Feel for you von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 4 --------- 'Ach, verdammt!' Pirmin strich das soeben von ihm Geschriebene wieder durch und ließ seinen Stift auf den Tisch fallen. Diese Englischarbeit war die reinste Katastrophe. Eigentlich hatte er nie Schwierigkeiten mit Englisch. Diese Sprache und das, was sie im Unterricht durchgenommen hatten, war ihm noch nie schwer gefallen. Was ihm im Moment fehlte, war die Konzentration. Sein Kopf war wie leergefegt. Das einzige, woran er denken konnte, war der Vorfall in der Mathestunde. Noch immer hörte er das Lachen der anderen. Oder meinte, es zu hören. Das Klassenzimmer war mucksmäuschenstill. Aber innerlich lachten sie alle über ihn. Oh ja. Er wandte seinen Blick ab und ließ ihn aus dem Fenster schweifen. Der Himmel hatte sich mittlerweile grau gefärbt. Wahrscheinlich fing es bald an zu regnen. Ein Vogelschwarm, der auf dem Weg in den Süden war, flog über den Schulhof. Pirmin seufzte. So frei müsste man sein. Einfach wegfliegen und der Welt den Rücken zukehren. „So, die letzte Minute läuft. Schreibt euren letzten Satz zu Ende und gebt eure Blätter ab“, sagte die Englischlehrerin, Frau Mai. Pirmin sah wieder auf sein Blatt. Ein paar unleserliche Zeilen, die Hälfte davon wieder durchgestrichen, einzelne Wörter, überall Lücken... das konnte nur schlecht ausgehen. Aber da die Zeit nun sowieso um war, stand er auf, ging nach vorne und gab seine Arbeit ab. „Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragte Frau Mai, als sie seine Blätter entgegennahm. „Du bist so blass.“ „In Ordnung?! Haben Sie sich den schon mal richtig angeschaut? Mit so jemandem kann gar nicht alles in Ordnung sein! … Scheiß Schwuchtel!“, schossen ihm sofort Steffens Worte durch den Kopf. Schnell sah er sich nach diesem um, aber er war noch viel zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, um irgendeinen dummen Spruch zu machen. „Ich... ja, es ist alles bestens“, antwortete er dann leise. „Gut, dann kannst du jetzt in die Pause gehen.“ Frau Mai lächelte. Er nickte nur und verließ dann das Klassenzimmer. ~ „Na, wie fandest du die Arbeit?“ Nico ließ sich schwungvoll auf die Bank fallen. „So lala.“ Roman setzte sich neben ihn. „Ein paar Sachen davon haben wir in meiner alten Schule auch schon durchgenommen. War nicht so schwer.“ „Sag das Frau Mai nicht. Wenn du schlecht bist, kannst du es noch damit begründen, dass du neu bist.“ Jan grinste. „So habe ich das letztes Jahr auch eine Zeit lang gemacht.“ „Nimm dir bloß kein Beispiel an ihm“, meinte Katharina. „Er ist in fast jedem Fach Klassenschlechtester!“ „Keine Sorge, das werde ich schon nicht“, meinte Roman und lächelte. Jan wollte darauf etwas erwidern, als ihn plötzlich ein dicker Regentropfen auf den Kopf traf. „Na super, jetzt fängt es auch noch an, zu schiffen. Das hat mir gerade noch gefehlt.“ Er zog sich die Kapuze seiner Jacke auf. „Ach, das bisschen Regen. Das wird dich schon nicht umbringen“, meinte Nico. Roman sah in den Himmel hinauf. Aus den wenigen Regentropfen, die es gerade eben noch gewesen waren, wurden von Sekunde zu Sekunde mehr. „Wollen wir nicht nach drinnen gehen? Ich hasse Regen.“ Roman schaute zu den anderen. „Wenn es sein muss. Ihr seid doch alle aus Zucker!“ Nico stand auf. „Mir macht der Regen nichts aus.“ „Dann bleib doch draußen!“, schlug Jan vor und stand auf. „Ich jedenfalls bleibe keine Minute mehr hier.“ Nico verdrehte die Augen. Dann machten sie sich auf den Weg zum Schulgebäude, wo sie den Rest der Pause in der Mensa verbrachten. Nach etwa einer Viertelstunde läutete es. Die Pause war vorbei und die vier machten sich auf den Weg zurück zum Klassenzimmer. „Was für ein Fach haben wir jetzt?“, wollte Roman wissen. „Geschichte“, antwortete Nico. „Zwei Stunden lang. Yeah.“ Ihm war anzumerken, dass er alles andere tat, als sich darüber zu freuen. „Naja, das Fach geht ja noch“, mischte sich Katharina ein. „Aber du musst erst einmal warten, bis du unseren Lehrer kennen gelernt hast. Herr Wagener. Der ist schlimm.“ „Oh ja. Der strengste Lehrer der ganzen Schule“, ergänzte Jan. „Ich glaube, wenn man heutzutage noch Schüler schlagen dürfte, der würde das sofort machen.“ Sie kamen in dem Gang an, in dem ihr Klassenzimmer lag. Schon aus ein paar Metern Entfernung konnten sie sehen, dass die Tür schon offen war. „Mist, wir sind zu spät! Diesmal schlägt er uns echt, wetten?“ Nico beschleunigte sein Lauftempo. Aber als sie am Klassenzimmer angekommen waren, stellte sich heraus, dass der Lehrer noch gar nicht anwesend war. Frau Mai hatte wohl nach der Englischstunde vergessen, die Tür wieder abzuschließen. „Nochmal Glück gehabt“, meinte Jan, setzte sich auf seinen Platz und kramte in seiner Tasche herum. „Habt ihr die Hausaufgaben gemacht?“, wollte Nico wissen. Jan nickte und nahm dann einen großen Schluck aus der Wasserflasche, die er gerade herausgeholt hatte. „Klar, du nicht?“ „Nö. Ich dachte, ich darf sie doch sicher bei dir abschreiben?“ Nico nahm das Heft, das auf Jans Tisch lag, in die Hand. „Das hier sind sie doch, oder?“ Jan sprang auf. „Hey, gib die wieder her! Ich sagte nicht, dass du sie bekommst!“ Nico rannte vor ihm weg. „Hol sie dir doch!“ - „Na warte!“ Die beiden begannen eine Verfolgungsjagd quer durch das Klassenzimmer. Roman sah den beiden zu. „Sind die immer so?“ Katharina lächelte und nickte. „Ja, immer. Ich glaube, die beiden sind die kindischsten Personen der Welt! Daran wirst du dich gewöhnen müssen.“ „Ach, ich finde das nicht so schlimm. Solange sie Spaß haben...“ Roman grinste. Nach und nach trudelte auch der Rest der Klasse ein, was die Verfolgungsjagd der beiden Jungen noch erschwerte. Aber flink, wie Nico war, ließ er sich nicht von Jan erwischen. „Bleib endlich stehen, du Idiot!“ Immer wieder versuchte Jan, ihn zu packen, verfehlte sein Ziel jedoch. Ein paar Leute aus der Klasse, die das Szenario ebenfalls beobachteten, begannen, die beiden anzufeuern. Obwohl der Unterricht in den benachbarten Klassenzimmern bereits wieder angefangen hatte, nahmen sie keine Rücksicht. „Nico! Gib mir jetzt sofort mein...!“ Er sprach nicht weiter, da er in diesem Moment über eine Tasche stolperte und der Länge nach hinfiel. Seine Wasserflasche, die er unbewusst die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte, rutschte ihm aus der Hand und zerbrach unter lautem Geklirre in tausend Glasscherben. „Haha, der war gut!“, lachte Nico. „Das geschieht dir Recht!“ „Danke!“ Jan rappelte sich wieder auf und trat genervt gegen die Tasche, über die er gestolpert war. „Pass gefälligst in Zukunft auf, wohin du deinen Kram wirfst!“, knurrte er Pirmin an, dessen Tasche es war. Dieser allerdings tat so, als hätte er ihn gar nicht gehört. „Viel Spaß beim Putzen!“ Nico lachte immer noch. „Pah, du erwartest doch nicht im Ernst, dass ich das wegmache.“ Jan machte einen großen Schritt über die Wasser- Glasscherbenpfütze und wollte sich gerade wieder auf seinen Platz setzen, als ein fremder Lehrer das Klassenzimmer betrat. „Sagt mal, was ist denn mit euch los?! Warum seid ihr denn so laut? Und wo ist euer Lehrer?“, fragte er streng. „Keine Ahnung, wo der ist“, antwortete Nico. „Wir sind schon die ganze Zeit alleine.“ „So? Dann geh bitte zum Lehrerzimmer und erkundige dich da mal, wo er ist.“ Nico verdrehte die Augen und verließ das Klassenzimmer. „Und ihr seid jetzt bitte wieder leiser. Die Klasse neben euch schreibt nämlich gerade eine Arbeit.“ Er wollte sich gerade zum Gehen abwenden, als ihm die Scherben auf dem Boden auffielen. „Und diese Sauerei hier wird auch noch weggemacht. Wer war das?“ Er sah in die Runde. Niemand meldete sich. „Wenn sich der Schuldige nicht meldet, putzt ihr alle zusammen, okay?“ In dem Moment hob Jan seine Hand und zeigte zu Pirmin. „Er wars!“ „Was...? Aber ich...“ - „Ja, jetzt wieder herausreden wollen. Du musst auch mal zu dem Mist stehen, den du gebaut hast!“ „Gut, dann mach du es weg“, sagte der Lehrer zu Pirmin. „Ich muss jetzt wieder nach drüben.“ Er drehte sich um und ging zurück in sein Klassenzimmer. In dem Moment tauchte Nico auch wieder auf. „Auf dem Sekretariat haben sie gesagt, dass Herr Wagener unerwartet krank geworden ist. Wir dürfen zwei Stunden früher nach Hause gehen.“ „Yay, wie cool!“, freuten sich alle, packten schnell ihre Sachen zusammen und liefen nach draußen. „Und du hast gehört, was der Lehrer gesagt hat. Putz diese Sauerei weg!“ Jan grinste Pirmin hämisch an und verließ dann als einer der ersten das Zimmer. Dieser stand seufzend auf, holte den kleinen Mülleimer, der neben der Tür stand, kniete sich dann vor der Pfütze auf den Boden und begann, die Scherben aufzusammeln. „Schön alles wegmachen, Putzfrau!“, spottete jemand. Pirmin war froh, als alle gegangen waren. Nein halt, jemand war noch da. Ein ihm unbekannter Junge, wahrscheinlich ein Neuer, saß noch auf seinem Platz. Roman hatte das Klassenzimmer noch nicht verlassen. Er hatte sein Handy hervorgeholt und schrieb seiner Schwester eine SMS, ob sie ihn nicht doch früher abholen könne. Als er sie abgesendet hatte, packte er sein Handy wieder weg und stand auf. Er lief durch die Tischreihen und blieb dann vor Pirmin stehen. „Hey du“, sagte er, da er nicht wusste, wie er das Gespräch beginnen sollte. „...Warum lässt du dir das eigentlich gefallen? Du kannst doch nicht einfach den Dreck von anderen Leuten wegputzen.“ „Kann ich nicht?“, erwiderte Pirmin leise. Wie hätte er sich denn gegen Jan wehren sollen? Er hätte so oder so nicht auf ihn gehört. „Ich weiß es nicht. Ich finde es halt etwas unfair.“ 'Schön für dich', antwortete er in Gedanken. Warum mischte sich dieser Typ da ein? Da es nicht so aussah, als würde der Schwarzhaarige Redebedarf haben, wandte sich Roman zum Gehen um. Kurz vor der Tür blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. „Kann... kann ich dir vielleicht helfen?“, fragte er. Jetzt einfach wegzugehen wäre ja auch unhöflich. Er erhielt keine Antwort. Pirmin schien ihn nicht gehört zu haben. Oder gehört haben zu wollen. „Naja, dann halt nicht.“ Jetzt verließ er das Klassenzimmer doch. Wenn er nicht mit ihm redete, dann war er eben selbst schuld. Pirmin hob leicht den Kopf und sah dem Neuen kurz hinterher, als dieser hinausging. Er brauchte keine Hilfe. Wahrscheinlich hatte er das sowieso nicht ernst gemeint. Niemand meinte ihm gegenüber so etwas ernst. Er betrachtete die Glasscherben in seiner Hand. Eigentlich hatte der Neue Recht gehabt. Es war nicht seine Aufgabe, das zu machen. Warum war er nur immer so unfähig, sich gegen die anderen zu wehren? Wütend auf sich selbst ballte er seine Hand zur Faust. Er spürte, wie sich die Scherben in seine Haut bohrten. Egal. Alles war egal. Er sammelte die restlichen Scherben auf, wischte das Wasser weg und kühlte seine blutende Hand unter dem Wasserhahn. Dann verließ er das Schulhaus und fuhr durch den Regen und die Kälte nach Hause. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)