Vulkado von Ur (Im Auge des Sturms) ================================================================================ Kapitel 11: Der geheime Geburtstag ---------------------------------- Hallo ihr Lieben! Ich melde mich mit einem neuen Kapitel zurück und möchte noch mal danke für all die lieben Kommentare zum letzten Kapitel sagen. Ich hatte leider nicht die Zeit, mich für alle einzeln zu bedanken. Die Pause zwischen den Kapiteln ist ja schon kürzer geworden, aber noch nicht optimal. Ich arbeite daran ;) Viel Spaß beim Lesen, ich hoffe, dass es euch gefällt! ____________________________ Der einzige Mensch, mit dem ich über meinen Ausreißer noch einmal spreche, nachdem Weihnachten vorbei ist, ist Anjo. Er fragt nicht weiter nach, sondern lässt mich einfach erzählen. Ich bin froh, dass niemand aus Christians Familie mich noch einmal darauf angesprochen hat, sie alle scheinen stillschweigend beschlossen zu haben, diese Sache ruhen zu lassen. Außer ›Es tut mir wirklich leid‹ wäre mir ohnehin nichts zu sagen eingefallen. Jana und ich bleiben den ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag im Haus, während die Familie sich auf macht, um einige Verwandte zu besuchen. Sie haben mich und Jana gefragt, ob wir mitkommen möchten, aber Jana und ich waren uns sehr einig darüber, dass es dafür viel zu früh ist. Christians Familie ist riesig und ich wäre im Leben nicht dafür bereit gewesen, nach diesem Heiligabend noch einen Berg neuer Menschen kennen zu lernen, die sicherlich auch ungefähr im Bilde darüber sind, wieso Jana und ich bei Brigitte und Johannes wohnen. Nein, danke. Vielleicht irgendwann mal, wenn ich meine zahllosen Probleme soweit im Griff habe, dass ich mich wie ein zurechnungsfähiger und halbwegs anständiger Mensch fühle. Im Augenblick bin ich davon allerdings noch weit entfernt. Es waren zwei schöne Tage. Jana und ich hatten mit den Haustieren das große Haus für uns und wir haben viel Zeit mit reden und einfach nur stillem Beieinandersein verbracht, oftmals mit einer Katze auf dem Schoß unten im Wohnzimmer. Natürlich vermisse ich es nicht, bei dem Erzeuger in der Wohnung zu leben und jeden Tag in Angst zu verbringen, aber manchmal vermisse ich ein wenig die Zweisamkeit, die Jana und ich für so lange Zeit hatten. Es kommt jetzt viel seltener vor, dass wir nur zur zweit einen ganzen Tag verbringen. Ich werde mich wohl oder übel daran gewöhnen müssen. Meine kleine Schwester und ich können wohl nicht den Rest unseres Lebens metaphorisch aneinander gekettet verbringen. Sie wird irgendwann erwachsen und vielleicht will sie eine eigene Familie. Nicht, dass ich ihr das nicht gönnen würde. Aber die Vorstellung ist auf eine sehr egoistische Art und Weise schrecklich. Vermutlich werden das Gedanken sein, die ich mit ins Grab nehme. Zwei Tage vor Silvester haben wir wieder Training. Es fühlt sich beinahe ein wenig merkwürdig an, Christian wieder in der Rolle des Trainers zu erleben, nachdem ich ihn jetzt an Weihnachten in diesem familiären Umfeld um mich hatte. Ich hab zugeschaut, wie er mit Lydia ihre neue Barbiepuppe angezogen und mit ihr ein neues Spiel namens ›Tempo kleine Schnecke‹ ausprobiert hat. Jetzt wieder den Schalter umzulegen und ihn als Alphamännchen zu sehen, ist sehr befremdlich. Am besten erzähle ich niemandem von dem Nicht-Trainer-Christian, wer weiß, wie die anderen Jungs darauf reagieren würden. Aber gut, es ist ja nun auch nicht so, als wäre ich besonders erpicht darauf, private Ereignisse mit ihnen zu teilen. Obwohl die Stimmung in der Gruppe sich deutlich gebessert hat, bin ich mir trotzdem sehr sicher, dass diese Kerle nie meine engsten Freunde sein werden. Über den ganzen Weihnachtsstress hinweg hätte ich beinahe vergessen, dass Training ja auch heißt, dass ich Gabriel wiedersehe. Als ich die Umkleide betrete und in Gedanken noch bei Janas Frage von heute Morgen bin – »Kannst du dir eigentlich vorstellen, später Kinder zu haben?« –, falle ich beinahe aus allen Wolken, als Gabriel ohne Oberteil vor seiner Sporttasche steht und darin herumwühlt, um sein Shirt zu finden. Mein Herz beschließt, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für einen kleinen Sprint wäre, und ich räuspere mich möglichst unauffällig und marschiere hinüber zu einem freien Platz auf einer der Bänke, um mich umzuziehen. »Hey«, sagt Gabriel und lächelt mir über die Schulter hinweg zu. Ich grinse schief und verfluche meine verräterischen Körperfunktionen. Memo an mich: Öfter masturbieren, um Peinlichkeiten zu vermeiden. »Hallo«, gebe ich zurück und stelle meine Tasche vorsichtshalber auf meinem Schoß ab. Im Schneckentempo ziehe ich meine Turnschuhe heraus und atme erleichtert auf, als sich das kurzfristige Problem in meiner Jeans verabschiedet und ich anfangen kann, mich ohne Verlust meiner Würde umzuziehen. »Hattest du schöne Feiertage?«, will Gabriel wissen und lässt sich auf der Bank mir gegenüber nieder, um seine Schuhe zuzubinden. Fast hab ich vergessen, wie gut er eigentlich aussieht. »Ja, war ganz gut«, gebe ich zurück. Ein wahrheitsgetreuer Bericht meiner Feiertage wäre zu kompliziert und würde vermutlich die nächsten zwei Stunden in Anspruch nehmen. Da ich weder die Zeit noch die Muße dafür habe, muss dieses kurze, ungenaue Statement genügen. »Und bei dir?«, füge ich hinzu. »Sehr schön. Die Verlobte meines Bruders hat uns erzählt, dass sie schwanger ist«, berichtet Gabriel und steht auf. Ich beeile mich mit meinen Schuhen und folge ihm dann in die Halle. »Oh, herzlichen Glückwunsch. Onkel Gabriel«, antworte ich. Gabriel lacht leise. »Klingt komisch«, meint er. Außer uns beiden und Christian ist noch niemand da. Er begrüßt uns mit einem Kopfnicken und einem amüsierten Schmunzeln, was mein Gesicht automatisch dazu bringt, heiß zu werden. Dieser elende Bastard. Ich stelle mir vor, wie er und Anjo zu zweit bei ihm im Zimmer sitzen und darüber philosophieren, wie es mit mir und Gabriel so läuft. Aber Anjo lässt es wenigstens nicht so heraus hängen wie Christian. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen und hocke mich neben Gabriel auf den Hallenfußboden. »Ich glaube, Christian ist stolz auf sich, weil er uns in eine Gruppe gesteckt hat und dabei was Gutes rausgekommen ist«, sagt Gabriel sachlich und beobachtet Christian dabei, wie er sich darum kümmert, dass die Boxsäcke gleichmäßig verteilt sind. »Allerdings. Selbstgefälliger Armleuchter«, grummele ich und Gabriel gluckst heiter. »Hey, ich freu mich auch drüber, was dabei rausgekommen ist«, erklärt er unumwunden und sieht mich an. Glücklicherweise muss ich mich selber nicht sehen. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit hat mein Gesicht eine ungesunde, rote Färbung angenommen. »Ähm…«, sage ich wenig geistreich und würde mir am liebsten die Zunge abbeißen. Aber Gabriel scheint sich an meinem beknackten Verhalten nicht zu stören. »Weißt du schon, was du an Silvester machst?«, erkundigt er sich. Ich muss unweigerlich seufzen. Neujahr. Ich gehe ungern mit der Tatsache hausieren, dass ich am 31. Dezember Geburtstag habe. Christians Familie weiß es nicht und eigentlich möchte ich es auch ungern erzählen. Ich hab meinen Geburtstag nie wirklich gefeiert, sondern ihn einfach immer mit Jana verbracht. Vielleicht haben wir mal ein Feuerwerk angeschaut, aber mehr gab es nicht und Geschenke will ich schon gar nicht haben. Erst recht nicht dieses Mal, weil gerade erst Weihnachten war. »Nee, ich hab keine Pläne. Aber Christians Familie feiert immer zu Hause, soweit ich weiß. Also werd ich da wohl mit dabei sein«, gebe ich zögerlich zurück. Ich möchte keinen Schnickschnack an dem Tag, an dem ich geboren wurde. Ohne übermäßig dramatisch klingen zu wollen, ich hab einfach nicht das Gefühl, dass es ein Tag zum Feiern ist. »Was wirst du machen?«, frage ich, in Gedanken immer noch bei der Frage, ob ich es der Familie erzählen soll. Hoffentlich hat Jana das nicht schon längst getan. »Meine beiden besten Freunde feiern Silvester immer ziemlich groß, ich feier immer mit ihnen«, erklärt Gabriel. Er sieht zufrieden aus bei der Aussicht, mit seinen beiden besten Freunden ins neue Jahr zu feiern. Vermutlich hätte ich eine andere Einstellung zum Jahreswechsel, wenn es nicht mein Geburtstag wäre. Wer weiß, irgendwann feiere ich meinen Geburtstag ja womöglich das erste Mal. »Gehen die mit dir auf dieselbe Schule?«, erkundige ich mich bei ihm und fühle mich sehr mutig angesichts dieser eher popeligen, persönlichen Frage. Hoffentlich erlebt Gabriel mich nie betrunken, denn womöglich sage ich dann sowas wie ›Bitte erzähl mir deine gesamte Lebensgeschichte, ich will alles wissen!‹. »Nein, leider nicht mehr«, meint Gabriel seufzend und seine Miene verfinster sich. Ich verfluche mich dafür, offenbar direkt in ein Fettnäpfchen getreten zu sein. »Meine Familie ist erst vor kurzem hierher gezogen, mitten im Schuljahr. Die Entfernung ist nicht die Welt, aber es ist trotzdem blöd. Vor allem, da wir alle immer sehr viel Zeug in unserer Freizeit tun und die Schule die Zeit war, in der wir uns auf jeden Fall sehen konnten, wenn’s privat grad mal wieder zu stressig war.« Ungefähr hundert Fragen drängen sich mir auf, allerdings komme ich nicht dazu, auch nur eine davon zu stellen, weil in diesem Moment die anderen Jungs in die Halle schneien und Christian uns zu sich ruft. Beim Training komme ich garantiert nicht dazu, mehr über Gabriel zu erfahren, aber die Vorstellung, ihn nach einem privaten Treffen zu fragen, treibt mir direkt wieder Hitze ins Gesicht. Ich lasse die Augen über die anderen Gesichter schweifen und ich kann eindeutig nicht behaupten, dass ich die Jungs vermisst habe. Sie schauen alle genauso aus, wie ich sie in Erinnerung habe, nur Gero wirkt irgendwie blasser, dünner, wütender. Er hat dunkle Ringe unter den Augen und hat die Arme verschränkt. Sein Blick geht in die Ferne, als würde er Christian gar nicht sehen, geschweige denn hören. Man fragt sich natürlich schon, wieso genau diese Kerle so geworden sind, wie sie jetzt sind. Bei mir weiß ich es ja. Ich bin sicher, dass in denen auch solche Geschichten stecken, aber es hat keinen Sinn zu raten. Menschen sind einfach zu kompliziert. »…zehn Runden, auf geht’s!« Gabriel tippt mich an und ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, ehe ich ihm folge und mit den anderen in einer Traube loslaufe. Gabriel joggt eine Runde neben uns her, dann legt er wieder an Tempo zu und ich beobachte ihn, während er rennt. Man kennt das ja aus Filmen, Leute sehen meistens einfach echt blöd aus, wenn sie laufen. Aber – und wen überrascht es eigentlich noch, ich komme mir wirklich lächerlich vor – Gabriel nicht. Ich könnte ihm ewig zugucken, wenn er rennt. Er könnte Werbung für Sportschuhe oder Shampoo oder Versicherungen machen, wenn ich das Geld hätte, würd ich den Scheiß kaufen. Noch so ein Gedanke, den ich lieber mit ins Grab nehmen sollte. Dehnübungen sind so viel angenehmer, seit Gabriel mit mir redet. Allerdings sind sie auch noch anstrengender, weil er mich so freimütig anfasst. »Weswegen seid ihr mitten im Schuljahr hierher gezogen?«, frage ich keuchend, während Gabriel sich hinten auf meinen Rücken stützt, damit ich im Sitzen meine Arme an meine Schuhspitzen kriege. Nachher wird mir wieder alles wehtun, ich seh es schon kommen. »Adam, also mein Bruder, hat hier eine Kampfsportschule aufgemacht und sofort, nachdem sein Vertrag unterschrieben war, hat die komplette Familie alles eingepackt und ist hierhergekommen. Als hätte Adam nicht auch erstmal allein mit Lina… also, mit seiner Verlobten, hierher ziehen können. Die paar Monate bis zum Abi hätte er sicherlich auch gut ohne uns überstanden.« Es ist kein Kunststück zu bemerken, dass Gabriel immer noch sauer auf seine Eltern ist, weil sie mit ihm hierhergezogen sind, kurz bevor sein Abi fertig war. »Aber ist dein Bruder nicht viel älter als du?«, frage ich ein wenig verwirrt über die Tatsache, dass jemand, der bald Vater wird, beinahe verheiratet und dazu auch noch selbstständig ist, seine Familie einpackt und mit in eine neue Stadt nimmt. Gabriel lässt meinen Rücken los und ich ächze angestrengt. Leider muss ich bei ihm nicht auf den Rücken drücken, Gabriel erreicht seine Zehenspitzen ganz problemlos. »Ja, schon. Aber mein Vater arbeitet mit ihm zusammen in der Kampfsportschule. Ich hab ja auch nichts dagegen, dass es bei uns ein bisschen großfamilienartig zugeht. Also, ohne die große Familie. Wir wohnen jetzt direkt neben der Kampfsportschule, alle zusammen. Mal sehen, wie das wird, wenn das Baby da ist.« Ich könnte Gabriel erzählen, dass ich an Silvester Geburtstag habe und mir seine Handynummer wünschen. Aus lauter Verlegenheit über meine Dummheit haue ich mir meinen Handballen gegen die Stirn. Gott sei Dank merkt Gabriel das nicht, weil er gerade breitbeinig auf dem Boden sitzt und seine Stirn auf einem seiner Knie liegt. Ob man für guten Sex sehr gelenkig sein muss? Dann wäre ich sicher echt mies im Bett. »Krieg ich deine Nummer?«, sprudelt es aus mir heraus und Gabriels Kopf hebt sich mit einem überraschten Blick von seinem Bein. Er sieht mich einen Moment lang völlig perplex an und ich habe erneut das Bedürfnis, mir mit der Hand gegen die Stirn zu schlagen. Aber dann breitet sich auf seinem Gesicht ein freudiges Strahlen aus und er nickt. »Sehr gerne«, antwortet er und rappelt sich vom Boden auf. Garantiert sehe ich aus wie eine überreife Tomate. Verfluchter Kack. Den Rest des Trainings verbringe ich unkonzentriert und mit hämmerndem Herzen. Kein zusammenhängender Satz entkommt meiner Kehle und ich bin mir ziemlich sicher, dass Christian, der uns immer besonders scharf im Auge behält, sich innerlich darüber totlacht. Haha. Ich vergesse über meine peinliche Anfrage hinweg völlig, dass mir Gero vorhin wegen seiner dunklen Augenringe aufgefallen ist. Erst, als er lauthals anfängt zu fluchen und Ismail einen heftigen Schlag in die Magenkuhle verpasst, erinnere ich mich daran, dass er offenkundig völlig fertig mit den Nerven ist. Wir beobachten, wie Christian die beiden auseinanderhält und dann mit Gero ins Trainerbüro verschwindet. Auch die anderen schauen ihnen nach und keiner spricht. Selbst Ismail sieht nicht besonders wütend aus, was mich wundert. Auf merkwürdige Art und Weise scheinen wir uns alle im Klaren darüber zu sein, dass die jeweils anderen ein beschissenes Leben leben und es daher durchaus vorkommen kann, dass man austickt. Es ist ein komisches Gefühl, sich bewusst zu sein, dass – obwohl ich nichts über diese Leute weiß – sie mir in bestimmten Punkten sehr viel ähnlicher sind als die, mit denen ich mich in meiner sonstigen Zeit beschäftige. Sie alle sind wütend, weil das Leben sie wie Dreck behandelt hat. Dumpf frage ich mich, was für furchtbare Dinge bei Gero vor sich gehen. Gero kommt nicht zurück in die Halle. Christian löst die Gruppe vorzeitig auf und als wir die Umkleide betreten, sehen wir gerade noch Geros Rücken, bevor er hinter der Eingangstür verschwunden ist. Keiner redet beim Umziehen und ich habe vor lauter Gedanken an all die traurigen Geschichten, die sich hier in einem Raum tummeln, beinahe vergessen, dass ich Gabriels Handynummer in Aussicht stehen habe. Erst, als er in seiner Hosentasche herumwühlt und sein Handy hervorholt, fällt es mir wieder ein. »Hast du dein Handy dabei?«, will er wissen und grinst mich an. Die Jungs um uns her achten kaum auf uns und einer nach dem anderen verlässt die Halle. Ich werd wohl bei Familie Sandvoss duschen. Wir sind kaum richtig zum trainieren gekommen und selbst Gabriel hat offenbar vergessen, dass wir für gewöhnlich nach unseren Stunden duschen gehen. »Ja«, sage ich und wühle fahrig in meinen Sachen herum, bis ich mein uraltes Telefon finde und hastig Gabriels Vornamen ins Telefon eingebe, damit er seine Nummer verkünden kann. Nachdem ich die Zahlen eingetippt habe, lese ich sie ihm noch einmal vor, um sicher zu gehen, dass es auch wirklich seine Nummer ist und ich Armleuchter nicht versehentlich einen Zahlendreher veranstaltet habe. Gabriel blickt mich erwartungsvoll an. »Hm?«, mache ich wenig geistreich. Gabriel lacht. Oh Gott, ich muss ihn unbedingt küssen. Wenn nicht jetzt, dann irgendwann. Aber einmal muss ich diesen unverschämten Mund knutschen. Es geht nicht anders. Ich würde sonst vergehen wie ein Stück Butter in der prallen Sommersonne. »Rufst du kurz bei mir durch, damit ich deine Nummer auch hab?«, will er wissen und sieht eindeutig amüsiert aus. Ich sterbe. Der trotteligste Mensch auf der Welt hat einen Namen: Benjamin Wehrmann. Sie dürfen ihn jetzt exklusiv mit Tomaten bewerfen… »Äh, sicher«, stammele ich verlegen und drücke ein paar Tasten. In Gabriels Hand leuchtet und vibriert sein Handy auf. Wir haben offiziell Nummern getauscht und mein Herz tanzt angesichts dieser Tatsache einen nervösen Stepptanz. »Cool. Du hast nicht zufällig eine SMS Flatrate?«, erkundigt er sich und ich bilde mir ein, einen hoffnungsvollen Unterton aus seiner Stimme herauszuhören. Vermutlich nur Wunschdenken. Ich gehe davon aus, dass mein Gehör von dem rauschenden Blut in meinen Ohren beeinträchtigt ist. »Nein, leider nicht. Ich hab ‘ne Prepaid-Karte«, sage ich und kratze mich peinlich berührt am Hinterkopf. »Oh. Ok. Es gibt die Dinger aber echt günstig. Ich zahl nur fünfzehn Euro im Monat«, erklärt er mir und zieht sich seine Lederjacke über. Verfluchter Scheißdreck, er sieht so gut darin aus, ich möchte sterben. Oder sie ihm gleich wieder ausziehen. Schwierige Entscheidung. »Tatsächlich? Ich hab leider keine Ahnung von diesem Zeug«, sage ich und fühle mich mit jeder Sekunde dümmer. Gabriel scheint mein Unwissen nicht zu stören. Er sieht einfach nur aus, als wäre er mir gern behilflich. »Wir könnten noch eben in die Stadt gehen, wenn du noch Zeit hast. Also… ich will dir keinen Handyvertrag aufzwingen, nur weil ich gern SMS mit dir schreiben würde, aber…« Wie kann er diese Sachen einfach so sagen? Als ich ihn vorhin nach seiner Nummer gefragt habe, dachte ich, ich wollte jeden Moment im Erdboden versinken. Aber er steht da einfach nur und sieht mich an, als wäre es das normalste der Welt so offen über seine Gedanken und Gefühle zu reden. Wie zum Teufel stellt er das nur an? Kann man dafür einen Kurs belegen? Ich brauch eine Bedienungsanleitung für meine Emotionen und ihren Ausdruck. »Klar, ok… also… allein würd ich das nicht machen, weil ich echt keinen Plan hab, aber wenn du Bescheid weißt… cool…« Ein Hoch auf deine Artikulationsfinesse, Benni. Wie immer sind wir die letzten, die die Umkleide verlassen, und ich bin dankbar, dass ich Christian nicht mehr gesehen habe. Oder besser: Dass Christian nicht gesehen hat, wie Gabriel und ich Nummern getauscht und dann gemeinsam das Gebäude verlassen haben. »Ich hoffe, Gero geht’s bald besser«, sagt Gabriel nachdenklich, während wir der Innenstadt entgegen gehen. Es hat tatsächlich angefangen zu schneien, allerdings bleiben die kleinen Flocken auf dem nassen Boden nicht liegen. Trotzdem, ich kann Schnee gut leiden. »Ja… er sah echt übel aus«, gebe ich zurück. In Gabriels Haaren bleiben Schneeflocken hängen. »Ich hab Silvester Geburtstag«, murmele ich dann völlig ohne Zusammenhang und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass Gabriel mir sein Gesicht zuwendet. Ich starre mit heißen Wangen weiterhin geradeaus. »Aber ich will nicht feiern und Geschenke will ich auch nicht. Außer meiner Schwester weiß auch keiner, dass ich Geburtstag hab. Ich dachte, ich sag es auch einfach weiter keinem, damit niemand das Gefühl hat, irgendeinen Aufwand betreiben zu müssen.« »Wenn du ihnen erklärst, dass du nicht feiern willst und auch keine Geschenken bekommen möchtest, dann sollten sie das respektieren«, gibt er zurück und schiebt seine Hände in seine Hosentasche. »Würden sie bestimmt auch, denk ich. Aber irgendwie käm ich mir dann enttäuschend vor. Alle geben sich immer Mühe mit mir und ich fühl mich undankbar.« Keine Ahnung, was genau den Korken auf meiner Gefühlsflasche hat knallen lassen, aber meine Zunge scheint der Meinung, dass Gabriel meine Innenwelt unbedingt kennenlernen muss. Auch wenn er selbstredend keine Ahnung hat, wer ›sie‹ eigentlich sind, unter welchen Umständen dieses Thema überhaupt ein Problem ist und war und was mich überhaupt dazu bringt, keinen Geburtstag feiern zu wollen. Allerdings scheint er sich nicht daran zu stören, dass er nur Bruchstücke der Geschichte aufgetischt bekommt. »Dann erzähl es ihnen nicht. Es ist immer das Beste, wenn man alles im eigenen Tempo tut und sich nicht zu irgendwas zwingt, um anderen ein besseres Gefühl zu geben«, sagt Gabriel, als wir die belebte Fußgängerzone betreten und kurzzeitig gar nicht mehr zum Reden kommen, weil alles so voll ist, dass wir uns nur hintereinander durch die Menge schieben können. Vermutlich tauschen alle Leute ihre ungewollten Geschenke um, oder lösen Gutscheine ein, die sie zu Weihnachten bekommen haben. Anders kann ich mir die Menschenmassen bei diesem Wetter nicht erklären. Ich komme nicht mehr dazu, Gabriels weise Worte zu kommentieren, aber ich wälze sie in meinem Kopf herum und denke darüber nach, bis wir schließlich ein Geschäft betreten, in dem es eine Menge Handys und anderen technischen Schnickschnack zu kaufen gibt. Wie es sich herausstellt, muss ich kaum irgendwas sagen. Gabriel erklärt mir, was für verschiedene Möglichkeiten es gibt, was die Dinge kosten und wie alles funktioniert. Ich hab noch nie einen Vertrag abgeschlossen und komme mir jämmerlich vor. Erwachsensein ist nichts für mich, soviel steht fest. Ich bin froh, dass Gabriel hier ist und die Aussicht auf endlose SMS mit ihm gefällt mir durchaus gut. Wenn es nach mir ginge, könnte ich stundenlang mit Gabriel hier in diesem totlangweiligen Telefonladen verbringen und ihm dabei zuhören, wie er mir Handyverträge erklärt. Er wäre ein ausgezeichneter Versicherungsvertreter. Da ich ja jetzt fünfzig Euro Taschengeld bekomme, kann ich mir fünfzehn Euro im Monat für einen Handyvertrag leisten. Trotzdem rufe ich – mit Gabriels Handy, weil der auch umsonst ins Festnetz telefonieren kann – bei Christians Familie an und erkundige mich peinlich berührt und stotternd, ob es ok ist, wenn ich einen Handyvertrag abschließe. Johannes versichert mir, dass ich mit meinem Geld machen kann, was ich möchte, und dass ein Handyvertrag auf lange Sicht sicher eine gute Idee ist. Das beruhigt mich endgültig und eine Viertelstunde später verlassen Gabriel und ich den Laden, ich mit einer neuen SIM-Karte und dem Wissen, dass ich von jetzt an so viele Nachrichten an liebe Menschen schicken kann, wie ich will. »Danke«, sage ich, als wir wieder draußen in der Kälte stehen, und starre hinunter auf mein altes Handy. Es sieht natürlich kein bisschen anders aus, aber ich habe gerade meinen ersten Vertrag abgeschlossen. Fühlt sich ein bisschen so an, als hätte ich meine Seele verkauft. Wer weiß, was für kleingedruckte Dinge es gibt, die mir dann eine explodierte Rechnung von tausenden Euro bescheren. Aber da Gabriel mir alles erklärt hat, sollte ich eigentlich sicher vor so etwas sein. Ich kann’s noch nicht so richtig fassen. Ich habe gerade spontan einen Handyvertrag mit einer SMS-Flatrate abgeschlossen, nur weil Gabriel gesagt hat, er fände es nett, immer mit mir texten zu können. Ob ich es wagen kann, das irgendwem zu erzählen? Ich sehe schon Lillis leuchtende Augen und ihr breites Grinsen, das sie sonst hat, wenn sie über einen Massenmörder in Lederjacke und einem Engel mit Columbo-Mantel schmachtet. Auch Anjo tendiert zu so einem Funkeln in den Augen, aber er drückt seine Begeisterung subtiler aus als Lilli. Taktgefühl und Rücksicht waren immer schon zwei seiner herausragendsten Eigenschaften. Ich frage mich, was die beiden erwarten? Dass Gabriel und ich auf einer weißen Stute in den Sonnenuntergang reiten? Ich bin schon froh, wenn ich zwei zusammenhängende Sätze herausbringe, von romantischen Rendezvous und leidenschaftlichem Geknutsche ganz zu schweigen. Oh Gott, mir ist viel zu warm für die momentane Witterung. »Ich würd eigentlich gern noch was essen gehen, aber ich bin für nach dem Training mit meinem Bruder verabredet«, sagt Gabriel und ich höre ehrliches Bedauern aus seiner Stimme heraus. Mein Herz sinkt mir zwischen die Kniekehlen. Reiß dich zusammen, denk ich mir, eigentlich hättet ihr überhaupt keine Zeit miteinander verbracht, das ist nur passiert, weil Christian früher Schluss gemacht hat. »Ok«, sage ich nur und würde mir am liebsten auf die Zunge beißen. Gabriel lächelt und fährt sich einmal durch seine seidigen Haare. »Dann hoff ich, dass du das mit deinem Geburtstag gut überstehst. Und wir sehen uns nach Silvester beim Training«, sagt Gabriel und ich nicke. Wie verabschiede ich mich? Mit einem besonders maskulinen Handschlag? Aber Gabriel hebt einfach nur lässig die Hand, grinst mir noch einmal zu und dreht sich dann um, um zu gehen. Unweigerlich greife ich nach meinem Handy in meiner Jackentasche, so als würde ich erwarten, dass Gabriel, kaum dass wir zwanzig Sekunden getrennt sind, mir eine SMS schreibt. Dann fällt mir ein, dass ich noch gar nicht die neue SIM-Karte eingesetzt habe – auch wenn Gabriel nach Abschluss des Vertrages meine alte Nummer in seinem Handy direkt durch meine neue ersetzt hat – und seufze, bevor ich mich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle mache. Familie Sandvoss feiert Silvester immer zusammen. Selbst Christian und Tim und Eileen finden sich am einunddreißigsten Dezember bei ihren Eltern ein und keiner geht mit Freunden feiern, was ich unerwartet finde. Aber nett. Jana hat mir versprochen, dass sie niemandem von meinem Geburtstag erzählen wird. »Ich bin zwar recht sicher, dass sie es schon irgendwo auf irgendwelchen deiner Unterlagen gelesen haben, aber wenn du drauf bestehst…« In der Nacht vor meinem Geburtstag hocke ich mit Jana, zwei Tassen Tee und dem Kater Merlin auf meinem Bett und beobachte, wie mein Geburtstag sich tickend nähert. Merlin ist wenig interessiert an Jana und mir, er versucht nur andauernd, die Papierschnipsel an den Teebeuteln mit der Pfote zu erhaschen. Ich hab bisher noch keine SMS von Gabriel bekommen und denke darüber nach, ob ich ihm zuerst schreiben soll, während Jana und ich den Wecker beobachten, der mittlerweile zwei Minuten vor Mitternacht anzeigt. So in etwa haben wir es die ganzen letzten Jahre auch gemacht. Still beieinander gesessen und die Uhr angestarrt. Minus den Tee, die Katze und die allgemeine Sicherheit. Ich stelle erleichtert fest, dass es die richtige Entscheidung war, meinen Geburtstag nicht zu verkünden. Alles fühlt sich genau richtig an. Jana, ich, der ziemlich leckere Minze-Honig-Tee, den Tim mir empfohlen hat – bei all den Teesorten, die es in diesem Haus gibt, ist es wirklich nicht einfach, eine Entscheidung zu treffen – und der leise schnurrende Kater. Ich glaube, draußen schneit es wieder. Als der größte Zeiger sich auf die zwölf schiebt, drückt Jana mir einen Kuss auf die Wange. »Alles Gute zum Geburtstag«, flüstert sie. Ich lächele kaum merklich und wende den Blick nun, da Mitternacht erreicht ist, vom Wecker ab und meiner Teetasse zu. Vorsichtig, um mir nicht die Zunge zu verbrennen, nippe ich an meinem Tee. Er schmeckt wirklich ziemlich gut. Als mein Handy vibriert, lasse ich beinahe die Tasse fallen und zucke so heftig zusammen, dass Merlin mich vorwurfsvoll ansieht. Eine neue Nachricht. Ich atme einmal tief durch und öffne die SMS. Mein Herz macht sofort einen riesigen Sprung, als ich den Namen Gabriel oben in der Absenderzeile lese. »Ich weiß, du willst nicht feiern. Aber ich hoffe, eine Gratulation ist trotzdem ok. Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag! Und natürlich einen guten Rutsch ins neue Jahr. Ich freue mich auf unser Wiedersehen.« Ich lese die SMS drei Mal durch und schiebe das Handy dann wieder in meine Hosentasche. Jana hat mich beobachtet, aber sie stellt keine Fragen. Wir trinken unseren Tee aus, sortieren uns um Merlin herum in mein Bett und schlafen mit dem Kater in unserer Mitte ohne ein weiteres Wort ein. Wie es sich herausstellt, spricht mich tatsächlich niemand auf meinen Geburtstag an, selbst wenn die Familie womöglich teilweise weiß, dass es heute ist. Zugegebenermaßen, ich habe das Gefühl, dass der Kuchen, der angeblich immer schon zur Silvestertradition gehört haben soll, vielleicht neu erfunden wurde und dass die Lasagne, die ich besonders gern esse, wahrscheinlich normalerweise nicht zum Abendessen serviert wird, aber es kann gut sein, dass ich mir das alles nur einbilde. Die Gesellschaftsspiele, das Schokofondue zum Nachtisch und die riesigen Wunderkerzen, die draußen um die Terrasse herum in die Erde gesteckt und angezündet werden, machen diesen Geburtstag durchaus zu etwas Besonderem, auch wenn es ja eigentlich eine Silvesterfeier ist. Um null Uhr ist mein Geburtstag vorbei, aber draußen gehen überall im Ort Feuerwerke los, die Hunde drängen sich unterm Tisch eng zusammen, Lydia hält sich die Ohren zu und ich bekomme SMS von Anjo, Lilli und Gabriel, die mir ein frohes neues Jahr wünschen. Alles in allem ist es der beste geheime Geburtstag, den ich je gefeiert habe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)