Eisvogel von Anemia (Der erste Stock) ================================================================================ Kapitel 1: Stöckelschuhe ------------------------ Tock, tock, tock... Dieses monotone Geräusch schien mich zu verfolgen, den ganzen Schulweg schon begleitete es mich. Tock, tock, tock. Immer wieder, in ein und demselben Rhythmus. Es nervte. Ich hasste es. Ich legte an Tempo zu, da ich es eh nicht abkonnte, wenn man mich verfolgte, wahrscheinlich war ich schon paranoid geworden durch den ganzen Scheiß, der mir täglich widerfuhr. Doch das 'tock, tock, tock' schien kein Ende zu nehmen, es machte mich wütend, ungeduldig. Rasend! Wenn man Arroganz akustisch wahrnehmen könnte, sie hätte genau dieses Klang. Arroganz gepaart mit Machtempfinden, Dominanz mit Unterstreichung des Geschlechtes. Denn wir alle waren schon als Babys in blaue oder wahlweise rosa Deckchen eingepackt worden, je nachdem, was der Herr Doktor bei der Geburt zwischen den Beinen vorfand. Fein, dass Fräulein Stöckelschuh so stolz stöckelte, denn natürlich war es wunderbar, wenn man als weibliches Wesen auf die Welt kam. Man konnte mit großer Oberweite protzen, wenn man eine besaß, man konnte so schön mit anderen Vertretern des Geschlechtes über Gott und die Welt herziehen und natürlich mit der besten Freundin über die neusten, sexuellen Erfahrungen plaudern. Wenn Männer sich verziehen, dann wird es ein schöner Tag, so sagen sie, voller Stolz über das, was der Herr im Himmel ihnen an den Unterleib gebastelt hat. Andererseits - ohne Männer leben? No way! Sex ist das höchste Gut der Menschheit, und wenn du keinen hast, dann bist du ein beschissener Klemmi oder fast ein Wesen von einem anderen Stern. Star-Wars-Theme bitte auflegen, Mr DJ. Sollte wohl mein Soundtrack werden. Und er tockte weiter, der Stöckelschuh auf Asphalt. Von Weitem schon konnte ich den tristen Hof der Schule erkennen, die ich besuchte. Wie sehr freute ich mich nun auf Dan, auf Chris und die anderen schwanzgesteuerten Konsorten, die am Wochenende sicherlich wieder viel Spaß mit Weibern hatten und heute natürlich lautstark über ihre Erlebnisse berichten mussten, sich freilich mit ihren Eroberungen übetrumpften, bis es schmerzte. Schließlich war man erst Mann, wenn man seine erste Frau flachgelegt hatte. Vorher war man Bübchen. Sexy. Seltsam. Eigentlich müssten sie doch auch allesamt Stöckelschuhe tragen. Gibts bestimmt auch in blau, für Jungs. Sollte ich dem Herrn Direktor mal als Schuluniform vorschlagen, denn die netten Schuhe würden sicher über neunzig Pronzent der Schülerschaft wunderbar stehen. ***** Da lehnte ich mich nun gegen die Mauer, mutterseelenallein und Chris samt Kumpanen misstrauisch aus den Augenwinkeln beäugend. Die Typen waren mir einfach nicht geheuer mit ihren dummen Sprüchen, die so des Öfteren in meiner Gegenwart abließen, in ihrem ekelhaftem Jargon, den sie stets und ständig an den Tag legten und den Beschreibungen ihres Genitals, welches ich danach schon fast malen könnte, hätte ich gewollt. Doch daran war ich nicht interessiert, machte ich mir weder etwas aus Schwänzen - davon hatte ich selbst einen - noch aus Vaginas. Sie würden mich der Asexualität bezichtigen, wenn sie wüssten, was sie niemals erfahren sollten. Nein. Sie kamen auf mich zu, auf ihren imaginären Stöckelschuhen. Das 'tock, tock, tock' bildete ich mir gar ein, hören zu können. Tock, tock, tock till the very death of me. "Na, Mauerblümchen, alles fit im Schritt?" Mein Magen krampfte sich augenblicklich zusammen und ich fühlte mich, als würde er mein mühsam hinuntergewürgtes Frühstück aus meinem Körper befördern wollen. Nun war ich wieder ganz klein und schwach, da konnte ich mir in der Freizeit sonst wie viele Kontersprüche ausdenken. Ich würde sie nie über die Lippen bekommen, das wurde mir spätestens in dem Moment klar, in dem es darauf ankam. Shit. Was tat ich, während ich mich innerlich ein Arschloch schimpfte? Ich lächelte Christian an. Sah ihm in die Augen. Verabscheuenswürdig sein Blechpickel an der Unterlippe, seine liederlich unter der Schirmmütze hervorragenden, blonden Strähnen. Ekelhaft der Gedanke daran, dass er einer dieser Leute war, die sich dermaßen heterosexuell gaben. Ich hatte Angst vor ihm, irgendwie schon, aber mehr noch stieß er mich ab mit allem, was er tat. Er war dieses verdammte, lebende Klischee! "Hab' gehört, du sollst noch Jungfrau sein, Jaden. Oh mein Gott, wie süß!" Er gluckste kurz in sich hinein, erlangte aber bald wieder zur Beherrschung, während seine Hand auf Konfontationskurs mit meiner Schulter ging. Fass meinen Hoodie nicht an! "Aber ist ja klar, dass so ein Hässlow wie du keine Tussen abkriegt. Oder?" Oh heilige Bullenscheiße. Jetzt hatten sie mich. Genau diese Stelle, die mir besonders weh tat. Irgendwann musste es so kommen. In mir arbeitete es, es ratterte wie wild, mein Kopf wurde heiß und meine Hände kalt und - mein Mund blieb verschlossen. Sollte ich lügen? Ich konnte nicht. Was dann? Mir war so warm, so unerträglich warm. Meine Ohren brannten wie Feuer. Mehr gab mein Körper nicht von sich. "Der Emo! Es stimmt also! Der hat noch keine Frau geknallt! Alter, das gibt's nicht! Boah, das Opfer!" Wie eine Horde Betrunkener stimmten sie 'Like a Virgin' an, schubsten mich gegen die harte Wand, in der ich am liebsten verschwunden wäre und überließen mich nach einer Weile einfach mir selbst, doch ich wusste, ich dürfte mir die Sprüche noch häufig anhören, wenn sie einen Anlass fanden, mir die Tatsache meiner Jungfräulichkeit auf die Nase zu binden. Und nun ging es mir beschissen, gelinde gesagt. Ich hätte heulen und kotzen gleichzeitig können, schimpfte mich selbst ein Arschloch und einen Idioten, denn wieso, verdammt nochmal, hatte ich es quasi zugegeben? Es stellte zwar laut Kirche eine Todsünde dar, falsch Zeugnis zu reden, aber seit wann bekannte ich mich zu einer Religion? Für mich waren das alles Schwachmaten, die genauso gut noch an den Weihnachtsmann glauben könnten und sich stets an einer höheren Macht festkrallten, die dann schon richten würde, wenn es ihnen dreckig ging. Ich glaubte nicht, dass die frommen Gebete irgendeinen Nutzen mit sich brachten. Mich hätte der Herr im Himmel sowieso nicht erretten wollen, obwohl ich noch immer keinen Beischlaf vollzogen hatte. Und Onanie ist voll in Ordnung. Fragt die allmächtige Bravo. Ich fühlte mich ganz weinerlich, wie ein Kleinkind, welches man von seiner Mutter entfernt hatte. Jetzt noch hinein in diese Kammer des Schreckens und sieben Stunden ausharren in Gesellschaft derer, die einen Grund hatten, mich zu verachten. Beruhte zwar irgendwie auf Gegenseitigkeit, aber ich zeigte meinen Hass nie, denn ich wusste, wie hart einen dieses starke Gefühl in die Brust pieken konnte. Drei Minuten bis das Stundenklingeln einsetzen würde. Ich ließ meinen Blick unruhig über das Gelände wandern, wollte mich erst in meine Bank setzen, wenn der Lehrer mir ein wenig Sicherheit schenken konnte. Unweit von mir an der Mauer konnte ich Mihai ausmachen, gleichgültigen Blickes an seiner Zigarette ziehend und herzhaft die grauen Schwaden in die Luft blasend. Der hatte die Ruhe weg, immer. Er kassierte in einem Fort Sechsen, egal in welchem Fach, aber anstatt sich zu ärgern oder wie die anderen den Lehrer als ein schwules Arschloch zu bezeichnen, steckte er den Zettel einfach ohne ein Wort in seine Tasche und verzog keine Miene. Vielleicht wusste er auch, dass es seine Schuld war, denn jeder ist für seine eigene Dummheit verantwortlich und für die Dinge, die er tut oder auch lässt. Und dass Mihai es stets unterließ, ein Buch aufzuschlagen und brav darin zu lernen, wusste die gesamte Schülerschaft. Deshalb wurde er in diesem Herbst auch schon 22 Jahre alt und ich fragte mich, ob er die Schule noch besuchen wollte, wenn er bereits Enkelkinder besaß. Stop. Nein, Enkelkinder würde er wohl nie haben. So wie Jack und er sich immer anschauten, auch wenn es durch ihre coolen Sonnenbrillen war, legte das Schiff bei den Beiden garantiert am anderen Ufer an. Okay, vom Optischen her würde ich das auch annehmen. Jede lackschwarze Haarsträhne saß bei dem Sohn rumänischer Eltern am rechten Platz, fein säuberlich nach oben gegelt. Und Piercings trug er in dem ebenmäßigen, glatt rasierten Gesicht, das mich oft schon an eine Puppe erinnert hatte, so absurd wie es klang. Man musste einfach auf seine Lippen schauen, zogen die funkelnden Dinger jedermanns Blicke magisch an. Von den fetten Tunnels in den Ohren, in die er wahlweise Pflöcke oder gar große, runde Klunker steckte, wollte ich gar nicht erst anfangen. Aber es stand ihm einfach, und darum wusste er, so cool wie er sich stets verhielt. Niemand hätte es je in Augenschein gezogen, ihn wegen seinem auffälligem Style zu mobben, niemand hatte auch nur je einen doofen Spruch abgelassen, wenn er Jack auf seinem Schoß sitzen ließ und sie sich angrinsten, voller schmutziger Gedanken, für jeden offensichtlich. Er hatte den perfekten Körper, an dem jeder Muskel genau die richtige Ausprägung besaß, eine Haut von der Farbe eines Cappuccinos minus Schlagsahne und eine Ausstrahlung, die man nicht beschreiben konnte. In stillen Momenten wünschte ich mir, ein klein wenig sein zu können wie er. Auch wenn dies bedeutete, dass ich irgendwann mal mit meinen eventuellen Enkelkindern zusammen zur Schule gehen würde. Hand auf meiner Schulter. Erneut. Shit! Ich rechnete bereits mit dem Schlimmsten, nämlich mit Chris und Kumpanen, entdeckte aber als ich mich reflexartig umdrehte lediglich Kolja, die Grinsekatze, heute mal wieder besonders grinsig. Wahrscheinlich, weil ich mich so erschreckt habe, da ich in meiner Gedankenwelt versunken war. Ich musste zugeben, mir fiel ein Stein vom Herzen. Noch mehr Virgin-Lieder konnte ich kaum mehr vertragen. "Ey du Träumer", gluckste Kolja, der wahrscheinlich einzige halbwegs normale Mensch in diesem Irrenhaus respektive Puff. "Was glotzt'n du so auf den Mihai? Sag bloß, du bist verschossen in das Toastbrot? Nee, oder? Du und schwul?" "Ach, Quatsch!" Peinlich, dass ich so unwirsch reagierte, dazu noch bei so einem heiklen Thema, denn erstens log meine Reaktion - ich wollte schließlich nichts von dem Typen - und zweitens wusste ich, dass mein Ab-und-zu-Kumpel nicht sonderlich viel von Homosexuellen und solchen, die den Anschein machten als ständen sie unter der Regenbogenflagge, hielt. Und auf Mihai war er erst recht nicht gut zu sprechen. Für Kolja war er ein arroganter Schnösel, den er heimlich 'Tucke' nannte, wenn er ihn mal wieder um das Abschreiben der Hausaufgaben bat, da er selbst zu faul war, um sie zu erledigen. Oder zu dumm. "Sieht mir aber ganz anders aus, Jaden. Ich beobachte dich schon seit einiger Zeit und was für Blicke du ihm zugeworfen hast...uh lala..." Zum zweiten Mal an diesem Tage wünschte ich, einfach im Erdboden versinken zu können, spurlos und ohne, dass mich jemand vermisst. Aufregung brachte mich nun auch nicht weiter, also sagte ich besser gar nichts. Wie ich es immer tat. Kolja hatte sich schließlich neben mich gestellt, die Hände in den Hosentaschen versunken und schwieg, während er auf den Boden schaute und mit der Schuhspitze einen Zigarettenstummel wegkickte. "Es geht mich ja nichts an, aber überleg dir das gut, ne?" Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, ich schaute fragend zu ihm hinüber. Er hatte wohl registriert, dass ich nicht so recht verstand, was er meinte, also setzte er zu einer Erklärung an. "Naja...du weißt selbst, dass er dumm wie Bohnenstroh ist und nur auf sein Äußeres bedacht...und außerdem...", er machte eine kurze Pause, atmete tief durch, "steckt der seinen Schwanz in jedes Loch...nicht nur in Jacks..." Nun blickte er mir direkt in die Augen, durch welche ich kaum mehr etwas sehen konnte, da meine Haare vor sie gefallen waren. "Tu mir das bitte nicht an! Du darfst nicht schwul werden! Ich hätte keinen Plan, wie ich mit dir umgehen sollte..." Innerlich verdrehte ich die Augen. Das war doch total aus der Luft gegriffen! Nur, weil ich in Gedanken war und zufällig Mihai dabei anglotzte, weil er peinlicherweise so etwas wie ein Vorbild für mich darstellte, machte mich das noch lange nicht zum Gaylord! Klar, der Typ war attraktiv und absolut tough, aber ich war weit davon entfernt, auf ihn zu stehen. Wenn ich jemals überhaupt auf jemanden abfahren würde, dann wäre das Angelina Jolie oder irgendeine andere Person des schönen Geschlechts gewesen. Aber doch nicht Mihai, der mit der Riesenperücke alias Jack vögelte! Und womöglich mit jedem anderen auch... Glücklicherweise schien das Thema für Kolja nun gegessen zu sein, da auch ich nichts mehr darauf zu sagen wusste. "Eigentlich bin ich gekommen um dich zu fragen, ob du heute Abend ins Darkstar kommst. Ich hab' nen Gig mit meiner Band, voll die große Sache. Hab' jetzt schon Hummeln im Hintern und würd mich echt über bisschen moralische Unterstützung freuen..." Ja, Kolja, unser großer, aufstrebender Rockstar. Ein paar Mal schon hatte ich seiner Band, deren Namen ich leider vergessen hatte, da für mich unwesentlich, bei den Proben zugehört und bin zu dem Ergebnis gekommen, die Musik sei eher mittelmäßig, was wohl weniger an Kolja als an dem grottenschlechten Drummer lag. Aber den wollte er ja nicht auf den Mond schießen, selbst schuld. Dass sie nun endlich einen Kneipenbesitzer dazu überredet hatten, sie zu buchen, war eine Sensation. Und es war nicht verwunderlich, dass Kolja Schiss vor dem Auftritt hatte. Da ich eh nichts besseres zu tun hatte, willigte ich ein. Chris würde nie auf die Idee kommen, ein Metalkonzert zu besuchen, war der eher so der Hopper mit Riesenhosen und peinlich fettem Goldkettchen um den Hals. Also konnte ich mich ruhigen Gewissens dort blicken lassen. Kolja freute sich über meine Zusage, grinste wieder und ich für meinen Teil war froh darüber, wieder einen Menschen glücklich gemacht zu haben. Dann dampfte er ab, jedoch nicht ohne mir noch etwas zuzurufen. "Und lass dich nicht ans andere Ufer schippern von diesem Stöckelschuhträger!" Verdutzt blieb ich zurück. Kolja wusste anscheinend nicht, dass das Tragen von besagten Schuhen keinesfalls etwas mit Crossdressing zu tun hatte. Und ob Mihai wirklich Stöckelschuhe trug, konnte ich nicht sagen. Aber wahrscheinlich war es der Fall, sollte das stimmen, was Kolja mir über ihn verraten hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)