aufstehen k-kann? W-weil man sich bei dem Sturz s-so verletzt hat, dass man g-glaubt nie mehr gesund w-werden zu können?“ „Dann sollen Sie wissen“, und damit legte sich ein Lächeln auf Alexanders Lippen, „dass es immer jemanden gibt, der bereit ist einem wieder aufzuhelfen. Man muss nur selbst auch bereit sein diese Hilfe anzunehmen. Schlafen Sie gut, Herr von Kleist.“ Damit drehte sich Alexander um und schloss, nachdem er das Zimmer verlassen hatte, leise hinter sich die Tür. Und obwohl es nur ein kurzes, ein äußerst seltsames erstes Gespräch war, das der mit dem jungen Dichter geführt hatte, so konnte er doch nicht umhin zu glauben, dass es ein vielleicht schon ein erster Schritt in eine hoffnungsvollere Zukunft gewesen war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)