Ein Stück Unendlichkeit von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 2: ----------- Kapitel 2 „Ah, Alexandre, le paysage est merveilleux! Wirklich, so habe ich mir deine Heimat gar nicht vorgestellt”. Fasziniert sah sich Aimé Bonpland um, als er zusammen mit seinem Freund Alexander von Humboldt durch das kleine Wäldchen in der Nähe des Wannsees ritt. Die beiden hatten sich vor einigen Jahren in Frankreich kennen gelernt und da sie sich nicht nur für die Natur, sondern allgemein für geographische Phänomene interessierten, hatten sie beschlossen gemeinsam nach Südamerika zu reisen, in der Hoffnung dort auf exotische Pflanzen und Tiere zu stoßen. Während den fünf Jahren, in welchen sie gemeinsam durch die verschiedensten Länder gereist waren, hatten sich alle ihre Wünsche erfüllt. Denn neben einheimischen Völkern, deren Traditionen und Bräuche sie kennen lernen durften, hatten sie unter anderem auch die Möglichkeit gehabt den Orinoco zu überqueren und den Chimborazo zu besteigen. Ein Jahr lang hatten sie dann gemeinsam in Paris ihre Studien ausgewertet und zahlreiche Aufsätze und wissenschaftliche Arbeiten geschrieben. Doch obwohl ihr Lebenswerk noch nicht beendet war und es immer noch viele Schriften für die Öffentlichkeit zu verfassen gab, hatte Alexander doch den Wunsch verspürt seine Familie wiederzusehen und war deswegen nach Berlin zurückgekehrt. Zwei Jahre waren seitdem vergangen und obwohl er in dieser Zeit immer in regem Briefkontakt mit seinem Reisebegleiter Bonpland gestanden hatte, wollten sich die beiden Freunde doch auch einmal wieder persönlich treffen und da Aimé bis auf einen kurzen Aufenthalt in seiner Kindheit Deutschland noch nie richtig kennen gelernt hatte, bot ihm Alexander an ihn in Berlin zu besuchen. Während sie die ersten Tage auf dem Familiengut der von Humboldts verbracht hatten, damit Bonpland auch endlich mit Alexanders Bruder Wilhelm und dessen Frau Caroline Bekanntschaft schließen konnte, so hatten sie es sich im Laufe der Woche zur Aufgabe gemacht auch die anderen Stadteile von Berlin näher kennen zu lernen. Der Ausflug an den kleinen Wannsee, einem der schönsten und idyllischsten Orte Berlins, sollte nun einen gelungenen Abschluss für Bonplands Reise bilden, bevor er am nächsten Tag wieder nach Frankreich zurückkehren würde. „Du hast recht, dieser Ort ist fürwahr einer der schönsten hier in Berlin“, antworte Alexander nun während er gemächlich neben Bonpland her ritt. „Allein schon der Ausblick auf den kleinen See ist super jolie. Was meinst du, sollen wir unseren Pferden ein wenig Ruhe gönnen und uns ein bisschen ans Ufer setzten?“ „Ja, wieso nicht“, meinte der Ältere, woraufhin die beiden Naturforscher von ihren Pferden stiegen und ein wenig am Ufer des Wannsees spazieren gingen. Sie wollten sich schon beinahe wieder auf den Weg nach Hause machen, als Alexander ein junger Mann ins Auge fiel, der scheinbar ganz allein etwas abseits am Rand des Sees saß. Eigentlich gehörte Alexander nicht zu den Menschen, die sich gerne in die Angelegenheiten anderer einmischten, doch der leblos wirkende Zustand des Fremden beunruhige ihn. „Bonpland? Siehst du den jungen Mann da vorne? Findest du nicht auch, dass es so aussieht, als wäre irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung?“ Alexander wusste nicht wieso, doch je länger er den Fremden betrachtete, desto seltsamer kam ihm die ganze Situation vor. Ohne auf eine Antwort seines Freundes zu warten, ging er deswegen langsam aber sicher auf den Unbekannten zu. „Entschuldigen Sie?“, rief er aus, nachdem sich der junge Mann immer noch nicht gerührt hatte, auch als Alexander schon um einiges näher gekommen war. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Doch wie Alexander schon bald darauf herausfinden musste, war nichts in Ordnung. Während er zuerst noch gedacht hatte der Fremde wäre vielleicht einfach eingeschlafen und würde die beiden Freunde deshalb nicht wahrnehmen, so musste er doch, als er letztendlich bei dem jungen Mann angekommen war, feststellen, dass es nicht der Schlaf war, der ihm das Bewusstsein geraubt hatte. Es dauerte einen Moment lang, bis Alexander gänzlich begriffen hatte, was er vor sich sah – der blutverschmierte Dolch, der nur unweit neben dem Fremden im Gras lag, das Blut, das dem jungen Mann über die Handgelenke lief, der reglose Zustand… „Bonpland! Bonpland, komm schnell!“ Alexander wusste später selbst nicht mehr, wie es ihm gelungen war so schnell zu handeln, er war nur dankbar, dass er es getan hatte. Denn hätte er in diesem Moment auch nur ein wenig mehr Zeit verschwendet, so wäre dem Schwerverletzten wahrscheinlich nicht mehr zu helfen gewesen. Bonpland war noch gar nicht bei ihm angekommen, da hatte er schon geistesgegenwärtig begonnen dem Fremden mit Hilfe eines Taschentuchs und einem Stück Stoff, das er von seinem Hemd abgerissen hatte, einen Druckverband anzulegen. „Alexander! Mon Dieu, was ist denn hier los?“ „Er ist schwer verletzt, Bonpland, wir müssen sofort Hilfe holen!“, antwortete Alexander hastig. „Kannst du dich noch an den kleinen Gasthof erinnern, an dem wir vorhin vorbei geritten sind? Stimmings Krug? Dort wird man bestimmt wissen, wo der nächste Arzt zu finden ist. Am Besten du reitest dorthin und ich passe währenddessen auf den Verletzten auf.“ Obwohl Alexander wusste, dass Bonpland sich mit Sicherheit so sehr beeilte, wie er nur konnte, kam ihm das Warten auf die Rückkehr seines Freundes wie eine halbe Ewigkeit vor. Ihm war das untätige Herumsitzen so zuwider, dass er schon den Entschluss gefasst hatte aufzustehen und den jungen Mann für einen Moment lang allein zu lassen, um die Wasserflasche zu holen, die er für den Ausflug mit Bonpland mitgenommen hatte, als der Unbekannte die Augen aufschlug und sich sichtlich verwirrt umsah. Einen Augenblick lang war Alexander so perplex, dass er, anstatt mit dem Fremden zu sprechen, einfach nur dessen blaue Augen anstarrte, die, auch wenn sie momentan etwas glasig wirkten, einen faszinierenden Kontrast zu seinem schwarzen Haar und der bleichen Haut bildeten. Erst als er bemerkte, dass ihn der Verletzte hilflos, ja fast schon beängstigt anblickte, fasste er sich wieder. „Sie müssen keine Angst haben“, fing er deswegen leise an, „ich habe Sie hier gefunden und mein Freund ist schon dabei Hilfe zu holen. Ihnen wird nichts passieren.“ Doch auch wenn diese Worte beruhigend gemeint waren, schienen sie den anderen nur umso mehr aufzuwühlen. Ohne etwas zu sagen, denn der Verletzte befand sich wohl in einem Zustand des Schocks, der es ihm unmöglich machte sich auch nur auf irgendeine Art und Weise auszudrücken, starrte er Alexander nur weiterhin an. „Machen Sie sich keine Sorgen“, flüsterte der Blonde daraufhin. „Können Sie mir vielleicht sagen, wie Sie heißen?“ Doch auch auf diese Frage bekam Alexander keine Antwort. Stattdessen warf der Fremde einen Blick auf seine Manteltasche und nickte zögerlich, fast so, als wollte er Alexander damit andeuten, dass er dort Papiere oder ähnliches finden würde. Vorsichtig streckte der Naturforscher deswegen seine Hand aus und als sich der andere nicht wehrte, zog er aus dessen Tasche tatsächliche zwei Schriftstücke hervor. Eines der Dokumente war ein Brief, der weder durch einen Umschlag, noch durch ein Siegel verschlossen war, das andere war ein kleines, gebundenes Heftchen, auf dessen Vorderseite Penthesilea. Ein Trauerspiel von Heinrich von Kleist. zu lesen war. „Heinrich von Kleist? Sind Sie das?“, fragte Alexander, doch als er wieder zu dem Verletzen aufblickte, waren seine Augen geschlossen und er schien erneut das Bewusstsein verloren zu haben. Nicht aus Neugier, sondern weil Alexander wusste, dass auch der Arzt nach dem Namen des Verletzten und der Ursache für seine Wunden fragen würde, entfaltete er den Brief und begann zu lesen: Meine liebste, teuerste Ulrike, es ist nicht lange her seit ich dir zuletzt geschrieben habe, vielleicht wunderst du dich gerade deswegen auch darüber, dass du schon wieder Post von mir bekommst. Doch ich kann und will mich nicht von dieser Welt verabschieden, ohne mich noch ein letztes Mal an dich gewendet zu haben. Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe und immer lieben werde. Ich wünschte fast du könntest jetzt bei mir sein, könntest mich begleiten an diesen Ort ohne Wiederkehr, doch ich weiß, dass das unmöglich ist. Denn du musst dich kümmern, um die Menschen, die ich nun zurücklasse, so wie du dich schon immer um mich gekümmert hast. Du sollst wissen, liebste Ulrike, dass niemand, du am aller Wenigsten, Schuld hat an der Entscheidung, die ich getroffen habe. Doch so sehr ich auch wünschte, dass es eine andere Lösung geben würde, irgendeinen Ausweg aus meiner hoffnungslosen Situation, so weiß ich doch, dass mir keine Möglichkeit bleibt, als mein Glück in einer anderen Welt zu finden. Ich habe hier auf Erden so gut es nur ging danach gesucht, das musst du mir glauben, doch egal wie sehr ich mich auch immer bemüht habe, es wollte mir nicht gelingen. Vielleicht bin ich auch einfach nicht für ein irdisches Leben gemacht – ich kann nur hoffen, dass es mir, wohin auch immer es meine Seele verschlagen mag, wenn sie endlich frei ist von meinem unglücksbringenden Körper, besser gehen wird. Zürne mir nicht, Ulrike, weil ich dich so plötzlich allein lasse, doch ich weiß mir nicht mehr anders zu helfen. Ich kann nur hoffen, dass wir uns eines Tages wieder sehen werden, in einem anderen, besseren Leben, in dem auch ich froh sein werde. Bis dahin wünsche ich dir das größte Glück auf Erden und hoffe, dass all deine Wünsche in Erfüllung gehen werden. In Liebe, Dein Heinrich Es dauert einen Augenblick lang, bis Alexander begriffen hatte, dass es nicht irgendein Brief gewesen war, den er da gerade gelesen hatte. Es war ein Abschiedsbrief, geschrieben von einem Menschen, der Selbstmord begehen wollte. Er hätte nicht erklären können, wieso in diese Tatsache so hart traf – der Dolch und die vielen Schnittwunden an den Armen und Handgelenken des jungen Mannes hatten schließlich schon von Anfang an darauf hingewiesen, dass er nicht überfallen worden war, sondern sich selbst diese Verletzungen zugefügt hatte. Doch zu wissen, dass das Licht dieser wundervollen blauen Augen nicht wegen einer Gewalttat, sondern aus freien Stücken für immer ausgehen sollte, jagte dem Blonden einen eiskalten Schauer über den Rücken. Es ängstigte ihn so sehr, dass er den Brief, als er hörte, wie Bonpland endlich wieder mit einem Arzt zurückkam, in seine eigene Manteltasche schob, um ihn vor den anderen zu verstecken. Er wusste selbst nicht, wieso er in diesem Moment so reagierte, ob es Angst war, Resignation, oder ein ganz anderes Gefühl, das er einfach nicht zuordnen konnte. Er wusste nur, dass er ganz tief in seinem Inneren bereits in diesem Augenblick den Entschluss gefasst hatte, dass er die Entscheidung des jungen Mannes nicht hinnehmen wollte. Er wollte nicht akzeptieren, dass der Fremde nur mit Trauer und Melancholie durchs Leben ging – er wollte sehen, wie die blauen Augen aussahen, wenn sie vor Freude strahlten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)