Heartbeat von Autumn (Kyman, Stenny, Creek, Tyde u. a. (KAPITEL 12 IST DA!!!)) ================================================================================ Prolog: Morgenstund' hat Gold im Mund - oder auch nicht ------------------------------------------------------- Hallo, liebe Leser!^^ Ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich eine South Park-FF schreibe! Aber ich habe bisher so viele lange FFs parallel geschrieben, dass ich ziemlich ausgelaugt war und dringend etwas Neues brauchte, um meine Kreativitätszellen wieder aufzuladen - und unglaublicherweise ist dieses Neue ausgerechnet South Park, was ziemlich seltsam ist, da meine Gefühle für die Serie eher zwiespältig sind. Ich mag sie, aber es gibt Folgen, die mir zu drastisch oder derb sind und wo ich dann lieber wegschalte...andererseits gibt es auch Folgen, die ich absolut genial finde...und ich bin ein Fan unserer vier Helden und etlicher anderer Charaktere. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass man mehr oder weniger sein eigenes individuelles High School-Szenario erstellen kann und dabei seiner Fantasie (fast) völlig freien Raum lassen kann...das ist immer toll!^^ Da ich zur Zeit meine Abschlussarbeit für die Uni schreibe, wird es etwas dauern, bis die nächsten Kapitel kommen, und wer weiß, vielleicht will dieses Machwerk auch gar niemand lesen...ach ja, und die Steckbriefe werden im Laufe der FF vervollständigt! Titel: Heartbeat Fandom: South Park Genre(s): Romantik, Drama, Shonen-Ai bzw. Slash, Hetero, Songfic, Action, Fantasy Pairings: CartmanxKyle, KennyxStan, CraigxTweek, TokenxClyde, DamienxPip, Buttersx?, Wendyx?, Bebex? (ja, diese Slash-Story hat zwei Hetero-Pairings; das mit Wendy dürfte vermutlich klar sein, das mit Bebe ist ein persönlicher Crack-Pairing-Favorit von mir, den ich bisher auch noch nirgendwo gesehen habe, und deswegen schaffe ich jetzt Abhilfe) Warnungen: lime, evtl. limone, Gewalt (und mehr fällt mir im Moment nicht ein) Einstufung: PG-14 bis PG-16 Noch ein paar Dinge vorweg: Wer die hier aufgelisteten Pairings nicht mag oder Schreikrämpfe kriegt, wenn er „Crack-Pairing" hört, sollte diese FF nicht lesen. Wer neugierig genug ist und Pairings aus Interesse ignorieren kann (oder bereit ist, sich überzeugen zu lassen!^^), darf gerne bleiben. Wer alle erwähnten Pairings mag, ist sowieso willkommen! Und dann noch kurz eine Notiz zu Cartman: Der Junge ist ein Psychopath. Anders lässt sich das nicht beschreiben. Nun funktioniert ein Psychopath in einer High School-Romanze nicht wirklich (es sei denn, es ist eigentlich ein Thriller), schon gar nicht als „romantic lead", deshalb werde ich in seiner Darstellung auf die psychopathischen Aspekte verzichten und mich auf den Arschloch-Teil konzentrieren!^^ Eine tiefsitzende Psychose a la Hannibal Lecter ist für eine Romanze nicht brauchbar, Punkt. Disclaimer: Das alles gehört nicht mir, sondern Trey Parker und Matt Stone und ich verdiene keinen müden Cent mit diesem Auswuchs meines Gehirns. Alle Charaktere und Ereignisse in dieser Story sind vollständig fiktiv. Die Stimmen aller handelnden Figuren wurden synchronisiert... und das armselig. Die folgende Fanfiction enthält Slash (BoyxBoy) und sollte aufgrund dieses Inhalts nicht von jedem gelesen werden. "..." Dialog »...« Gedanken Prolog: Morgenstund‘ hat Gold im Mund - oder auch nicht Der Wecker klingelte, aber er ignorierte ihn. Er hatte keine Lust, in die Schule zu gehen, sie hatten heute ohnehin nur Mist, wie praktisch jeden Tag. Außerdem hatte er eine anstrengende Nacht hinter sich, also hatte er auch das verdammte Recht, hier liegenzubleiben und die Folterhalle namens High School nicht mit seiner Person zu beehren. Vermutlich würde es sowieso niemandem auffallen, wenn er fehlte. Er hatte kein Geld, folglich existierte er nicht. Wer keine Designerklamotten oder coole Turnschuhe vorweisen konnte, stürzte automatisch in die bodenlose Schlucht des Außenseitertums - was bedeutete, dass man wahlweise blöd angemacht oder komplett übersehen wurde. Für gewöhnlich passierte beides abwechselnd. Offiziell gab‘s ihn demnach gar nicht. Seine Lehrer und Klassenkameraden kratzte es nicht mal mehr, wenn er während des Unterrichts fröhlich vor sich hin starb. Er war ‘ne arme Sau. Sein Blick wanderte nach links. Auf dieser Seite lag irgendeine blonde, ziemlich kurvige Schönheit, deren Namen er vergessen hatte. Er war nicht mal sicher, ob er überhaupt danach gefragt hatte. Rechts verteilte sich der muskulöse Prachtkörper von einem der Footballspieler übers Bett. Was hatte der eigentlich für eine Haarfarbe? Aha, schwarz. An seinen Namen konnte er sich auch nicht erinnern. Irgendwas mit M oder P oder T...ach, Scheiß drauf. Mit einer missmutigen Geste fegte er den Krachmacher auf den teppichlosen Fußboden, wo das alte Uhrwerk sein technisches Leben aushauchte und stand auf. Die Morgensonne knallte erbarmungslos durch das Fenster und heuchelte einen wunderschönen Tag, ein Versprechen, das ihm nur ein verächtliches Brummen abringen konnte. Er schlüpfte in seine Shorts und die schadhaften Sandalen, die sich seine Hauslatschen schimpften, rumpelte die Treppe hinunter in die Küche und suchte sich geeignete Utensilien für ein essbares Frühstück zusammen. Sein Vater lag quer über dem Tisch und schnarchte dröhnend, die zahllosen Bierflaschen, die sich um ihn herum ein seltsames Stelldichein gaben, ließen den Schluss zu, dass er Rausch Nr. 9342 ausschlief. Oder war es Nr. 9343? Egal. Im Kühlschrank sah‘s schlecht aus. Seine Mutter hatte nicht eingekauft. Und selbst wenn, hätte das auch nichts gebracht, das Teil hatte schon vor Wochen den Geist aufgegeben. Der Kühlschrank war alles, nur nicht kühl, und garantiert nicht dafür geeignet, Lebensmittel darin aufzubewahren. Nach einigen Minuten intensiver Suche förderte er in einem der Küchenschränke eine Schachtel Frühstücksflocken zutage, eine Milchtüte, die tatsächlich noch Milch enthielt und ein verschrumpeltes Etwas, das in seiner früheren Existenz ein Apfel gewesen sein musste. Bäh. Die Fäulniskolonie landete sofort im Müll - und wenn er ehrlich war, hätte der Rest ebenfalls dort landen müssen, weil bei beiden das Haltbarkeitsdatum abgelaufen war. Als er sich die Milch einschenken wollte, stellte er fest, dass sie bereits zu gerinnen anfing. Na toll. Was sollte er jetzt machen? Staubtrockenes Zeug mampfen, von dem er mit hoher Wahrscheinlichkeit das große Kotzen kriegen würde, vorausgesetzt, es brachte ihn nicht gleich um? Sein Magen knurrte. Angewidert warf er sein „Frühstück" dem Schrumpelapfel hinterher und trottete ins Wohnzimmer, wo er seine Mutter vorfand, die inmitten von leeren Chipspackungen auf dem Sofa lag und genauso herzerwärmend schnarchte wie die noch lebende Alkoholleiche in der Küche. Ihr neuester Spleen war es, sich von irgendeiner Wahrsagertante am Telefon eine bessere Zukunft vorbeten zu lassen. Mit sowas pflegte sie die Nacht durchzumachen. Tse, das dauerte auch nicht mehr lange. Die nächste Telefonrechnung konnten sie garantiert nicht bezahlen, nun, wo seine Mutter wieder einen ihrer Jobs „hingeschmissen" hatte (übersetzt hieß das: Man hatte ihr gekündigt - wieder einmal). Er seufzte. Seine Noten waren nicht die besten, aber er hoffte dennoch, sein letztes Jahr an der High School erfolgreich beenden zu können. Er hatte keine andere Wahl. Er brauchte einen Abschluss, denn er wollte definitiv nicht für immer und ewig auf der untersten gesellschaftlichen Schiene versauern, so wie seine Eltern. Sie waren ihm ein abschreckendes Beispiel. „Morgen, Süßer.", nuschelte jemand hinter ihm. Es war seine blonde Mieze mit den schicken Titten (die, wie er wusste, nicht natürlich, sondern teuer waren), die sich in seinen orangen Parka geworfen hatte (das dritte Modell für die Teenagerphase nach denjenigen für Kindergarten und Grundschule) und ihn anzüglich anlächelte. „Bock auf ‘ne zweite Runde?" „Ist... er... schon wach?" Dass ihm auch jetzt der Name nicht einfallen wollte! „Er? Oh, du meinst Martin? Nein, er schläft noch. Aber natürlich können wir ihn für ein bisschen Frühsport aufwecken, wenn du willst!" Martin. Also doch was mit M. Und sie? Wer war sie? „Stimmt was nicht, Darling?", erkundigte sie sich, indem sie näher trat und ihre schlanken Finger mit den fast krallenartigen Nägeln durch sein langes Haar gleiten ließ. Irgendwann hatte er einfach aufgehört, seine Zeit beim Friseur zu verplempern, denn für seine finanziellen Verhältnisse stellte professionelles Haareschneiden einen Luxus dar. Seit Beginn der Pubertät durfte er sich den Besitzer eines blonden Schopfes nennen, der bis über seine Schultern reichte und den er hin und wieder in Eigenregie zurück stutzte. Normalerweise band er das Ganze zu einem Zopf im Nacken zusammen, aber im Moment sah er eher aus wie ein ramponierter Rauschgoldengel, mit Betonung auf Rausch. „Äh... wer bist du nochmal?" Ja, sehr geschickt und taktvoll. Wie immer. Aber eine Frau wie die da konnte man eigentlich nicht beleidigen. Die zog auch gerne bei Lehrern extrem kurze Röcke an, sofern der Pauker einigermaßen was hermachte. Dadurch war er natürlich erst auf sie aufmerksam geworden. Okay, nicht wirklich auf sie, sondern auf ihre beiden überzeugenden Argumente, aber hey, wenn sie nicht gerade miteinander sprachen, hing ihr Blick auch eine Etage tiefer! „Oh, du hast meinen Namen vergessen?", schmollte sie und verdrehte kunstvoll die Augen, als müsse sie angesichts dieser Unverschämtheit sofort in Ohnmacht fallen. „Was bist du doch für ein böser Junge! Ich heiße Tina!" Aha, Tina. War nicht schwer zu merken. Im Grunde. Aber für ihn waren alle seine intimen Bekanntschaften beliebig auswechselbar, weil keine von ihnen ihn kümmerte. Er vergaß sie bald, so wie er auch von ihnen vergessen wurde. An etwas Dauerhaftem war er nicht interessiert - er glaubte nicht an Dauer. „Nun, was ist jetzt, Baby? Ein klein wenig Horizontalgymnastik vorm Unterricht? Martin wird sich bestimmt anschließen wollen, der war ja schon lange scharf auf deinen Knackarsch." Tse, ach nee. Ganz was Neues. Der war ja schon im Grundschulalter scharf auf alles und jeden... halt mal. »Na, ich war auch nicht gerade ein Waisenknabe. Ich meine, ich hatte mit acht bereits ‘nen Tittenfetisch! Einer der Gründe, warum ich bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr davon überzeugt war, hetero zu sein...nur um kurz darauf festzustellen, dass ich auf Titten und Schwänze abfahre. So kann‘s gehen.« Ehrlich. Niemand, absolut niemand war davon überraschter gewesen als er. „Nein, keine Zeit, ich bin spät dran. ‚It‘ am frühen Morgen ist zwar echt die schlimmste Art, um den Tag zu beginnen, aber ich kann‘s mir nicht leisten, schon wieder blau zu machen, sonst falle ich womöglich durch. Und das wäre beschissen." Und wie beschissen. Mit ‚It‘ konnte man außerdem nicht reden. Mit bürgerlichem Namen hieß er/sie (eben ‚It‘) eigentlich Garrison (wahlweise Mr. oder Mrs., je nach dem, ob ‚It‘ Rock oder Hose trug) und galt seit seiner/ihrer zweiten Geschlechtsumwandlung offiziell wieder als Mann, doch hundertprozentig sicher konnte man bei ihm/ihr nie so ganz sein...It wechselte sein/ihr Geschlecht wie andere Leute ihre Unterwäsche. Freak. Jedenfalls hätte man schon die erste Operation verhindern und den verantwortlichen Arzt verklagen müssen, weil er es gewagt hatte, sein Machwerk auf arme unschuldige Schüler loszulassen! Und dieses... Es... (wie gesagt) unterrichtete auch noch eines seiner Hassfächer, nämlich Amerikanische Geschichte (wobei das Fach an sich nicht unbedingt immer das Problem war, sondern eher die zweifelhafte Lehrkraft). Halleluja, frohlocket. Das einzig Spannende an diesen Stunden waren die Diskussionen zwischen Eric und Kyle, alles andere verschwamm in seinem Kopf immer zu einem wabernden Nichts. Ohne die beiden Streithähne würde definitiv etwas fehlen, denn Mr. Cartman und Mr. Broflovski dabei zu beobachten, wie sie einander verbal an die Kehlen sprangen, war wirklich ein exklusives Vergnügen. Früher hätte er freimütig erklärt, dass sie sich hassten. Mittlerweile war er sich dessen jedoch nicht mehr so sicher - wer einmal gesehen hatte, wie sich die zwei ewig Unversöhnlichen nach einem argumentativ virtuosen Schlagabtausch mit glühenden Gesichtern keuchend gegenüberstanden, am ganzen Körper bebend, nun, der konnte gar nicht umhin, das als „sexuelle Spannung" zu bezeichnen. Laut ausgesprochen hatte er das allerdings bisher noch nie. Er war vielleicht regelmäßig am Abkratzen, aber trotzdem nicht lebensmüde... oder völlig verblödet. Eric Cartman oder Kyle Broflovski herauszufordern, schlimmer, zu verärgern, das war etwas, was man schlicht und ergreifend nicht tat, wenn man seine Gesundheit erhalten wollte. Und wenn beide gleichzeitig angepisst waren... Worst Case Szenario. Dritter Weltkrieg. Der sichere Tod. Ultimativer Overkill. You name it, it‘s there. „Also keine Horizontalgymnastik?" Es klang fast aufrichtig enttäuscht. Er zog ihr ohne viel Federlesen den Parka von den Schultern, maß ihre nackte Schönheit mit einem Kennerblick ab und schüttelte bedauernd den Kopf, nicht ohne dabei eine verzweifelte Miene aufzusetzen, die jeden Stein erweicht hätte. „Nein, Babe, tut mir leid. Diesmal nicht. Frag Martin, der sagt bestimmt nicht nein." Damit verschwand er im winzigen Badezimmer der heimatlichen Bruchbude, angelte eine seiner beiden ausgehtauglichen Hosen von der notdürftigen Wäscheleine (einer Schnur, die mehrfach vom dem einzigen Schränkchen im Raum zum Wasserboiler gespannt war und auf der die Klamotten trockneten, die zu waschen seine Mutter ausnahmsweise mal nicht vergessen hatte), schlüpfte hinein, bändigte seine Haarmähne, so gut es möglich war, griff sich auf dem Flur seinen Rucksack und betrat die Straße. Nach einer gründlichen Umschau in alle Richtungen, aus denen ihn eventuell das Verderben hätte erreichen können, machte er sich auf den Weg zur Schule. Seine Laune besserte er dadurch auf, dass er an all die neuen Eroberungen dachte, die er heute in sein kleines schwarzes Büchlein eintragen (irgendwie musste man ja die Übersicht behalten!) und nacheinander abarbeiten würde, sofern genug reizvolle Vertreter beiderlei Geschlechts vorhanden waren. Allen voran natürlich der große, nicht ganz so heimliche Schwarm aller Mädchen und praktisch jedes dritten oder vierten Kerls, der erstens schwul war, was die Ladys jedoch nicht im mindesten daran hinderte, ihn anzusabbern und der zweitens - ohnehin erstaunlich - leider nicht er selbst war, sondern... Ein Krachen tönte ihm in den Ohren, dann sah er, wie ein Strommast, der aus unerfindlichen Gründen abgebrochen war, auf ihn hernieder sauste und ihn unter sich begrub. »Oh Fuck! Ich hätte es wissen müssen!« Es war Punkt sieben Uhr in South Park, Colorado, als Kenneth McCormick wieder einmal das Zeitliche segnete. Er wäre wohl besser bei der Horizontalgymnastik geblieben. Kapitel 1: Ghost - Nachricht von Ken ------------------------------------ Kapitel 1: Ghost - Nachricht von Ken Hm. Mal schauen. Toter Körper? Check. Da liegt er - soll heißen, da liege ich, oder das, was von mir übrig ist, nachdem dieser verdammte Strommast mich zerquetscht hat. Durchsichtige Seelengestalt? Check. Aber komischerweise bin ich noch nicht damit beschäftigt, nach oben oder unten abzuwandern, ich geistere nur blöd in der Gegend herum und nichts tut sich, kein himmlischer Chor erklingt und Stimmen der Verdammnis sind auch keine zu hören. Offensichtlich bin ich schon wieder nur eine Art Gespenst, das zwischen den beiden Sphären herumirren darf, weil Himmel und Hölle gerade keinen Bock auf mich haben oder so. Es ist sowieso ein ständiges Glücksspiel, wo genau ich lande, wenn ich wieder einmal abgenibbelt bin. Manchmal steige ich schnurstracks in den Himmel auf, manchmal falle ich direkt in die Hölle und manchmal... tja, manchmal passiert nichts davon und ich bleibe als gestrandete Seele auf der Erde zurück. Warum? Leute. Nur so zur Info: Auch wenn man, so wie ich, mit Gott und Satan perdu ist, wollen die einen nicht unbedingt immer vor der Nase haben, also parken die mich ab und an gerne auf dem Zwischendeck, kapiert? Gut. Na, ich kann nicht sagen, dass mich das groß stört - ich meine, okay, Gott ist irgendwie schon schwer in Ordnung, es schwirren Milliarden von sexy Engeln durch die abgehobenen Hallen, man kriegt Milch und Honigbrot bis man platzt und man kann PSP spielen bis zum Abwinken, und bei Satan gibt‘s knackige Dämonen in Lack und Leder, fast jeden Abend ‘nen Tanz ums Fegefeuer und wenn Damien zu Hause ist, wackelt die ganze Unterwelt und man kann essen und saufen, bis man tot umfällt... wenn man‘s nicht bereits wäre... aber: Den meisten Spaß hat man, wenn man als Geist herumspuken darf. In diesem Zustand kann man alles sehen und hören, aber dich kann niemand wahrnehmen! Ehrlich, das ist wirklich richtig geil. Zum Beispiel kann ich die Mädchen in der Umkleidekabine besuchen und keine merkt es! Das wird auch nie langweilig. Titten werden mich nie langweilen, besonders nicht die von Bebe... oder, noch besser, ich beobachte sie beim Duschen! Und ja, ich mache das bei den Jungs genauso... Seit ich weiß, dass ich bi bin, genieße ich es, mich weder in meinen Fantasien noch sonst wie einschränken zu müssen. Ein heißer Arsch ist ‘n heißer Arsch, egal, ob er an ‘ner Frau oder ‘nem Kerl hängt. Das einzige, was mich im Moment ankotzt, ist die Tatsache, dass ich nicht bei It im Unterricht aufkreuzen werde - und It wird mir dafür ein Nachsitzen aufbrummen, das sich gewaschen hat, jede Wette. Aufgrund meiner „häufigen Abwesenheit", wie It das so hübsch formuliert (ich würde es ja „chronisches Ableben" nennen), halte ich den Rekord im Nachsitzen... bitte nicht nachmachen, liebe Kinder. Das mit dem Nachsitzen. Und natürlich das mit dem Ableben. Ich bin ja gespannt, wie lange ich diesmal tot sein werde. Hoffentlich lange genug, um den beschissenen Mathetest zu verpassen. Ich lasse also meine verstorbene Hülle zurück und schwebe Richtung Schule. Wieso schweben? Tse, seid Ihr tatsächlich so doof oder war das ein verzweifelter Versuch, witzig zu sein? Ich bin ein Geist, verdammt! Ich gehe nicht zu Fuß, ich schwebe, ist das klar!? Mann, Mann, Mann, was ist das für ‘ne beschissene Frage?! Idioten. So circa ‘ne halbe Stunde später taucht das altbekannte Gebäude der Marteranstalt vor mir auf. Neben der Grundschule gibt es nur eine einzige weiterführende Schule in diesem Kaff, eine Verbindung aus Senior- und Junior High School, die wegen des notorischen Lehrermangels regelmäßig Pauker aus der Grundschule herbeizitiert, damit ja keiner auch nur eine popelige Freistunde bekommt. Genau das ist der Grund, warum It uns immer noch mit seinen/ihren Launen quälen darf, die schlimmer schwanken als ich, wenn ich mir zwei Flaschen Wodka hinter die Binde gekippt habe. Das allgemeine Geschrei ist riesig. Die Mittelschüler (im Nachfolgenden das „Gemüse" genannt) in ihrer vollen pubertierenden Pracht bilden den Bodensatz dieser hochgeschätzten Bildungsstätte. Gemüse zwischen 12 und 14 hat hier rein gar nichts zu sagen, kapiert? Gemüse ist unwichtig. Gemüse wird erst wahrgenommen, wenn es zum High School-Freshman herangewachsen ist (für alle Unwissenden unter Euch: ab der neunten Klasse). Und selbst dann bleibt man möglicherweise ein Nichts. So funktioniert die High School - es ist die härteste Hierarchie der Welt. Bestes Beispiel: Ich. Mein Gesamtstatus an der Park School ist mittelprächtig. Wieso? Punkt 1: Ich bin ein armes Schwein. Ich habe nichts und leiste mir nur...in jeder Beziehung, und das geht selten gut aus. Ich kann niemanden mit coolen Markenklamotten oder technischem Schnickschnack beeindrucken; der Laptop, den ich mal hatte, ist inzwischen schrottreif und taugt nur noch als Staubfänger, ich besitze kein Handy und der einzige fahrbare Untersatz, der mir zur Verfügung steht, ist mein uralter vergammelter Roller. Wenn man die höchste Position in der Rangliste mit Zehn bewertet, bin ich wegen meiner Armut und meines Nicht-Angesagt-Seins im materiellen Bereich eine Null. So ziemlich. Aber: Laut Punkt 2 ist das eigentlich halb so schlimm. Weil ich nämlich heiß bin. Okay, ich sehe nicht besonders ordentlich aus, aber ich bin groß, schlank, an den wünschenswerten Stellen wohlgeformt (Yeah, Baby! Sex ist ein super Training!), mein Haar ist goldblond und meine Augen blau, und zwar so richtig himmelblau. Ich habe ‘ne Menge Erfahrung und genausoviel Charme. Soll heißen, (fast) alle Frauen liegen mir zu Füßen und etliche scharfe Typen auch, obwohl ich natürlich nicht mit unserem Idol mithalten kann (wer kann das schon?). Offiziell bin ich eine Acht (= äußerst attraktiv; wen‘s interessiert, es gibt tatsächlich eine Liste, mit der sich der Gesamtstatus errechnen lässt. Die hier ist für‘s Äußere: 0 = Hässlich, 1 = Erträgliches Aussehen, 2 = Mäßiges Aussehen, 3 = Bescheidenes Aussehen, 4 = Nettes Aussehen, 5 = Gutes Aussehen, 6 = Attraktiv, 7 = Sehr attraktiv, und 9 = Extrem attraktiv, 10 = Schön. Fabriziert wurde das Ding von den Mädchen der Schülerzeitung und es steht in jeder verdammten Ausgabe auf der letzten Seite, die aktuell heißtesten Jungs in Klammern!). Und nun zu Punkt 3: Sportlich betrachtet bin ich auch nicht gerade der Hit. Herkunft, Aussehen und Sportlichkeit sind so ziemlich die bedeutendsten Kriterien, um diese Scheiße namens High School einigermaßen unbeschadet zu überleben...oder eben nicht. Und der einzige Sport, in dem ich wirklich ein As bin, ist...öh...na ja, Sex. Dummerweise zählt das nicht (wieso nicht!?!). Ich bin nicht schlecht, aber auch nicht gut, also bloß Durchschnitt (um im System zu bleiben: Das ist eine 3) - und Durchschnittsware wird nicht in Sport-AGs und erst recht nicht in eine der Schulmannschaften aufgenommen. Mein Gesamtstatus (kurz GS) ist daher Vier (0+8+3 = 11, 11:3 = 3,66), was so viel heißt wie „einigermaßen beliebt". Und wenn Ihr jetzt denkt, dass niemand so eine gequirlte Kacke ernstnehmen kann, dann täuscht Ihr Euch, und zwar gewaltig! Ja, ich werde gnadenlos angebetet von allem, was wild und willig ist, aber jeder einzelne von denen hat selbst einen niedrigen Status (okay, nicht alle, aber die meisten). Die kommen an mich ran und ich an sie, aber von weiter oben kommt keiner runter zu mir und ich nicht rauf. Was ich damit meine? Puh. Also nochmal für Blöde, illustriert an jener Dame, die in dieser Sekunde um die Ecke biegt: Bebe Stevens. Ihre Markenzeichen sind ihre üppige blonde Löwenmähne und ihre beiden berühmt-berüchtigten echten D-Cup-Brüste. Sie ist der Kapitän der Cheerleader und eine Sechs oder Sieben (= sehr bis äußerst beliebt), genau weiß ich es nicht. Egal, worauf ich hinaus will, ist - ich hatte sie noch nie in der Kiste. Noch nie, nie, nie! Ich hab‘s versucht, ehrlich... schließlich hat meinereiner einen Ruf zu verlieren. Aber nix. Vermutlich hätte ich mit einer Schaufensterpuppe mehr Glück gehabt. Sie war nett und freundlich, als sie mir den Korb gegeben hat, aber, heilige Scheiße, wie oft passiert das MIR!?! Danach hab‘ ich es in einem Anfall von Größenwahn nochmal versucht, diesmal bei der Star-Reporterin (ich schwöre, demnächst wird sie Chefredakteurin oder sowas) unseres Käseblatts, the one-and-only Wendy Testaburger, ansprechendes B-Cup, langes schwarzes Haar, große braune Augen und eine gemeingefährliche Feder auf der Hand, vor der sich inzwischen sogar die Lehrer fürchten. Wen Wendy einmal in den Zeilen eines ihrer Artikel zerrieben hat, der ist tot und bleibt es. Sie war genauso nett wie Bebe (die nach wie vor ihre beste Freundin ist, wohlgemerkt, eine der wenigen Mädchenfreundschaften aus unserer Kinderzeit, die gehalten hat), ich war um einen Korb reicher und außerdem davon kuriert, Frauen aus der Oberliga flachlegen zu wollen. Hä? Was hat Stanley damit zu tun? Ach so, Ihr meint, weil er mal mit Wendy zusammen war und mich einen Kopf kürzer hätte machen können? Nein. Stimmt schon, er war mal mit ihr zusammen. In der Grundschule, Leute. Bevor sein Körper angefangen hat, Sexualhormone zu entwickeln (Ich bin eine Ausnahme, Ihr Trottel! Ich hatte immer schon Sexualhormone, weiß der Teufel, warum!) Als Mr. Marsh in die holde Zeit der Pubertät eintrat, war‘s aus und vorbei. Er ist schwul. Nicht mal bi, so wie ich. Schwul. Schwul wie in Gay. Queer. Homo. Ob er geschockt war? Ja, ziemlich. Okay, er hatte nicht viel Zeit, sich auf die Erkenntnis vorzubereiten, weil... Wendy hat in der achten Klasse endgültig mit ihm Schluss gemacht (vorher war das so ‘ne On-Off-Beziehung). Und ihre Begründung? „Stan... ich glaube, du bist schwul." Das fand er nicht besonders komisch. Er ist damals in Ohnmacht gefallen. Hinterher hatte er wieder eine Goth-Phase, in der er zu sowas ähnlichem wie dem neuen Anführer der Goths mutierte. Hat wegen seiner zweiten großen Liebe, der Musik, allerdings nicht lange gedauert. Und das mit dem Schwulsein bekam er auch unerwartet schnell auf die Reihe (ich persönlich war nicht sehr überrascht - er spielt Gitarre, singt doofe Liedchen und tanzt, seit er acht oder neun ist, er liebt Tiere und wird dabei zu ‘nem absoluten Hippie-Weichei...ach ja, und er ist im Grunde der emotionalste von meinen Kumpels. Schwul. Definitiv.). Vielleicht hat er sich das auch gedacht. Jedenfalls blieb er von da an bei der Gitarre und den doofen Liedchen. ...Tse. Schön. Ich bin nicht ganz ehrlich. Jetzt sind es keine doofen Liedchen mehr. Stanley spielt super. Obwohl ich das wirklich nur ungern zugebe. Seine Eltern haben ihm zu seinem fünfzehnten Geburtstag eine E-Gitarre geschenkt und auf dem Teil rockt er richtig ab, wenn er will. Und wie er singt... ah, ich hasse mich dafür, dass ich das sage, aber... seine Stimme geht runter wie Schokoladensirup. Tief und weich und sanft, wenn er Balladen singt, kräftig und klar und voller Power, wenn es was Flottes ist... Bisher hat er in seinem Repertoire leider noch keine Songs mit zweideutigen Texten, da er sein altes Problem noch nicht ganz unter Kontrolle hat. Welches Problem? Na, er musste doch früher ständig kotzen, wenn irgendwas auch nur annähernd sexuell war. Das mit dem Kotzen ist in den letzten Jahren weitgehend verschwunden, aber ihm wird immer noch übel, wenn es sich um sexuelle Dinge handelt. Also kann er nicht darüber singen, denn es könnte... unglücklich enden, wenn Ihr versteht. Was ich ein bisschen bedaure. Seine umwerfende Stimme, kombiniert mit einem mehr oder weniger schmutzigen Text? Ich gehe jede Wette ein, dass er sexy und sinnlich klingen würde, eben so richtig geil. Ernsthaft. Man würde vermutlich ‘nen Orgasmus kriegen, nur vom Zuhören. Ich zumindest. Aussehenstechnisch ist Stan genauso top. Er ist so groß wie ich (1 Meter 83 bitte! Ich lege Wert auf jeden Zentimeter - nicht nur in diesem Fall!) und hat auch blaue Augen, aber seine sind mehr dunkelblau, fast saphirfarben... und unergründlich, wie das Meer... man könnte in ihnen ertrinken...äh... wo war ich??? Ach ja: Und seine Haare sind schwarz, was zu seinen Augen wirklich außerordentlich gut aussieht... Er ist selbstverständlich eine Acht (wehe, es gibt irgend jemanden unter Euch, der über diesen Punkt zu diskutieren wagt!). Seine Superfigur nicht zu vergessen. Er spielt als Stürmer links außen in der Soccermannschaft und das ganze Herumgerenne macht sich echt bezahlt... diese Beine... und die Hüften... und dieser verdammte Knackarsch...! Und seine Nippel... Mein Gott, diese Nippel... ehem, klar, die bekommt er nicht durchs Rumrennen, aber sie sind trotzdem irre. Ich schwöre, ich hab‘ bei einem Kerl noch nie so perfekte Nippel gesehen! Eigentlich noch nich‘ mal bei ‘ner Frau... Sie sind perfekt rund, haben die perfekte Größe, die perfekte Farbe, die perfekte Festigkeit... zumindest sehen sie so aus, angefasst habe ich sie bisher noch nicht... leider... ... Jetzt hab‘ ich schon wieder den Faden verloren. Was wollte ich sagen? Genau: Also, nicht, dass Ihr glaubt, ich will was von ihm, oder so! Stanley ist einer meiner besten Freunde. Die sind tabu, soll heißen, kein Bettmaterial. Ich hab‘ wenige Prinzipien, aber doch Prinzipien. Ich will keine Beziehung. Ich will Sex. Basta und aus. Ich will in dieser Hinsicht keine Verpflichtungen eingehen. Bei Leuten, die man nicht kennt, funktioniert das. Bei langjährigen Freunden nicht, denn die Freundschaft an sich stellt bereits eine Verpflichtung dar. Freundschaften und Sex trenne ich sauber. Außerdem würde Stan, der arme Junge, schon bei der bloßen Erwähnung einer „Anfrage" grün anlaufen... He, dieses Auto, das sich gerade auf den Schülerparkplatz schiebt...das ist doch...? Jep, das ist Kyle, Kyle Broflovski, einer der wenigen, denen sämtliche Unis des Landes hinterher sabbern. Einer der wenigen, der weiß, dass jedes berühmte College ihn mit Kusshand nehmen würde. Obwohl es ihn so, wie er ist, eigentlich nicht geben dürfte. Wieso? Habt Ihr keine Augen im Kopf!? Er ist hochintelligent und sieht auch noch toll aus. Das setzt eine der wichtigsten High School-Regeln außer Kraft, nämlich Gute Noten+Bücher+Brille = Streber. Ein Streber darf nicht toll aussehen, das ist vorgeschrieben. Streber dürfen auch kein Selbstbewusstsein haben oder schlagfertig sein oder gar sportlich. Denkste. Auftritt Kyle, der wandelnde Widerspruch. Note A in sämtlichen Fächern? Check. Leidenschaftliche Leseratte? Check. Kultiviert, gebildet (viel mehr, als ich je sein werde)? Check. Auf dieser Seite schreit alles Streber. Und auf der anderen? Er ist Mitglied im Judoclub und zerlegt Rowdys innerhalb von Sekunden in mundgerechte Häppchen. Er hat rote Locken (und zwar richtig rot, nicht dieses lasche Orangerot, das viele andere Vertreter dieser Haarfarbe aufweisen), grüne Augen und eine Haut wie aus Porzellan. Sogar auf die traditionellen Sommersprossen muss man verzichten, sein Teint ist makellos. Und statt der eingangs erwähnten Brille trägt er Kontaktlinsen. Das ist mit seinen Streberqualitäten nicht zu vereinbaren. Seine 1,78 m machen ihn zum Kleinsten meiner drei Freunde, aber das besagt gar nichts. Eine Stange Dynamit ist auch nicht groß - und Kyles Temperament kann so anheimelnd sein wie ein Weltuntergang. Ansonsten ist er aber ein netter Kerl, auf den man sich immer verlassen kann. Uh oh. Ich muss mich korrigieren, Kyles Nettigkeit dürfte gleich im Klo runtergespült werden, er ist nämlich alles andere als nett, wenn sein persönlicher Erzfeind auftaucht. Und dieses Motorrad, das jetzt neben ihm einparkt... sieht verdächtig wie das von Eric aus. Nein, ich bin nicht krank. Ich bin bloß tot und daran gewöhnt man sich... nein, verrückt bin ich auch nicht, stellt Euch vor! Also hört auf, mich anzuglotzen wie‘n paar Kühe, wenn‘s donnert! Ich benutze seinen Vornamen schon ‘ne ganze Weile! Ich meine, schließlich sind wir tatsächlich mehr oder weniger sowas ähnliches wie beste Freunde und Eric findet es wider Erwarten durchaus nicht so toll, dass ihn jeder nur mit seinem Nachnamen anredet. Er steigt ab. Ich bin zu weit entfernt, um zu hören, was er sagt, aber es muss was Fieses gewesen sein, weil Kyle was Fieses zurück brüllt. „Halt die Schnauze, Blödarsch!!!" Okay, nicht so wirklich richtig fies - ich schätze, das war nur ihre übliche Routinebegrüßung. Daher der normale Umgangston (für Eric/Kyle-Verhältnisse). Höh? Ach so, das meint Ihr. Nein, nix Fettarsch. Es ist vorbei mit „Fettarsch", weil er keiner mehr ist. ... Ihr seht aus wie Hühner im Gewitterregen. Das schockt Euch total, oder? Kann ich verstehen. War für uns auch ein ziemlicher Schock. Da muss ich etwas weiter ausholen: Zu Beginn der sechsten Klasse hatte Eric es sich in den Kopf gesetzt, ins Footballteam der Schule aufgenommen zu werden. Ich habe keinen blassen Schimmer, was ihn plötzlich so besonders daran interessiert hat, weil für ihn bis dato jeder Sport eine bescheuerte und nutzlose Anstrengung war (obwohl ich zugebe, dass Football die einzige Sportart ist, die wirklich zu ihm passt - es ist ein sehr strategisches Spiel, was seinem verschlagenen Verstand vermutlich gefällt, man muss den Gegner austricksen können und die Bereitschaft, ein bisschen rücksichtslos zu sein, schadet nicht unbedingt. Tja...). Aber egal, jedenfalls wollte er es... und wir wissen alle, wie Eric Cartman drauf ist, wenn er sich erstmal was in den Kopf gesetzt hat. Er zieht es durch und zwar um jeden Preis. Und der Coach war gar nicht abgeneigt, denn Eric war für seine zwölf Jahre verhältnismäßig groß und schwer (keine Überraschung hier). Er wollte ihm die Position als Tackle in der Offense (Angriff) geben, der zu den Offensive Linemen gehört (ich erkläre das in meiner nicht unbegründeten Annahme, dass American Football nichts ist, mit dem Ihr Euch gut auskennt) und dessen Aufgabe es ist, den Quarterback vor der Defense (Verteidigung) der Gegner zu schützen und bei Laufspielzügen den Weg des Ballträgers frei zu blocken. Super, denkt Ihr? Nun, Eric war nicht damit einverstanden. Die Position ist wichtig und kräftezehrend, aber sie hat selten die Aufmerksamkeit des Publikums, was sie reichlich undankbar macht. Eindeutig nichts für unseren Möchtegern-Nazi, er wollte natürlich ins Rampenlicht - als Quarterback. Ihr bemerkt die Schwierigkeit? Nein? Urgh. Ihr fangt an, mir auf den Sack zu gehen, ehrlich! Nicht nur, dass Ihr Fangirls sowieso schon gemeingefährlich seid, Ihr habt unheimliche Fähigkeiten (zum Beispiel könnt Ihr mich sehen! Bitte, wie abgefuckt ist das denn!?!) und dass Ihr Euch freiwillig an einen Ort wie South Park begebt, das... na ja, das spricht für sich. Aber dann von Tuten und Blasen keine Ahnung haben... Worauf ich hinauswollte: Ein Quarterback ist der Kopf der Offense, der Spielemacher sozusagen. Er muss den nächsten Spielzug, der vom Trainer festgelegt wurde, seinem Team vermitteln und ihn dann umsetzen. Noch vor und auch während der Ausführung muss ein guter Quarterback in der Lage sein, den geplanten Spielzug an die Gegebenheiten und die Reaktionen der gegnerischen Defense anzupassen und die beste ihm zur Verfügung stehende Option auswählen. Das verlangt Köpfchen... deshalb ist es mir auch schleierhaft, warum gerade Quarterbacks in ihren High-School-Seifenopern-Verkörperungen immer als Trottel vom Dienst dargestellt werden. Vermutlich verkauft es sich besser, knietief in Klischees zu waten, was weiß denn ich... Um endlich zum Punkt zu kommen (ich schweife immer so leicht ab), abgesehen davon sollte ein Quarterback gute Pässe werfen, und, im Falle eines Scramblings (so nennt man es, wenn der QB zu rennen anfängt, anstatt den Ball zu passen), schnell genug laufen können, um einen Touchdown zu erzielen. Nun wirft es sich nich‘ so besonders, wenn der Arm vor allem aus Schwabbelmasse besteht und keine Kraft dahinter ist, und schnelle Sprints über mehrere Yards sind mit zu viel Gewicht auf den Rippen auch nich‘ unbedingt ein Klacks. Das hat der Coach Eric auch knallhart verklickert, und wem Coach Lanigan mal was verklickert hat, der kann froh sein, wenn er noch atmet, von daher hätte Eric seine Footballkarriere in den Sarg seiner übrigen verstorbenen Sportkarrieren legen können, aber nein... diese Sache war ihm ernst. So absolut richtig ober-mega-ich-bringe-das-notfalls-bis-zum-Obersten-Gerichtshof-ernst. Also hat er dementsprechend ernsthaft mit dem Abnehmen begonnen: Diät, Sport, Krafttraining, das volle Programm. Die meisten haben es als eine seiner Phasen abgetan (Stan und ich), oder haben darauf gewettet, dass er spätestens nach zwei Wochen das Handtuch schmeißt (Kyle), oder dass er frühzeitig ‘ne Herzattacke erleidet oder anderweitig zusammenbricht (Craig), oder haben es gleich ins komplette Extrem umgedeutet und prophezeit, dass er bald ein bulimiekranker Hungerhaken sein würde (Tweek mit seinem Hang zur Übertreibung). Keiner hat geglaubt, dass er tatsächlich zu einem vernünftigen Ergebnis kommen würde. Und da hat Eric uns wirklich alle drangekriegt. Aber sowas von. Ihr wollt es auch nicht glauben? Duh. Dann schaut hin, Ihr Blindschleichen! ... ... Nicht hyperventilieren, Ladys. Ja, das ist er. Natürlich hatte er auch ‘n bisschen Glück, nämlich mit seiner Größe. Sowas wie einen Wachstumsschub hatte er nie, weil er einfach immer weitergewachsen ist, bis er schließlich bei 1,95 m aufgehört hat. Auf einer gewissen Körperlänge verteilt sich Fett viel positiver. Obwohl da inzwischen kein Fett mehr ist, zumindest kein überflüssiges. Da sind jetzt Muskeln, breite Schultern und ein dazu passender breiter Brustkasten, weshalb das Etikett „fat" irgendwann von „big" abgelöst wurde. Über zwei Jahre lang hat Eric malocht wie ein Verrückter, bis er den Coach davon überzeugen konnte, ihn wenigstens probeweise ins Team zu nehmen und siehe da - die gesamte Park School erlebte eine Offenbarung (obwohl - wenn man bedenkt, wer sein Vater ist, ist das vielleicht doch nicht so erstaunlich)... Er kann es gut. Er kann es sogar ziemlich gut. Zu Beginn unseres Freshman-Jahres wurde er zum regulären Quarterback ernannt und damit auch zum Mannschaftskapitän. Das ist in der High School-Hierarchie die höchste soziale Position. Über ihm ist niemand mehr. Wenn das nicht nach etwas klingt, das Eric Cartman auf alle Fälle erreichen will, dann weiß ich auch nicht. Okay, eigentlich wäre da schon noch jemand über ihm, die berühmte Ausnahme von der Regel, soll heißen, unser schwules Idol, das der lebende Beweis für fleischgewordene Perfektion ist, aber wie gesagt, das ist nur eine Ausnahme, gegen die Eric im Grunde auch nichts einzuwenden hat, er ist nämlich selbst vom andern Ufer. So wie Kyle, falls ich das noch nicht erwähnt habe. Überrascht? Sowas passiert, wenn man in South Park aufwächst. Am besten hält man seine laute Klappe, klopft keine blöden Sprüche egal welcher Natur und Fortuna könnte ein Auge zudrücken. Wenn du nun aber so bescheuert bist wie die meisten Bewohner hier (mich eingeschlossen), dann scherst du dich einen Dreck um Fortuna und gibst pausenlos geistigen Dünnpfiff von dir. Und South Park ist vermutlich der einzige Ort auf der Welt, an dem es sich bitter rächt, Fortuna ans Bein zu pissen. Und es ist vermutlich auch der einzige Ort auf der Welt, an dem zu das Pech haben könntest, Fortuna im Realformat zu begegnen. So wie Jesus. Ich hätte also besser keine Schwulenwitze gerissen und meinen Sexismus für mich behalten, aber statt dessen bin ich jetzt bi und finde heiße Kerle genauso scharf wie heiße Girls, werde allerdings von anspruchsvollen, sozial höhergestellten Frauen (und Männern) gemieden wie das Sonnenlicht von den Goths. Na ja, bei Stan habe ich‘s irgendwie immer erwartet (das habe ich weiter oben schon erklärt), bei Eric wusste ich‘s schon ab der dritten Klasse (also bitte, der Junge war ein begeisterter Crossdresser, nicht zu vergessen die Sache mit einem bestimmten fragwürdigen Foto und einer ebenso fragwürdigen Wette... Ich sage nur: Suck my balls) und bei Kyle... da war ich zunächst nicht sicher, weil er in der Grundschule ‘ne Freundin hatte (ohne bereits vorhandene „Tendenzen", so wie Stan), aber da er selbst vor ein paar Jahren zugegeben hat, sich mehr für muskulös-männliche als kurvig-weibliche Körper zu interessieren, ist das Thema gegessen. Nur seine Mutter hat‘s noch nich‘ so ganz, äh, verarbeitet - sie weiß es, redet sich aber konsequent ein, dass es nur eine „pubertätsbedingte Phase" sei. Arme Frau. Nachdem ihr Sprössling schon sämtliche Kriterien des Vorbildschwiegersohns erfüllt, den alle Mütter mit behüteten Töchtern sofort einfangen würden (was ihn zu einer extrem gefährdeten Spezies macht), hätte es sie doch irgendwann wundern sollen, dass der Kerl nie auch nur den Rockzipfel einer festen Freundin nach Hause getragen hat. Aber Mrs. Broflovski hat eine sehr...wie hat Kyle das genannt? Ah ja, genau, „selektive Wahrnehmung". Wem nicht zu raten ist... Aha, und da brettert schon der nächste heiße Ofen heran, bremst haarscharf, mit einem Geräusch, dass es einem die Zähne zieht und Craig Tucker springt von seiner geliebten Maschine. Man erkennt ihn an den verschiedenen Mützen in sämtlichen Farben, die er immer trägt (im Sommer wechselt er zu Käppis, das ist aber auch sein einziges Zugeständnis an so unbedeutende Tatsachen wie unterschiedliche Temperaturen), die übrigens nicht zwingend mit dem Rest seines Outfits zusammenpassen müssen. Frauen haben eigene Schränke für Schuhe und Craig hat garantiert einen eigenen Schrank nur für seine Mützen - und für seine Lederjacken, da hat er nämlich auch ganze Schiffsladungen voll davon, jede Wette. Und was hab‘ ich? Einen Parka mit dreiviertellangen Ärmeln, eine graue Jeans mit abgewetztem Gesäß und zerfaserten Knien, halb vermoderte Turnschuhe, die vor langer Zeit einmal weiß waren und die kläglichen Überreste meiner braunen Handschuhe, die nach endlosem Erweitern und Flicken fingerlose Handwärmer abgeben. Hurra. Gehen wir lieber zurück zu Mr. Tucker, der gerade einem jüngeren Schüler den Stinkefinger zeigt, weil dieser so unvorsichtig war, ihm im Weg zu stehen. Wegen seiner Null-Bock-Attitüde ist sein GS nicht sehr viel höher als meiner, obwohl seine Herkunft besser ist (er ist ‘ne Fünf = überdurchschnittliches Vermögen). Aber weil er vor allem seine Ruhe und keinen Stress haben will, besteht seine sportliche Betätigung nur aus dem regulären Sportunterricht, den er mit einem so unglaublichen Elan absolviert, dass sogar der Dalai Lama bei seinen Andachtsübungen mehr Action zu bieten hat. Das entspricht etwa Stufe 1, unfähig. Daraus ergibt sich 5+1+8 (was wollt Ihr? Von außen ist er echt lecker!) = 14, 14:3 = 4,66, also Stufe Fünf als Gesamtstatus, beliebt. Energie entwickelt er meistens erst dann, wenn es um einen gewissen Blondschopf geht... oder nein, zwei gewisse Blondschöpfe, wenn ich unser schwules Idol mitzähle, weil auch ein Kerl wie Craig, für den „cool" überhaupt keine Beschreibung ist (nehmt den coolsten Typen, der Euch einfällt, addiert den Coolheitsfaktor des Zweitcoolsten und setzt das Ganze ins Quadrat - das Ergebnis ist Craig Tucker), nicht immun ist gegen engelsgleiche Schönheit. Das ist so. Eigentlich gilt er wie ich als Playboy, weil er jede Woche mit ‘ner anderen gesehen wird (auch wie ich), aber die ganze Schule weiß, dass da nichts läuft. Ehrlich, jeder hat inzwischen gepeilt, dass Craig Tucker, Machogetue hin oder her, stockschwul ist - jeder außer Craig. Er schwärmt unser Idol eher heimlich an, aber er ist ihm gegenüber viel zu nett und höflich, als dass es nicht auffallen würde (doch, Craig kann nett und höflich sein! Ich wollte es zuerst auch nicht glauben!), was auch auf den zweiten Blondschopf zutrifft, Tweek Tweak, der... „Ich komm‘ zu spät, nein, nein, nein!!" ...in wilder Panik durch mich hindurch rast (ja, durch mich hindurch. Ich bin immer noch ein Geist!). Zugegeben, er sieht unserem Idol ein bisschen ähnlich, aber trotzdem kapiere ich nicht, was Craig mit seiner Vorliebe für Stille und Langeweile bloß an diesem Nervenbündel findet. Gut, die wirren Haare, die braunen Augen und der verhuschte Blick machen ihn schon irgendwie süß, aber die beiden sind wirklich wie Tag und Nacht... die personifizierte Ruhe und der personifizierte Stress. Ich versteh‘s nicht. Ich versteh‘s einfach nicht. Seit Tweek im Laden seines Vaters arbeitet, ist er zwar ein wenig ruhiger als früher und wenn es um das Familiengeschäft und Kaffee geht, tritt der Junge überraschend souverän auf, aber leider nur da. Mich würde sowas nervös machen. Ich mag‘s lieber, wenn ein Mann in der Lage ist, etwas zu bewegen, wenn er weiß, was er will und wie er es erreichen kann...wie Stanley zum Beispiel. Ich kann seinen Umwelttick nicht nachvollziehen, aber ich finde es toll, dass er sich nicht reinreden lässt und fest für etwas eintritt, an das er glaubt. Außerdem ist er irre sexy, wenn er erst mal in Fahrt ist... ... ... Wieso denke ich jetzt schon wieder an Stan? Häufiges Ableben hat offensichtlich negative Auswirkungen auf‘s Gehirn, jedenfalls kommt es mir so vor. Huh? Na, sieh mal an, das Dynamische Duo ist auch wieder da! Nein, das ist durchaus nicht boshaft gemeint. Sie sind eben oft zusammen... so oft, dass es Anlass zu Spekulationen gegeben hat. Sie sind bi, alle beide, was mich nicht wundert. Man kann nicht jahrelang unser Idol im näheren Umfeld haben, ohne dass es abfärbt... für „ihn" würden nach eigener Aussage auch etliche Hetero-Kerle freiwillig schwul werden. Das heißt, wenn du ihn schon lange kennst und männlichen Geschlechts bist, bist du höchstwahrscheinlich nicht hetero, sondern schwul oder bi. Er würde vermutlich sogar Bruce Willis schwul machen. Nur für dreißig Sekunden natürlich, aber immerhin. Die zwei, von denen ich spreche, sind übrigens Clyde Donovan und Token Black, die man mittlerweile für eine untrennbare Einheit hält. Das eine erscheint nicht ohne das andere. Sie gehören irgendwie zu den Dingen, die man nur gemeinsam nennt, so wie Tim und Struppi, Hanni und Nanni, Siegfried und Roy, Hinz und Kunz... was eigentlich komisch ist, da Clyde Craigs bester Freund ist. Aber da Craig so große Probleme damit hat, zuzugeben, dass er attraktive Träger des y-Chromosoms weitaus anziehender findet als die mit dem Doppel-X, tut er sich schwer damit, Leute in seiner Gesellschaft zu dulden, die nicht in seine Weltordnung passen... verdammt schwer. Jedenfalls mutiert er immer mehr zum einsamen Wolf - was wohl auch besser so ist, sonst müsste er ja seine „Mir-geht-alles-am-Arsch-vorbei"-Einstellung hinterfragen und sich mal mit seinem Gefühlsleben beschäftigen. Und das geht nicht, denn Craig Tucker hat per definitionem kein Gefühlsleben (sarkastisch? Wer ist denn hier sarkastisch?). Er ist zu cool dafür. Da kann die Erde kurz vor der Apokalypse stehen, das kratzt ihn nicht. Und ich schätze, wenn er dann mal in sein Gefühlsleben eintauchen würde, würde er merken, dass es ein einziges Chaos ist... logisch, wenn nie Ordnung darin gemacht, sondern alles immer nur unter den Teppich gekehrt worden ist. Und das wiederum bedeutet Stress pur. Deswegen lässt Mr. Tucker die Finger davon. Dass er damit auf keinen grünen Zweig kommt, dürfte klar sein. Clyde und er haben angefangen, sich voneinander zu entfremden und Craig unternimmt nichts dagegen. Es interessiert ihn ja nicht. Sowas kann ich persönlich echt nich‘ ab. Ich meine, ich streite mich auch ab und zu mit Stan und Kyle und noch viel öfter mit Eric, aber ich würde sie niemals im Stich lassen, auch Mr. Ex-Fettarsch nicht. Es ist wirklich eigenartig, aber wir vier sind tatsächlich die einzigen, die noch regelmäßig zusammen abhängen. ... Was denn!?! Ist es so ungewöhnlich, dass gerade ich solche Sachen bemerke!? Im Ernst, Ladys, ich existiere nicht nur als Nebenfigur, ich bin einer der Protagonisten dieses durchgeknallten Universums namens South Park!! Und ich habe meinen Kopf nicht nur auf, damit es nicht in den Hals regnet, wisst Ihr!? Oh Mann. Ich bin ja vielleicht blond, aber nicht so blond. Was is‘? Oh. Ach so. Dieses kleine bescheidene Hybridauto mit den brechreizauslösenden Aufklebern „Ich liebe Delphine" (besteht aus dem Schriftzug „Ich", einem großen roten Herz und einem lächelnden Delphin) und „Schützt den Eisbär!" (besteht aus einer Familienidylle mit Bärenmutter und niedlichem Eisbärbaby... und sogar ich muss zugeben, dass es sehr süß gezeichnet ist... kann ich mal ‘ne Kotztüte haben?) gehört Stanley, wie sollte es auch anders sein. Er parkt ein, steig aus und... oh nein. Bitte, was habe ich bloß verbrochen, dass ich so gestraft werde?! Wie kann er es wagen, in dieser unsäglichen Jeans aufzutauchen?! Okay, es ist seine Lieblingsjeans, aber das ist keine Entschuldigung! Ich meine, das...das... das ist einfach unfair, genau! Hä? Wa-?! Ach Blödsinn, ich habe nicht das geringste gegen weiße Hosen! Hosen dürfen jede erdenkliche Farbe haben! Warum ich mich dann so aufrege? Ist das nicht offensichtlich?! Seht Ihr nicht, wie eng sie sitzt? Seht Ihr nicht, wie unglaublich gut sie diesen umwerfenden Knackarsch verpackt? Seht Ihr nicht, wie wunderbar sie seine langen Beine betont? Und darüber dieses blaue Hemd mit den kurzen Ärmeln, die seine Oberarme so perfekt umschließen? Er lässt immer die obersten zwei Knöpfe offen, was einem einen netten Ausblick auf seinen Brustansatz verschafft... vor allem, wenn man den auch sehen will. ... ... ... Nicht, dass ich das will, oder so... was gibt‘s da zu grinsen!?! Ach, habt mich doch gern. ...Jetzt bleibt Stan stehen und dreht sich um. Was ist los? Clyde und Token sind auch plötzlich festgewachsen und wenden sich in dieselbe Richtung. Craig verlangsamt seinen Schritt vor dem Zigarettenautomaten, tut so, als könne er seine bevorzugte Sorte nicht finden und linst immer wieder verstohlen zum Parkplatz. Tweek spitzt durch die Eingangstür, von seiner Panik ist nichts mehr zu spüren. Kyle, der schon längst in seinem Literaturkurs hocken müsste, ist ebenfalls mit von der Partie und Eric schiebt sich, eine Miene tiefster Gleichgültigkeit zur Schau stellend, hinterdrein. Wie aus dem Nichts versammelt sich die halbe Schülerschaft im Umkreis des Parkplatzes und alle führen sich auf, als wären sie rein zufällig da. Ich ahne etwas. Und wie ich ahne. Da nähert sich ein weiteres Auto. Es ist weiß, so wie Stans Jeans. Auf der Motorhaube hat irgendein freundlicher Lackierer ein „Hello Kitty"-Konterfei verewigt (zweifellos war das mein Bruder - ja, Kevin hat einen Job in der örtlichen Autowerkstatt.). Ihr ahnt auch was? Tse. An Eurer Stelle würde ich mir ein Sabberlätzchen besorgen, anstatt nur zu ahnen. Und ein Taschentuch für eventuell auftretenden Blutfluss aus der Nase. ... Ist es zwingend notwendig, dass Ihr mich jedesmal so fassungslos anstarrt, wenn ich etwas sage, das Ihr nicht unbedingt erwartet habt? Unser Idol ist eingetroffen, ob Ihr mir das nun glaubt oder nicht! Also haltet die Klappe, beobachtet und genießt! Das Auto gleitet formvollendet in eine Parklücke. Der Motor wird abgeschaltet. Die Tür geht auf. Erstmal passiert gar nichts. Dann kommen zwei schlanke makellose Beine zum Vorschein und in einer fließenden Bewegung, die an Anmut kaum zu übertreffen ist, entsteigt Leopold „Butters" Stotch dem Wägelchen, nimmt in filmreifer Manier seine Sonnenbrille ab und schüttelt mindestens genauso filmreif sein blondes Haar. Seine strahlenden blauen Augen registrieren den Massenandrang und die zahlreichen heißen Blicke, die sich auf ihn heften, er beachtet es jedoch nicht weiter. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr ist er es gewohnt, dass heiße Blicke an ihm kleben. Das ist nicht mehr besonders erwähnenswert. Er trägt heute eines seiner Lieblingsoutfits: eine schwarze Tuchhose, die so verflucht eng sitzt (noch enger als Stans verdammte Jeans!), dass man sich unwillkürlich fragt, ob Butters sich morgens darin einschweißen lässt; auf alle Fälle kriegt man einen Hintern geboten, der fester und formschöner gar nicht sein könnte (wenn er je eine Neufassung von „What what in the butt" macht, dann sage ich Euch Bescheid, versprochen!). Darüber folgt ein elegantes Hemd (selbstredend in seiner Lieblingsfarbe Türkis) mit weit fallenden Ärmeln, die in eng anliegenden Manschetten enden. Das Hemd weist übrigens auch einen eklatanten Mangel an Knöpfen auf. Statt dessen hat es einen Brustausschnitt, der einen durchtrainierten, athletischen Oberkörper freilegt... und eine cremefarbene Haut, die sich verführerisch über feingliedrigen Muskeln spannt. Um den Hals hängt in dreifacher Windung ein schwarzes Lederband mit dem Buchstaben „L" daran, an beiden Ohren glitzern goldene Ohrstecker. Echtes Gold. Und wie er sich bewegt...! (Ach ja - und habe ich eigentlich schon seine geschmeidigen, ungemein agilen Hüften erwähnt?) Dazu muss man wissen, dass Butters nicht einfach nur geht. Er schreitet. Und er steht auch nicht auf oder setzt sich hin. Er erhebt sich und nimmt Platz. Seine Körpersprache ist der reine Wahnsinn. Die kommt aber auch nicht von ungefähr, er ist nämlich ein professioneller Tänzer (soll heißen, auf dem Weg dahin). Seit er sechs ist, macht er Stepptanz (zwischendrin hatte er die obligatorische Sinnkrise, aber die hat er später überwunden) und mit zehn hat er mit dem Klassischen Ballett angefangen. Ihr könnt Euch vorstellen, wie wir alle über den armen Jungen hergezogen sind, als das rauskam. Er galt ja seit der ersten Klasse als schwul und das war für uns sozusagen der Beweis (warum wird einem immer erst hinterher klar, was für ein Idiot man ist?). Butters hat unseren Spott allerdings gekonnt ignoriert. Ich glaube wirklich, dass es ihm egal war, nachdem er das Tanzen neu für sich entdeckt hatte. Seine große Leidenschaft gewissermaßen. Mit der Pubertät wurde es nicht besser (oder wir nicht klüger), und Unglücksrabe Butters hatte es auch noch ziemlich schlecht erwischt - mit elf wurde ihm eine Zahnspange aufs Auge gedrückt, sein Gesicht war von Pickeln übersät wie ein Streuselkuchen, sein Haar war stumpf und glanzlos und er kam als Letzter in den Stimmbruch. Das einzige, was er uns voraus hatte, war (wie bei Eric) seine Größe, denn er schoss unerwartet schnell in die Höhe. Trotzdem blieb er schlaksig und dürr, obwohl er zwischenzeitlich durch das Ballett ein bisschen Muskelmasse angesetzt hatte. Das genügte jedoch nicht, um unsere pubertäre Wahrnehmung zu durchdringen. Bis zu jenem ersten Tag nach den Sommerferien, als die Senior High School für uns begann. Butters wurde von seinem Vater gebracht und als er ausstieg, die Septembersonne im Rücken, in hautengen Jeans und hautengem Tank Top, das Haar wie aus einer Shampoowerbung, die Zähne von dem hässlichen Draht befreit, sein Teint absolut perfekt, der Körper großgewachsen und kraftvoll wie bei einem Spitzensportler, mit einer Stimme, die in einschmeichelndem Bariton „Hallo Jungs!" sagte und das Ganze garniert mit einem hinreißenden Lächeln...da hat uns alle kollektiv der Blitz getroffen. Ich weiß nicht mehr genau, was ich gemacht habe...Ich glaube, ich habe ihn dümmlich angestarrt, weil mir nichts Vernünftigeres eingefallen ist. Stanley hat den Mund auf und zu gemacht wie ein Fisch auf dem Trockenen, Kyle, der Eric gerade wegen irgend ‘ner blöden Bemerkung angebrüllt hatte, geriet ins Stottern, Eric selbst schaute ungefähr so intelligent aus der Wäsche wie ich, Tweek vergaß völlig, herum zu zappeln, Clyde verlor jegliches Interesse an dem Taco in seiner Lunchbox und Token, der sich mit Craig unterhalten hatte, unterbrach sich mitten im Satz. Craig sah natürlich aus wie immer, aber er ließ sich dazu herab, Butters‘ Begrüßung mit einem müden „Hi" zu erwidern (und dass Craig Tucker Butters Stotch begrüßt, das war vorher noch nie da!). Jimmy bekam ‘ne Erektion (nein, kein Witz - er hat auch heute noch Schwierigkeiten damit, dass sich seine Ausstattung so außerordentlich begeisterungsfähig zeigt!) und Timmy hatte außer „Timmeh!" nicht viel dazu beizutragen, obwohl er Butters zugewunken hat. Und ich schätze, wenn Pip nicht damals schon mit Damien zusammen gewesen wäre, hätten sie sich vielleicht wegen dieses verflixt süßen Schönlings in die Haare gekriegt... (Pip und Damien, ja. Zusammen. Das ist das Wort, das ich benutzte. Unser vornehmer Britenjunge und der Sohn Satans, ein Paar. Pip hat uns erzählt, dass er seine letzten Sommerferien vor dem Abschlussjahr in der Hölle verbringen würde. Ich hab ihn nich‘ gesehen, als ich vor einigen Wochen dort war, aber das muss nichts heißen. Damien hat ihm garantiert ‘ne schicke eigene Bude geschenkt, damit Daddy sie nicht ständig stört. Wegen seiner Beziehung zu Mr. Antichrist Junior traut sich auch keiner mehr, Pip blöd anzumachen, andernfalls hagelt‘s Feuerbälle oder Damien zückt gleich die Flammenpeitsche, das ist gar nicht nett. Wirklich nicht!) Bei den Mädels hat Butters ‘n Kreischkonzert ausgelöst. Nicht mal sein offizielles Coming Out ein paar Monate später konnte sie davon abbringen, ihn anzuschmachten (was mein vollstes Verständnis hat). Auf der Aussehensskala ist er die einzige Zehn der gesamten Schule. ... ... ... Ich entnehme den Speichelpfützen zu Euren Füßen, dass Ihr Euch der allgemeinen Anbetung anschließt. Wer hätte das gedacht. Nein, im Ernst, wer? Wenn mir vor zehn Jahren jemand gesagt hätte, dass wir eines Tages den Boden vollsabbern würden, auf dem Butters geht (schreitet), dann hätte ich ihm den Vogel gezeigt und ihn in die geschlossene Abteilung verfrachtet. Butters war immer uncool, leicht reinzulegen, einfach zu ärgern und ein prima Sündenbock, bloß - warum? Er war ja im Grunde nur sehr naiv, lieb und treuherzig und hat keinem von uns je was getan... aber in unseren Augen war er eben ein Opfer, kein „ganzer Kerl". Da haben wir Fortuna alle gemeinsam kräftig ans Bein gepisst, das ist mal sicher. Jetzt lässt uns Fortuna büßen, und das nicht zu knapp. Weil ihm so viele hinterher hecheln, hat Butters mit der Zeit ein gutes Selbstbewusstsein entwickelt... und außerdem weiß er verdammt nochmal genau, wie sexy er ist (na ja, an sich ist das wohl nich‘ so schwer, er braucht ja nur in den Spiegel zu schauen). Und glaubt mir, er nutzt es aus. Wenn er jemanden gern hat, verhält er sich immer noch wie der kleine Butters von früher, er ist freundlich, hilfsbereit und fürsorglich, so richtig zum Knuddeln. Wenn‘s Streitereien gibt, taucht er sofort auf und glättet die Wogen mit seinem charmesprühenden Lächeln, bei dem er seine bezaubernden Grübchen sehen lässt - und bei diesem Anblick schmelzen alle Anwesenden (weibliche wie männliche) dahin wie Vanilleeis unter heißer Schokoladensoße. Er flirtet manchmal mit dem einen oder anderen, neckt und triezt uns ein bisschen (und wir springen, sobald er pfeift - freiwillig!), aber das bleibt alles im Rahmen. Ungemütlich wird‘s erst, wenn er jemanden nicht mag (und sosehr Butters angeschwärmt wird, es gibt Leute, die ihn mit der gleichen Begeisterung verabscheuen), denn dann packt er die Seite seiner Persönlichkeit aus, die in seiner Kindheit „Professor Chaos" hieß. Das Kostüm liegt inzwischen auf dem Müll, sein Temperament nicht. Man würde diese Seite auch nicht mehr Professor Chaos nennen, sondern eher... ich weiß nicht... vielleicht „Gay Diva"? Butters hat gelernt, sich zu wehren, mit Worten und Händen. Wenn er angefeindet wird, wird seine Zunge messerscharf, und sollte das nicht ausreichen (das kommt vor), verfügt er über Gelenke und Muskeln aus Stahl, die jeden Raufbold in seine Schranken weisen können. Dadurch haben die meisten von uns zum ersten Mal kapiert, dass Ballett kein gemütliches Vor-sich-hin-Tänzeln ist, sondern hartes körperliches Training. ... ... Oha. Okay, ja, ich gestehe, er ist nicht der einzige an der absoluten Spitze der Hierarchie. Prinzipiell wäre das Eric, Butters ist wie gesagt eine Ausnahme (sein GS ist Neun, „über alle Maßen beliebt"), aber da gibt‘s noch ‘ne andere Neun. „Korrekt. Ich hoffe, du vergisst es nicht wieder, McCormick.", zischt Damien und klettert aus seinem Streitwagen, mit dem er gerade herangebraust ist. Als Sohn Satans kann er natürlich Geister, soll heißen, gestrandete Seelen, sehen, das ist eine seiner leichtesten Übungen (damit wäre bewiesen, dass Eure Fangirl-Fähigkeiten teuflisch sind! Ich wusste es!). Und als Sohn Satans wäre er sehr ungehalten, wenn er nicht ganz oben stünde. Butters ist der Märchenprinz unserer Schule und Damien der Höllenprinz. ... He, hört Ihr mir zu? Also, was denn, habt Ihr noch nie einen antiken Streitwagen mit schwarzer Lackierung gesehen? Stilecht gezogen von sechs schwarzen Pferden...mit roten Augen... und rauchenden Nüstern... und Fledermausflügeln... und die Räder des Vehikels glühen noch...kein Wunder, sie haben sich mal wieder in den Asphalt gebrannt...‘Ne heiße Karre, oder? Und Pip ist mit von der Partie. Er sieht ein wenig missgestimmt aus. „Damien, da du mit der Luft sprichst, wage ich zu vermuten, dass du eine arme Seele vor dir hast. Du weißt genau, was ich von deinem zweifelhaften Hobby halte. Ich möchte, dass du den Unglücklichen in Frieden lässt. Ich bin überzeugt, dass er nicht als deine Mahlzeit zu enden wünscht." Da hat er recht. Die Sache ist nämlich die: Mr. Antichrist Junior kann normale menschliche Nahrung zu sich nehmen, aber da er ein Dämon ist, verspeist er am liebsten die Seelen von Menschen, die aus irgendwelchen Gründen noch auf der Erde festsitzen (und durch ihr illegitimes Herumgeistern ein heilloses Aktenchaos in Himmel und Hölle verursachen). Sein „Hobby" ist daher die Seelenjagd. Und Pip findet, dass das so gar nicht die feine englische Art ist. „Tse. Als ob... Das ist McCormick. Den kann ich nicht essen und du weißt verdammt noch mal genau, warum nicht!" „Er... würde dir sehr schwer im Magen liegen?" „...Ja, so kann man das auch ausdrücken..." Stimmt. So irgendwie. Ich bin nämlich... KENNETH!!! ...Uh? Hä? Da dröhnt eine Stimme in meinem Kopf... wer in Gottes Namen...? Na, wer wohl? Eben derjenige welche. Gott? Bist du das? Kenneth, wie viele Wesenheiten sind dir bekannt, die Telepathie beherrschen? ...Eine. Nämlich? ...Du? In der Tat. Daher wurde ich Zeuge deines groben Regelverstoßes. Es sei denn, du kannst mir einen vernünftigen Grund dafür nennen, dass du gerade deine Identität ausplaudern wolltest. ...Muss es unbedingt ein vernünftiger Grund sein? Wenn jeder in meinem Gefolge so unüberlegt wäre wie du, könnte ich den Laden bald dichtmachen. Sei bitte in Zukunft vorsichtiger. Derartige Dinge einfach mal in einem Nebensatz zu erwähnen, das geht nicht. Du bist nicht irgendwer. He, nur so zur Info: Ich bin momentan tot, falls du das nicht gemerkt hast. Außer Damien (und den Fangirls) sieht und hört mich keiner, und Satans Abkömmling weiß längst Bescheid. Schön, er hat‘s Pip weitererzählt, aber das ist doch halb so schlimm... hoffe ich. Deine Worte in meinem Gehörgang, Kenneth. Und nun werde ich dich wiederbeleben. Was!? Ist das wirklich nötig? Könntest du damit nicht noch warten, bis der beschissene Mathetest vorbei ist? Der Mathetest ist erst in zwei Wochen. Heißt das ‚nein‘? Wenn ich dich so spät wiederbelebe, verpasst du Butters‘ Geburtstagsparty. ... ... ... Dann leg ‘n Zahn zu, Alter. Ja, und das war das erste Kapitel!^^ Und ja, ich habe Butters eine ganz andere Rolle verpasst, als er sie in FFs normalerweise hat. Ich wollte den Spieß einfach mal umdrehen - und warum nicht innerhalb einer FF ein bisschen experimentieren? Dafür sind sie ja schließlich da!^^ Vielen Dank fürs Lesen, über Kommis würde ich mich freuen!^^ Kapitel 2: Die Rückkehr des Rechenschaftsbruders ------------------------------------------------ So, das neue Kapitel, das diesmal einen Songfic-Teil enthält - ich habe Euch gewarnt!^^ In diesem Teil wird klar, mit wem ich Butters zusammenstecken werde, falls Ihr das nicht sowieso schon erraten habt. Ich wünsche Euch viel Spaß beim Lesen und fände es schön, wenn ich ein bisschen mehr Feedback bekommen würde. Ich widme dieses Kapitel -Nox-, weil sie so lieb war, auf meinen "Rundbrief" zu reagieren und die FF gelesen hat! *ihr einen Tweek-Plüschi und einen Craig-Plüschi hinhalt* Kapitel 2: Die Rückkehr des Rechenschaftsbruders »Tja... das neue Schuljahr hat begonnen und das größte gesellschaftliche Ereignis der Park School steht an: Butters‘ Geburtstag. Er lädt nur Leute ein, die er mag, und es gibt eine Menge Mädchen und Jungs, die nur darauf warten, von ihm eine Einladung ausgehändigt zu bekommen... mich eingeschlossen. Nett, freundlich und zuverlässig war er ja schon immer, aber seit er viel an Selbstbewusstsein hinzugewonnen hat, kombiniert mit Intelligenz, Charme und Sex-Appeal, ist er für etliche schwule und bisexuelle Kerle sowas ähnliches wie die Verkörperung all ihrer Wunschvorstellungen... Mann. Wer hätte gedacht, dass sich der kleine Butters mal so entwickeln würde?« Kyles Blick wanderte von seinem Platz in der ersten Reihe ein Stück nach hinten und von dort einen Platz nach links, wo die besagte Verkörperung aller Wunschvorstellungen saß und aufmerksam den Worten von Mrs. Jenkins lauschte, die sie in die Welt der Literatur einführen sollte - die Literatur nicht englischsprachiger Autoren, versteht sich, denn die amerikanischen und britischen Vertreter behandelte man im Englischunterricht. Heute war der zehnte September, für South-Park-Verhältnisse war es noch ungewöhnlich warm und die Sonne schien in bester Laune von einem wolkenlosen Himmel. Und sie goss den zarten Schimmer von reinem Gold über Butters‘ wunderschönen Haaren aus. »Wow...« Er war ein guter Schüler, strebsam und konzentriert, was Kyle ihm sehr positiv anrechnete. Irgendwie hatte er für jeden etwas, sprach die unterschiedlichsten Charaktere an...Stan beispielsweise, der ihm wohl auf ewig dafür dankbar sein würde, dass er ihm geholfen hatte, seine erste Goth-Phase zu überwinden. Ganz davon abgesehen, dass Stan sich genauso fürs Tanzen interessierte wie Butters (obwohl er in seinem Tanzkurs nur die üblichen Sachen gelernt hatte, also klassische und lateinamerikanische Tänze) und die beiden stundenlang darüber reden konnten. Wenn er einen neuen Song geschrieben hatte, waren Kyle und Butters seine ersten Rezipienten (dicht gefolgt von Kenny und - manchmal - Cartman). Ach ja, Kenny. Was hatte er neulich gesagt? „Ich würde meine Playboysammlung verkaufen, wenn ich ihn damit ins Bett kriegte!" Zugegeben, um Kenny zu gefallen, genügte ein heißer Arsch, alles andere war Nebensache, aber trotzdem. Damals, als er erkannte, dass er bisexuell war, wäre ihm nie in den Sinn gekommen, ein Auge auf den „Verlierer" zu werfen (was sicher auch daran lag, dass die Pubertät zu Anfang nicht besonders gnädig mit Butters umgegangen war). Selbst ein Typ wie Craig, der Schwierigkeiten mit seinem Gefühlsleben hatte (weil er es pausenlos verleugnete), konnte sich seiner Ausstrahlung nicht entziehen. Butters brachte es fertig, in der einen Sekunde sexy-überlegen und in der nächsten schutzbedürftig-süß zu sein, womit er praktisch jedem den Kopf zu verdrehen verstand. Er wusste auch genau, wann es galt, sein bezauberndes Lächeln einzusetzen... er beherrschte es in sämtlichen Spielarten: das sanfte Lächeln, das tapfere Lächeln, das gezwungen-traurige Lächeln, das schüchterne Lächeln, das liebevolle Lächeln, das strahlende Lächeln, das unwiderstehliche Lächeln... Für diejenigen, die ihn wütend machten, gab es Unterarten wie das höhnische Lächeln, das herablassende Lächeln, das verschlagene Lächeln und das fiese Grinsen. Letzteres war wahrscheinlich für Cartman am attraktivsten. Bei diesem Gedanken trat Kyle mental auf die Bremse und unterbrach seine Überlegungen in Bezug auf Butters‘ Wirkung, um seine Augen zwei Tische nach rechts gleiten zu lassen, wo sein selbsternannter Erzrivale hockte und seine Atemluft verschwendete. Warum diese wandelnde Katastrophe überhaupt in diesem Kurs saß, war ihm ein Rätsel - seit wann begeisterte sich der Ex-Fettarsch für Literatur, der las doch sonst nur Comics? »Tse, vermutlich ist er nur hier, damit er mich noch öfter quälen kann. Als wenn es nicht reichen würde, dass wir fast alle Kurse gemeinsam haben! Seit dem Kindergarten hat dieser Bastard an nichts so viel Spaß wie daran, mir das Leben zu vermiesen! Er ist ein egoistisches, intrigantes, rassistisches, antisemitisches, eingebildetes, dummes Arschloch! Ich hasse ihn! Ich hasse ihn, hasse ihn, hasse ihn... und am allermeisten hasse ich meine Hormone!!!« Der siebzehnjährige Jude stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, fuhr sich in einer Geste unterdrückten Zorns durch sein rotes Haar und vergrub seine Nase in ihrer aktuellen Lektüre, Dante Alighieris „Göttliche Komödie". Mit etwa vierzehn Jahren hatte er sich seine Neigung zum eigenen Geschlecht eingestanden (seinen Eltern offenbarte er es erst eineinhalb Jahre später), nachdem er festgestellt hatte, dass sich seine Begeisterung für Frauen eher in Grenzen hielt. Es hatte Mädchen gegeben, die er hübsch gefunden hatte (jedoch nie sexy) und mit einem oder zwei war er auch tatsächlich ein paar Mal ausgegangen, aber es war nie mehr als Freundschaft dabei herausgekommen. Sogar rein körperliches Interesse fehlte völlig, weibliche Formen ließen ihn schlicht und ergreifend kalt. Na schön, in der Grundschule war er mit Rebecca „zusammen" gewesen (ein paar Tage), aber leider drehte sie dann total ab und verwandelte sich in eine weibliche Version von Kenny - das war sie auch heute noch. Ihr Bruder Mark hatte ihn damals dafür verantwortlich gemacht und ihn verprügelt. Heute pflegte er ihm Liebesbriefe ins Schließfach zu schmuggeln. Ja, das ist South Park. Und Bebe, die als erstes Mädchen in der Klasse einen Busen bekam, hatte ihn durchaus... na ja, fasziniert, könnte man wohl sagen, aber dieses Gefühl war bald wieder abgeklungen. Je älter er wurde, desto öfter fesselten hübsche Jungs in der Schule oder gut aussehende junge Schauspieler, Sänger und vor allem Sportler seine Aufmerksamkeit. Er bewunderte muskulöse Torsos, breite Schultern und kräftige Arme (Brüste reizten ihn kein Stück mehr), wobei er moderate Muskelmasse bevorzugte, aufgeblasene Bodybuilder gefielen ihm gar nicht, die waren nur noch Karikaturen für ihn. Und bei der moderaten Muskelmasse, den breiten Schultern und den kräftigen Armen fing das Problem an, denn sein verdammter Hormonhaushalt scherte sich einen Dreck um verstandes- und gefühlsbedingte Einwände und reagierte ausgesprochen gern auf Cartman. Zunächst war es ihm gar nicht so richtig aufgefallen. Klar, es hatte ihn natürlich sehr überrascht, dass es der Kerl mit dem Football und insbesondere mit der Position des Quarterbacks wirklich ernst meinte, aber er hatte nicht eine Sekunde geglaubt, dass er seine Diät und das anstrengende Training länger als vielleicht zwei Wochen durchhalten würde. Wie sollte er sich doch täuschen! Und was das Ganze fast noch schlimmer machte: Cartman war ein guter, ein exzellenter Quarterback, einer der Besten, die die Park School je gehabt hatte (in Sportlichkeit hatte er eine Zehn (!): Die Acht, „meisterhaft", war sein eigentlicher Wert, aber die sozialen Komponenten wurden genauso berücksichtigt. War man Mitglied einer Sport-AG oder einer Schulmannschaft, stieg der Wert automatisch um einen Punkt. Hatte man auch noch eine wichtige Position inne, gab‘s einen weiteren Punkt. Für Cartman hieß das: Acht als Basis, +1 für seine Mannschaftszugehörigkeit und +1 für den Quarterback/Kapitän). Zu behaupten, dass Kyle das ungemein frustrierte, wäre ein Understatement. Aber irgendwie hatte er es akzeptieren können (zähneknirschend). Was er hingegen nicht akzeptieren konnte, war die (leider) unumstößliche, furchtbare, grauenhafte Tatsache, dass Eric Cartman attraktiv zu nennen war. Noch ein Kenny-Zitat gefällig? „Hör zu, Kumpel, es passt dir nich‘ in den Kram, logisch, aber sei‘n wir mal ehrlich - wenn unter dem Fett nicht vorher schon ‘n hübscher Junge gesteckt hätte, hätte es ihm auch nichts gebracht, das Fett loszuwerden, weil er dann trotzdem nicht wesentlich ansehnlicher geworden wäre, oder? Wo nichts Hübsches ist, hilft auch keine Diät. Also muss es schon immer da gewesen sein... und ernsthaft, Alter... seine Mutter is‘ ‘ne Granate. Er hat‘s nich‘ gestohlen, das is‘ mal sicher..." »Und dich hasse ich manchmal auch, Ken!« dachte Kyle angesäuert, blätterte eine Seite weiter und bemerkte zu seinem Entsetzen, dass seine Augen wieder einmal einen eigenen Willen entwickelten und nach einiger Zeit des Herumirrens zu seiner Nemesis zurückkehrten, um sich an diesem wohlgestalteten Brustkasten festzusaugen. »FUCK!!!« Das hier war ja nun echt kein Zustand. Das hier war krank. Im Prinzip störte es ihn nicht, wenn seine Hormone ein bisschen mit ihm durchgingen, ab und zu einem heißen Typen (vor allem Butters) nachzuschauen, das war durchaus drin, das war okay. Aber zwischen „okay" und „Cartman" lagen Welten. Wie konnte ihn sein eigener Körper nur so schmählich verraten!?! Schön, der Mistkerl sah gut aus, wenn‘s denn unbedingt sein musste (die Pubertät sei hiermit tausendfach verflucht!!), aber das war kein Grund, jedes Detail im Gedächtnis zu verankern! Die verdammten Lederstiefel etwa. Schwarz, mit Nieten. Oder diese zum Kotzen enge Jeans, hellblau, die am rechten Oberschenkel mit einem schwarzen Totenkopf und gekreuzten Knochen verziert war. Was war das eigentlich für eine Größe? Egal, jedenfalls eine, die ihm früher nie gepasst hätte, weil er früher nicht den angemessenen Hintern dafür gehabt hätte. Nicht, dass er ihn jetzt hatte, aber... na ja, also... doch, irgendwie schon. Und dann sein dunkelrotes ärmelloses Shirt, das den Schriftzug „Bad Boy" vorne drauf hatte, in großen prahlerischen Blockbuchstaben... bitte, dieses vermaledeite Ding war mindestens eine Nummer zu klein, sonst hätte es seine Muskeln nicht wie eine zweite Haut umschließen können! Und die Haare. Diese Haare! Wie konnte sich dieser Bastard erdreisten, mit solchen Haaren herumzulaufen!? Sie sahen so weich und gesund aus... jeden, der diese Haare erblickte, musste der Wunsch überkommen, sie zu streicheln. ... ... Ihn ausgenommen, selbstverständlich. Die einzigen Haare, die er je streicheln würde, waren die von Butters! Punktum und Schluss. Noch vernichtender als die Haare waren allerdings die Augen. Durften braune Augen so... so intensiv sein? Tweek hatte auch braune Augen, aber ihre Farbe erinnerte eher an Kaffee mit Milch, die von Cartman waren dunkler, mehr wie Schokolade... geschmolzene Schokolade. ... ... Warum zum Teufel fiel ihm keine negativere Beschreibung ein!? Kyle seufzte erneut und sandte ein Stoßgebet zum Himmel, obwohl er inzwischen davon überzeugt war, dass ihn da oben sowieso keiner beachtete. Andernfalls hätte jener schreckliche Tag, an dem er sich selbst dabei ertappte, wie er Cartman in der Umkleidekabine anstarrte, nie stattgefunden. Und er hätte hinterher nicht versucht, seinen Judotrainingsraum, den er sich im Keller eingerichtet hatte, zu Kleinholz zu verarbeiten! Aber hey, er musste sich abreagieren! ... ... Auch wenn Ike nach einer Weile bei ihm geklopft und sich vorsichtig erkundigt hatte, ob er gerade jemanden umbringe...(Nebensache). Ob Butters Cartman einlud? Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war er immer noch mit South Parks Landplage Nummer Eins „befreundet" und war, bevor Kenny ebenfalls damit angefangen hatte, der einzige gewesen, der ihn mit seinem Vornamen angesprochen hatte. Dabei war er selbst oft genug von dem Mistkerl hereingelegt worden. Entweder besaß Butters ein übermenschliches Verständnis oder... tja, oder was? Sein Sitznachbar stupste ihn unvermittelt an und reichte ihm einen kleinen zusammengefalteten Zettel. „Von Cartman." Würg. Was sollte denn das jetzt? Mit einer schrillenden Alarmglocke im Hinterkopf entfaltete er das Briefchen und las die Botschaft, die sein Rivale in kantigen Großbuchstaben niedergeschrieben hatte: NA, JUDE? WARUM SO ‘NE ANGEFRESSENE MIENE? HAST DU MAL WIEDER SAND IN DEINER VAGINA? Kyles erster Impuls war, dieses unreife, kindische, niveaulose und alberne Gekrakel in kleine Stückchen zu reißen und in den Abfalleimer zu befördern. Sein zweiter Impuls riet ihm, diesen erneuten Anschlag auf sein Nervenkostüm in vollkommener Gelassenheit zu übergehen. Und natürlich folgte er - wider besseren Wissens - dem dritten Impuls. „Verdammt nochmal, was soll die Scheiße, Cartman!?", zischte er so leise wie möglich. „Der Spruch ist inzwischen so abgestanden, dein Gehirn muss kurz vorm Einmotten sein! Klar bin ich angefressen... was bleibt mir in Gegenwart eines niederen Zellhaufens auch anderes übrig?!" „Niederer Zellhaufen, he? Der steht entwicklungstechnisch jedenfalls höher als ein armseliger Einzeller wie du!" „Und das sagt ein Kerl, der ein lebender Beweis dafür ist, dass man auch ohne Gehirn existieren kann!" Ihre Stimmen wurden immer lauter; dass sie den Unterricht störten, kümmerte sie nicht. „Wenn du wenigsten ohne Mund existieren würdest, Jude, dann müsste ich mir nicht pausenlos deine Scheiße anhören!" „Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus, Cartman! Da du pausenlos Scheiße absonderst, muss ich dementsprechend darauf reagieren!" „Warum reagierst du dann nicht mal intelligent und ziehst den Schwanz ein, so wie alle anderen? Mich herauszufordern ist gefährlich!" Hier stand der Quarterback auf (wodurch der Stuhl bedenklich ins Wanken geriet) und funkelte seinen Kontrahenten drohend an, was diesen jedoch nicht im geringsten beeindruckte. Statt dessen erhob auch er sich, überwand die Distanz zwischen ihnen und packte Cartman am Kragen seines Shirts, um ihn auf seine Augenhöhe herunterzuziehen. „Ja, mindestens so gefährlich wie einem Baby den Schnuller zu klauen! Ich habe keine Angst vor dir, Blödarsch! Du bist nicht furchteinflößend, sondern nur erbärmlich!!" „Wenigstens bin ich nicht so eine erbärmliche, verlogene, schmierige Judenratte!!" „Nein, du bist eine verlogene, schmierige Nazisau!!" Jetzt waren sie sich ganz nah. Kyles Blick wechselte zwischen zwei brennenden braunen Augen und einem Paar sinnlicher Lippen hin und her, schaffte es aber schließlich, seinen Gegenüber zu fixieren, zornig und beschämt zugleich. Einen flüchtigen Moment lang meinte er, in diesen Seelenspiegeln ein anderes Gefühl als Verachtung aufflackern zu sehen, doch es war so schnell verschwunden, dass er glaubte, es sich nur eingebildet zu haben. Mrs. Jenkins‘ ruhige Stimme unterbrach den Streit: „Gentlemen... da Ihnen die nötige Aufmerksamkeit für Dantes Meisterwerk völlig zu fehlen scheint, verfassen Sie heute eine komplette Inhaltsangabe - beim Nachsitzen, wo sie genug Zeit haben werden, sich über Ihre mangelnde Disziplin Gedanken zu machen." »Scheiße!!!« „Na toll... das ist alles nur deine Schuld, Cartman!" „Wer hat denn angefangen!?" „DU!! Du hast mir diesen beschissenen Zettel zustecken lassen!" „Und du bist darauf angesprungen! Du hättest es ja auch ignorieren können!" Natürlich. Auf die Idee war er selbst gekommen, er hatte sie bloß nicht befolgt. Ab und zu hatte er mal versucht, nicht auf Cartmans Provokationen zu reagieren, doch früher oder später musste er einfach zurückbrüllen, sonst platzte er. Er brachte es nicht fertig, ihn oder seine Beleidigungen zu ignorieren. Und dabei hätte es ihm echt am Arsch vorbeigehen sollen, was dieser Wichser von ihm hielt. „Tse! Deinetwegen muss ich jetzt nachsitzen - und dabei hat das Schuljahr erst angefangen! Vielen Dank auch, du mieser Auswurf der Menschheit!!" „Mieser Auswurf der Menschheit?", wiederholte der Brünette mit einem boshaften Lächeln. „Das ist definitiv eine Bezeichnung, die viel besser zu dir passt. Du solltest lernen, dich selbst etwas realistischer einzuschätzen, wirklich. Alle Juden sind nichts weiter als mieser Auswurf." Diese Äußerung, in einem gönnerhaften Ton vorgebracht, tröpfelte in Kyles Ohren wie eine ätzende Säure. Er ballte seine Hände zu Fäusten, so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, und ehe überhaupt jemand begriffen hatte, was er plante, vollführte er eine der Wurftechniken, die er im Judo gelernt hatte - mit dem befriedigenden Ergebnis, Eric Theodore Cartman auf dem Boden von Mrs. Jenkins‘ Klassenzimmer zu sehen, trotz der siebzehn Zentimeter, die er dem Rotschopf an Körpergröße voraus hatte. „Verdammte Scheiße, Kyle!!! Bist du irre, oder was!?! Ich hätte mich verletzen können!!!" „Dann heul doch! Ich bedaure nur, dass du offensichtlich heil geblieben bist!!" Cartman rappelte sich fluchend auf und schickte sich an, Kyle eine kostenlose Bekanntschaft mit seiner gefährlichen Rechten zu verschaffen, als Mrs. Jenkins die Kreide auf eine Art über die Tafel zog, wie nur sie es konnte. Ein grausames, nervenzerfetzendes Quietschen von trommelfellzerreißender Grässlichkeit hallte durch den Raum (was von etlichen Schülern mit schmerzgepeinigtem Stöhnen quittiert wurde) und die Lehrerin erklärte, noch immer ruhig und liebenswürdig: „Gentlemen, Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden. Dieser Kurs über fremdsprachige Literatur liegt mir sehr am Herzen. Wenn Sie großen Wert darauf legen, die ganze restliche Woche nachzusitzen, dürfen Sie mit Ihrer Diskussion fortfahren. Wenn nicht..." Die Liebenswürdigkeit erlosch, als hätte jemand das Licht ausgeknipst. „...DANN VERLASSEN SIE AUF DER STELLE MEINE KLASSE!!!!" Und die Schallmauer war soeben gebrochen. „Jawohl!" „Z-Zu Befehl!" „Äh...Verzeihung?" Die Tür hatte sich geöffnet und in ihrem Rahmen stand ein hübscher Bursche in einem hellgrünen T-Shirt und beigefarbener Jeans, die Haare ein goldbrauner Lockenwust, der Kyle entfernt an seinen eigenen erinnerte, und die braunen Augen huschten fragend und verunsichert zwischen den beiden Streithähnen und der Lehrerin hin und her. „Ist das hier das Klassenzimmer von Mrs. Jenkins?", erkundigte er sich mit einer angenehmen, etwas zögernd klingenden Stimme. „Ja, das ist richtig. Was kann ich für Sie tun?" „Äh, man hat mir gesagt, ich solle mich bei Ihnen melden, wenn ich einen Literaturkurs besuchen will. Ich bin neu hier und habe noch nicht alle meine Kurse festgelegt und..." „Sie sind der neue Schüler, von dem die Rede war? Warum kommen Sie so spät?" „Oh, das war nicht meine Absicht!", beteuerte er hastig und fuchtelte mit den Armen herum, „Aber im Sekretariat bin ich mit einem Lehrer... oder einer Lehrerin, da bin ich nicht so ganz sicher... zusammengestoßen, der oder die aus irgendwelchen Gründen damit angefangen hat, mir seine oder ihre Lebensgeschichte anzuvertrauen... Ich wäre gerne geflüchtet, aber ich habe ihn oder sie nicht zum Schweigen gekriegt..." Mrs. Jenkins verdrehte die Augen. „Hm...‘er‘ trägt zwar heute Hosen, aber auch Ohrringe und schlechtes Make-up... also behaupte ich mal, dass wir uns darauf einigen können, dass Sie es mit Mrs. Garrison zu tun hatten. Morgen kann es wieder Mr. Garrison sein, das weiß hier keiner so genau..." Der Neue runzelte die Stirn. Sein Gesichtsausdruck schien zu besagen: „Wo bin ich da bloß hingeraten?" Ein wenig verschüchtert schob er sich an Cartman und Kyle vorbei, reichte Mrs. Jenkins zur Begrüßung die Hand, wandte sich dann der Klasse zu und stellte sich vor: „Mein Name ist Bradley Stokes. Meine Eltern und ich sind vor kurzem hierher gezogen, vorher haben wir in Denver gewohnt. Ich freue mich, Euch kennen zu lernen." „Gut, dann schauen wir mal, wo Sie sich am besten hinsetzen können..." „Bradley, ich kann es nicht fassen!" Das allerdings konnte Bradley auch nicht. Er blinzelte erst einmal, nur um sicherzugehen, dass er nicht fantasierte. Einer seiner Mitschüler war aufgesprungen und begeistert auf ihn zugeeilt, die Arme ausgebreitet. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, zumal dieser Typ ein umwerfender Schönling war, dessen Anblick schon genügte, um plötzlich Schmetterlinge im Bauch zu haben. Blondes Haar, das wirkte, als ob es das Sonnenlicht eingefangen hätte, strahlende Augen von einem unbeschreiblichen Blau (Himmelblau? Wasserblau? Blassblau? Oder doch einen Hauch dunkler, möglicherweise mehr Blaugrau? Nein, Hellblau. Hellblau?), eine süße Nase und ein Mund, weder zu schmal noch zu üppig, das perfekte Abbild eines Verführungsinstruments, fest, einladend, sinnlich. Jetzt verbreiterten sich diese makellosen Lippen zu einem ebenso makellosen, betörenden Lächeln, das Bradleys Knie aufzuweichen drohte. Zu allem Überfluss war dieser Adonis größer als er, sodass auch der berückende Hals und die so reizvoll präsentierte Brust in seinem Blickfeld lagen. Und diese herrlichen Beine, lang und schlank, und diese unwiderstehlich geschwungenen Hüften...! „Äh..." Sein Gehirn musste den Einschaltknopf gefunden haben. „Ähm..." Sein Gehirn fuhr gerade hoch. „Ich... äh... ich..." Inbetriebnahme erfolgt in einigen Sekunden (oder Minuten). Bitte warten. „Ich... also..." „Erinnerst du dich nicht mehr an mich? Ich bin es, Butters! Weißt du noch? Dein Rechenschaftsbruder im Entschwulungscamp?" Bradley blinzelte erneut. Butters. Das Entschwulungscamp. Eines seiner schrecklichsten Kindheitserlebnisse und zugleich eines seiner schönsten, weil Butters da gewesen war, der liebe, tapfere Junge, der ihn davor bewahrt hatte, in seiner Angst und Verzweiflung von einer Brücke zu springen. An dem Tag war er wirklich fertig mit der Welt. Seine Eltern waren strenggläubig und erzkonservativ, einen homosexuellen Sohn konnten und wollten sie nicht akzeptieren. Es war furchtbar. Und dann war Butters in sein Leben getreten, sein erster richtiger Freund...und wohl auch so etwas wie seine erste große Liebe. Nun stand er vor ihm. Hieß ihn willkommen. Mit offenen Armen. Mit einem Lächeln. Er war schön. Er hatte ganz vergessen, wie schön er war. Immer noch ungläubig, streckte Bradley die Hand aus, um ihn zu berühren und fand sich plötzlich in einer innigen Umarmung wieder, eingehüllt in den Duft eines unaufdringlichen und geschmackvollen Eau de Toilettes, seine Wange gegen einen warmen Oberkörper gepresst. „Ich freue mich ja so, dich wiederzusehen! Es ist toll, dass du nach South Park gezogen bist! Wir werden uns so viel zu erzählen haben und ich muss dir alles zeigen und überhaupt...! Komm, setz dich neben mich!" Butters nahm ihn bei der Hand und bugsierte ihn zu seinem Platz. Neben ihm saß eigentlich Token, der zunächst nicht sehr begeistert davon war, zugunsten eines dahergelaufenen Neulings seinen Sitz neben seinem Schwarm zu räumen, aber der flehende Hundeblick des Blonden stimmte ihn um. Er stand auf. „Na schön, ich gehe. Aber das tue ich wirklich nur deinetwegen, Butters." „Das weiß ich doch, ich danke dir auch vielmals!" Ein Küsschen links, ein Küsschen rechts (Butters hatte keinerlei Hemmungen, was das Zeigen von Zuneigung betraf), Token lief rot an wie ein Klatschmohn und Bradley okkupierte verlegen den freigewordenen Stuhl. „Bei dieser Gelegenheit kann ich dir gleich ein paar von meinen Freunden vorstellen: Dieser wundervolle Bursche hier, der dir seinen Platz überlässt, ist Token Black, der Kapitän unserer Basketballmannschaft und nebenbei Sänger im Gospelchor unserer Gemeinde. Der Junge kann singen, da gehen dir die Ohren über vor Wonne, sag ich dir!" Bradley musterte seinen Gegenüber neugierig. Dieser Token hatte eine wunderschöne, samtig wirkende braune Haut, unergründliche schwarze Augen und langes schwarzes Haar, das als seidige Mähne bis über seine Schultern fiel. Er trug Halbschuhe (die verdächtig so aussahen wie die in der aktuellen Gucci-Werbung), eine eng geschnittene sandfarbene Hose (die stark an die auf dem Dolce&Gabbana-Plakat erinnerte), einen Gürtel (der war auch auf dem Plakat), ein lila Hemd (das Markenzeichen, mit Goldfaden auf die Hemdtasche gestickt, verriet Versace) und eine goldene Armbanduhr (eine Rolex selbstverständlich). Offenbar ein Sprössling aus sehr reichem Hause, doch weder sein freundlicher Handschlag noch sein Lächeln waren gekünstelt, sein Gesicht zeigte keinerlei Arroganz oder Blasiertheit. „Freut mich, dich kennen zu lernen." „Es freut mich auch, Token. Vielen Dank, dass du mir deinen Platz freigemacht hast." „Und diese beiden entzückenden Jungs, deren Disput du mit deinem Erscheinen unterbrochen hast, sind einmal, links von dir, Eric Cartman, unser erfolgreicher Star-Quarterback, und, rechts von dir, Kyle Broflovski, unser Schulprimus. Sieht alles, hört alles, kennt alles, weiß alles... und was er nicht weiß, ahnt er intuitiv!" Nun war Bradley ja der Meinung, den „Disput", wie Butters das so hübsch nannte, hätte eher Mrs. Jenkins mit ihrem bemerkenswerten Stimmorgan beendet, und als „entzückend" hatte er die finsteren Mienen der Streithähne auch nicht gerade empfunden. Aber jetzt, wo die ihm auf diese Art vorgestellten Herren nicht mehr wütend dreinblickten, musste er sein Urteil revidieren. Der größere (Wer war das gleich nochmal? Genau, der Star-Quarterback!) besaß neben seinem beachtlichen Wuchs (so ca. 1 Meter 90? Oder sogar zwei Meter?) die zu seinem Footballspielerdasein passenden Schultern, Arme und Beine, er hatte braunes, sehr gepflegt aussehendes Haar und braune Augen. Er wirkte ausgesprochen imposant, fast einschüchternd, und sein Begrüßungslächeln verfügte zwar über eine Menge Charme, doch es lag auch etwas unterschwellig gefährliches, maliziöses darin. Er würde diesem Stier in Menschengestalt nicht in die Quere kommen, sofern es sich vermeiden ließ, das war sicher. Der andere, ein Lockenkopf wie er selbst, machte neben diesem Koloss einen ziemlich schmächtigen Eindruck, das musste allerding nicht wirklich so sein, denn neben einem Footballspieler machten eben die meisten Leute einen schmächtigen Eindruck. Seine Haltung verriet jedenfalls Selbstbewusstsein, er trug den Kopf hoch und seine Augen, die von einem leuchtenden Grün waren, blitzten stolz und unbeeindruckt in die Welt. Irgendwie wollten dieser kriegerische Blick und das feuerrote Haar so gar nicht zu seinem braven Outfit passen; die schwarzen Halbschuhe, die helle Cordhose, das weiße Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln, der dunkelgrüne Pullunder darüber... an der High School liefen normalerweise nur die Streber so herum. Ach nein, halt mal - hatte Butters nicht gesagt, er sei der Schulprimus? Dann fiel dieser Kyle also eigentlich in die Kategorie Streber, obwohl er gleichzeitig so völlig... unstreberhaft zu sein schien. Bradley kannte zumindest keinen, dem man auf Anhieb das Etikett „cool" verliehen hätte. Kyle hingegen war cool. Und er hatte vor allen Dingen keinen Schiss vor Eric Cartman. „Stokes." Mr. Quarterback gab ihm die Hand, hielt es aber wohl für unter seiner Würde, ihn mit dem Vornamen anzusprechen. Bradley registrierte es und verzog gleich darauf das Gesicht, als seine Finger in einem sehr kräftigen Händedruck zusammengepresst wurden. Kyles Händedruck war auch fest, aber nicht so schmerzhaft. „Und das hier ist Clyde Donovan, unser zukünftiger Meisterkoch! Ist er nicht süß?" „Rede nicht so einen Quatsch daher, Butters! Ich soll doch später das Geschäft meines Vaters übernehmen! Und hör auf, mich zu knuddeln, ich bin überhaupt nicht süß!" Bradley konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Derjenige, den Butters im Moment herzte wie einen Teddybären, war bis zu den Haarwurzeln rot angelaufen, gestikulierte aufgeregt in dem sinnlosen Versuch, sich aus der Umklammerung des Blonden zu befreien und zog schließlich einen Schmollmund, als er merkte, dass es nichts nützte. „Du bist doof...!", erklärte er mit der Ernsthaftigkeit eines Fünfjährigen und streckte dem Märchenprinzen die Zunge heraus, was dieser mit einem entschuldigenden Lächeln abwehrte, das die Wangen des anderen noch einen Ton dunkler färbte. Er räusperte sich. „Ja, hallo, ich heiße Clyde, wie du schon gehört hast. Willkommen in South Park!" Okay, der da war süß. Er hatte wirres braunes Haar, das sich offensichtlich geweigert hatte, sich von einer Bürste zähmen zu lassen, haselnussbraune Augen und einen äußerst gewinnenden, kindlichen Charme. Seine Züge waren weicher als bei seinen Klassenkameraden und noch nicht so ausgeprägt - er würde vermutlich auch im fortgeschrittenen Alter etwas Zeitlos-Jungenhaftes an sich haben. Er steckte in modisch verwaschenen Jeans und Turnschuhen, das rote Hemd hatte lange Ärmel und lag eng an, um den Hals war ein blaues Tuch gebunden. „Hallo Clyde. Du bist ein zukünftiger Meisterkoch, sagt Butters?" Sein Gegenüber wand sich. „Er sagt ‘ne Menge, wenn er will. Ich bin kein Meisterkoch, ich koche nur einigermaßen gut." „Einigermaßen? Dein Essen ist superlecker, wie oft soll ich mich noch wiederholen? Das ist dein Talent, deine Gabe! Du musst das unbedingt weiterverfolgen!" „Ah, Butters, ich - soll - den - Laden - meines - Vaters - übernehmen!", skandierte Clyde und verschränkte die Arme. „Außerdem bin ich für einen richtigen Koch nicht vielfältig genug, ich mache fast nur Mexikanisches." „Dann eröffnest du eben dein eigenes mexikanisches Restaurant! Du willst doch nicht im Ernst der neue Schuhbaron werden? Du hast keinen Spaß daran!" Clyde antwortete nicht. Natürlich hatte sein Schwarm recht, er hatte keinen Spaß daran. Fußbekleidung zu verkaufen entsprach nicht seiner Vorstellung eines Traumberufs, aber das konnte er seinem Vater nicht erklären. Er arbeitete zwar zweimal die Woche im Geschäft, doch er konnte der Tätigkeit nicht das geringste abgewinnen. Er seufzte. Butters legte ihm einen Arm um die Schultern und nickte verständnisvoll. „Ich weiß", flüsterte er bekümmert, „es ist schwer, wenn man die Erwartungen seiner Eltern enttäuscht. Aber sie müssen dich dein eigenes Leben leben lassen, sonst kannst du nicht glücklich werden. Und dein Dad ist nicht wie meiner, er würde das sicher verstehen. Stephen dagegen..." Es fiel Clyde auf, dass Butters seinen Vater direkt beim Namen nannte und seufzte erneut. Die meisten an der Park High waren inzwischen über seine wahren Familienverhältnisse informiert und wussten, dass die perfekte Bilderbuch-Vorzeige-Familie, deren Fassade Stephen Stotch so krampfhaft aufrechtzuerhalten versuchte, nur ein schönes Lügengebilde war, das in sich zusammenzustürzen drohte. Auch Bradley merkte, dass plötzlich irgendetwas Butters‘ Laune verdüstert hatte. Die Stille, die nun folgte, nutzte Mrs. Jenkins, um ihre Schüler an den nach wie vor laufenden Unterricht zu erinnern - und daran, dass sie es nicht liebte, wenn man sie ignorierte. „SETZEN SIE SICH SOFORT HIN!!!! Das hier ist kein Kaffekränzchen, sondern ein Literaturkurs!! Und wenn Sie nicht wollen, dass ich Ihnen in Englisch ‚Ulysses‘ von James Joyce aufs Auge drücke, dann kapitulieren Sie auf der Stelle!!!" Das wirkte. Das „Kaffekränzchen" stob auseinander und platzierte sich auf seinen Stühlen, während Mrs. Jenkins in ihrem eisgrauen, militärisch angehauchten Kostüm und auf ihren abenteuerlichen High Heels die Tischreihen entlang klapperte und mit ihren Adleraugen darauf spähte, jemanden, der unachtsam zuckte, zum Vorlesen zu verdonnern. Eigentlich war sie eine freundliche Person, aber ihr Geduldsfaden besaß die Dicke eine Haares und die Strapazierfähigkeit von Kristallgläsern. Sie unterrichtete Englisch und Erdkunde, der Kurs über fremdsprachige Literatur war ein Zusatzangebot, von dem sie ursprünglich gedacht hatte, dass kaum einer es wählen würde (sie hatte berechtigte Zweifel an der Begeisterung der Park-High-Studenten für literarische Klassiker außerhalb Amerikas. Im Grunde hatte sie sogar berechtigte Zweifel an der Begeisterung der Park-High-Studenten für irgendwelche literarischen Klassiker). Wirklich erwartet hatte sie nur Miss Testaburger, Mr. Broflovski, Mr. Black und Mr. Stotch. Na ja, und Mr. Cartman, zugegeben. Sie warf einen abschätzenden Blick in seine Richtung und fragte sich zum hundertsten Mal, warum dieser intelligente Bursche nicht zeigte, dass er intelligent war. Die wenigsten seiner Mitschüler ahnten vermutlich, wie viele kluge Gedanken in diesem unergründlichen Kopf herum spukten - seine Leistungen galten allgemein als mittelmäßig bis schlecht. Und das waren sie auch...in den Fächern, die er nicht mochte, zum Beispiel Gesundheitswesen, Kunst oder Amerikanische Geschichte (in denen er mit Ach und Krach die Endnote D fabriziert hatte). In den Fächern, die er interessant, spannend oder sonst wie seiner Aufmerksamkeit wert fand, glänzte er mit hervorragenden Noten, etwa Englisch, Mathematik, Recht, Politik, Sport (oh, diese Ironie!)...und er behielt sie für sich. Eric Cartman, Angeber und Großmaul par excellence, gab nicht mit guten Noten an. Mrs. Jenkins runzelte unweigerlich die Stirn. Warum tat er das? Würde das seinem Image als „harter Typ" schaden, oder was? Puh, wie lächerlich... aber in der High School definierte man andere eben nach dem Image, das sie nach außen präsentierten. Beschissen, ehrlich. Für manchen armen Tropf wäre die Hölle schöner. „Miss Testaburger, lesen Sie bitte die nächste Seite vor! Und Ihren Bericht für den ‚Examiner‘ schreiben Sie gefälligst in der entsprechenden Stunde!" Wendy nickte gehorsam und schob ihre Notizen für den neuen Artikel zurück in ihre Mappe. Die Schülerzeitung, der „Park School Examiner", erschien regelmäßig alle vierzehn Tage (immer an einem Mittwoch) und enthielt neben der obligatorischen Klatschspalte alles Wissenswerte rund um die Park High und der ihr zugeordneten Stadt - aus der Sicht eines Teenagers. So gab es zum Beispiel einen Veranstaltungskalender, in dem die wichtigsten sportlichen Ereignisse, angesagtesten Partys, coolsten Konzerte, besten Filme und sonstige bedeutsame Sachen verzeichnet waren, meist mit einer kurzen Bewertung. Berichte über aktuelle Spiele oder Turniere, Interviews mit beliebten Lehrern oder Stars aus der Schülerschaft, schockierende Enthüllungsstorys („Ist Mr. Garrison in Wirklichkeit ein Zwitter?", „Die Würgepampe aus der Cafeteria: Ein Lebensmittelskandal"), von denen die eine Hälfte erfunden und die andere nur bedingt ernst zu nehmen war, sowie Tipps, Tricks und Trends, um den Schulalltag zu überstehen, rundeten das Produkt ab. Wendy arbeitete seit ihrem Freshman-Jahr für den „Examiner", den sie sich des öfteren etwas seriöser und journalistischer wünschte, damit er seinem Namen mehr Ehre gemacht hätte („Der Überprüfer"), aber vorläufig beschränkte sich das auf ihre persönliche Seite, „Wendys Kommentar", wo sie scharfzüngig und sarkastisch Schwachstellen in der Verwaltung und im Lehrkörper aufdeckte oder anderweitige Missstände kritisierte. Ihre Feder wurde respektiert und gefürchtet, „Wendys Kommentar" war die beliebteste Rubrik der Schülerzeitung. So weit, so gut. Kein bisschen gut gestaltete sich dagegen ihr Privatleben. Nachdem sie in der achten Klasse endgültig mit Stan gebrochen hatte (aus verständlichen Gründen), hatte sie ab und an verschiedene Dates gehabt, allerdings nichts Dauerhaftes. Lag es an ihr? Sie wusste, dass sie schwierig sein konnte, ihr Temperament und ihre Überempfindlichkeit bei einigen Dingen ließen sie häufig grob und zickig reagieren, obwohl sie es selten so meinte. Viele Jungs stießen sich auch an ihrer Intelligenz. Sogar im 21. Jahrhundert krochen noch Neandertaler über die Erde, die das hübsche Dummchen der gebildeten Frau vorzogen! Den meisten dieser bedauernswerten Idioten war vermutlich gar nicht klar, dass das eine eindeutige Aussage zu ihrer eigenen Intelligenz war... Mit Stan hatte es da nie Probleme gegeben. Warum konnte sie nicht wie Bebe sein? Bebe trug einen klugen Kopf auf ihren Schultern, versteckte es jedoch geschickt und spielte gern die naiv-unbedarfte Blondine, eine Masche, mit der sie fast jeden Kerl um den kleinen Finger wickeln konnte. Na ja, und ihre beiden „Argumente" nicht zu vergessen ...hm. Trotzdem. Etliche Verehrer hin oder her, eine längere Beziehung hatte auch Bebe nicht mehr gehabt, seit sie sich von - wie hieß er noch? Peter? Perry? Paul? Ja, Paul! - getrennt hatte. Und das war eigentlich auch ein Schuss in den Ofen gewesen. „Danke, Miss Testaburger. Und als nächstes - damit wir mit der Lektüre endlich vorwärtskommen, weil sich ja die meisten von Ihnen nicht dazu verpflichtet fühlen, zu Hause weiterzulesen - wie wäre es denn mit Ihnen, Mr. Yardale?" Links von Wendy ertönte ein Seufzer und eine große Gestalt in vornehmen schwarzen Hosen und einem eleganten weißen Hemd begann mit dem Vortrag der Verse auf der folgenden Seite. Die silberne Krawatte hatte er streng gebunden, seine Schuhe waren blankgeputzt: Gregory von Yardale sah bereits zu dieser frühen Stunde aus wie aus dem Ei gepellt. Wendy betrachtete ihn aus den Augenwinkeln, während sie seiner tiefen Stimme lauschte, die ihr fast so gut gefiel wie die von Stanley, und gestand sich ein, dass sie immer noch eine kleine Schwäche für ihn hatte, die aus ihrer Kinderzeit herrührte. Ernstlich in Betracht gezogen hatte sie ihn allerdings nie... er verhielt sich Jungen und Mädchen gegenüber gleichermaßen höflich-distanziert, blieb meist für sich und beschäftigte sich hauptsächlich mit seinen beiden großen Leidenschaften, Fechten und Reiten. Über sein Privatleben war nichts bekannt, man war sich nicht einmal sicher, für welches Geschlecht er sich interessierte. Genau wie Pip war er ein Engländer reinsten Wassers (er entstammte dem alten Landadel) und genau wie Pip reagierte er außerordentlich heftig, wenn ihn jemand als Franzose bezeichnete. Die beiden waren eng miteinander befreundet, zu anderen Schülern hielt Gregory jedoch nur geringen Kontakt. Schade. Er war attraktiv, kultiviert, vornehm und schlagfertig, also eine Eroberung wert. Aber es würde ohne Frage eine schwierige Eroberung sein... und sie wusste nicht, ob sie sich darauf einlassen wollte (und sollte). Natürlich, sie träumte davon, endlich eine dauerhafte, wirklich zukunftsträchtige Beziehung zu haben, aber Männer, die diesem Anspruch genügten, schüttelte Frau nicht gerade von den Bäumen. Weitere Optionen? Butters: Gesegnet mit klassisch-griechischer Schönheit, ein echter Gentleman und begnadeter Tänzer... nur leider schwul. Token: Sehr gutaussehend, sehr intelligent, ein wunderbarer Sänger (und reich nicht zu vergessen), Orientierung bisexuell. Möglich, schwärmte aber für Butters (wer tat das nicht!) und steckte ständig mit Clyde zusammen. Kenny: ...ja, klar. Okay, er war heiß, aber sonst? Der wollte Sex, sonst nichts. Danke, aber danke nein. Cartman: Hm. Stockschwul, fiel demnach weg, obwohl sie nach wie vor eine Neigung für ihn verspürte. Er war zwar ein Arschloch, aber ein charismatisches Arschloch, das musste man ihm lassen. Charisma war eine verdammt seltene Eigenschaft, mindestens so selten wie echtes Genie, eine Art Phänomen, das man nicht erklären konnte. Echtes Genie hatte nicht ausschließlich etwas mit Intelligenz zu tun und Charisma nicht ausschließlich etwas mit gutem Aussehen (das galt auch für Charme). Wie konnte man es beschreiben? Eine Form von enormer Ausstrahlung, die nicht zu definieren war, die einen jedoch unweigerlich in Bann schlug. Butters hatte es. Und Cartman hatte es auch. Wer blieb übrig? Craig? Tse, der war gefühlsgehemmt, arrogant, ein Ausbund an Langeweile und besaß den Schwung einer Schnecke! Außerdem war er schwul und völlig unfähig, es zu akzeptieren. Statt dessen versuchte er krampfhaft, sich mit wechselnden Freundinnen zu amüsieren, aber im Gegensatz zu Kenny machte es ihm noch nicht mal Spaß. Er wirkte oft hart und verbissen. Einigermaßen sanft gab er sich nur bei Butters und Tweek - und bei seiner Schwester Teresa, genannt Terry (obwohl die beiden sich pausenlos den Finger zeigten, wenn ihnen danach war... dabei handelte es sich aber lediglich um eine Familieneigentümlichkeit). Was fand er bloß an dem Nervenbündel Tweek? Ob er...? Nein, das konnte nicht sein. Oder doch...? Für den Rest der Stunde versenkte sich Wendy Testaburger gedanklich in ihre zweite Lieblingsbeschäftigung nach der Schülerzeitung: Verkuppeln. Butters verteilte nach dem Klingeln seine Einladungen, leicht parfümierte Umschläge mit Buchstaben in Golddruck. „Und macht euch so schick wie ihr nur könnt. Ich will was zum Anschauen haben!", meinte er keck und zwinkerte einmal in die Runde. „Bis morgen Abend!" Er warf seinen Freunden eine Kusshand zu und stolzierte hinaus. Je nach Persönlichkeit wurde diese Geste unterschiedlich aufgefasst. Cartman murmelte ein verächtliches „Schwuchtel!", ungeachtet der Tatsache, dass er selbst eine Schwuchtel war, steckte jedoch im gleichen Atemzug die Einladung in seinen Rucksack. Kyle grinste ein bisschen dümmlich, schnupperte am Umschlag und packte ihn dann andächtig in seine „Wichtige Dokumente"-Mappe. Token schickte dem Blonden einen schmelzenden Blick hinterher und verstaute das Kuvert sorgsam in seiner Tasche. Clyde, der in Konkurrenz mit einer Tomate getreten war, presste die Einladung an sein Herz und verdrehte verzückt die Augen. Gregory starrte gottergeben auf das Etwas in seiner Hand, die Wangen dezent gerötet und fragte sich zum hundertsten Mal, ob er nicht vielleicht doch bisexuell war. Er stand auf Frauen, aber Stotch brachte ihn durcheinander. Er war so schön und so charmant...und vor allen Dingen kam keiner an ihn ran. Er ließ seine Verehrer am ausgestreckten Arm verhungern, weil er sich nicht festlegte. Klar, er hatte ein paar Dates gehabt, aber nie etwas Ernstes. Auch wenn er sich zuvorkommend und freundlich verhielt (sofern man ihn nicht ärgerte), niemand hatte ihn bisher erobern können, da blieb er unnahbar. Und das steigerte seinen Wert als Objekt der Begierde ganz erheblich, denn es fügte den Reiz der Jagd, der Herausforderung hinzu. Stotch wusste definitiv, was er tat. Gregory schob den Umschlag in das Buch, das er gerade las und schmunzelte. Im Grunde hatte er nichts dagegen, sich noch ein bisschen mehr durcheinanderbringen zu lassen...das würde ihn von ihr ablenken... Bradley glühte vor Begeisterung. Er freute sich sehr, dass Butters ihn spontan zu seiner Geburtstagsparty eingeladen hatte, obwohl sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Die Frage war bloß, was seine Eltern dazu sagen würden? Die Erkenntnis, dass ihr Sohn kurz davor gewesen war, sein Leben zu beenden, hatte ihre starre Einstellung ein wenig aufgerüttelt - sie hörten auf, ihn wegen seiner mittelmäßigen Schulnoten unter Druck zu setzen und erlaubten ihm sogar, das Geigespielen wieder aufzunehmen, das sie ihm verboten hatten. Über seine Sexualität wurde nicht mehr gesprochen (obwohl er sich sicher war, dass dieses Thema seine Eltern noch immer negativ beschäftigte). Würde er auf die Party gehen dürfen? Mittagspause. Die Cafeteria der Park High summte wie ein Bienenstock. Sie befand sich im Erdgeschoss des Verbindungsteils zwischen dem Gebäude der Junior- und dem Gebäude der Senior High School und die Schüler aus beiden Häusern kamen dort zum Essen zusammen. Isaak Broflovski, Spitzname Ike, seines Zeichens Schüler der sechsten Klasse und elf Jahre alt, wuselte mit seinem vollgepackten Tablett durch die hungrige Meute und rettete sich an den Tisch seiner besten Freundin, Terry Tucker, Craigs kleiner Schwester. Sie begrüßte ihn lächelnd mit erhobenem Mittelfinger. Dann fiel ihr Blick auf das Tablett. „Was ist das?!" „Wonach sieht es denn aus? Das ist mein Essen!" „Das ist Würgepampe, Ike! Du willst nicht wirklich dieses... was immer es ist... essen?" Sein knurrender Magen beantwortete ihre Frage. Während das Mädchen mit aufsteigender Übelkeit kämpfte, aß er mit bestem Appetit etwas, das extrem entfernt an Spaghetti Bolognese erinnerte, wobei nicht auszumachen war, wo die Spaghetti anfingen und das Hackfleisch aufhörte, das Ganze präsentierte sich als matschiger Brei in einem ekelerregenden Rotton. Der Fachbegriff für alles, das ähnlich katastrophal wirkte, war Würgepampe. Die Küche fabrizierte fast nichts anderes als Würgepampe in zahllosen Variationen, das einzige anständige Essen war den Seniors vorbehalten. Terry, ein lebhaftes, energisches Persönchen mit schulterlangen hellroten Zöpfen und großen grauen Augen, seufzte aus Gemütstiefen und schielte immer wieder sehnsüchtig zu dem Bereich der Cafeteria hinüber, zu dem nur die Studenten des Abschlussjahres Zugang hatten. Man hatte eine Absperrungskordel dort aufgestellt und den Hausmeistergehilfen dazu abkommandiert, den Kordelsteher zu mimen, dessen Aufgabe darin bestand, sich den Schülerausweis vorzeigen und die Seniors passieren zu lassen. Der ihnen zugewiesene Teil der Cafeteria war schick und modern eingerichtet, der Boden war fein säuberlich gekachelt und mit Teppichen bedeckt, zur Verschönerung dienten immergrüne Pflanzen in hübschen Keramiktöpfen oder Vasen mit künstlichen Blumen. Die Sechst-, Siebt- und Achtklässler sowie sämtliche Freshmen, Sophomores und Juniors, nach Cafeteriastandard gemeinhin als „der Pöbel" bekannt, mussten mit unbequemen Plastikmöbeln, giftgrünem Linoleum und mit dem Porträt des Direktors als Verzierung Vorlieb nehmen. Und mit der Würgepampe, während die Seniors (die Privilegieren) eine eigene Speisekarte führten, die wirklich leckere Sachen auflistete, Pizza zum Beispiel. Oder Vanillecreme unter der Rubrik Desserts! Neidisch beobachtete Terry ihren älteren Bruder, der im Moment eine Portion goldgelber Pommes vertilgte und fluchte über die Ungerechtigkeit der Welt und die der Park High im besonderen. Drei Tische weiter fluchte Karen McCormick, Kennys fünfzehnjährige Schwester, aber aus anderen und weitaus ernsteren Gründen. Sie hatte die letzte Nacht im Ein-Zimmer-Apartment ihres Bruders Kevin verbracht, der seine Lehre zum Automechaniker inzwischen erfolgreich beendet und von seinem Ausbilder eine feste Anstellung bekommen hatte. Ihr Vater hatte sich wieder mal den Frust von der Seele gesoffen und sie hasste ihn in diesem Zustand, weshalb sie, in der Regel mit Kenny zusammen, zu Kevin flüchtete. Man konnte nie sicher sein, ob er nicht Hand an die Geschwister legte - in der Vergangenheit hatte er es oft getan. Karen erinnerte sich angewidert an die vielen endlos scheinenden Nächte, in denen ihr Vater brutal geworden war. In seiner betrunkenen Wut war ihm nichts heilig... seine Kinder nicht, seine Frau nicht... und eben diese Frau prügelte notfalls auch auf ihn ein, um sich zu wehren... das Schreien, die Schläge, das Weinen...sie konnte es nicht ertragen. Ihre beiden Brüder hatten immer versucht, sie zu beschützen und als Folge davon hatten sie die meisten Hiebe einstecken müssen. Die Momente, in denen sich ihre Eltern tatsächlich bemühten, sich um sie zu kümmern, waren rar gesät - zu rar. Karen fluchte erneut, biss sich auf die Lippen und stocherte lustlos in ihren angeblichen Spaghetti herum. »Meine Familie ist kaputt... und wir sind auch irgendwie kaputt. Kevin vertraut niemandem außer uns, er hat keine Freunde und Beziehungen meidet er wie die Pest. Kenny spielt den lockeren Playboy, bricht kiloweise Herzen und schert sich einen Dreck um seine Sexpartner. Auch er kann nicht wirklich vertrauen, genau wie Kevin. Und ich? Ich bin eine Einzelgängerin und lasse niemanden an mich heran. Ich habe Angst davor. Meine Brüder tun so, als wäre es ihnen egal, aber sie wissen, dass sie sich damit nur selbst belügen...« „Hallo Schwesterherz!" Eine grobe und doch liebevolle Umarmung riss Karen aus ihren trüben Gedanken. Kenny drückte ihr einen Kuss auf die Wange und nahm ihr gegenüber Platz. „Was machst du hier? Du als Senior gehörst in den Luxusbezirk der Cafeteria!" „Na und? Deswegen darf ich trotzdem mein Schwesterchen begrüßen, oder nicht? Du warst bei Kevin, stimmt‘s? Wie geht es ihm?" „So lala, wie immer. Sein Apartment ist jetzt eine richtige Junggesellenbude, ungewaschene Wäsche und schmutziges Geschirr überall... ich hab‘ ein bisschen Ordnung in seinem Sauhaufen gemacht, das war echt nicht zum Aushalten! Und es wurde endlich die Ausziehcouch geliefert, in Zukunft müssen wir also nicht mehr unsere Schlafsäcke mitschleppen, wenn wir bei ihm übernachten wollen. Ach ja, und ich glaube, seine Nachbarin steht auf ihn!" „Ehrlich? Und, hat er sie schon flachgelegt?" „Das ist alles, woran du denkst, kann das sein? Nein, hat er nicht. Du weißt, wie er ist. Er hat zu viel Schiss, dass er‘s vermasselt. Wie du." „...Was meinst du damit? Ich hab‘ keinen Schiss, ich will nur nix Dauerhaftes. Das artet bloß in ‘ne verdammte Quälerei aus, wie bei Mom und Dad. Darauf kann ich verzichten." „Komm schon, großer Bruder. Du weißt genau, was ich meine." Er sah sie an, schweigend. Natürlich wusste er es, er war kein Dummkopf. Seine Schwester war so ziemlich der einzige Mensch, vor dem er nichts verbergen konnte und außerdem eines der wenigen weiblichen Wesen, für die er echten Respekt empfand. „Ich bin nun mal so", erwiderte er ausweichend. „Was ist übrigens mit dir? Hast du noch immer keinen Freund?" „Nein, stell dir vor! Nicht alle Mädchen brauchen unbedingt ‘nen Kerl in ihrem Leben!" „Hä? Also bist du lesbisch?" „Großer Bruder!!!!" „Was denn?! Wenn du so komische Sachen sagst..." „Ich hab‘ keinen Bock auf ‘nen Kerl, so einfach ist das! Sich durch sämtliche Betten der Stadt zu schlafen, ist vielleicht deine Patentlösung, aber für mich ist das nichts!" Kenny gab ein beleidigtes Grunzen von sich und musterte Karen von Kopf bis Fuß. Sie war nicht besonders groß für ihr Alter und auch nicht übermäßig entwickelt, was ihre Körperformen anging, aber sie besaß schöne Lippen und wunderbar blaue, strahlende Augen. Das hellbraune Haar war rechts zu einem seitlichen Pferdeschwanz gebunden, ihr Haarband und ihr Parka hatten die gleiche Farbe wie bei ihm, orange, ihre Jeans war braun. „Aber du bist doch hübsch, Schwesterherz. Hat dich noch nie einer angebaggert?" „Doch. Kein Interesse. Alles Idioten, die nur mit ihrem Schwanz denken. Da könnte ich auch mit einem Schimpansen ausgehen. Obwohl... ihn mit all diesen Gehirnamputierten in einen Topf zu werfen, ist eigentlich eine Beleidigung für den Schimpansen." Er grinste. „Du bist klasse, Karen." Damit verabschiedete er sich von ihr, trottete in den Seniorbereich hinüber und setzte sich neben Eric, Stan und Kyle hockten ihnen gegenüber. Die drei hatten bereits mit dem Essen begonnen, was seine leise Verärgerung, die er schon seit heute Morgen mit sich herumtrug, nur verstärkte. „Wo wart ihr?" „Wo waren wir wann?", erkundigte sich Stan und schnitt mit sichtlichem Vergnügen einen neuen Bissen von seinem Omelett. „In der ersten Stunde! Amerikanische Geschichte mit ‚It‘! Habt ihr alle geschwänzt, oder was!?! Mich mit dieser Krankheit von einem Lehrer allein zu lassen...!" Kyle zog eine Braue nach oben und erklärte mit einem Hauch von Ungeduld in der Stimme: „Ken. Keiner von uns hat in diesem Jahr Geschichte belegt. Für den Abschluss an dieser Schule braucht man im sozialwissenschaftlichen Bereich drei Credits, nicht nur zwei, wie du dir eingebildet hast. Stan, Cartman und ich haben die dafür nötigen Kurse bereits absolviert. Du nicht. Während du also unter ‚It‘ und seinem... ihrem ...strengen Regiment gelitten hast, war Stan in Statistik und Cartman und ich in Literatur. Du wirst ohne uns auskommen müssen, jedenfalls in Geschichte." „Was? Wie unfair! Der einzige Trost ist, dass ‚It‘ heute zu spät gekommen ist... He - ein neues Gesicht!" Er deutete in Bradleys Richtung, der mit Butters an einem Tisch saß. „Wer ist der Typ? Und wieso darf er mit unserem Märchenprinzen essen? Das ist eine Ehre, das weiß er hoffentlich?" „Nein, weiß er nicht. Woher auch? Es hat ihn noch niemand über Butters‘ Status an dieser Schule aufgeklärt", sagte Cartman und beobachtete mit einem Anflug von Missbilligung den vertrauten Umgang zwischen dem Blonden und dem Neuling. „Wenn ich richtig verstanden habe, kennen sich die beiden aus diesem bescheuerten Entschwulungscamp, in das ihre Eltern sie gesteckt haben. Sie waren Zimmergenossen." „Ach, fuck! Ein Jugendfreund. Die sind immer gefährlich. Wir werden höllisch aufpassen müssen, dass er uns Butters nicht wegschnappt. Hat er ihn zur Party eingeladen?" „Ja. Sein Name ist Stokes, Bradley Stokes. Und apropos wegschnappen - dir ist schon klar, dass du einen Mann nicht auf vier Leute verteilen kannst?" „Jetzt sei nicht so spitzfindig, Kyle! Erst mal raffen wir ihn uns... wer ihn bekommt, diskutieren wir dann später! ...Was is‘? Warum schaut ihr mich so komisch an? Also ehrlich, Jungs, seid nicht so empfindlich... Ich hab‘ zumindest ‘nen Grund, mich aufzuregen, weil ihr mich in Geschichte versauern lasst! Ich werde vor Langeweile krepieren... erst recht, wenn Eric und Kyle sich nicht mehr gegenseitig anbrüllen." „Bitte!?" „Hä!?" „Na, wenn ihr aufeinander losgeht, gibt‘s wenigstens was Spannendes zu hören und eventuell auch zu sehen, ‘ne zünftige Prügelei zum Beispiel. Ihr wart das einzig Aufregende an diesem grottenschlechten Unterricht!" „Du wirst Gelegenheit haben, sie dafür in einem anderen Fach in Hochform zu erleben", bemerkte Stan tröstend. „Wir haben... lass mich nachsehen... Sport zusammen." „Nur Sport?" „Ich fürchte ja, sofern es unsere Vierergruppe betrifft. Wir beide haben noch Englisch gemeinsam und eine Stunde in der Studierhalle..." „Weiß ich." „...Ansonsten hab‘ ich Französisch und AP Biologie mit Kyle... und Kyle hat Literatur, AP Recht, AP Englisch und AP Calculus mit Cartman." „Dann freue ich mich auf Sport!" „Deine Begeisterung muss ich jetzt aber nicht nachvollziehen können, oder? Warum bist du so scharf darauf, dabei zu sein, wenn ich und der Jude uns streiten?" „Es heißt ‚der Jude und ich‘, Cartman. Nur der Esel nennt sich immer zuerst. Ich muss allerdings zugeben, die Frage ist berechtigt. Du hättest uns heute in Literatur sehen sollen, Ken. Ich habe einen meiner Lieblingsgriffe angewendet." „An Eric?" „Genau. Ursprünglich hatte ich geplant, den Boden mit seinem Gesicht aufzuwischen, aber da wurde ich bedauerlicherweise unterbrochen..." Kenny platzte mit einem lauten Lachen heraus, jedoch nicht lange, denn eine starke Hand packte ihn im Nacken und presste ihm die Halsmuskeln zusammen. „AUA!!! Scheiße, Eric, nimm deine Pfote von mir!! Mensch, du bist so ‘ne Mimose, Alter! Du darfst über alles und jeden stänkern, aber wehe, jemand lästert mal über dich oder amüsiert sich auf deine Kosten, da hört der Spaß dann plötzlich auf! Gott, manchmal bist du so... so..." „...ein mieser Heuchler?", zwitscherte Kyle mit der Miene eines Unschuldslamms. „Oder ein egoistischer Mistkerl? Ein armseliger Idiot? Ein feiger Bastard? Ein asoziales Arschloch?" „...Jude...!", stieß Cartman zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „...ich warne dich!" „Oh, will mich der große böse Quarterback etwa einschüchtern? Ich mach mir gleich in die Hose.", lautete die spöttische Antwort. „...Ich habe es nicht nötig, mit einem nervigen, arroganten kleinen Streber zu sprechen!" Eine Äußerung, auf die ein kollektives „Hey!" aller anwesenden Streber des Jahrgangs erfolgte. „Und ich habe es nicht nötig, mit einem dummen, hirnlosen Footballspieler zu sprechen!" Eine Äußerung, auf die ein kollektives „Hey!" aller anwesenden Footballspieler der Schulmannschaft erfolgte. Beide Gruppen, die ihre hierarchisch über ihnen stehenden Anführer unterstützen wollten (Cartman war der Kapitän mit einem GS von 8, Kyle der einzige A-Student mit einem GS von 7), versammelten sich um sie. Kenny glotzte perplex, Stan runzelte die Stirn und murmelte: „Nicht schon wieder..." KYLE: „What is this feeling? So sudden and new?" CARTMAN: „I felt the moment I laid eyes on you." KYLE: „My pulse is rushing." CARTMAN: „My head is reeling." KYLE: „My face is flushing." CARTMAN & KYLE: „What is this feeling? Fervid as a flame, Does it have a name? Yeeeeeeeeees...!" Bradley ließ die Gabel fallen, die er zum Mund hatte führen wollen. Fingen der Quarterback und der Schulprimus gerade das Singen an oder hatte er eine Halluzination des Gehörs? Es schien so; alle anderen ignorierten das Geschehen, aßen weiter oder setzten ihre Unterhaltungen fort, ohne sich einen Deut darum zu kümmern, dass hier plötzlich eine Musicalnummer ablief. „Butters? Hast du... hast du das auch gehört?" Der Blondschopf lächelte etwas verlegen. „Wir hören es alle, Bradley, die meisten beachten es jedoch inzwischen nicht mehr. Spontane Gesangseinlagen sind in South Park nichts ungewöhnliches. Es passiert einfach. Wenn Sprache allein nicht mehr ausreicht, um etwas auszudrücken, wird eben gesungen." „Aber... aber... aber...!" CARTMAN & KYLE: „Loathing! Unadulterated loathing!" KYLE: „For your face..." CARTMAN: „Your voice!" KYLE: „...your clothing!" Die Kontrahenten begannen, einander zu umrunden wie zwei Hirsche bei einem Revierkampf. Erics zornbebender, glühender Blick ruhte auf Kyle, dessen eigene Augen wilde Blitze auf ihn schossen. Ihre intensiven Blicke und raschen Bewegungen, kombiniert mit den aggressiv gesungenen Worten, verrieten die gegenseitige Abscheu. Kyle war wütend. Er hatte es satt, mit Eric Cartmans Existenz belastet zu sein, er hatte es satt, dass er kein ruhiges, friedliches Leben führen durfte, und er hatte es satt, dass er immer und immer wieder sich selbst, seine Familie oder seine Religion vor dem Blödarsch verteidigen musste. Aber am meisten hatte er es satt, dass ihm die Meinung dieses Trottels nicht einfach scheißegal war. CARTMAN & KYLE: „Let‘s just say - I loathe it all! Every little trait, however small Makes my very flesh begin to crawl With simple utter loathing! There‘s a strange exhilaration In such total detestation It‘s so pure, so strong! Though I do admit it came on fast -..." „Ach wirklich?" Stan nickte. „Doch, schon. Ich meine, sie kannten sich am ersten Tag im Kindergarten ungefähr zehn Minuten lang, bevor sie anfingen, sich nette Wörter an den Kopf zu werfen..." „Richtig, ich erinnere mich... aber muss die Gesangseinlage unbedingt jetzt sein? Ich habe noch nichts gegessen und mein Magen hängt mir in den Kniekehlen! Können wir nicht was spachteln und hinterher singen?" „Kenny...!" „Was denn!?" CARTMAN & KYLE: „...Still I do believe that it can last And I will be loathing Loathing you My whole life long!" Der Streberchor hatte sich indessen formiert und setzte kräftig ein, einige von ihnen klopften Kyle anerkennend auf die Schulter oder zeigten Cartman den Stinkefinger. Der Quarterback reagierte nicht darauf, eisern und düster wie eine Statue stand er da, seine Augen konsequent auf das Antlitz des Juden gerichtet. Er blinzelte nicht einmal. STREBER: „Dear Kyle, you are just to good How do you stand it? I don‘t think I could! He‘s a terror! He‘s a Tartar! We don‘t mean to show a bias, But Kyle, you are a martyr!" KYLE: „Well, these things are sent to try us." STREBER: „Poor Kyle, forced to compromise With someone so disgusticified We just want to tell you: We‘re all on your side!" Das brachte nun das Footballteam auf. Sie platzierten sich entschlossen hinter ihrem Kapitän, um gegen die Streber anzusingen. Cartman blieb weiterhin schweigsam und Kyle fühlte ein gewisses Unbehagen in sich aufsteigen. Wenn sein Rivale zeterte, schrie, brüllte, wenn er ihn angiftete und provozierte, konnte er damit umgehen, aber dieses Schweigen nahm langsam unheimliche, ja, rätselhafte Züge an. Das braune Feuer, das ihm entgegenschlug, bannte ihn und trieb ihm das Blut in die Wangen. Was war los? FOOTBALLER: „Dear Eric, you are just to good How do you stand it? I don‘t think I could! He‘s a terror! He‘s a Tartar! We don‘t mean to show a bias, But Captain, you‘re a martyr!" CARTMAN: „Well, these things are sent to try us." FOOTBALLER: „Poor Eric, forced to compromise With someone so disgusticified We just want to tell you: We‘re all on your side!" STREBER & FOOTBALLER: „We share your loathing!" Stanley bemerkte das Erröten seines besten Freundes, das auf Seiten Cartmans gleichfalls eine zarte Verfärbung bewirkte. Er hatte Kennys Vermutungen über die „sexuelle Spannung" nie ganz ernstgenommen, und war daher umso überraschter. Natürlich hatten die beiden eine, hm, vorsichtig ausgedrückt, etwas merkwürdige Beziehung, die niemand so genau kapierte, nicht einmal die Beteiligten selbst. Eigentlich konnten sie sich nicht leiden, aber wenn sie zu viert zusammen abhingen, hingen sie eben zu viert zusammen ab und die Anwesenheit des anderen wurde mehr oder weniger toleriert. Dabei waren Kyle und Cartman gar keine Freunde, nicht einmal annähernd. Trotzdem kam es irgendwie nie zu einem endgültigen Bruch zwischen ihnen, obwohl sich ihnen genügend Gelegenheiten geboten hätten. Kyle gab Cartman aus unerfindlichen Gründen immer wieder eine zweite Chance... wieder und wieder. Und Cartman kam aus ebenso unerfindlichen Gründen immer wieder zu ihrer Gruppe zurück. Wie sollte man das nennen? Hassliebe? Stan wurde nicht klug aus dem ständigen Tamtam dieser zwei Gegner, eines hatte er jedoch begriffen: Sie konnten nicht miteinander - aber ohne einander konnten sie irgendwie auch nicht. CARTMAN & KYLE: „What is this feeling? So sudden and new? I felt the moment I laid eyes on you. My pulse is rushing. My head is reeling. Oh, what is this feeling? Does it have a name? Yeeeeeeeeees...!" STREBER & FOOTBALLER (gleichzeitig): „Unadulterated loathing! For his face, his voice, His clothing! Let‘s just say - we loathe it all! Every little trait, however small, Makes our very flesh Begin to crawl..." Beinahe war Kyle erleichtert, dass das seltsame Schweigen seines Erzfeindes vorüber war. Er vertrug es nicht, wenn Cartman sich anders benahm als er es von ihm gewohnt war, zumal ihn dieses Lauernde, Abwartende maßlos irritierte und ein Kribbeln durch seinen Körper jagte, das seine Verwirrung nur verstärkte und seinen Zorn noch mehr anfachte. Früher hatte er nie Probleme damit gehabt, Cartman sowohl mit seinen Worten als auch mit seinen Fäusten fertigzumachen, weil er ihm in beiden Bereichen überlegen gewesen war, doch mit dem Erwachsenwerden hatten sich ihre Machtverhältnisse verschoben. Die Grenzen waren verwischt... selbst wenn es ihm gelang, den Braunhaarigen an die Wand zu argumentieren, konterte dieser oft mit einer cleveren Antwort, der Kyle in den meisten Fällen zwar nicht zustimmte, die er aber ebensowenig als falsch oder nichtig abtun konnte. Und bei körperlichen Auseinandersetzungen zog Cartman ab und an den Kürzeren, da ihm die Technik fehlte, was er jedoch mit seiner Kraft und seiner Größe ausgleichen konnte. Außerdem war das soziale Gefälle zwischen ihnen verschwunden; Cartman galt nicht mehr als unbeliebt (offiziell war sein GS sogar höher als Kyles), er hatte als Quarterback viele Siege für die Schule errungen und seine Mannschaftskameraden respektierten und schätzten ihn. Sie waren sich ebenbürtig. CARTMAN & KYLE: „There‘s a strange exhilaration In such total detestation It‘s so pure, so strong! Though I do admit it came on fast Still I do believe that it can last And I will be loathing..." Erneut umkreisten sie einander, die Augen am jeweiligen Gegenüber fixiert, bis eine Hand den Pullunder des Juden packte und sich Cartmans Gesicht dem seinen näherte. Kyles Finger gruben sich fast automatisch in das Hemd des Quarterbacks und zerrten daran, was ihre Gesichter so nah zusammenführte, dass ihr erhitzter Atem sich vermischte. CARTMAN & KYLE: „...For forever loathing Truly, deeply loathing you My whole life long!" Sie starrten sich an, keuchend, ihre Lippen kaum mehr als einen Zentimeter voneinander entfernt. Das nutzten Kyles Hormone, um ihn deutlich darauf aufmerksam zu machen und mit einem gepressten Schrei ließ er Cartman los, fluchte, um sich Haltung zu geben und stürzte davon. Eric sah ihm mit einem undefinierbaren Ausdruck nach. „Dummer Jude..." Er spuckte aus. „Das war... interessant", meinte Kenny grinsend. „Was denkst du, ob die beiden es statt einer Rauferei oder dem üblichen Anschreien mal mit Schlichtungssex versuchen würden? Ich sollte ihnen das mal vorschlagen, bei dieser ganzen aufgestauten Spannung..." „KEN!!!" „Was is‘? Oh, sorry, wird dir schlecht?" „Nein.", erwiderte Stanley in einer Tonlage, die der selbsternannte „größte Playboy" der Schule für gemeingefährlich frostig hielt. „Äh, Stan? Was hast du? Ich fühle mich gerade wie die Titanic, die auf ihren Eisberg getroffen ist! Warum schaust du so verbiestert?" „Jetzt mal im Ernst: Ist Sex deine Antwort auf alles, oder was?" „Tse, du klingst wie meine Schwester! Ist es vielleicht meine Schuld, dass dein Handicap dich zu einem Leben im Jungfrauenstand zwingt, weil du bei allem, was übers Küssen hinausgeht, zu reihern anfängst? Ehrlich, Kumpel, frustriert dich das nicht?" „Ich kann nichts vermissen, was ich noch nie erlebt habe, Ken. Überhaupt solltest du nicht von dir auf andere schließen; wahllos durch irgendwelche Betten zu hüpfen, entspricht nicht gerade meiner Idealvorstellung!" „Aha? Sag nicht, du willst damit warten, bis du wirklich verliebt bist!" „Warum nicht?" Kenny riss die Augen auf, gluckste und brach (wieder einmal) in Gelächter aus. „Oh, Stan, du bist unbezahlbar! Dass du immer noch an diesen romantischen Blödsinn glaubst, nicht zu fassen! Zwei Menschen, die sich verlieben und bis an ihr Ende zusammenbleiben - ha, von wegen, das ist eine fromme Lüge, und sonst gar nichts! Die vielen Scheidungen, die ganzen kurzlebigen Ehen beweisen es doch! Beziehungen sind für‘n Arsch! Und du willst dir freiwillig so‘n Stress antun? Bist du doof?" Stanleys dunkelblaue Augen schienen noch dunkler zu werden und Kenny musste unwillkürlich schlucken, als diese saphirfarbenen Tiefen ihn fesselten. Die einschmeichelnde Stimme, sonst so sanft und warm, besaß plötzlich die Kälte und Schärfe gefalteten Stahls. „Die vielen Scheidungen und kurzlebigen Ehen beweisen nur, dass die meisten Menschen verlernt haben, wie Liebe sich äußern sollte. Sobald die kleinste Schwierigkeit für oder mit dem Partner auftaucht, zieht man den Schwanz ein, anstatt zu versuchen, das Problem gemeinsam zu lösen und sich der Herausforderung stellen. Nur keine Verpflichtungen, nur keinen Ärger, nur keine Verantwortung, das ist offenbar die Devise, aber so funktioniert es nun mal nicht. Liebe ist etwas, das gehütet und gepflegt werden muss - egal, wie kitschig sich das jetzt anhört, es ist trotzdem wahr. Du glaubst nur deshalb nicht daran, weil dir niemand eine gesunde Beziehung vorgelebt hat. Bei mir ist das anders, das solltest du nicht vergessen." Damit stand er auf und schob sich an Kenny vorbei, der bei dem unerwarteten Kontakt ihrer Körper zurückzuckte. „Wir sehen uns in der Studierhalle. Bis dann." Der Blonde blickte ihm nach. „Stanley..." Butters, der das gesamte Geschehen von seinem Tisch aus verfolgt hatte, schmunzelte in sich hinein. Er linste zu Bradley hinüber, der immer noch vollkommen fassungslos war und sich angestrengt bemühte, die Sprache wiederzufinden. „Was... um alles in der Welt...? Was passiert hier? Erst begegne ich diesem zweigeschlechtlichen Lehrer, dann stellst du mir in der dritten Stunde ein schwules Pärchen vor, bei dem sich einer für den Sohn Satans hält..." „Ah, nein, Damien hält sich nicht einfach dafür, er ist der Sohn Satans... und nebenbei bemerkt, Pip ist nicht schwul, sondern bi." „Butters, ich bitte dich...!" „Du glaubst mir nicht? Na, in dem Fall... Damien, könntest du kurz mal herüberkommen und uns deine magischen Kräfte demonstrieren?" Mr. Antichrist Junior zögerte keine Sekunde, schließlich hatte Stotch nach ihm gerufen und dem schlug man nichts ab. Der Neue musterte ihn und sein Outfit, das aus schwarzen Stiefeln, einer schwarzen Jeans und einem schwarzen Ledermantel bestand (mit einem Oberteil in Netzoptik, das seine Haut durchschimmern ließ, gekrönt von einer Silberkette mit einem umgekehrten Kreuz als Anhänger), äußerst skeptisch und fragte: „Was soll das? Wollt ihr mich reinlegen?" „Halt den Mund, Sterblicher. Sieh her und erzittere!" Damiens schwarze Augen färbten sich glühend rot und aus seinen Händen schossen Flammen hervor. Bradley fuhr erschrocken hoch; ängstlich beobachtete er, wie Damien mit dem Feuer seinen Namen in die Luft zu schreiben begann. Die Buchstaben loderten eine Weile, dann löschte sie ihr Beschwörer mit einem Wink seiner Hand. „Das... das waren echte Flammen, nicht wahr?", hauchte er, ein bisschen blass um die Nase. Der junge Dämon lachte selbstgefällig. „Natürlich. Ich bin wirklich Satans Sohn und sehr mächtig. Verscherz es dir also nicht mit mir, sonst werde ich ungemütlich..." „Damien!", drang Pips klare Stimme an seine Ohren, der plötzlich hinter ihm auftauchte. „Hatte ich dich nicht gebeten, deine Drohungen einzustellen? Ich mag es nicht, wenn du das tust!" „Verzeih, mein Engel.", sagte der Schrecken der Unterwelt entschuldigend und küsste ihn. Nachdem sich Butters für die Vorführung bedankt und das Paar sich entfernt hatte, wiederholte Bradley seine Aufzählung: „Ein zweigeschlechtlicher Lehrer, der echte Sohn Satans, eine Cafeteria mit VIP-Bereich und improvisierte Musicalnummern, die jeder normal findet... wo zum Teufel bin ich hier hingeraten!?!" Butters lächelte ihn aufmunternd an, mit einem innigen, zuversichtlichen Lächeln, das Bradleys Wangen rot werden ließ. „...Weißt du, mein Freund... South Park ist ein wenig seltsam..." Dieser letzte Satz ist das Understatement des Jahrhunderts... So, ich hoffe, das Kapitel hat Euch gefallen! Das Lied, das ich verwendet habe, stammt aus dem Musical "Wicked" und heißt "What is this feeling?" Ich habe an einer Stelle den Text abändern müssen, damit es besser passt und auch die Verdopplung des "These things are sent to try us"-Teils findet im Original nicht statt, weil die Kontrahentinnen (ja, zwei Damen!^^) sich im Gegensatz zu Kyle und Cartman nicht in einer ebenbürtigen Position befinden. Und entschuldigt bitte, dass ich hier so ausführlich die Klamotten der Jungs beschreibe, aber das liegt daran, dass sie in der Serie pausenlos dasselbe tragen - und es in FFs, in denen sie die High School besuchen, immer noch tun, was eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Also habe ich neue Outfits für sie entworfen!^^ Da ich wechselnde Klamotten auch nicht ständig beschreiben kann, fungieren sie natürlich als die neuen "Standardoutfits"... Änderungen gibt's nur bei anderem Wetter. Dann möchte ich noch kurz was zu Craigs Schwester sagen. Bisher wusste ich nicht, dass das Fandom ihr den Namen "Ruby" gegeben hat (das habe ich erst neulich im englischen South Park-Wiki gelesen), da war "Teresa Tucker" schon fest eingeplant, einmal wegen der hübschen Alliteration und dann wegen ihres Spitznamens "Terry", der auch als Jungenname durchgeht und damit dem Charakter entspricht, den ich ihr gegeben habe. Und dass Karen McCormick wahrscheinlich noch jünger ist, als ich sie hier gemacht habe, liegt daran, dass ich sie auch schon im Kopf entworfen hatte, bevor ich die aktuellste Episode gesehen hatte. Und ja, die beiden haben feste Nebenrollen in dieser Story, weil es mich stört, dass sich die Familienmitglieder der Jungs in den meisten High-School-FFs einfach in Luft auflösen. Das passiert in der Serie selbst auch häufig (bestes Beispiel Karen, die etliche Staffeln lang praktisch nicht existent war, nachdem man sie in einer Episode kurz gesehen hatte), ich weiß, aber dafür gibt es ja gerade Fanfiction! *stellt ein "Mehr Beachtung für Nebencharas!"-Schild auf* Gut, jetzt bin ich Euch genug auf die Nerven gegangen, bis zum nächsten Mal!^^ Kapitel 3: Sweet Seventeen (Teil 1) ----------------------------------- So, da bin ich wieder!^^ Meine Abschlussarbeit ist fertig, jetzt kommen im Juni die Prüfungen, ich werde also im Mai büffeln wie eine Blöde...ich freu mich schon *seufz*. Ich wünsche Euch viel Spaß mit dem neuen Kapitel - ach ja, und ich habe Butters' Steckbrief hinzugefügt. Bis zum nächsten Mal!^^ Kapitel 3: Sweet Seventeen (Teil 1) Über alles hat der Mensch Gewalt, nur nicht über sein Herz. - Friedrich Hebbel „Du siehst heiß aus, großer Bruder." Dieses Kompliment stammte aus dem Mund von Ike Broflovski, der es sich gerade auf Kyles Bett bequem gemacht hatte und den Älteren von oben bis unten begutachtete. „Ist es nicht ein bisschen zu... provokant?" „Provokant, lieber Bruder?", säuselte Ike vielsagend. „Sexy, wenn du mich fragst. Nur unsere Mutter würde es ‚provokant‘ finden, die kriegt ja schon Zustände, wenn du im Sommer kurze Hosen anziehen willst!" Kyle seufzte. »Oh ja, Mom. Sie hat sich seit jeher schnell und übertrieben aufgeregt, aber in den letzten Jahren ist es noch schlimmer geworden. Als wenn es nicht genügen würde, dass Ike und ich Spitzennoten nach Hause bringen, nein, ständig setzt sie uns weiter unter Druck und verlangt das Beste vom Besten! Und ihr Kontrollwahn... wo bist du gewesen, wo gehst du hin, wann kommst du wieder, wer begleitet dich, wen besuchst du, mit wem hast du gesprochen... Früher hätte man sie noch temperamentvoll nennen können, inzwischen ist sie herrschsüchtig. Und Dad steht noch mehr unter ihrem Pantoffel und hält die Klappe, damit er seine Ruhe hat. Es grenzt fast an ein Wunder, dass sie mich auf Butters‘ Party gehen lässt... das habe ich vermutlich seinem guten Ruf zu verdanken...« Er warf einen abschließenden Blick in den Spiegel, bürstete noch einmal seine roten Locken und eilte treppab ins Wohnzimmer, Ike hinterdrein. Sein Vater saß zeitungslesend in seinem Lieblingssessel und bemerkte seinen Sohn erst, als dieser sich verabschiedete. „Ciao, Dad, ich gehe jetzt!" „Viel Spaß, mein Junge." „Willst du etwa so ausgehen?", erkundigte sich Mrs. Broflovski und ihre Stimme wurde hart. Kyle unterdrückte das Bedürfnis, seiner Mutter eine Beleidigung vor die Füße zu schleudern und wandte sich um. Ihre extrem kritischen Augen registrierten die eng sitzende schwarze Hose, die sowohl seine Beine als auch seinen Hintern hervorragend betonte, sowie das dunkelgrüne Top, das einen V-Ausschnitt hatte, der bis unter das Brustbein verlief und folglich ein Stück Haut sehen ließ. In seiner normalen Kleidung wirkte er für gewöhnlich ein wenig schmächtig, hier nun bildeten seine trainierten Arme mit den schlanken Muskeln einen weiteren Blickfang. Um den Hals hing eine schlichte Kette mit Davidstern. „Bist du nicht etwas... anzüglich gekleidet, mein Sohn? Und das Symbol unseres Glaubens zu einem solchen Anlass zu tragen, ist außerordentlich..." „Enttäuschend? Beklagenswert? Unpassend? Hör zu, Mom: Andere verwenden das Kreuz als Schmuckstück, warum also sollte ich nicht dasselbe mit dem Stern tun? Und was die Anzüglichkeit meines Outfits betrifft: Ich habe Fotos aus deiner Jugend in Jersey gesehen. Du warst auch nicht gerade zugeknöpft bis oben." „Kyle!!!", stieß Mrs. Broflovski empört hervor, ihn bekümmerte die mütterliche Bestürzung allerdings nicht im geringsten. Er schlüpfte in Jacke und Schuhe und war schon fast an der Tür, als sie ihm nachrief: „Du kommst bis spätestens zehn nach Hause!" „Was zum...!? Mom!!! Ich bin siebzehn Jahre alt, du kannst nicht von mir erwarten, die Geburtstagsparty eines Freundes bereits um zehn zu verlassen!" „Du hast mich missverstanden, du wirst sogar schon früher gehen, denn Schlag zehn hast du wieder hier zu sein." „So!? Und wenn ich nicht Schlag zehn auf der Matte stehe, was tust du dann!?" „Du vergreifst dich entschieden im Ton, junger Mann!" Mr. Broflovski ließ seine Zeitung sinken und trat zu seiner Frau und seinem Sohn, die sich erbost anfunkelten. „Sheila, Liebes... Kyle hat nicht unrecht. Er möchte heute mit seinen Freunden feiern, warum sollte er da nicht länger ausbleiben? Sagen wir bis Mitternacht. Wenn er früher kommt, gut. Wenn er später kommt, auch gut.", fuhr er fort, als Sheila ihn ob dieser schrecklichen Idee unterbrechen wollte. „Unser Junge ist ein verantwortungsbewusster Bursche, wir können ihm vertrauen. Ihn einzusperren bringt nichts." Kyle atmete erleichtert auf. Die Momente, in denen sich Gerald Broflovski gegen seine Gemahlin behauptete, waren immer seltener geworden und umso erfreuter und glücklicher war Kyle, dass er es diesmal gewagt hatte. „Nun denn, Gerald, wenn du durchaus dieser Meinung bist... schön. Du darfst bis Mitternacht wegbleiben, mein Sohn, später als halb eins sollte es dennoch nicht werden.", fügte sie mit säuerlicher Miene hinzu. Er biss sich auf die Lippen, murmelte ein „Danke sehr" und wirbelte türeschlagend hinaus. Ike kehrte missmutig in sein Zimmer zurück und knallte aus Solidarität auch mit der Tür. Er konnte seine Mutter nicht recht verstehen. »Mom... wovor hat sie wohl Angst? Ich weiß, sie kann Kyles Erwachsenwerden nicht akzeptieren, besonders, weil er in einem wichtigen Punkt nicht so ist, wie sie ihn haben will - nämlich hetero -, aber durch ihre Schikane wird es sicher nicht besser. Immer nur Verbote, strenge Regeln und hohe Ansprüche... vielleicht glaubt sie, uns damit gefügig zu machen, keine Ahnung. Sie kann nicht loslassen und deswegen klammert sie. Dass Kyle dann erst recht aufbegehrt, scheint sie nicht zu begreifen. Sie ist unsere Mutter und wir lieben sie beide, aber sie fängt an, uns zu ersticken! Wie soll das bloß werden, wenn ich in Kyles Alter komme? Wird sie meine Zimmertür vernageln und das Fenster mit einem Sicherheitsschloss ausstatten? Ich glaube ihr, wenn sie sagt, dass sie nur unser Glück will. Sie ist von ihrer guten Absicht überzeugt. Nur leider will sie es mit den falschen Mitteln durchsetzen... krampfhaft, unnachgiebig und mit Zwang. Ja, sie liebt uns, doch ihre Liebe ist ungesund und besitzergreifend geworden. Wohin soll das führen? Wie wird das enden? Schon Konfuzius sagte: ‚Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir - für immer.‘ Was du liebst, lass frei...aber du verstehst das nicht, Mom. Nein, du verstehst das nicht...« Er begegnete seinem müden Blick im Spiegel. Reichlich tiefsinnige Gedanken für einen Elfjährigen. Manchmal wünschte er sich, er wäre weniger begabt, weniger intelligent, weniger das „Superhirn", dem alles so leichtfiel... Manchmal wünschte er sich, er könnte einfach aufhören, Dinge zu sehen, zu hören, zu erkennen, zu entdecken, um sich nicht pausenlos damit beschäftigen zu müssen. Sein Kopf schien immer zu arbeiten. Er hatte es satt. »Hoffentlich hast du Spaß heute Abend, großer Bruder. Und hoffentlich bist du ein wenig aufmerksamer als sonst... du ahnst gar nicht, wie viel du übersiehst... Ich könnte dir Sachen erzählen, die dich völlig aus der Bahn werfen würden! Vor allem über ihn...« Kyle, der mit verhagelter Laune durch den sich langsam herabsenkenden Abend stapfte, kam indessen zu dem Schluss, dass sein Leben beschissen war. Eine Mutter, die seine Orientierung nicht akzeptierte und ihn pausenlos zu unterdrücken versuchte, ein Vater, der nur noch in Ausnahmefällen den Mund auftat (wie etwa vorhin) und ein antisemitischer, rassistischer, verlogener Bastard ohne Hirn und mit zuviel Ego, der die Rolle seines persönlichen Todfeindes ausfüllte. Als er an Cartman dachte, fiel ihm wieder ihre Konfrontation vom Vortag ein. Er hasste den Mistkerl und die körperliche Anziehung, die er empfand, widerte ihn an. Warum konnte man seine Hormone nicht einfach abschalten? Warum ließen sie einen nicht in Ruhe? Er gehörte nun mal zu den Menschen, die Körperliches und Emotionales nicht voneinander trennen konnten und auch wenn Cartman ein attraktiver junger Mann war (dieses mentale Statement verursachte ihm Übelkeit), war er trotzdem... na ja, immer noch Cartman! Er war ein mieses, egomanisches, hinterhältiges, bösartiges Scheusal ohne Herz und Gewissen, jemand, der niemanden liebte und von niemandem geliebt wurde. Oh, wie er ihn verabscheute! Butters‘ Haus tauchte vor ihm auf. Er klingelte und Mrs. Stotch öffnete ihm. Sie begrüßte ihn freundlich, aber ihre Heiterkeit wirkte aufgesetzt und künstlich. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen und zupfte nervös an ihren Haaren. „Mrs. Stotch? Geht es Ihnen gut?" „Aber natürlich, Kyle. Alles bestens." Ihr Äußeres und ihre angespannte Stimme verrieten ihm das Gegenteil. Er wollte schon etwas sagen, irgendetwas Aufbauendes, Nettes, aber ihm fiel nicht das Richtige ein. „Mom, du solltest dich wirklich wieder hinlegen. Du weißt doch, wie du dich an ‚dem‘ Tag immer fühlst." „Ja, du hast wahrscheinlich recht, mein Baby." Butters trug schwarze Ballerinas an den Füßen, die makellosen Beine steckten in einer gleichfarbigen Hose mit Schlag, der mit Pailletten bestickt war, das Oberteil war ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln, die seinen Bizeps umschmeichelten und wurde statt mit Knöpfen mit überkreuzten Schnüren geschlossen, genau wie ein Mieder. Zwischen den Schnürungen blitzte seine entblößte Haut hervor; um den Hals hing ein zartes Silberkettchen, am rechten Ohr ein langer Ohrring mit einem Türkis, an dem eine silberne Feder baumelte. Kyle starrte ihn eine Weile schweigend und bewundernd an, bis die Situation endlich in sein Gehirn gesickert war. „Ähm... soll ich... soll ich dir helfen?" „Nein danke, ich schaffe das schon. Ich bringe meine Mutter nur schnell ins Bett." Als Butters nach zehn Minuten zurückkehrte, erkundigte sich der Rotschopf vorsichtig, was Mrs. Stotch denn widerfahren sei. Der Schönling schürzte verärgert die Lippen und verschränkte die Arme, seine ganze Haltung ein Ausdruck reiner Empörung. „Stephen ist nicht hier. Mein sogenannter Vater besucht einmal die Woche das Schwulenpuff im Kneipenviertel und meine Mutter... na ja, sie packt es nicht. Es macht sie fertig, verstehst du? Sie verdrängt es, stellt sich tot, könnte man sagen. Ich weiß nicht, wie lange sie das noch durchhalten kann. Dass dieser Arsch nicht einmal an meinem Geburtstag darauf verzichtet...! Wenigstens ihretwegen hätte er hier bleiben können! Aber nein - und morgen wird er sich dann wieder über meine Homosexualität aufregen!" „Er geht also selbst ins Schwulenpuff, wirft dir aber vor, dass du schwul bist!?" „Er ist ein kleiner bigotter Heuchler und sowas kann ich verdammt nochmal nicht ausstehen! Ich betrachte diesen scheinheiligen Dreckskerl schon lange nicht mehr als meinen Vater... aber genug von meinen Familienproblemen, du bist hergekommen, um zu feiern! Die meisten Gäste sind bereits eingetroffen, ich warte nur noch auf Eric, Craig und Bradley." Kyle sah sich um. Das Wohnzimmer war gerammelt voll. Das Sofa hatte Butters an die Wand gerückt, um mehr Platz für die Tanzbegeisterten zu schaffen, der Eingang zur Küche wurde von zwei kleineren Tischen flankiert, auf denen Essen und Getränke einer hungrigen und durstigen Meute harrten, die Musik, gerade laut genug, dass man miteinander reden konnte, ohne zu schreien, kam von einer handlichen Stereoanlage unter dem Fernseher, bunte Girlanden und farbige Partylichter als Dekoration rundeten alles ab. Die einzigen anderen Sitzgelegenheiten neben den normalen Wohnzimmermöbeln stellten die Kissen dar, die Butters an strategisch günstigen Punkten verteilt hatte, wie etwa nahe dem Fenster oder in einer Nische, wo man dank diverser Pflanzen oder Regale ein Stück weit Sichtschutz genoss, weshalb man dort einigermaßen ungestört würde knutschen können. Der Gastgeber pflegte derlei Dinge zu berücksichtigen. „Darf ich dir gleich einen Aperitif anbieten, Süßer?" Butters hielt ihm ein Tablett mit etlichen Gläsern unter die Nase, die mit unterschiedlichen Flüssigkeiten gefüllt waren. „Ich habe Baileys, Wodka Kirsch, Sekt pur, Sekt mit Saft gemischt, und für die kompletten Alkoholverächter Cola und Limonade. Später gibt‘s Cocktails, gemixt von Tweeks kundiger Hand. Was möchtest du haben?" „Wie bist du an den Alkohol gekommen!? Der Erwerb und Genuss von Alkohol ist bei uns erst mit 21 Jahren erlaubt, oder haben sie das Gesetz geändert?" „Nein, durchaus nicht. Ich habe meine Kontakte. Kennys reizender Bruder Kevin hat für mich eingekauft, er ist 21. Ich muss mich unbedingt bei ihm revanchieren, von ihm stammt auch das süße Hello Kitty-Motiv auf meinem Auto..." „...Mann. Selbst Hetero-Kerle wie Kevin lassen sich von dir einspannen...Du benutzt deine Schönheit wie ein Schild und deinen Charme wie einen Knüppel!" „Ich bin untröstlich." „So siehst du aber nicht aus..." Butters zeigte sein verführerischstes Lächeln und zwinkerte ihm spitzbübisch zu. Kyle griff sich ein Glas gemischten Sekt und nahm rasch einen Schluck, um sein Erröten zu verbergen. Heilige Scheiße, für seine sinnliche Ausstrahlung brauchte dieser Typ einen Waffenschein! Kein Wunder, dass er im „Raisins" jobbte...als man das in der Schule erfuhr, platzte das Lokal noch am selben Abend aus allen Nähten, denn fast jeder, ob nun Männlein oder Weiblein, wollte Butters in seiner Raisins-„Uniform" sehen, Kyle, Stan, Kenny und Cartman eingeschlossen. Und Mr. Leopold Stotch in einem Tank Top der Marke Super-Eng, das jede perfekte Kurve, jede perfekte Sehne seines geschmeidigen Torsos hervorhob, inklusive dazu passender Hot Pants, die seinen festen, knackigen Hintern verpackten und im Bezug auf seine „Ausstattung" kaum noch etwas der Fantasie überließen, ergab den Superlativ von heiß. Butters war, wie Kenny es so treffend formulierte, „gay sex on legs". Er war es auch, der den Jüngeren nach seinem Raisins-Namen fragte. Mustang (Eine Antwort, die Kenny dazu veranlasste, Folgendes zu sagen: „Mustang? Ausgerechnet! Soll das heißen, dass du ‘n echter Hengst bist, oder was?" Worauf Butters vieldeutig grinsend erwiderte: „Vielleicht."). Bei diesem ersten Besuch starb Kenny direkt vor Ort - an Nasenbluten. „Hallo Kyle!" „Hi Stan! Du siehst stark aus! Wen willst du denn beeindrucken? Das Geburtstagskind?" Stan lachte, doch es klang sehr verlegen. Er trug ein blaues Tank Top und gleichfarbige Stulpen dazu, die bis über seine Ellbogen reichten. Seine Hose war schwarz (wie eigentlich bei den meisten, da Schwarz mit praktisch jeder Farbe kombiniert werden konnte und ohne große Anstrengung jedem Outfit einen Hauch Eleganz verlieh), den Gürtel zierte eine silberne Schnalle mit der Gravur seines Vornamens, am rechten Ohr schimmerte ein Ohrring mit Kreuzanhänger (eines der Überbleibsel aus seiner ersten Goth-Phase). „Wer will Butters nicht beeindrucken? Was ist übrigens mit dir? Ich staune, dass deine Mutter dich so hat gehen lassen!" „Na, begeistert war sie nicht gerade, aber aufgehängt hat sie sich heute nicht an meinen Klamotten, sondern an der Uhrzeit. Sie wollte, dass ich Punkt zehn wieder zu Hause bin!" „...Sie weiß schon, dass du siebzehn bist und nicht mehr neun?" „Keine Ahnung. Ich bezweifle es. Sie behandelt mich genauso wie Ike und der ist erst elf! Ganz davon abgesehen wartet sie darauf, dass ich endlich mal ein anständiges jüdisches Mädchen aus unserer Gemeinde als potentielle Schwiegertochter anschleppe!" Stan massierte seine Schläfen, als müsse er um seine Fassung ringen. „Aber... du bist schwul!" „Nicht nach ihrer Ansicht, da ist es nur eine pubertätsbedingte Phase. Ich bin ihr Sohn, also kann ich nicht schwul sein. Ihr Sohn würde niemals eine so verwerfliche Neigung entwickeln, nein! Nur das Hormonchaos in meinem heranwachsenden Körper ist Schuld, jawohl! Tse! Dabei gibt sie sich immer so tolerant, aber kaum ist die eigene Familie betroffen, ist es aus mit der Toleranz! Im Ernst, das kotzt mich an!" „Was kotzt dich an?", fragte Kenny, der, nachdem er die Oberweiten einiger weiblicher Gäste inspiziert hatte, zu seinen beiden Freunden getreten war und die letzten Worte gehört hatte. Weil die Vielfalt seiner Garderobe gegen Null tendierte, hatte er sich nicht richtig für die Party zurechtmachen können, um jedoch dem Märchenprinzen zu beweisen, dass er zumindest den guten Willen besaß, war er in seiner Sonntagsjeans erschienen, die zwar seiner Alltagsjeans zum Verwechseln ähnelte, aber im Gegensatz zu dieser kaum zerschlissen war. Seinen obligatorischen Parka hatte er gegen ein weißes T-Shirt ausgetauscht, das er irgendwann im vergangenen Jahr für zwei Dollar auf dem Wohltätigkeitsflohmarkt gekauft hatte, der einmal im Monat in South Parks Ghetto veranstaltet wurde (er mochte den Ausdruck „Ghetto" nicht besonders, auch wenn er zutraf). Mit leuchtend oranger Stoffmalfarbe (ein Relikt aus seiner Grundschulzeit) hatte er in Druckschrift den Slogan „I love dicks and I love tits! I‘m a bisexual bastard and proud of it!" darauf verewigt. Den mehr oder weniger geglückten Reim hatte Stanley sich ausgedacht. Kenny liebte dieses T-Shirt, versuchte aber, es möglichst wenig zu tragen, damit es ihm möglichst lange erhalten blieb. „Seine Mom. Wie gewöhnlich war sie die perfekte treusorgende Mutter in Person.", erläuterte der Schwarzhaarige sarkastisch. Kenny schüttelte den Kopf. „Mit anderen Worten, sie übertreibt mal wieder. Demnächst kettet sie dich ans Bett, oder was?" „Frag mich was Leichteres." Es klingelte. Butters stellte das Tablett ab und eilte an die Tür. „Eric! Wie schön, da bist du ja endlich! Komm rein! Du siehst toll aus!" Verdammt. Kyle verschluckte sich vor Schreck an seinem Sekt und starrte böse auf seinen Erzrivalen, der in der Tat sämtliche Register gezogen hatte, um sich in Szene zu setzen. Kenny pfiff kess auf zwei Fingern, Stan ließ sich zu einem gnädigen „Nicht übel." herab (er war Kyles bester Freund, er musste positive Beurteilungen von Cartmans Äußerem in abgeschwächter Form wiedergeben). Die weiße Hose betonte seine langen Beine (»Wieso ist dieses Arschloch überhaupt so groß? Wenn er nicht so groß wäre, hätte er nicht so verflucht lange Beine!!«), das rote Oberteil war wie bei Butters kurzärmlig und hatte einen sexy Brustschlitz (»Ah, was fällt dem denn ein!? Wer will schon seine dämlichen Muskeln sehen?! Niemand!!«). Weiß und Rot waren die offiziellen Farben aller Sportmannschaften der Schule, also auch die des Footballteams, der Park High Bulls. Ein schwarzes Halsband mit silbernem Anhänger vollendete das Bild. Beinahe. Der Anhänger war ein Hakenkreuz. Dieser infame Affront brachte Kyles Blut zum Kochen. Er baute sich vor Cartman auf und zischte: „Was glaubst du, was du da trägst, Blödarsch?!" „Eine Swastika, Jude. Noch nie gesehen?" „Wie kannst du es wagen, mit diesem Nazisymbol hier aufzutauchen?! Willst du mich unbedingt beleidigen und verletzen?!" „Was für ein Nazisymbol?" Kyle schnappte zornig nach Luft. „Was für ein Nazisymbol!?! Dieses Ding an deinem Hals!! Nimm es sofort ab, oder ich garantiere für nichts mehr!! Ich schwöre bei Gott und Moses, ich reiße dich in Stücke, wenn du nicht...!!!" „Vielleicht kriegst du dich erstmal ein, bevor du dich komplett zum Volltrottel machst, Jude. Ja, das ist eine Swastika, aber nicht die Nazivariante, bei der handelt es sich nämlich um ein auf der Spitze stehendes, nach rechts gewinkeltes Hakenkreuz - eine Beschreibung, die nicht auf meinen Anhänger passt. Schau genau hin." Kyle blinzelte irritiert. Dann musterte er Cartman argwöhnisch und unterzog das Symbol einer ausführlicheren Überprüfung. Es stimmte. Das Kreuz war nach links gewinkelt, außerdem stand es nicht auf der Spitze, sondern auf zwei der vier Arme. „Das Symbol an sich ist 6000 Jahre alt und auf vier Kontinenten nachgewiesen. Die abgewinkelten oder gebogenen Arme können nach links oder rechts gerichtet sein, recht-, spitz- oder flachwinklig und mit Kreisen, Punkten, Linien oder sonstigen Ornamenten verbunden sein. Das Wort stammt aus dem Sanskrit und bedeutet wörtlich ‚das zum Gutsein gehörende‘ oder ‚das Heilbringende‘. In Indien sind Swastikas seit etwa 5000 Jahren üblich, sowohl in ihrer rechtsgewinkelten als auch linksgewinkelten Form, wobei die nach rechts gerichtete Version dem Sonnenaufgang und dem Gott Ganesha zugeordnet ist und Tag, Heil, Leben und das männliche Prinzip verkörpert. Das nach links gerichtete Kreuz steht für den Sonnenuntergang, Nacht, Unheil, Tod und das weibliche Prinzip und gehört zur Todesgöttin Kali. Beide sind in Tempeln und auf Götterdarstellungen üblich. In Japan wird die linksgewinkelte Swastika sogar auf der Brust, den Füßen oder den Händen von Buddhastatuen abgebildet, hier steht sie für Glück, Überfluss und ein langes Leben. Mach also deine Augen auf, bevor du deine laute Klappe aufreißt, um mich zu verunglimpfen!" „Ca... Cartman... woher weißt du das alles?", stammelte sein Gegner perplex, völlig überrumpelt von dieser unerwarteten Belehrung. „Ich kann lesen, Kyle.", erklärte der Quarterback indigniert. „Ja, niveaulose Comics, das Fernsehprogramm, den Sportteil der Tageszeitung und vielleicht auch Schwulenpornos. Richtige Bücher nimmst du doch nie in die Hand, vom Lesen gar nicht erst zu reden!" „..." „Plötzlich so still, Cartman?" „Weißt du was, Jude? Glaub von mir aus, was du willst. Leck mich am Arsch." „Leck dich selber!" Cartman rümpfte die Nase, drehte dem Rothaarigen den Rücken zu und verkrümelte sich Richtung Buffet. Kenny, dessen vernachlässigter Magen sich meldete, sprang hinterdrein, schnappte sich einen Teller und packte von allem ein bisschen darauf. „Hm, Sandwiches, Bagels, Salate und Grillwürstchen... und für die, die es süß mögen, gefüllte Donuts, Muffins und Cupcakes... du willst uns alle mästen, kann das sein?" „Aber ja doch!", erwiderte Butters vergnügt. „Das hier ist eine Party, Diätvorschriften dürfen getrost vergessen werden! Sobald alle Gäste da sind, kommt noch der Geburtstagskuchen. Clyde hat ihn für mich gebacken, er ist ein Meisterwerk! Aufessen ist Pflicht!" Clyde, in schwarzer, rot paspelierter Jeans und weißem T-Shirt mit Namensschriftzug, lief rosa an und fuchtelte mit den Armen. „Hörst du wohl auf mit dem Unsinn?! Es ist bloß ein Kuchen, und kein Meisterwerk! Ich weiß ja noch nicht mal, ob er überhaupt schmeckt!" „Es ist eine zweistöckige Schokoladentorte mit Sahne und einer Zwischenschicht aus Marzipan! Was zum Donnerwetter ist daran nicht meisterhaft?! Jetzt schau mich nicht an, als hätte ich den Verstand verloren! Hör endlich auf, dein Talent kleinzureden, sonst..." „...sonst was?" Butters lächelte bezaubernd, hob das Kinn des Kleineren sanft an und flüsterte: „...sonst muss ich böse werden, Süßer." Clydes Gesicht wurde fast dunkelrot. Er versuchte, eine vernünftige Antwort zu formulieren, scheiterte kläglich und huschte beschämt zu Token hinüber, der ihm gutmütig durch die Haare wuschelte. „Er hat nicht unrecht, Clyde. Warum reagierst du bei Komplimenten immer so unwillig, so misstrauisch? Butters meint es ernst." „Ich weiß. Es ist nur..." „Ja?" Clyde fühlte, wie ihm die Kehle eng wurde. Tokens dunkle Samtaugen schienen bis in seine Seele zu blicken, ihre unergründliche Schönheit betörte ihn. Nicht einmal Butters‘ Augen hatten eine derartige Wirkung auf ihn. Er registrierte Einzelheiten an dieser großgewachsenen Gestalt, die er bisher gar nicht bemerkt hatte: Die vornehme Art, mit der er den Stiel des Glases umfasste, das glänzende schwarze Haar, das heute zu einem Zopf gebunden war, seine elegante Haltung und das Freundschaftsband an seinem rechten Handgelenk. In der fünften Klasse hatten sie in Handarbeit solche Bänder geflochten und Clyde hatte Craig, Tweek und Token seine Bänder geschenkt, als Zeichen der Verbundenheit. Craig, sein einstmals bester Freund, von dem er sich inzwischen entfremdet hatte, hatte es vermutlich nicht mehr, Tweek hatte es mit Sicherheit in seinem häuslichen Chaos verloren, er selbst hob es in seinem Nachtkästchen auf und Token...Token trug es noch. Ein zärtliches Gefühl stieg in ihm auf und ließ ihn die unmittelbare Nähe des anderen nur zu deutlich spüren. »He, halt mal! Token ist ein Freund... nur ein Freund! Was ist denn in mich gefahren, dass ich so von ihm denke?! Ich... ich mag doch Butters...« „Clyde? Was ist, wolltest du mir nicht etwas sagen?" „Hä!? Ach, nein, nein...es war nicht wichtig, vergiss es einfach!" Warum passierte ihm das? Zugegeben, er hielt Token für sehr attraktiv (besonders in seinem momentanen Outfit: weiße Hose, schwarzes Hemd und lila Jackett), er liebte seine Singstimme und schätzte seine Natürlichkeit, aber es steckte nichts Tieferes dahinter. Und dennoch überkamen ihn manchmal diese Empfindungen, die er nicht verstand und die denen für Butters auch überhaupt nicht gleichen wollten. Er seufzte. Es klingelte erneut und der Gastgeber begrüßte Mr. Tucker, dessen Miene wie gewöhnlich sauertöpfisch war. Er war auch der einzige, der sich nicht herausgeputzt hatte (sogar Kenny hatte es im Rahmen seiner Möglichkeiten getan), er trug seine üblichen Klamotten: Turnschuhe, Bluejeans mit umgeschlagenen Beinen und ein mitternachtsblaues Oberteil mit hohem Kragen, kurzen Ärmeln und einem Reißverschluss, der am Kragen begann und bis über das Brustbein führte. Auf dem Kopf thronte eine seiner unvermeidlichen Mützen; dieses Modell war hellblau, verziert mit einer dunkelblauen Zickzacklinie und einem dunkelblauen Bommel (Craigs Lieblingsfarbskala beinhaltete sämtliche verfügbaren Blautöne). Butters war etwas enttäuscht. „Also wirklich, Süßer, jeder hat sein Bestes gegeben, um schick auszusehen, während du es noch nicht mal versuchst." „Ich hatte keine Lust. Ich takle mich nicht auf wie eine peinliche Schwuchtel." Falsche Antwort. Die Augen des Blonden verengten sich zu Schlitzen und Craig ging auf, dass er sich mit einem einzigen Satz grandios in die Scheiße geritten hatte. „So. Sagt einer, der mit einer ‚peinlichen Schwuchtel‘ wie mir flirtet?" „Ich habe nie mit dir geflirtet - ich flirte nicht mit Kerlen. Ich steh‘ auf Frauen.", entgegnete Craig in seiner ungerührten, gelangweilten Art. „Tatsächlich? Da hatte ich aber einen anderen Eindruck." „Dann sind meine Weibergeschichten eben alle an dir vorbeigelaufen, das ist nicht mein Problem. Es interessiert mich nicht, was für einen Eindruck du hattest, deine Meinung ist mir scheißegal. Ich bin straight, Loser." Er zückte seinen Mittelfinger und die Festgesellschaft, die die Konfrontation beobachtete, hielt den Atem an. Butters musterte ihn missbilligend, plötzlich jedoch glitt ein freches Grinsen über sein Gesicht. Er packte Craigs Handgelenk, neigte sich vor, nahm den Finger ganz in den Mund und schleckte ihn genüsslich ab. Im Hintergrund hörte er ein erschrockenes „Gah!" von Tweek, der Rest begnügte sich mit einem kollektiven Luftholen. Craig starrte seinen nun feuchten Finger an. Dann Butters‘ Lippen. Dann wieder seinen Finger. Einige Sekunden verstrichen. Und dann wurde Mr. Tucker rot wie ein Feuermelder, stotterte sich durch ein halbherziges „Fick dich!" und eierte auf weichen Knien an dem Geburtstagskind vorbei. Ihre Blicke trafen sich. „Oh ja, Süßer... du bist so straight wie ‘ne Kurve." Craig wurde noch röter, hielt es aber für klüger, eventuelle Erwiderungen herunterzuschlucken. Die Zeiten, in denen man Butters blöd kommen konnte, waren längst vorbei. Das letzte Klingeln an diesem Abend ertönte; Bradley stand draußen. „Entschuldigung, ich bin zu spät. Meine Eltern wollten mich nicht gehen lassen, aber nachdem ich ihnen erzählt hatte, dass du es warst, der mir damals im Camp das Leben gerettet hat, waren sie einverstanden." „Bradley... bist du... bist du... nicht ein kleines bisschen overdressed?", meinte Butters und schaute verlegen an Bradleys goldbraunen Augen vorbei. „Ja, schon... ich hab‘ nichts anderes... Meine Eltern würden einen Tobsuchtsanfall kriegen, wenn ich mich so kleiden würde wie du... Sie sind sehr konservativ." „Oh." „Stimmt... was nicht?" Ob etwas nicht stimmte? Außer der Tatsache, dass er in diesem Smoking unglaublich umwerfend und teuflisch elegant aussah? Butters nahm Details in sich auf, die ihm gestern noch gar nicht richtig aufgefallen waren, etwa dieses wunderschöne, üppige Haar von der Farbe dunklen Honigs, die schlanken, feingliedrigen Hände oder die vollendet geschwungenen Lippen. Seine Wangen erwärmten sich. „Nein, alles in Ordnung! Komm rein! Ich muss dich noch einigen Leuten vorstellen!" Bradley ließ sich bereitwillig mitziehen. Er war nervös und aufgeregt, freute sich jedoch sehr, dass er hier sein durfte. Er würde sich immer freuen, solange er in Butters‘ Nähe war. „Sag mal - dieser Kasten, den du da mitgebracht hast..." „Hä? Ach so, ja... das ist meine Geige." „Du spielst Geige?" „Ja, seit zehn Jahren. Ich... ich..." Eine sichtbare Röte breitete sich über seinen Zügen aus. „Ich möchte dir gerne ein Geburtstagsständchen bringen, wenn es dir nichts ausmacht..." „Ein Ständchen? Wow... das... das ist wirklich eine süße Idee..." „Findest du?" Sie lächelten sich schüchtern an. Butters war erstaunt, dass seine alte Befangenheit plötzlich wieder da war, die er überwunden geglaubt hatte. Aber Bradley war so... so hinreißend. Ihm war schon lange keiner mehr begegnet, der ihm so gut gefallen hatte. Sicher, er hatte seine Verehrer, die er alle mitsamt ihren kleinen Macken und Eigenheiten sehr gern hatte, doch er interessierte sich nicht ernsthaft für einen von ihnen - zumindest nicht mehr. Und Bradley...im Camp hatte er sofort ein instinktives Zutrauen zu seinem Rechenschaftsbruder gefasst und ihn rasch liebgewonnen: Ein netter, höflicher Junge, sanft, scheu und freundlich, ganz anders als die Jungs in seiner Klasse, die ihn triezten oder als Prügelknaben und Sündenbock benutzten. Er hatte jemanden kennen gelernt, der ihm ähnlich war und der ihn wirklich mochte, gerade weil er nicht cool oder angesagt war. „Ich freue mich auf dein Ständchen. Was wirst du spielen?" „Ich habe einige Noten dabei. Du darfst es dir aussuchen." „Prima!" Butters beeilte sich, den neuen Gast und Mitschüler seinen übrigen Freunden vorzustellen, die noch nicht das Vergnügen gehabt hatten, während Clyde die Torte servierte und anfing, sie geschickt in gleich große Stücke zu schneiden. „Das ist Craig Tucker, der ‚einsame Wolf‘ unserer Schule. Wundere dich nicht, wenn er dir den Stinkefinger zeigt, das ist ein Familientick. Es gibt inzwischen einen Ausdruck dafür: Man wird ‚gecraigt‘. Du solltest es aber nicht persönlich nehmen." Bradley nickte verwirrt, war er doch prompt gecraigt worden. Der Typ sah toll aus, aber diese abweisende Leichenbittermiene erweckte kaum Sympathie. Außerdem fixierte er Butters aus irgendeinem Grund mit einem Mörderblick, zu Craigs Verdruss schien das den Blonden allerdings herzlich wenig zu kümmern. Es ging weiter zum Nächsten. „Das hier ist Tweek Tweak, seinen Eltern gehört das ‚Tweak‘s‘, einer der beliebtesten Treffpunkte für uns Seniors. Früher wurde dort nur einfacher Kaffee verkauft, jetzt ist der Laden die South Park-Antwort auf Harbucks." Blondes Haar und hellbraune Augen prägte Bradley sich ein, sowie ein leichtes Zittern, das den Körper des anderen überlief. Was hatte er nur? Er war hübsch, aber sein erschrockener Gesichtsausdruck ließ ihn jünger wirken als er war. Er trug eine schwarze Hose mit silbernen Applikationen an Taschen und Saum und ein kaffeebraunes Hemd, das unregelmäßig geknöpft war, als hätte er sich in großer Hast anzuziehen versucht. Bradley reichte ihm die Hand und nach einigem Zögern erwiderte Tweek die Geste. Es gelang ihm sogar ein Lächeln. Als sie sich entfernten, fragte Bradley: „Er scheint sehr nett zu sein, aber er ist so... nervös. Was ist mit ihm? Und heißt er tatsächlich Tweek? Ich meine, wenn mein Nachname ‚Tweak‘ ist, nenne ich meinen Sohn doch nicht genauso..." „Der Nachname schreibt sich mit e und a, der sogenannte Vorname mit zwei e. Natürlich ist es nicht sein richtiger Name, das haben die meisten von uns aber erst sehr spät erfahren. Du musst wissen, sein Vater versteht sich als Künstler, er spricht fast immer in Metaphern und überhöht alles, was mit seinem geliebten Kaffee zu tun hat. Er hat seinem Sohn gleich fünf Vornamen verpasst; es handelt sich nämlich bei ‚Tweek‘ um ein sogenanntes Akronym, also ein aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter gebildetes Wort. Getauft ist er auf Tristan William Edward Ernest Kendrick, aber niemand nennt ihn bei einem dieser Namen, er ist und bleibt ‚Tweek‘ für uns. Ich glaube, nur sein Großvater ruft ihn ‚Tristan‘, das ist aber die einzige Ausnahme, die mir einfällt. Was nun seine Mutter angeht, die ist nicht ganz so extrem wie sein Vater, aber auch sie fand nichts dabei, ihren Sohn von Kindesbeinen an mit Kaffee abzufüllen. Tweek ist ein Junkie und seine Nerven sind für gewöhnlich stark überreizt. Inzwischen hat er zwar gelernt, seinen Konsum einigermaßen zu kontrollieren und seine nervösen Anfälle haben sehr nachgelassen, aber er neigt immer noch zu Paranoia. Es mangelt ihm auch an Selbstvertrauen, er ist nur hinter dem Tresen des Tweak‘s wirklich souverän." „Du magst ihn, nicht wahr?" „Ja, ich mag ihn sehr. Mein Selbstvertrauen war früher auch ziemlich gering. Ich erkenne mich in ihm wieder und würde ihm gerne helfen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich es anfangen soll. Tweek kann nur durch sich selbst aufgerichtet werden, doch wie? Solange er davon überzeugt ist, seine Ängste nicht überwinden zu können, wird sich nichts ändern." Bradley musterte Butters aus den Augenwinkeln. Er wirkte betrübt; sich um seine Mitmenschen Gedanken zu machen und ihnen zu helfen, anstatt den Blick von ihren Schwierigkeiten abzuwenden, war offenbar nach wie vor ein wichtiger Bestandteil seiner Persönlichkeit. Und irgendwie hatte er wohl auch ein Händchen dafür, die Geheimnisse, Wünsche und Gefühle seiner Umgebung zu ergründen. Er hatte etwas an sich, das andere ermunterte, sich ihm anzuvertrauen. Nun, da sein schönes Antlitz ernst und nachdenklich war, fiel Bradley der ungewöhnlich erwachsene Ausdruck auf, den es trug. Obgleich Butters, wie er inzwischen wusste, der Jüngste in seinem Freundeskreis war, schien er einer der reifsten zu sein. „Und das hier ist Kenny McCormick, der größte Casanova von ganz South Park!" Huh? Jetzt hätte er fast den Anschluss verpasst. Er las den Slogan auf dem T-Shirt, wurde rot und stammelte eine Begrüßung, die Kenny mit einem kameradschaftlichen Schulterstoß beantwortete. Also das war der Playboy? Er gab sich lässig und kumpelhaft, trotzdem war es Bradley, als verberge sich mehr hinter diesem breiten Grinsen als das Auge sah. Er konnte nicht genau erklären, warum er so empfand, aber das Gefühl war sehr deutlich. Das Outfit konnte man zwar bestenfalls als bescheiden bezeichnen, doch seine Körperhaltung und seine Bewegungen verfügten über eine seltsame Art von Grazie. „Der hübsche Bursche neben ihm ist Stan Marsh, Umweltaktivist, Sänger und Songwriter." Stans Wangen färbten sich zartrosa, weil Butters ihn einen „hübschen Burschen" genannt hatte. Er räusperte sich. „Hallo Bradley. Es freut mich, dich kennen zu lernen." „Es freut mich ebenso. Du bist wirklich ein richtiger Umweltaktivist?" „Na ja, ich setze mich für bedrohte Arten ein, beteilige mich an Demos und versuche, die unnötigen Grausamkeiten gegen Tiere zu beenden." „Zum Beispiel?" „Walfang. Oder das Schlachten von Kälbern." „Unnötig? Und wo soll dann das Kalbfleisch herkommen, das viele so gern essen, Hippie?" „Cartman, musst du dich unbedingt jetzt einmischen? Niemanden interessiert die Meinung eines gehirnamputierten Arschlochs!" „Piss mir nicht ans Bein, Hippie. Es ist schließlich nicht meine Schuld, dass dich deine Tierliebe in ein Weichei verwandelt hat. Andererseits...ein Weichei warst du eigentlich schon immer." „Sagte das größte Weichei von allen." „Ich bin kein Weichei!!!" „Ach nein? Soweit ich mich erinnere, hast du immer sofort zu flennen angefangen, wenn Kyle oder sonst jemand dir eine runtergehauen hat! Solltest du deine Heultiraden alle schon vergessen haben, ‚Poopsiekins‘?", entgegnete Stanley, wobei er den alten Kosenamen überbetonte, den Eric nicht leiden konnte und den Mrs. Cartman früher oft für ihren Sohn verwendet hatte. Cartman ballte die Fäuste. Einen Moment lang verzerrte eine solch maßlose Wut sein Gesicht, dass Stan automatisch ein paar Schritte zurückwich. „Du...!! Was weißt du schon!? Du hast doch keinen blassen Schimmer...!!" Kyle stellte sich vor seinen besten Freund und drohte: „Ich warne dich, Blödarsch! Krümmst du Stanley auch nur ein Haar, breche ich dir sämtliche Knochen!!" Kenny ging schweigend und ruhig zu dem zornbebenden Quarterback hinüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Reiß dich zusammen, Eric. Das ist es nicht wert." „Nicht wert?" Cartmans Stimme klang plötzlich eigenartig wacklig, als kämpfe er gegen ein Schluchzen an. Seine Augen flirrten von Stan zu Kyle, dessen Blick kalt und verächtlich war, hart, unversöhnlich und voller Abscheu. Die geballten Fäuste begannen, heftig zu zittern und mit einem Aufschrei fegte Cartman einen Stapel Teller von einem der Buffettische, die mit einem lauten Klirren auf dem Teppich landeten, zwei oder drei zerbrachen. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und stürmte hinaus. Kenny sah ihm besorgt nach, ebenso Butters, gleichgültig gegen sein in Scherben liegendes Geschirr. Stan war bestürzt. „...Was ...was genau ist gerade passiert? Ich hatte nicht erwartet, dass er sich meine Worte so zu Herzen nehmen würde... oder dass er deswegen so ausrastet. Ich habe doch nichts Schlimmes gesagt, oder? Ich meine, er weiß selbst, dass er bei den meisten Raufereien eine Heulsuse war. Warum ist er... warum hat er...?" „Vergiss ihn, Stan. Er spielt sich nur wieder auf, das ist alles." „Aber Kyle... er wirkte... regelrecht verzweifelt. Sein Aufschrei... das war echt. Sein Zorn war echt. Ich muss einen empfindlichen Nerv getroffen haben, ohne es zu ahnen..." „Jetzt behaupte nur noch, dass du dir Vorwürfe machst!" „Ja. Das war schließlich nicht mein erster Streit mit Cartman. Die Beleidigungen sind im Grunde bedeutungslos, sie gehören dazu, mehr nicht. Zugegeben, bei dir ist das anders, dich will er in der Regel verletzen, aber bei Kenny und mir sind sie schmückendes Beiwerk, sonst nichts. Ich hatte nicht vor, ihm wirklich wehzutun. Ich werde mich entschuldigen..." „Das lässt du gefälligst bleiben! Verstehst du nicht? Genau das will er doch mit diesem überzogenen Auftritt erreichen! Er will dich weichkochen, damit du dich entschuldigst und er dich demütigen kann! Er müsste sich entschuldigen, nicht du! Aber darauf kann er spekulieren, bis er schwarz wird! Dieser Bastard hat eine Abreibung verdient und die bekommt er jetzt von mir!" Damit rauschte Kyle zur Tür hinaus, Cartman hinterher. Er entdeckte seinen Rivalen ein paar Meter vom Haus entfernt. Er lehnte mit einem Arm gegen einen Baum, sein Kopf war gesenkt und er atmete schwer. Er war ein guter Schauspieler, das musste man ihm lassen. „Cartman!!" Keine Reaktion. Kyle marschierte energisch zu ihm hinüber. „Cartman!! Im Ernst, von all den peinlichen Nummern, die du in deinem armseligen Leben abgeliefert hast, war das eine der lächerlichsten! Es ist ja nicht neu, dass du es nicht ertragen kannst, wenn der Scherz auf deine Kosten geht, aber wegen der Heulsusensache so auszurasten, ist kindisch und albern! Du führst dich nur so auf, um Stan ein schlechtes Gewissen zu machen, du willst, dass er zu Kreuze kriecht, damit du was zum Lachen hast! Du bist und bleibst ein durchtriebener Mistkerl, der menschliche Regungen nur ausnutzt; du hast keine Freunde, du siehst bloß Spielzeuge in uns, die du gebrauchen und wieder wegwerfen kannst, wenn dir danach ist; du interessierst dich einen Scheißdreck für andere und bildest dir ein, dass die Welt sich einzig und allein um dich dreht! Du widerst mich an, Cartman! Hörst du!? Du widerst mich an!!" „...Es geht nicht um die ‚Heulsusensache‘. Es geht... um den Namen." Kyle ignorierte den schmerzlichen Ton in Erics Stimme. Dieser Idiot würde ihn nicht zum Narren halten, das hatte er schon zu oft getan! „Ach, um den Namen? Du magst es nicht, wenn dich jemand ‚Poopsiekins‘ nennt? Natürlich, das ist ja auch so eine grauenhafte Beleidigung! Der Kosename deiner Mutter, oh Gott!" „...Schnauze. Du kapierst doch überhaupt nicht, wofür dieser Name in meinen Augen steht, Jude. Also maß dir nicht an, darüber zu urteilen." „Wofür er steht? Für haufenweise Spielzeug? Für Cheesy Poofs, Schokolade und Fried Chicken bis zum Abwinken? Dafür, dass Poopsiekins immer alles bekommen hat, was er wollte? Dafür, dass Poopsiekins niemandem gehorchen und sich an keine Regeln halten musste? Oh, du armer, armer Junge, du bist aufrichtig zu bedauern. Es ist sicher schrecklich, eine Mutter zu haben, die einen nach Strich und Faden verwöhnt!" „Ja. Es ist schrecklich. Was hatte ich denn von dem ganzen Spielzeug? Als ich noch kleiner war, glaubte ich tatsächlich, dass ich das große Los gezogen hätte. Aber als ich älter wurde, fing ich an, zu begreifen, dass Spielzeug nur eine Möglichkeit für meine Mutter war, mich zufriedenzustellen, wenn sie was verbockt hatte... wenn sie nicht da war, wenn sie sich herumtrieb, wenn sie mich allein ließ... Auf diese Weise konnte sie ihr schlechtes Gewissen beruhigen, genau wie mit dem Essen. Ich konnte mich nicht beklagen, wenn ich was zu futtern hatte, ich war glücklich, wenn ich aß, weil es mich ablenkte. Immer hieß es ‚Poopsiekins‘ hier und ‚Poopsiekins‘ da, sobald sie sich einbildete, etwas Gutes für mich getan zu haben. Aber die Wahrheit ist, dass dieser ‚Kosename‘ für alles steht, was sie nicht für mich getan hat... für alles, was sie an mir falsch gemacht hat..." „Eine rührende Story, Cartman, mir kommen gleich die Tränen! Hast du zuviel Wodka Kirsch getrunken oder was soll dieses Emogesülze?" Eric lachte; es war ein trotziges, spöttisches Lachen. „Stell dir vor, Jude, jeder ist hin und wieder mal Emo, wenn ihn das Leben ankotzt! Das ist normal und legitim. Jeder hat ein Recht darauf, ab und zu mutlos, traurig oder verzweifelt zu sein, denkst du nicht? Und nein, ich bin nicht nur wegen des verdammten Namens hier, den ich sosehr verabscheue, ich bin..." Die Stimme schien ihm zu versagen, seine Finger krampften sich in die Rinde des Baumstammes. „Ich bin wegen dir hier." „Wegen mir?! Weil ich dir gedroht habe? Oh bitte, das ist..." „Nicht, weil du mir gedroht hast... weil du mich so angesehen hast..." „Aha?", bemerkte Kyle höhnisch. „Wie habe ich dich denn angesehen?" „...Hasserfüllt. Dein Blick war so... unnachgiebig, so grausam, so unbarmherzig..." „Nein, ehrlich? Okay, ich habe eine Eilmeldung für dich: Ich - hasse - dich!! Du kannst mit diesem bedauernswerten Versuch, an meine freundschaftlichen Gefühle zu appellieren, getrost aufhören, ich hege keine für dich. Solange ich mich zurückerinnern kann, warst du ein Arschloch zu mir, du hast meine Herkunft beleidigt, meine Religion in den Schmutz gezogen, mir das Leben zur Hölle gemacht! Niemand kann ein Subjekt wie dich gernhaben, du verdienst es nicht, dass irgend jemand dich gernhat; du bist nichts weiter als ein egoistisches, blasiertes, dummes, intrigantes, boshaftes Scheusal, das...!" Eric schnitt ihm das Wort ab - auf eine Weise, die Kyle praktisch versteinern ließ. Einen Moment lang war sein Gehirn völlig unfähig, auch nur annähernd zu entschlüsseln, was ihm da gerade geschah. Er war hochgehoben worden, seine Füße hatten keine Bodenhaftung mehr. Er spürte einen Ring aus eisenharten Muskeln um seine Taille, sein Oberkörper wurde gegen einen breiten Brustkasten gepresst...und sein Mund gegen ein warmes, weiches Bollwerk sinnlicher Lippen, die sich zärtlich und zugleich gebieterisch an die seinen schmiegten. Cartman küsste ihn. Cartman. Küsste. Ihn. Cartman. Küsste. Ihn. ERIC THEODORE CARTMAN KÜSSTE IHN! Kyle hätte sich gerne befreit, doch er konnte die Arme, die ihn umfingen, nicht sprengen. Sein Herz klopfte wie rasend, eine unbeschreibliche Hitze stieg in ihm auf und spülte all seine Rationalität mit sich fort. Die Erkenntnis, dass er keinen Ekel, sondern Erregung empfand, schürte seinen Widerwillen, aber es gelang ihm nicht, seinen Verstand wieder einzuschalten, es war, als hätte die Berührung dieser Lippen sein Gehirn pulverisiert. Er kostete die verlockende Weichheit, die fordernde, schmelzende Zärtlichkeit dieses festen, schönen Mundes, der ihn mit einer Leidenschaft umwarb, die glühender nicht sein konnte. Wie war das möglich? Wie konnte Cartman ihn so unglaublich gefühlvoll küssen? Was war passiert? Endlich ließ Eric ihn los. Kyles Wangen hatten sich gerötet und er benötigte eine Weile, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Eine zweifelnde, schwankende Sekunde lang erwog er, dass auch dieses Manöver lediglich dazu diente, ihm eins auszuwischen, aber als er Eric ins Gesicht sah, löste sich seine Befürchtung in Nichts auf. Jetzt wurde ihm klar, weshalb ihm der andere seit Beginn ihres Gesprächs den Rücken zugekehrt hatte. Das Antlitz mit den tiefbraunen Augen war von Tränenspuren gezeichnet, keine Verstellung, keine Täuschung lag in seinem intensiven Blick. Er war stocknüchtern und todernst. „Cartman... ich... du... was zum Teufel?! Warum hast du...?! Ich meine... du... du hasst mich!!" „Nein." „...Wa-was...?" „Nein.", wiederholte Eric leise, aber bestimmt. „Es mag so angefangen haben, sicher...aber hast du dich nie gefragt, warum ich dich als Kind nicht ausstehen konnte?" „Weil ich jüdisch bin?", entgegnete Kyle spitz. Seine Verwirrung wuchs, als der Quarterback mit einem resignierten, betrübten Lächeln den Kopf schüttelte. „Nein. Ich habe dich gehasst, weil du so verdammt...perfekt warst. Du hattest einen Vater, der dich liebte. Du hattest eine Mutter, die sich wirklich um dich gekümmert hat. Dann bekamst du einen kleinen Bruder, der dich vergöttert. Du warst kein fetter, unansehnlicher Junge, dessen Anwesenheit immer nur geduldet wurde, du warst hübsch und nett und viele wollten mit dir befreundet sein. Du hattest alles, was ich mir wünschte. Ich musste dich ja hassen!" „Cartman..." „Und dennoch... die Streitereien mit dir haben mir immer eine Menge Spaß gemacht. Mit keinem sonst war es so spannend, so aufregend, so faszinierend. Butters war damals ein denkbar schlechter Gegenpart, er nahm nur hin und akzeptierte meine Beleidigungen, das war sterbenslangweilig. Stan und Kenny begnügten sich meist mit einem ‚Fick dich‘ oder einem ‚Halt die Klappe, Cartman‘. Das war nichts besonderes. Aber mit dir zu streiten, Jude... das war... das ist... etwas ganz anderes. Deine Augen sprühen Funken, du fletschst die Zähne, ballst die Fäuste, wirst rot vor Zorn, fängst an zu brüllen... du bist wie ein Feuerwerk, laut und gefährlich, trotzdem muss man dich ansehen. Das wütende Blitzen deiner grünen Augen, dein widerspenstiges rotes Haar, das sich früher unter deiner Mütze hervor ringelte, deine feste, klare, entschlossene Stimme, dein angriffslustig vorgestrecktes Kinn... du bietest immer das volle Programm. Und du warst der einzige, der niemals klein beigegeben hat. Egal, was ich tue oder sage, ich kann dich nicht in die Knie zwingen. Das hat mich wahnsinnig gemacht, das kannst du mir glauben! Du warst durch nichts einzuschüchtern, durch nichts zu beeindrucken, durch nichts zu besiegen! Ich hasste dich, weil ich dich beneidete... aber irgendwann entwickelte ich auch so etwas wie... Respekt für dich, und darauf darfst du dir was einbilden, denn ich respektiere nur sehr wenige Menschen." Kyle war fassungslos und vergaß ganz, darüber zu lamentieren, dass Cartman ihm seinen ersten Kuss gestohlen hatte. Er lauschte Erics Monolog, der ihm durch seine erstaunliche Offenheit eine Tiefe in diesem Charakter enthüllte, die er nie vermutet hätte. „Meine ‚Familie‘ ist nichts weiter als ein schlechter Witz. Manchmal warst du der einzige Grund, der mich einen absolut beschissenen Tag überstehen ließ. Dich zu ärgern, bis du explodierst, mit all dem Funkeln in deinen Augen, all deinem Feuer... das brauchte ich. Dich herauszufordern, bis ich dich manipulieren oder zu verrückten Wetten überreden konnte, in der Hoffnung, dich endlich, endlich einmal besiegen zu können... das brauchte ich. Dich oft siegesgewiss in meine Pläne einzuweihen, um mich an deiner Empörung und deinen lästigen Moralpredigten zu weiden...und dich dann ebenso oft meine Pläne vereiteln zu sehen... das brauchte ich auch. Das war mein persönlicher Kick, mein Antrieb, das, was mich aufrecht hielt. Und es gab diese seltenen Augenblicke, in denen wir wie echte Freunde waren, zumindest fast. Wir konnten zusammen spielen und Spaß haben, ohne miteinander zu streiten. Wir konnten zusammenarbeiten für ein gemeinsames Ziel. Wir konnten einander umarmen und zusammen weinen. Du konntest es über dich bringen, nett zu mir zu sein, obwohl du mich nicht mochtest. Du sagst, dass ich es nicht verdiene, von irgend jemandem gerngehabt zu werden. Du hast recht. Ich verdiene es nicht." Kyle schluckte schwer. Er hätte sich besser gefühlt, wenn Cartmans Stimme nur einen Hauch Selbstmitleid verraten hätte, das hätte er wenigstens beanstanden können. Aber er sprach ruhig und sachlich, und in seinen ausdrucksstarken Augen fand Kyle keinerlei Verbitterung, sondern nur einen tiefen, stummen Schmerz. Warum war er gleich nochmal hergekommen? Er wusste es nicht mehr. „Wenn meine Gedanken nicht gerade um mich selbst kreisten, beschäftigten sie sich mit dir. Wie könnte ich dir schaden, dich unterjochen, dich loswerden? Manchmal war ich davon überzeugt, mein Leben müsse ohne dich ganz wunderbar sein: Niemand mehr, der mir ständig Widerworte gibt. Niemand mehr, der diese nervtötenden ‚Ich glaube, wir haben heute etwas gelernt‘-Ansprachen vom Stapel lässt. Niemand mehr, der mich zurechtweist. Niemand mehr, der mir sagt, was ich tun soll. Niemand mehr, der mich wirklich bekämpft... bis ich erkannte, dass mein Leben ohne dich nur leer und sinnlos war. Erinnerst du dich noch daran, wie du nach San Francisco gezogen bist? Anfangs war ich begeistert... ich habe sogar eine Abschiedsparty für dich organisiert - ohne dich einzuladen, natürlich." Er warf Kyle einen amüsierten Blick zu. „Du brauchst dich nicht so aufzuplustern, Jude. Ich habe dafür gebüßt, das kannst du mir glauben. Je länger du fort warst, desto langweiliger, eintöniger, bedeutungsloser schien alles zu werden... und dann erfuhr ich, dass du in Gefahr warst." „Du... du meint den Snobsturm? Meine Familie und ich wurden doch gerettet...auch wenn ich nicht genau weiß, wie... Ich erinnere mich nur noch, dass ich in einem Bus nach South Park wieder aufgewacht bin. Es war ein richtiges Wunder..." „Das war kein Wunder. Das war ich." „Du?!" „Ja. Ich bin nach San Francisco gefahren und habe euch rausgeholt. Deine Eltern waren halb im Delirium, konnten aber wenigstens noch selbst gehen. Du und Ike, ihr wart dagegen völlig neben der Spur...zugedröhnt, schätze ich, eure Augen waren glasig. Ike habe ich in seinen Kinderwagen gesetzt und dich habe ich huckepack genommen. Mit dem letzten verfügbaren Bus habe ich euch schließlich nach Hause verfrachtet." Kyle fühle sich erbleichen. „Du... willst mir... ernsthaft erzählen, dass du meine Eltern... meinen Bruder... und mich gerettet hast?", würgte er stockend hervor. „Oh, das ist ein starkes Stück, Cartman!! Wie konnte ich dir überhaupt zuhören!? Ich hätte wissen müssen, dass deine ganze Beichte nur darauf abzielte, mir eine faustdicke Lüge aufzutischen! Als ob ein ichbezogenes, feiges Arschloch wie du je dazu in der Lage wäre, etwas so mutiges und selbstloses zu tun! Wie kannst du es wagen...!!" Cartman, die Augen zwei dunkle Wirbel lodernder Glut, trat einen Schritt nach vorn und versetzte dem aufgebrachten Rotschopf eine schallende Ohrfeige. Kyle, schockiert, in seinem Stolz verletzt, nach Atem ringend und fast wie betäubt, starrte ihn ungläubig an und hielt sich die schmerzende Wange. „Und du?!", schleuderte der Größere ihm entgegen. „Wie kannst du es wagen?! Ich schütte dir mein Herz aus und das ist das einzige, was dir einfällt?! Ich habe verdammt nochmal meinen Arsch riskiert, um deine wertlose Haut und die deiner Familie zu retten und du denkst, ich lüge?! Hast du eigentlich irgendwas von dem gehört, was ich davor gesagt habe, du arroganter Idiot!? Dass ich dich tatsächlich auf eine gewisse Art respektiere? Dass du mein Antrieb bist, der Grund, warum ich diese Scheiße ertrage, die sich mein Leben schimpft? Dass es ohne dich leer und sinnlos wäre? Begreifst du nicht, was das heißt!?!" „Ich nehme an, du wirst es mir zu meinem Leidwesen gleich mitteilen, Cartman.", erwiderte Kyle ruhig, doch seine Stimme klang eisig. „Aber ich will es nicht hören." Die Demütigung der Ohrfeige, dieses Schlags ins Gesicht, brannte ihn wie glühendes Metall und er sagte sich immer wieder, dass er Eric Cartman von ganzer Seele hasste. Er schalt sich einen Dummkopf, seinem Erzfeind überhaupt nachgelaufen zu sein und wandte sich zum Gehen. Er kam nicht weit. Von neuem wurde er von diesen mächtigen Armen gepackt und von diesen eigensinnigen Lippen geküsst, die diesmal nicht zärtlich oder behutsam waren; dieser Kuss war ungezügelte Gier und rohe Kraft. Eric überwand die geschlossenen Lippen und die zusammengebissenen Zähne seines Rivalen und glitt mit seiner Zunge in die fremde Mundhöhle, wo er ausgiebig zu räubern begann. Kyle versuchte sich zu wehren, aber es war zwecklos, zumal er in seinem Inneren zerrissen war wie noch nie zuvor: Hass und Zorn schüttelten ihn brutal wie ein Orkan, heftige Erregung und ein heißes Prickeln durchströmten seinen Körper, vermischt mit Verwirrung und Angst. Dieser Kuss schmeckte nach ungestillter Sehnsucht, nach Wut, nach Schmerz, nach Hilflosigkeit. Es war kein schöner Kuss, kein Kuss zum Genießen, sondern ein aggressiver, rücksichtsloser Kuss, besitzergreifend und endgültig, und dennoch von einer so verzweifelten, hoffnungslosen Leidenschaft, dass Kyle nicht wusste, ob er toben, schreien, lachen oder weinen sollte, als Cartman ihn freigab. Seine Lippen waren wund und brannten unangenehm. „Entschuldige, ich... oh, ich... das... das ist alles deine Schuld, Jude!!!", rief Eric aus, wobei er den Baum mit seinen Fäusten bearbeitete, bis es wehtat. „Deinetwegen hat sich alles verändert!! Deinetwegen bin ich nicht mehr ich selbst!! Deinetwegen ist nichts mehr wie früher!! Warum du!?! WARUM AUSGERECHNET DU!?!" „Cartman... ich... ich verstehe nicht... Was habe ich dir denn je getan?" „DU EXISTIERST!!!!" Eric rieb sich seine aufgeschürften Fingerknöchel und sah Kyle an. „Du existierst... dein hitziges Temperament, dein unverbesserlicher Dickschädel, dein enorm starker Wille, deine scharfsinnige Intelligenz, dein verdammter Gerechtigkeitsfimmel und dein unbezähmbarer Stolz... das alles existiert. Oh ja, Jude... wenn nichts sonst, bist du doch seit jeher von einem beachtlichen Stolz gewesen. Deshalb hasse ich dich." Er näherte sich ihm, hob sein Kinn an und blickte ihm tief in die Augen. „Ich hasse dich... weil ich dich liebe." Auf der Geburtstagsparty hatte kaum jemand Notiz von Erics Ausbruch genommen, da man ihm keine Bedeutung beimaß, er wurde in die Schublade seiner üblichen Überspanntheiten gestopft. Butters und Bradley hatten die Scherben aufgesammelt, Kenny war auf die Terrasse gegangen, um eine Zigarette zu rauchen und Stan hatte sich zu ihm gesellt. „Ken?" „Hm?" „Ich... ich habe wohl was Falsches gesagt?" „Zu Eric? Ich fürchte ja. Aber du konntest das nicht wissen. Dass er ‘ne Heulsuse sein konnte, kratzt ihn längst nich‘ mehr, das is‘ nich‘ das Problem. Du hättest ihn nicht ‚Poopsiekins‘ nennen dürfen. Es ist nich‘ nur so, dass er den Namen nich‘ leiden kann, er hasst ihn regelrecht, weil er ihn an das erinnert, was seine Mutter an ihm versäumt hat." „Du meinst, er... ist sich im Klaren darüber, dass seine Mutter Fehler in seiner Erziehung gemacht hat?" „Natürlich. Er ist zu intelligent, um das nicht zu erkennen, Stan. Was glaubst du denn, welche Art von Erziehung eine Frau geben kann, die keinen Schulabschluss und keine Ausbildung hat? Eine Frau, die sich mit Prostitution über Wasser hält, säuft, kifft, lügt und stiehlt. Was für ein Vorbild kann sie sein? Hör zu: Eric reagiert extrem empfindlich auf alles, was irgendwie mit seiner Mutter zusammenhängt. Und da er heute Abend sowieso schon in gereizter Stimmung war, hat ihm deine Anspielung den Rest gegeben. Und dann hat Kyle auch noch Partei für dich ergriffen und hat damit das Fass zum Überlaufen gebracht..." Stan nickte ernst. „Ich verstehe. Cartman reagiert auch extrem empfindlich auf alles, was mit Kyle zusammenhängt, nicht? Ob die beiden sich jetzt prügeln?" „Keine Ahnung, zuzutrauen wär‘s ihnen. Für die gibt‘s keinen goldenen Mittelweg, nur immer das Äußerste vom Äußersten. Ich könnte sowas auf Dauer nich‘ aushalten. Es kann bloß schiefgehen, wenn man sich so vollständig auf einen anderen Menschen einlässt, egal, ob das aus positiven oder negativen Gefühlen heraus passiert, die Scheiße bleibt die gleiche. Schau mich an! Ich kriege Sex, wenn ich ihn will und aus! Kein Stress, keine nervige Gefühlsduselei, keine unnötige Aufregung, keine Verbindlichkeiten... so muss es sein. Was hat das Herz schon zu sagen, wenn der Körper spricht? Sämtliche Beziehungsalternativen sind dazu verdammt, irgendwann den Bach runterzugehen." „Das ist deine Theorie." „Sie ist so gut wie jede andere." Er wollte die Zigarette für einen neuen Zug zum Mund führen, als ihm Stanley den Glimmstängel aus der Hand nahm und ihn direkt ansah. Kenny erwiderte den Blick eine Weile, konnte jedoch der unvergleichlichen, geradezu magnetischen Leuchtkraft dieser saphirblauen Seen nur eine Minute standhalten, bevor er ihr durch das Senken seiner Lider ausweichen musste. Er war für diese Augen, unter deren strahlendem Glanz er förmlich erstarb, ein von vornherein verlorenes Opfer. „Warum fällt es dir so schwer, anderen zu vertrauen?" „...Eh...?", war alles, was Kenny herausbrachte. „Ich weiß, dass du aus einer kaputten Familie stammst, aber dennoch hast du dir deine Wärme, deine Hilfsbereitschaft, deine Lebensfreude, deinen Humor und deine Fröhlichkeit zu bewahren gewusst. Trotzdem vertraust du kaum jemandem wirklich, nicht Cartman, nicht Kyle, nicht mir, nicht einmal Butters und schon gar nicht all deinen Bettgeschichten. Weil du dir den Glauben an die Liebe nicht bewahren konntest. Wenn man nicht daran glaubt, kann man auch niemandem mit ganzem Herzen vertrauen - dabei ist Vertrauen der beste Beweis, den man für die Liebe erbringen kann. Sicher, Sex macht dir Spaß, doch was erhoffst du dir davon? Die Geborgenheit, die du suchst, wirst du so nicht finden, da dein Inneres nie beteiligt ist. Du bekommst immer nur einen schwachen Abklatsch von dem, was du eigentlich willst, weder erfüllt es dich, noch bist du glücklich. Du redest dir zwar pausenlos ein, dass es gut so ist, wie es nun mal ist... aber in Wahrheit hast du nur Angst. Angst, echte Nähe zuzulassen, weil man dich zu oft darum betrogen hat. Soll das so weitergehen?" Kenny hob ruckartig den Kopf und starrte ihn an. Er war daran gewöhnt, auf diese Weise von seiner Schwester Karen auseinander gepflückt zu werden, denn für sie war er so durchsichtig wie Glas. Dass Stanley das auch konnte, war ihm neu - und es erschreckte ihn. Er wollte nicht nachdenken. Er wollte nicht wissen, dass Sex allein ihm nie wahre Geborgenheit schenken würde. Er wollte nicht akzeptieren, dass es nicht gut war, so wie es war. „Vielleicht möchte ich, dass es so weitergeht, Stan! Schon mal daran gedacht? Ja, ich komme aus einer kaputten Familie, und genau deswegen kann ich nicht wie du die Welt mit einer rosaroten Brille betrachten und an Werte glauben, die sich letzten Endes nur als miese Lügen entpuppen! Du mit deinen Weltverbessererallüren, deinem Hippiegetue, du glaubst natürlich immer noch an Dinge wie die große Liebe, an Vertrauen und Freundschaft, und daran, dass man etwas verändern kann, wenn man es nur wirklich will, aber es wird Zeit, dass du aufwachst und der harten, kalten Realität ins Gesicht siehst! Was erwartest du denn vom Leben? Einen Himmel auf Erden, Glück, Liebe, Verständnis und Hilfe rund um die Uhr? Erfolg und Zufriedenheit bei allem, was du anfängst? Das Leben ist kein Paradies, sondern eine Schlammschlacht! Für dich ist es einfach, weil du Eltern hast, die dich lieben, du musst dich nicht mit dem Dreck dieser Welt auseinander setzen, aber ich muss es! Ich..." Stan unterbrach ihn, sein Blick glich plötzlich einer tosenden Sturmflut. „Oh, du musst? Was du nicht sagst! Hast du jetzt vor, dich im Selbstmitleid zu suhlen, oder was? Bildest du dir allen Ernstes ein, dass ich nichts von den schlechten und hässlichen Seiten des Lebens weiß, bloß weil ich nicht so beschissen aufgewachsen bin wie du!? Ja, ich habe Eltern, die mich lieben, und ich kann mir Sachen kaufen, die du dir niemals wirst leisten können, aber woher nimmst du das Recht, zu behaupten, ich würde alles nur durch eine rosarote Brille sehen? Jeder, Kenny, verdammt nochmal jeder auf dieser Welt bekommt früher oder später sein persönliches Leid, seine persönlichen Sorgen aufgepackt, und es ist auch seine persönliche Sache, wie er damit fertig wird! Jimmy und Timmy zum Beispiel!" Er deutete mit dem Daumen auf die beiden Jungen, die in ein reges Gespräch vertieft waren. Richtig sprechen konnte Timmy, der in einem Rollstuhl saß, zwar nicht, doch er hatte zusammen mit Jimmy eine eigene Zeichensprache entwickelt, mit der er sich ausdrücken konnte. Wollte er etwas sagen, ließ er seine Hände für sich sprechen und Jimmy übersetzte. Die zwei Freunde bemerkten Stanleys Geste und winkten ihm von drinnen zu. Kenny biss sich auf die Lippen. Der Hinweis stellte einen Tiefschlag dar, denn seine gewalttätigen, drogenabhängigen Eltern und sogar seine Armut waren im Vergleich zu Timmys Zurückgebliebenheit oder Jimmys verkrüppelten Beinen definitiv das kleinere Übel. „Die beiden haben die Kraft, zufrieden und glücklich zu sein, trotz ihrer Behinderungen. Probleme und Schwierigkeiten sind nämlich etwas, das zu unserem Leben gehört und wichtig für uns ist, um daran zu reifen. Vor unserem Schmerz davonzulaufen, ist keine Lösung, er holt uns immer wieder ein! Du flüchtest dich in deine zahllosen Abenteuer, um dich nicht mit deiner Einsamkeit und deinem Mangel an Vertrauen beschäftigen zu müssen - aber deinen Eltern wirfst du vor, dass sie sich mit Alkohol und Drogen betäuben, um sich nicht um ihre Kinder und ihre verpfuschte Existenz kümmern zu müssen. Ehrlich, Ken... ich sehe keinen großen Unterschied. Sie laufen vor ihren Schwierigkeiten davon. Du auch." Der Jüngere antwortete nicht. Er rutschte langsam an der Terrassentür zu Boden und verbarg sein Gesicht in den Knien. Stan hockte sich neben ihn und schlang einen Arm um seine Schultern. Er spürte, wie sich Kenny unter der Berührung verkrampfte. „Ich hasse dich, Stan.", flüsterte er, aber es klang sanft, beinahe zärtlich. „Du bist absolut widerlich, wenn du so predigst." »Und ich danke dir. Ich danke dir, dass du kein Blatt vor den Mund genommen hast. Ich danke dir, dass du mir deine Meinung vor die Füße geknallt hast. Ich danke dir, dass du mich deine Besorgnis hast sehen lassen. Ich danke dir, dass du mir als echter Freund all diese unerfreulichen Dinge sagen konntest... denn ein echter Freund sollte den Mut haben, unerfreuliche Dinge zu sagen. Ich danke dir... ich danke dir...!« Er sagte es nur nicht. Statt dessen umfasste er die Hand, die über seiner Schulter hing und lehnte sich vorsichtig an den Älteren. Das Schwarz und Gold ihrer Haare vermengte sich. Und so saßen sie. „Ich predige nur ungern, Ken", erklärte Stan in die Stille hinein, die sich auf sie herabgesenkt hatte, „aber ich möchte, dass du begreifst, warum ich mir solche Sorgen mache. Du bist ein toller Freund, man kann mit dir lachen und weinen und immer auf dich zählen. Deine Tapferkeit, deine Stärke, deine Entschlossenheit, all das sind Eigenschaften, die ich an dir bewundere. Ich würde dir mein Leben anvertrauen - und der Gedanke, dass du dieses Vertrauen nicht erwidern kannst oder willst, tut verdammt weh. Es ist... einfach schade." Kenny erbebte unter diesen Worten. Er wusste nichts zu sagen. Er hörte nur das heftige Klopfen seines Herzens... Ja, soweit diesmal. Und wie üblich noch ein paar Anmerkungen zu meinen seltsamen Ideen: Tweeks voller Name etwa. Ich weiß, woher sich der Name eigentlich ableitet, aber da alle anderen Kinder in South Park normale Namen haben und es extrem unwahrscheinlich ist, dass Eltern ihren Sohn nach einem Begriff für Menschen unter Stress benennen, wollte ich etwas anderes ausprobieren. Sicher,"Tweek" von "Tweeker", das passt, aber wer würde sowas schon machen, noch dazu, wenn der Nachname fast identisch ist? Ich habe mir also eine realistische Lösung für Tweeks ungewöhnlichen Vornamen ausgedacht. Dann die Szene mit Cartmans Liebesgeständnis... dazu nur eines: Sie war verdammt schwer zu schreiben und ich hoffe, ich konnte die widerstreitenden Gefühle anschaulich genug zum Ausdruck bringen. Ich denke, damit sich in der Beziehung zwischen Kyle und Cartman irgendetwas bewegt, müsste zuerst etwas Ungeheuerliches passieren - und ungeheuerlicher als ein Liebesgeständnis geht vermutlich kaum, jedenfalls wenn es aus Cartmans Mund kommt. Und ja, ein bisschen Jimmy und Timmy in diesem Kapitel, weil sie sonst nie in FFs auftreten, oder nur ganz selten, was ich auch ändern werde. Sie sind Nebenrollen, aber wichtige Nebenrollen, so wie Craig oder Ike oder Karen. In der Charaktersuche auf fanfiction.net gab es ganze drei Storys, die Jimmy als Hauptfigur hatten (vielleicht sind's inzwischen mehr, aber ich glaube nicht). An dieser Stelle ein Dankeschön an meine beiden Leserinnen für ihr Feedback!^^ *knuddel* Bis dann! Kapitel 4: Sweet Seventeen (Teil 2) ----------------------------------- *kommt ins Zimmer gekrochen* Oh Mann, ich dachte, dieses Kapitel würde nie fertig werden, ich habe eine mächtige Schreibblockade geschoben. Meine Uniprüfungen waren sicher nicht ganz unschuldig daran - aber jetzt habe ich's geschafft: Die Uni und das Kapitel! Ja, ich habe mein Studium erfolgreich abgeschlossen! *tanzt im Kreis* Nun muss ich einen Job finden... Ich weiß auch gar nicht, warum meine Kapitel in dieser FF immer so lang werden, das war bei keiner anderen meiner FFs bisher der Fall. Aber immer, wenn ich denke, jetzt bin ich fertig, kommt mir eine neue Idee und ich sage mir: "Na, ist nur eine kurze Szene, das geht noch" und prompt bin ich in Word bei fünfzehn Seiten...*schüttelt den Kopf* Wie dem auch sei, das Wunder ist geschehen, ein neues Kapitel ist fertig und es tut mir sehr leid, dass es so lange gedauert hat! Viel Spaß beim Lesen!^^ Kapitel 4: Sweet Seventeen (Teil 2) Gegner bedürfen einander oft mehr als Freunde, denn ohne Wind gehen keine Mühlen. - Hermann Hesse „Ich hasse dich... weil ich dich liebe." Zuerst registrierte Kyle den Sinn dieser Worte nicht. Er stand da und schien durch Eric hindurchzusehen. Sein Gehirn verarbeitete den Satz, erfasste ihn jedoch nicht richtig. „Ich hasse dich, weil ich dich liebe" - bitte was? Nochmal. „Ich hasse dich, weil ich dich liebe"...Moment, das bedeutete doch... das bedeutete... Ich liebe dich. Mit einiger Verspätung fiel der Groschen. Kyle sog hörbar die Luft ein und wich zurück, als hätte ihm Cartman eine weitere Ohrfeige verpasst. Er bewegte tonlos die Lippen, während ihn der Quarterback schweigend beobachtete. „Du... du... liebst mich...?" Ein trauriges Lächeln verklärte die markanten Züge. „Ja. Verrückt, was? Nenn es ausgleichende Gerechtigkeit, wenn du willst. Oder Schicksal. Sicher, ich wollte diese Gefühle nicht, aber bei sowas hat man nun mal nichts zu sagen. Man kann sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt, es passiert und fertig." „...Seit ...seit wann...?" Eric antwortete nicht sofort, sondern maß Kyle von Kopf bis Fuß ab, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen. „Ich will dir eine kleine Geschichte erzählen. Es ist fünf Jahre her... Viele unserer Klassenkameraden waren im Sommerlager und wir natürlich auch. Kenny, Stan, du und ich, wir teilten uns eine Hütte, wie üblich. Und dann kam diese Nachtwanderung... mit Fackeln vom Camp aus zum See, der sich etwa in der Mitte des Waldes befand. Dort sollte ein Lagerfeuer angezündet und Würstchen, Kartoffeln und Marshmallows gebraten werden, inklusive den obligatorischen Gruselgeschichten und den Liedern zur Gitarre." „...Ich ...ich erinnere mich. Du hattest natürlich wie immer an allem etwas auszusetzen und hast nur gemeckert... und da habe ich..." Er verstummte, als Eric bestätigend nickte. „Ja, du hast mich zurechtgewiesen, ich habe dich beleidigt und bald war eine schöne Rauferei im Gange, die du für dich entschieden hast, wie gewöhnlich. Und wie gewöhnlich bin ich heulend davongelaufen. Ich war feige und überempfindlich, wie jedes verzogene Einzelkind. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich gerannt bin... ich war angepisst und fühlte mich ungerecht behandelt... und so weiter und so fort, du kannst es dir denken. Bis mir plötzlich aufging, dass ich mich immer weiter von der Gruppe entfernt und mich schlussendlich verirrt hatte. Mir ist das Herz in die Hose gerutscht vor Schreck. Es war stockfinster und der Wald schwirrte von zahllosen Geräuschen, die ich nicht zuordnen konnte... und das machte mir erst recht Angst. Ich hatte einen Mordsschiss da draußen, alles war so dunkel und unheimlich... Minuten schienen sich in Stunden zu verwandeln, es wurde kalt und ich... ich war allein. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass mir wirklich bewusst wurde, wie allein ich war. Ich begann mich zu fragen, ob ihr mein Fehlen überhaupt bemerken würdet... und wenn, ob es euch kümmern würde. Zum ersten Mal in meinem Leben fürchtete ich mich vor den Folgen meines Verhaltens... davor, dass euch egal sein könnte, was mit mir passiert. Davor, dass keiner von euch mich gern genug haben könnte, um sich zu sorgen. Um mich zu suchen. Um mich zurückzubringen. Ich hockte mich unter einen Baum und wartete... und niemand kam. Ich war allein mit meiner Einsamkeit, meiner Angst, meinen Zweifeln, meinen Tränen. Ich hatte nicht gewusst, dass es so sein konnte... dass man so verdammt, verflucht allein sein konnte!" Er biss sich auf die Lippen. „Keine Ahnung, wie lange ich gewartet habe... ich verlor jegliches Zeitgefühl. Auf einmal entdeckte ich jedoch ein schwaches Licht, das sich in meine Richtung bewegte... und dann hörte ich eine Stimme meinen Namen rufen... deine Stimme. Kannst du dir die Erleichterung, die Dankbarkeit vorstellen, die ich in diesem Moment empfand? Du... du bist gekommen und hast mich aufgesammelt. ‚Du bist ein echtes Riesenbaby, Cartman! Du würdest noch ‘n paar Jahre in die Krabbelgruppe gehören!‘ Das hast du gesagt... du hast mich bei der Hand gefasst und uns mit deiner Taschenlampe den Weg geleuchtet. Meine Hand, Kyle... du hast nicht bemerkt, wie sie in der deinen zitterte, die mich so fest und sicher umschlossen hielt... Diese Berührung löschte alles aus, meine Furcht, meinen Schmerz, die schreckliche Leere in meinem Herzen... es tat gut. Es tat so gut, zu wissen, dass da jemand war, der an mich gedacht hatte. Wir erreichten das Lager... und ich... ich brachte es nicht fertig, mich zu bedanken!" Wieder biss er sich auf die Lippen, diesmal so heftig, dass er Blut schmeckte. „Ich habe es nicht fertiggebracht...! Mein Stolz ließ es nicht zu... mein Neid und meine Verachtung ließen es nicht zu... ich war so blöd! So blöd!!! Ich habe dir irgendeine Gemeinheit an den Kopf geworfen - und du hast mich angebrüllt und mich stehen lassen. Und ich starrte auf meine leere Hand... und ein fremdes, jämmerliches, klägliches Gefühl stieg in mir auf. Heute weiß ich, dass dieses fremde Gefühl... Reue war. Am nächsten Tag wollte ich mit dir reden... mich entschuldigen. Na ja, jedenfalls hatte ich mir das vorgenommen. Aber du warst zusammen mit Stan und Kenny beim Kanufahren, während ich wegen meines ‚unerlaubten Fernbleibens‘ dazu verdonnert worden war, Makkaronibildchen zu kleben. Mein bestes Bild war eine Sonne mit lachendem Gesicht... ich wollte es dir schenken, vielleicht einfach nur, um einen Vorwand zu haben, der es rechtfertigen würde, dich anzusprechen. Also habe ich auf dich gewartet... den ganzen Tag... aber der Bootsausflug war so spät zu Ende, dass ihr alle nur noch ins Bett gefallen seid und ich keine Chance mehr hatte, dich um Verzeihung zu bitten und dir das Bild zu geben. Und am nächsten Morgen haben deine Eltern dich abgeholt, weil du noch dein Jewbilee besuchen solltest... Ich stand dabei, als du ins Auto gestiegen bist. Du hast dich von Stan verabschiedet. Du hast dich von Kenny verabschiedet. Nur nicht von mir. Und ich sah zu, wie der Wagen davonfuhr...und die Welt war tot." Die Welt war tot. Kyle griff sich unwillkürlich ans Herz. Er war zu bestürzt, zu erschrocken, zu fassungslos, um etwas zu sagen. Seine Worte von vorhin hallten in seinem Kopf wider: ‚Niemand kann ein Subjekt wie dich gernhaben, du verdienst es nicht, dass irgend jemand dich gernhat; du bist nichts weiter als ein egoistisches, blasiertes, dummes, intrigantes, boshaftes Scheusal!‘ »...Aber ...aber genau das ist er doch auch, nicht wahr!? Wie kann er... wie kann er so reden? Wie kann er so sein?! Wer ist dieser Kerl da vor mir? Wer!? Das ist nicht der Cartman, den ich kenne... und überhaupt, wieso muss er mir das alles erzählen?! Ich will nicht wissen, dass er ein Herz hat! Ich will nicht wissen, dass er genauso leiden kann wie jedes andere menschliche Wesen! Nein, ich will das nicht wissen! Ich will das nicht wissen!!!« „In diesem Augenblick... wusste ich es." „...Eh?" „Ich wusste, dass ich dich liebte. Ja, das hört sich lächerlich an, vor allem, wenn man bedenkt, dass ich erst zwölf Jahre alt war. Aber ich glaube auch, dass jeder in seinem Leben irgendwann eine Art persönliche Offenbarung erfährt... ganz egal, ob diese Offenbarung nun mit der Familie, den Freunden, dem Liebsten oder einem selbst zusammenhängt, es gibt so etwas wie Augenblicke der... nun, der Erkenntnis. Und an jenem Tag habe ich erkannt. Es war grauenhaft, paradox, absurd... und schön. Am Anfang habe ich noch versucht, diese Regung zu unterdrücken, doch es half nichts. Gar nichts half... wie auch? Wir waren ja immer noch in einer Clique, wir waren fast jeden Tag zusammen, in der Schule, bei den Hausaufgaben, am Wochenende... Ich schätze, das ist die Strafe für alles, was ich falsch gemacht habe, für alles, was ich in meinem Hass, in meinem Zorn, in meiner Dummheit zerstört habe... Eine unglückliche Liebe. Schau mich nicht so an, Jude!! Ich weiß nicht, woher deine Augen ihre unwiderstehliche Ausstrahlung beziehen, aber sie wühlen mich auf bis ins Mark!!" Er packte Kyles rechtes Handgelenk und führte die schlanke alabasterfarbene Hand an seine Lippen. „Ich habe versucht, einen anderen zu finden... ich bin sogar mit Butters ausgegangen, nur um dich zu vergessen. Ich gebe zu, Butters ist umwerfend, aber neben dir verblasst er, wie... ich weiß nicht... wie eine Packung Cheesy Poofs neben einem Jahresvorrat an Fried Chicken verblassen muss...?" Er grinste halbherzig. „Ich kann und werde nie einen anderen lieben. Ich weiß, dass es sinnlos, dass es hoffnungslos ist, dass du meine Gefühle niemals erwidern wirst! Trotzdem kann ich es nicht ändern... mein Herz hat dich erwählt. Für mich gibt es kein Zurück mehr." Er presste einen heißen Kuss auf diese Hand, die ihn einst durch die Dunkelheit geleitet hatte. Dann richtete er seinen verzehrenden Blick erneut auf seinen Gegenüber und sagte ernst: „...Du darfst jetzt lachen, wenn du willst." Nicht einmal, wenn er es gekonnt hätte. Kyle steckte ein Kloß im Hals, ein zäher Klumpen aus Unglauben, Entsetzen, Schuld und Scham. So wenig er Cartman leiden konnte, der Gedanke, nicht das geringste von seinen wahren Gefühlen geahnt zu haben, weckte automatisch Gewissensbisse in ihm. Er hatte nie irgendwelche Untiefen in seinem Rivalen vermutet und gestand sich nun widerwillig ein, dass er nur Augen für das Offensichtliche gehabt hatte - also hatte er dieselbe Oberflächlichkeit bewiesen, die er Cartman so gern zum Vorwurf machte. „Du lachst nicht?", staunte der Braunhaarige mit milder Überraschung in der Stimme. „Na, dann verdaust du wahrscheinlich den Schock deines Lebens. Sei so nett und sag Butters, dass ich mich nicht wohl fühle und nach Hause gegangen bin. Er wird das verstehen. Wir sehen uns morgen. Gute Nacht, Kyle." Kyles Blick folgte der dahinschwindenden Gestalt, bis sie in die nächste Seitengasse eingebogen war. Er stand auf dem Gehweg, nur Nacht und Stille um ihn herum, durchbrochen vom fahlen Licht der Straßenlaternen. „Cartman..." Indessen nahm Bradleys Vorstellungsrunde ihren Fortgang. Diesmal wurden ihm zwei weibliche Gäste präsentiert, Bebe Stevens und Wendy Testaburger. Bebe war der Kapitän der Cheerleader, entsprach aber nicht ganz dem Klischee, das Bradley in seiner alten High School so exorbitant auf die Nerven gefallen war. Im Gegenteil. Gut, sie war klischeetypisch blond und super gebaut, aber ihr freundliches Lächeln und die Tatsache, dass sie Wendy, die dank ihres exzellenten Notendurchschnitts offiziell zu den Strebern gezählt wurde, vollkommen ungeniert als ihre beste Freundin benannte, lief den traditionellen Erwartungen zuwider. Und sie schien nicht die Absicht zu haben, sich nur auf ihr Aussehen zu verlassen. Er mochte sie auf Anhieb. „Du kennst unseren Märchenprinzen also von diesem komischen Entschwulungscamp? Ist das nicht albern? Dass erwachsene Menschen so etwas überhaupt ernst meinen können!" „Tja..." „Musstest du an deiner früheren Schule Repressalien hinnehmen?" „Ja, ich war der einzige homosexuelle Junge dort... oder sagen wir, der einzige, von dem es bekannt war. Drei oder vier andere hatte ich immer in Verdacht, aber die haben es nicht zugegeben. Unser Bezirk war sehr konservativ, sehr engstirnig, sehr spießig. Und meine Eltern unterstützten mich auch nicht wirklich, das war hart." „Na, die Park High ist auch noch nicht lange das Aushängeschild für Toleranz, als das sie heute gefeiert wird", erklärte Wendy mit einem Naserümpfen. „In so kleinen Städten haben Randgruppen noch mehr Probleme als anderswo, allen voran die Homosexuellen, erst recht, wenn sie noch jung sind und diese Hölle namens High School überleben müssen. Aber dadurch, dass die meisten von unseren schwulen Jungs offen schwul sind - und die bisexuellen Jungs offen bi - und aus den unterschiedlichsten Gründen als cool oder beliebt gelten, ist die Park High ungewöhnlich ‚pro gay‘ geworden. Das war nicht immer so. Butters hat eine Menge mit dem eingetretenen Wandel zu tun, lass es dir mal von ihm erzählen." Sie zwinkerte ihm vielsagend zu. Bradley errötete, begriff er doch, dass sie auf die Möglichkeit anspielte, Butters ein wenig näherzukommen, wenn er sich nach einem so wichtigen Teil seiner Vergangenheit erkundigen würde. Wendys direkte, ungezwungene Art gefiel ihm, und ihre Beobachtungsgabe war zweifellos bemerkenswert. Seltsam, dass gerade diese beiden Mädchen beste Freundinnen waren, wo sie doch so verschieden zu sein schienen - die große, goldblonde Bebe mit den üppigen Kurven und die schwarzhaarige, zierliche Wendy, die noch dazu ein paar Zentimeter kleiner war... nur ihre Augen besaßen denselben Farbton, ein warmes, vertrauenerweckendes Braun. Die schwärmerische, modebewusste Cheerleaderin und die kühle, bissige Intellektuelle... so mochte es auf Uneingeweihte wirken, aber Bradley sah die schwesterliche Zuneigung und das tiefe gegenseitige Verständnis in ihren Blicken. Tolle Frauen, jede auf ihre Art. Butters schob ihn weiter und Bebe meinte: „Unser hübscher Neuer würde gut zu unserem Prince Charming passen, findest du nicht? Und Butters mag ihn, das ist deutlich." „Stimmt, sie wären ein süßes Paar. Apropos Paar... war da nicht vorhin die Rede von einem geheimnisvollen Verehrer, hm? Wer ist er?" „Wenn ich das wüsste, wäre er ja kein geheimnisvoller Verehrer mehr, oder?" Sie kramte eine Weile in ihrer Handtasche herum und förderte schließlich einen zusammengefalteten Zettel zutage, den sie heute nach der vorletzten Stunde in ihrem Spind entdeckt hatte. Wendy entfaltete ihn neugierig; es war richtiges weißes Briefpapier mit einem gedruckten Schmuckrahmen aus Blumenranken. Sie las: Könnte der Sonne Glanz ich fangen, Mein Herz bräuchte nicht länger in der Finsternis zu bangen. Sie ist nah und doch zu fern, Schön wie Venus, ein heller Stern. Ich wünsche mir, der Sonne lichten Schein zu spüren, Doch ich darf und werde nie ihr goldnes Haar berühren. ER „Wow, das ist ja unglaublich romantisch! Wer kann dieser ‚Er‘ nur sein? Ich meine, er spricht in diesem Gedicht ja wohl von deinen Haaren, die er mit der Sonne vergleicht! Welcher von unseren Jungs würde so etwas tun? Hast du keinen Verdacht?" „Nun, außer Kyle, Butters, Stan und Token glaube ich nicht, dass irgendeiner von ihnen sich so poetisch ausdrücken könnte... andererseits interessieren sich drei dieser vier Herren nicht für Mädchen und bei Token... Ich weiß nicht, ich glaube, wenn er mir das alles hätte sagen wollen, hätte er es mir direkt gesagt. Wirklich, ich tappe total im Dunkeln. Vielleicht Gregory? Dem würde ich das noch zutrauen." Wendy runzelte die Stirn. Ihre Gefühle für Gregory waren seit jeher zwiespältig. Er gefiel ihr gut genug, um als potentieller Freund durchzugehen, außerdem war er eroberungstechnisch betrachtet eine Herausforderung, das machte ihn zusätzlich interessant. Aber er hatte sich noch nicht vollständig von seiner früheren Arroganz gelöst und seine Art konnte manchmal so dermaßen herablassend sein, dass Wendy ihn am liebsten windelweich geprügelt hätte. Und wenn man nicht aus der Schicht der Oberen Zehntausend stammte, war es praktisch unmöglich, ihn näher kennen zu lernen - Gregory war höflich, aber auch ungemein elitär. Bebe deutete das Schweigen ihrer Freundin korrekt. „Du hast recht... zu unwahrscheinlich. Er ist Engländer, er würde etwas weniger Offensichtliches wählen, etwas, das formell wirkt... eine Einladung zum Tee zum Beispiel. Wer bleibt also übrig?" „Gute Frage. Könnte es nicht dein Ex-Freund sein?" „Paul? Der kann ‚Romantik‘ nicht mal buchstabieren, geschweige denn Gedichte schreiben!" Während Wendy und Bebe noch über den geheimnisvollen Verehrer und dessen Identität rätselten, wurde Bradley den beiden Behinderten vorgestellt, James Valmer und Timothy Burch. Zunächst war er stark verunsichert. Wie sollte er reagieren, wie sollte er sich verhalten? Jimmy bemerkte sein Unbehagen und streckte ihm die Hand hin. Einen winzigen Augenblick lang hatte Bradley die Befürchtung, diese Hand müsse sich irgendwie anders, fremd und unappetitlich anfühlen, aber sein Zögern dauerte nur wenige Sekunden, dann bekam er sich wieder in die Gewalt und packte um so fester zu. Jimmys Hand war warm, groß und kräftig, es war nichts ungewöhnliches an ihr. „Jimmy ist Sportler, er hat sogar an den Special Olympics teilgenommen.", erläuterte Butters gerade. „In seiner Freizeit macht er gerne Gewichtheben, ist aber im Grunde für jede sportliche Tätigkeit zu haben." Das sah man. Seine Arme und sein gesamter Oberkörper waren muskulös und geschmeidig, was er vermutlich nicht nur dem Gewichtheben, sondern auch dem ständigen Gebrauch seiner Krücken verdankte. Die schwachen, unterentwickelten Beine bildeten einen seltsamen Kontrast zu dem durchtrainierten Torso, es war, als hätte jemand zwei Hälften zusammengesteckt, die eigentlich nicht zueinander gehörten. Timmy mit seinem etwas zu großgeratenen Kopf, den weichen Zügen und dem treuherzigen Gesichtsausdruck erinnerte mehr an ein Kind als an einen fast erwachsenen Jugendlichen, das störte jedoch kaum, denn er sah fröhlich und vergnügt aus, man musste ihn einfach gernhaben. Wenn er lachte, achtete man wie bei seinem Freund nur auf die Augen und vergaß alles andere. Jimmy war ein brünetter Typ, Timmy hatte rötliches Haar und blaue Augen. Er musterte Bradley genau und gestikulierte mit seinen Händen. „Er s-s-sagt, dass du v-v-vornehm aussiehst", dolmetschte Jimmy lächelnd, „und dass der Smo-Smoking dir gut steht. Er findet... dass du prima... nicht s-s-so schnell, Tim-Tim, nochmal... ah, er f-f-findet, dass du prima zu Butters pa-passen würdest!" Bradley lief knallrot an und wisperte ein „Danke schön", Butters zwirbelte verlegen seine Haare und starrte hochkonzentriert auf das Teppichmuster zu seinen Füßen. »Was ist bloß los? Ist es wirklich so offensichtlich, dass er mir gefällt? Dabei hat er mit meinem ersten und bisher einzigen Schwarm gar nichts gemein... fast nichts. Trotzdem... er... er bezaubert mich, ja. Er ist süß und liebenswert und... oh!« Der junge Tänzer verspürte eine innere Erschütterung, als Bradleys wunderschöne Augen unerwartet auf die seinen trafen. Seine Wangen hatten sich erhitzt, die langen Finger an seinen grazilen Künstlerhänden nestelten nervös an seiner Krawatte und er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, was sie feucht und glänzend zurückließ. »...Oh ...oh Gott...!« Butters wandte den Blick ab. »Ich habe... ich habe noch nie solche Lippen gesehen...Lippen, die förmlich danach schreien, geküsst zu werden... Ist er sich überhaupt bewusst, wie verführerisch er in diesem Moment wirkt?« „Butters? Ist... ist alles in Ordnung? Was hast du?" »Anscheinend nicht.« Er räusperte sich, da er der Festigkeit seiner Stimme nicht recht traute, als Kyle mit einem Mal wieder im Zimmer stand und auf das Geburtstagskind zusteuerte. Sein abruptes Auftauchen als solches gab keinen Anlass zur Verwunderung, schließlich war klar gewesen, dass er nach seinem Streit mit Cartman zur Party zurückkehren würde, aber seine gehetzte Miene verriet den Tumult in ihm. „Kann ich bitte allein mit dir sprechen, Leo?", bat er im Flüsterton und bei Butters begannen sämtliche Alarmglocken zu schrillen. Leo. Es hatte sich unter den Jungen und Mädchen seiner Clique eingebürgert, ihn normalerweise mit seinem Spitznamen anzureden, wenn alles „in Butter" war (= Butters), galt es jedoch, etwas Ernstes oder Außergewöhnliches zu behandeln, pflegte man ihn mit der Abkürzung seines eigentlichen Vornamens, Leopold, anzusprechen. Wenn jemand „Leo" sagte, wurde es kritisch. „Selbstverständlich, Kyle. Komm mit." Sie zogen sich in das Zimmer des Blonden zurück. Das Bett mit pinkfarbener Hello Kitty-Bettwäsche befand sich an der Wand neben dem Fenster, zwei Regale aus weißem Holz schlossen sich an, die mit Büchern, Tanzpreisen oder Plüschtieren vollgestellt waren. Auf der gegenüberliegenden Seite reihten sich ein großer Schrank mit vier verspiegelten Türen, der Schreibtisch und eine Art Toilettentisch aneinander, der einen zusätzlichen Spiegel aufwies, außerdem stand ein mit türkisfarbenem Rüschenstoff bezogener Hocker davor. In den Schubladen des Tischchens verstaute Butters seinen Schmuck, oben drauf bildeten diverse Duftwässerchen, eine Tube Handcreme und eine Dose Gesichtspuder ein interessantes Stilleben. Der Boden war mit Teppich in Altrosa ausgelegt. Kyle war gern hier, der Raum atmete in jedem Winkel Butters‘ bewunderungswürdige Einstellung: Ich bin, wer ich bin und mir gefällt, was mir gefällt - und wem es nicht gefällt, der kann mir den Buckel runterrutschen. Er war immer schon ein bisschen anders gewesen... und Kyle dachte mit einem Anflug von Neid, dass Butters es immer irgendwie fertiggebracht hatte, zu seinem „Anderssein" zu stehen und seinen eigenen Weg zu gehen. Das verlangte einen starken und einsichtigen Charakter. Es war kein Wunder, dass es ihm schließlich gelungen war, sich bis an die Spitze der Teenie-Hierarchie in South Park hochzuarbeiten. Wäre er einfach nur der klassische langweilige Schönling gewesen, hätte er kaum so viele Verehrer zu fesseln vermocht, es war vor allem Butters‘ in sich gefestigtes, unerwartet stählernes Naturell, das sich unter der Maske eines Engels verbarg und seine Umgebung so sehr faszinierte. Kyle wurde in den Schreibtischstuhl dirigiert, der Märchenprinz nahm auf dem Rüschenhocker Platz und schlug die makellosen Beine übereinander. „Was ist passiert?" „Äh... Cartman ist nach Hause gegangen, er fühlte sich nicht wohl..." Eine der perfekt geschwungenen Brauen wanderte bedeutungsvoll in die Höhe, als Leo Kyles Lippen näher betrachtete, die von den Bissen des aggressiven Kusses geschwollen waren. „Was auf euren Streit zurückzuführen ist, wie ich vermute. Aber das war es sicher nicht, was du mir sagen wolltest. Ich wiederhole die Frage: Was ist passiert?" „Cartman... er hat... er sagte, dass er... dass er..." Er konnte nicht weitersprechen, blutrotes Feuer kroch über sein ganzes Gesicht und veranlasste ihn, es mit den Händen zu bedecken. Erst jetzt wurde ihm das Ausmaß dessen, was er gehört hatte, wirklich bewusst. „...Er... er sagte..." „Er sagte, dass er dich liebt?" „...Woher weißt du das...!?!" „Es hat genügt, dich anzusehen, um es zu erraten. Außerdem war es naheliegend." »Was zum Teufel ist daran naheliegend!?!« „Schau mich nicht so entgeistert an, Süßer. Überrascht dich das tatsächlich?" „Natürlich, wir reden hier von CARTMAN!!! Und mich überrascht, dass es dich offensichtlich kein bisschen überrascht!!" Jetzt wurde Leo sehr ernst. „Kyle. Mädchen und Jungen finden sich bis zu einem gewissen Alter meistens nur... doof. Wenn dann ein kleiner Junge ein Mädchen gernhat, ärgert er sie in der Regel, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Er versteht diese Art von Gefühlen noch nicht und kann sie nicht richtig ausdrücken. Ein Phänomen, das übrigens auch bei älteren Streithähnen zu beobachten ist." „...Willst du etwa andeuten, dass Cartman nur deshalb mit mir gestritten hat, weil er meine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte? Das ist lächerlich!" „Durchaus nicht. Eric versteht herzlich wenig davon, jemandem den Hof zu machen. Er ist kein Kavalier, nicht einmal ein Playboy, er ist Rambo. Das ist aber leider eine Mentalität, die sich nicht gut mit romantischer Liebe verträgt. Er hat nie gelernt, seinen Gefühlen angemessen Ausdruck zu verleihen." „Aber... aber du hättest ihn hören sollen! Er sprach so offen, so... so schonungslos! Ich habe Cartman nie zuvor so erlebt! Stell dir vor, er hat sogar behauptet, dass er meiner Familie und mir damals während des Snobsturms das Leben gerettet hätte! Kannst du das fassen?!" „Das ist wahr." Kyle hielt inne wie paralysiert und glotzte seinen Gegenüber an, als hätte er sich plötzlich in ein exotisches Tier verwandelt. Eine eigenartige Beklemmung überkam ihn, sein Körper verkrampfte sich vollständig. „Was... was hast du da gerade...?" „Ich sagte: Das ist wahr. Eric war in San Francisco und hat deine Familie und dich gerettet. Ich war dabei, ich kann es bezeugen. Eigentlich hat er mir verboten, dir jemals davon zu erzählen, aber nachdem er es nun selbst getan hat..." »Es... es ist wahr?! ES IST WAHR!?! Cartman hat... Cartman hat mir das Leben gerettet! Und nicht nur mir, sondern auch meinem Bruder, meinen Eltern... Aber das...das ist doch verrückt! Ich kann nicht glauben, dass er zu so einer mutigen Tat fähig ist! Ich will es nicht glauben!« „Das ist gelogen!!", hörte er sich schreien; die Luft wurde ihm knapp, er musste nach Atem ringen, seine Schläfen waren feucht von Schweiß. „Unsinn, warum sollte ich lügen?", rügte ihn Leo leicht gereizt. „Weshalb sträubst du dich bloß so dagegen? Bist nicht du derjenige, der ihm immer wieder eine zweite Chance gegeben hat, obwohl du wusstest, dass er sie nicht nutzen würde? Denkst du nicht, dass es an der Zeit ist, dir einzugestehen, dass da noch etwas anderes ist als Hass?" „Nein", erwiderte Kyle störrisch. „Ich hasse ihn... ich hasse ihn!" „Was ist dann mit eurem Höhlenabenteuer, als Al Gore versuchte, das Mannbärschwein zu finden? Stanley hat mir davon erzählt; die Höhle wurde überflutet und Eric drohte unterzugehen. Du hast ihn über Wasser gehalten und wärst durch sein Gewicht fast selbst hinuntergezogen worden. Auch du hast ihm das Leben gerettet. Wieso, wenn du ihn doch so sehr hasst?" „Es war das richtige! Er... er brauchte meine Hilfe! Ich wäre keinen Deut besser als er, wenn ich ihn hätte ertrinken lassen!" „Keinen Deut besser als er? Also darum geht es dir? Soso. Und was war mit Somalia?" „Somalia...? Was hat Somalia damit zu tun?" „Eric wollte Pirat werden und zu diesem Zweck nach Somalia reisen. Und du hast ihn ermuntert, ihn darin bestärkt, nicht wahr?" „Na ja, schon... aber ich verstehe nicht, was das..." „Warum hast du das getan?" „Warum? Um ihn endlich loszuwerden, natürlich! Ich wollte ein normales Leben, ein Leben ohne ihn und seine ständigen Anfeindungen!" Leos Augen glichen zwei lupenreinen, harten blauen Diamanten, als er den Rothaarigen fixierte. „Du wusstest sehr genau, was Somalia für ein gefährliches Land ist... und du hast ihn trotzdem hingeschickt. Eric begriff nicht, welcher Gefahr er sich ausgesetzt hatte, er bildete sich die ganze Zeit über ein, die Situation zu beherrschen... aber er hätte dort getötet werden können, Kyle. Ich auch, denn ich war dabei, genau wie Clyde und Kevin Stoley. Du hättest, nur um Eric loszuwerden, in Kauf genommen, dass wir ebenfalls sterben, ist es nicht so?" „WAS!? Nein, niemals!! Ich bin euch doch gefolgt!" „Ja, nachdem du erfahren hattest, dass dein kleiner Bruder mit von der Partie war. Aber es hat dich nicht gekümmert, dass Stoley, Clyde und ich dort waren." „Ich hatte keine Ahnung, dass...!" „Aha? Du hattest keine Ahnung? Kyle, willst du mir allen Ernstes weismachen, dass dir nicht klar war, dass Eric sich eine Mannschaft anheuern würde? Ein Kapitän ohne Crew? Niemand, den er herumkommandieren kann? Ich bitte dich!" „...Ich... ich gebe zu, das habe ich nicht bedacht..." „Nicht bedacht!?!", donnerte Leo und Kyle zuckte zusammen. „Du hast nicht bedacht, dass du außer Eric vielleicht noch jemandem damit schaden könntest?! Du wolltest deine Nemesis loswerden - und du hast nicht bedacht, wen du dabei noch in den möglichen Tod schickst?! Gestatte mir eine Frage: Wenn Ike nicht bei uns gewesen wäre... wärst du dann gekommen?" „..." Kyle konnte ihm nicht antworten. Er hatte sich in regelrechte Selbstzerfleischungen hineingesteigert, weil er seinen Bruder dieser schrecklichen Gefahr ausgesetzt hatte, aber die anderen... die anderen waren ihm egal gewesen, ja. Und danach hatte er die Sache mit Somalia einfach verdrängt. Warum? Im Bezug auf Ike hatte er sich verzeihen können, denn er war ihm gefolgt, um ihn zu retten, doch er war sich sicher, dass er diesen Schritt weder für Clyde und Stoley, noch für Butters gewagt hätte. Deshalb hatte er diese Geschichte in den Tiefen seines Gedächtnisses vergraben... er wollte nicht daran erinnert werden, dass er fähig war, so zu sein. Skrupellos. Gleichgültig. Die Jungs hätten dort sterben können. Bei Cartman hätte er das sogar begrüßt... und beim Rest? Nein, an den Rest hatte er nicht gedacht, der hatte ihn nicht interessiert. Er war dumm gewesen. Herzlos. Grausam. „Keine Antwort? Das ist auch eine Antwort." Leo seufzte. „Was hättest du getan, wenn Eric in Somalia ums Leben gekommen wäre?" „...Ich... ich hätte mich... gefreut, glaube ich." Kyle unterdrückte ein Würgen; er war entsetzt, dass dieser Satz der Wahrheit entsprach. Ja, er hätte sich gefreut. Er hatte Cartman zu der Reise gedrängt, in der Hoffnung, dass er sterben würde. „Ein echtes Cartman-Manöver, Kyle... begangen aus purem Egoismus, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wer sonst noch dabei unter die Räder geraten könnte...Keine Skrupel, keine Gewissensbisse... das einzige, was zählte, das einzige, was zu diesem Zeitpunkt wichtig war, war dein persönlicher Vorteil. Du hast es in dir, ohne Zweifel." „Leo..." „Jetzt bereust du es, das ist gut und wünschenswert. Aber das gibt dir nicht das Recht, Eric seinen Egoismus, seinen Hang zur Grausamkeit oder seine mangelnden Skrupel vorzuwerfen - denn du warst auch egoistisch, du warst auch grausam, du warst auch skrupellos. Natürlich, mit dem Ausmaß von Erics Boshaftigkeit ist das nur bedingt zu vergleichen; nichtsdestotrotz beweist es, dass du dazu fähig bist, ein selbstsüchtiges Arschloch zu sein... ebenso, wie die Sache mit San Francisco beweist, dass Eric ein selbstloser Held sein kann. Außerdem darf man nicht vergessen, dass euch unterschiedliche Lebensumstände geformt und geprägt haben. Du bist in Wärme und Liebe aufgewachsen, Eric in Kälte und Einsamkeit." Sein Gegenüber runzelte unweigerlich die Stirn. „Willst du jetzt die Karte ‚unglückliche Kindheit‘ ausspielen, oder was? Cartman ging es doch immer super! Seine Mutter hat ihn von hinten bis vorne verwöhnt; cooles Spielzeug, jede Menge Süßigkeiten und Fast Food, teure Kleidung, er brauchte nur mit dem Finger zu schnippen und bekam alles, was er wollte! Er hat seine Mutter genauso manipuliert und mies behandelt wie jeden von uns!" In derselben Sekunde, da diese Worte seinen Mund verließen, erinnerte er sich an das, was Cartman ihm vor wenigen Minuten erst anvertraut hatte: „Aber als ich älter wurde, fing ich an, zu begreifen, dass Spielzeug nur eine Möglichkeit für meine Mutter war, mich zufriedenzustellen, wenn sie was verbockt hatte ...wenn sie nicht da war, wenn sie sich herumtrieb, wenn sie mich allein ließ ...Auf diese Weise konnte sie ihr schlechtes Gewissen beruhigen, genau wie mit dem Essen. Ich konnte mich nicht beklagen, wenn ich was zu futtern hatte, ich war glücklich, wenn ich aß, weil es mich ablenkte." „Eric hatte eine unglückliche Kindheit, auch wenn das auf einen Außenstehenden nicht immer so gewirkt haben mag. Es ist zynisch, diese Tatsache zu verspotten, Kyle, und Zynismus steht dir nicht. Mrs. Cartman arbeitet als Prostituierte, sie ist drogenabhängig und Alkoholikerin. In ihren klaren Momenten kann sie sehr nett und fürsorglich sein, doch die sind inzwischen noch seltener als früher. Sie ist kein schlechter Mensch, aber sie ist eine schlechte Mutter. Hast du je darüber nachgedacht, wie es ist, mit so jemandem zusammenzuleben? Wahrscheinlich nicht. Dabei kennst du ihn doch schon... wie lange?" „...Nächsten Sommer werden es fünfzehn Jahre." „Und was weißt du über ihn?" „Ich weiß das, was ich wissen muss!" Leo verdrehte die Augen, seine Ungeduld angesichts Kyles Starrsinn wuchs. Was seinen Dickkopf anbelangte, machte er Eric ernsthaft Konkurrenz. „Ist das so? Und was genau verstehst du unter dem, was du wissen musst? Dass er Juden hasst? Dass er der Sohn einer Hure ist? Dass er mal fett war? Dass er Katzen gern hat? Wenn das nach fast fünfzehn Jahren alles ist, was du über ihn weißt, kannst du mir nur leid tun." „Es ist genug, meinst du nicht!?" „...Du bist genauso stur wie Eric, weißt du das?" „Das stimmt nicht!", stieß Kyle unwillig hervor. „Cartman und ich haben nichts miteinander gemein! Nichts, hast du kapiert?!" „Ah, als würde man gegen eine Wand anrennen...!" Der Blondschopf erhob sich, spazierte eine Weile unschlüssig auf und ab und blieb dann, seinem Freund den Rücken zugewandt, vor dem Fenster stehen. Seine nächsten Worte schien er mehr zu sich selbst zu sagen als zu Kyle. „Ich möchte dir ein Geheimnis verraten. Eric... Eric war... er war meine erste Liebe." „..." „Wie, keine Reaktion?" „WILLST DU MICH VERARSCHEN?!?!" Der Ältere war aufgesprungen, sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Entsetzen und Abscheu. Er war zutiefst schockiert, so schockiert, dass Leo lachen musste, als er sich umdrehte und den Ausdruck gewahrte. „Warum so echauffiert, Kyle? Ist der Gedanke, dass jemand romantische Gefühle für ihn hegen könnte, so furchtbar absurd?" „JA!!!" „Wie enttäuschend, dass du das so siehst. Ich habe ihn schon in der Grundschule gerngehabt. Sicher, er war fies zu mir und hat mich die meiste Zeit ausgenutzt, und manchmal war ich sehr wütend auf ihn, aber trotzdem konnte ich ihn nicht hassen. Statt dessen habe ich mich immer gefragt, warum er so war, wie er nun mal war... und in meiner kindlichen Vorstellung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass seine Mutter wie die böse Hexe aus dem Märchen ist - nett und freundlich nach außen, doch in Wirklichkeit unfähig, ihrem Sohn etwas Gutes zu tun. Und später begriff ich, dass das tatsächlich irgendwie zutraf, denn sie hat ihn zu völlig falschen Prinzipien erzogen. Eltern helfen ihrem Kind nicht, wenn sie es zur sehr verwöhnen, wenn sie ihm keine Grenzen setzen und ihm nicht beibringen, sich an Regeln zu halten. Es mit der Strenge und den Verboten zu übertreiben wie mein... mein ‚Vater‘, der mir bei jeder noch so dummen Kleinigkeit Hausarrest aufgebrummt hat, ist natürlich auch nicht der richtige Weg. Aber vielleicht konnte ich wegen meiner eigenen Probleme Eric besser verstehen. Ich fühlte mich oft einsam und alleingelassen... und bei Eric war es ähnlich, auch wenn er anders damit fertigzuwerden versuchte. Es tat mir weh, ihn gernzuhaben, weil er sich sosehr dagegen wehrte und böse und ablehnend wurde. Trotzdem konnte ich ihn nicht aufgeben... und als ich dann seine Gefühle für dich bemerkte... war ich sehr unglücklich... Und nein, das hatte nichts mit Eifersucht zu tun, Kyle, sondern damit, dass seine... seine Liebe zu dir... ihn sehr unglücklich gemacht hat. Niemand hat es verdient, so unglücklich zu sein." „...Du... du wusstest, was er... für mich empfindet? Hat er es dir gesagt?" „Das brauchte er mir nicht zu sagen, das war offensichtlich. Die Art, wie seine Augen leuchten, wenn er mit dir streitet, diese subtile Bewunderung, die sich in seinem Lächeln und seinen Blicken ausdrückt, wenn du ihm selbstbewusst die Stirn bietest, seine maßlose Begeisterung dafür, dich ständig zu reizen und herauszufordern... Menschen, die Eric nicht mag, lässt er links liegen, die sind ihm gleichgültig. Menschen, die ihm wichtig sind... nun ja, mit denen zankt er. Er kann nicht anders, das ist seine Art, Zuneigung zu zeigen. Er hat eine kleine Schwäche für mich und neben Kenny und Stan zähle auch ich zu seinen besten Freunden. Deshalb wirft er ihnen und mir gerne Beleidigungen an den Kopf, um zu demonstrieren, dass wir seiner Aufmerksamkeit wert sind. Die anderen, wie zum Beispiel Craig, Tweek, Token oder Clyde, ignoriert er für gewöhnlich. Wendy attackiert er hingegen häufiger, er muss also eine hohe Meinung von ihr haben. Schau mich nicht so ungläubig an, ich weiß selbst, dass sich das verdreht und widersprüchlich anhört - aber schließlich sprechen wir hier von Eric Cartman, nicht wahr? Nun, da er dir seine Gefühle gestanden hat, solltest du ihm eine Chance geben." „Ich will nicht!!!" „Warum nicht? Ich verlange ja nicht von dir, dass du ihn in romantischer Hinsicht in Betracht ziehst, das wäre übertrieben. Aber was hindert dich, ihn als Freund besser kennen zu lernen? An ihm ist mehr dran, als das Auge sieht. Er könnte dich überraschen." Kyle wand sich. Er wusste, dass er nicht einfach so tun konnte, als hätte Cartmans Geständnis nie stattgefunden, aber er wusste auch, dass es das, was zwischen ihnen war, beeinflussen würde, und er fühlte sich dem nicht gewachsen. Es war viel leichter, Cartman weiter zu hassen. Er wollte nichts über den Menschen hinter der Maske wissen. „Das ist es also, was du mir rätst?", murmelte er zweifelnd. „Ich... ich weiß nicht, ob ich das kann... Ich meine, ich schäme mich, dass ich seine Gefühle nie bemerkt habe und es tut mir irgendwie auch leid... aber das ändert nichts daran, dass ich ihn nicht ausstehen kann. Ich... ich verachte ihn! Wie könnte ich mich je richtig mit ihm befreunden?" „Lass es auf den Versuch ankommen." Im Wohnzimmer hatte man trotz der Abwesenheit des Geburtstagskindes weitergefeiert. Als Butters zusammen mit Kyle wieder die Szene betrat, schlängelten sich Stan und Kenny zu ihnen durch und begannen, die beiden auszufragen. „Was ist passiert? Wo ist Cartman?" „Seid ihr euch an die Gurgel gegangen? Lebt er noch?" „Was hattest du mit Butters zu besprechen? Warum hast du nicht mit mir geredet?" „Hat Eric sich verpisst, oder was? Sag schon, was ist zwischen euch gelaufen?" Kyle schwieg. „Jetzt mach den Mund auf, Kumpel! So schlimm kann es doch nicht gewesen sein!" „Stan, bitte..." „Wenn ich mich mal einmischen darf, ihr Süßen", unterbrach der Märchenprinz mit sanftem Augenaufschlag, „Kyle wird sich euch anvertrauen, wenn er es für angebracht hält. Und jetzt entschuldigt mich bitte, ich muss Tweek an seine Cocktails erinnern." „Warum hältst du es jetzt nicht für angebracht, Kyle?", erkundigte sich Kenny etwas gereizt. „Immerhin hat sich mein bester Freund gerade verdrückt. Was hast du zu ihm gesagt?" „Es hat weniger mit dem zu tun, was ich gesagt habe, als mit dem, was er gesagt hat...aber ich möchte das jetzt nicht näher erklären. Ich... ich muss nachdenken." Mit dieser blassen Entschuldigung zog er sich in die Fensternische zurück, hockte sich auf eines der großen Kissen und starrte in die Dunkelheit hinaus. Stan und Kenny tauschten einen verunsicherten, besorgten Blick, fügten sich jedoch. „Wenn er nicht reden will, bleibt es dabei. Lassen wir ihn in Ruhe... Magst du ein Stück Kuchen?" „Was, nur eines?", antwortete Kenny in gespielter Entrüstung. „Klar, sofort! Mit viel Sahne!" Stanley eilte ans Buffet und stellte fest, dass Clydes Meisterwerk von einer Torte schon zu drei Vierteln verspeist war, jedenfalls die untere Etage der zweistöckigen Kalorienbombe. Er angelte für Kenny ein Stück aus dem Kuchen der ersten Etage, der deutlich größer war als derjenige der zweiten Etage. Er selbst begnügte sich mit der kleineren Variante und verzierte beide Teller noch mit einem beachtlichen Schwung Sahne. Dann balancierte er seine Schätze zurück zu dem Blonden, der sich in eine der Knutschecken verkrümelt hatte. „Du willst mit mir aber nur Kuchen essen, oder?", fragte Stan in bemüht lockerem Ton, ein klein wenig beunruhigt ob der Platzwahl. „Hm... und was, wenn nicht?", erwiderte Kenny mit suggestivem Grinsen. „In dem Fall würde ich sagen, dass ich vom größten Playboy von South Park etwas weniger Plumpes erwartet hätte", entgegnete der Schwarzhaarige schlagfertig, setzte sich neben seinen verblüfften Freund und reichte ihm den Kuchen. „Oho... so ist das, ja? Ah, ich liebe es, wenn du die Zähne zeigst, Stan." Der andere wurde ein bisschen rot und wechselte das Thema. „Du... bist mir doch nicht böse?" „Hä? Du meinst, wegen vorhin? Red‘ keinen Scheiß, Alter, du machst dir schließlich bloß Sorgen um mich... und immerhin, es war eine ganze Menge Wahrheit in deinen Worten. Ich dachte bisher, nur Karen könnte mich so sezieren, aber du hast‘s auch drauf, scheint‘s." „Und du ärgerst dich darüber, scheint‘s." „Nein, es ist nur... ungewohnt. Vergessen wir‘s, okay? Sprechen wir lieber über angenehmere Dinge... zum Beispiel meinen Nebenjob!" „Du hast einen Nebenjob? Ehrlich? Warum hast du das nicht schon früher erzählt?" „Weil ich es erst seit heute morgen weiß, da hat man mich angerufen. Ich war nämlich gar nicht sicher, ob ich den Job überhaupt kriegen würde - Vorurteile gegen Ghettokids und so, dass ich ‘n verkappter Drogendealer bin oder alles klaue, was nicht niet- und nagelfest ist... bla bla, das übliche. Aber der Chef von dem Laden wollte mir ‘ne Chance geben und jetzt habe ich einen Job, mit dem ich selbst Geld verdienen kann! Klar, reich werde ich davon nicht, aber es is‘ schon ‘n tolles Gefühl, eigenen Zaster in Aussicht zu haben!" „Ich gratuliere dir, Kenny, das freut mich sehr für dich! Und wo genau wirst du arbeiten?" „Der Laden ist neu, hat erst vor ein paar Tagen eröffnet. Nennt sich Cream‘N‘Fruit und ist im Grunde sowas wie eine riesige Eisdiele... fünfzig verschiedene Sorten, Becher, Gläser und Waffeln in unterschiedlichen Größen, Soßen, Früchte, Nüsse, Raspel, Joghurt, kannst du alles dazu haben, zum Mitnehmen oder vor Ort essen. Sie haben auch Milchshakes, Smoothies, Eistorten, Obstkuchen und Obstsalate. Ich werde dort Kellner sein." „Nicht ihre Werbeabteilung? So, wie du mir gerade den Mund wässrig gemacht hast... hingehen werde ich bestimmt! Teuer?" „Nö, gar nicht. Mannschaftsportionen, die für zwölf Leute reichen oder der Spezialbecher der Woche kosten etwas mehr, aber das ist schon in Ordnung so. Hoffentlich sind meine Kollegen so nett wie mein Chef... Ich fange nächsten Montag an und hab irgendwie mächtig Schiss..." Stan lächelte aufmunternd. „Kann ich verstehen, bei meinem ersten Tag im Videoverleih war ich auch schrecklich nervös. Aber sobald man weiß, wie alles läuft, bekommt man schnell Routine. Du wirst das schaffen, garantiert!" „...Danke, Kumpel." Zur selben Zeit kam Tweek seiner Aufgabe als Cocktailmixer nach. Er hatte sich in der Küche der Familie Stotch mehr oder weniger häuslich eingerichtet und vollführte geschickte, manchmal sogar artistische Manöver mit seinen Utensilien. Sein Großvater war in seiner Jugend professioneller Barkeeper gewesen und hatte seinem schüchternen Enkel-auf-Besuch immer mal wieder einige seiner Tricks gezeigt, bis Tweek alt genug war, um sie zu lernen. Und der stolze Herr Großpapa hatte bald erkannt, dass sein Enkel ein Talent dafür besaß, und vor allem hatte Tweek dabei zum ersten Mal gemerkt, dass er, der tollpatschige, scheue, verängstigte Junge, eine Sache richtig gut konnte. Er präsentierte sein Können auch gern im Geschäft seiner Eltern, wo er zwar keine Cocktails, aber doch die hauseigenen Kaffeekreationen mixte und manch einer kam nur vorbei, um ihm zuzusehen. In diesen Momenten war er ruhig und selbstsicher, denn niemand konnte ihm etwas anhaben, wenn er hinter dem Tresen stand. „Oh, toll!" Butters klatschte begeistert in die Hände, als der andere drei Flaschen hochwirbelte und sie lässig wieder auffing, die Arme dabei überkreuzt, zwei links, eine rechts. Tweeks blasse Wangen verfärbten sich; insgeheim genoss er die Bewunderung in Butters‘ Augen, er fühlte sich sehr geschmeichelt, da er ansonsten keine hohe Meinung von sich selbst hatte. „Danke schön... äh, Butters...? Ich meine... also, ich wollte... ich... ich..." Seine Hände fingen an zu zittern, er spürte, wie ein nervöser Anfall in ihm hinaufkroch. Er stockte, stellte die Flaschen vorsichtshalber ab und wiederholte: „Ich... ich wollte... ich..." Butters trat zu ihm und legte behutsam seine Arme um die Schultern des Kleineren, dessen Zittern daraufhin etwas nachließ. „Was ist?", fragte er sanft. „...Wie... wie macht man es, dass... dass sich ein Junge für einen interessiert?" „Oh?" Damit hatte er nun nicht gerechnet. „Tja, schwer zu sagen. Das kommt auf den jeweiligen Jungen an, schätze ich... Es handelt sich um Craig, nehme ich an?" „GAH!!! Woher... wie hast du...!?! Nein, nein, das stimmt nicht... ich meine, es stimmt schon, aber es ist nicht so...! Ah, nein, ich wollte sagen... D-D-Druck! Zu viel Druck!!" Er fuchtelte mit den Armen, befreite sich aus Butters‘ Griff und sprang durch die Küche wie ein aufgescheuchtes Huhn. Nach etwa zehn Minuten hatte er sich müdegezappelt und schob sich wie ein Häuflein Elend auf den nächstbesten Stuhl. „Ich... ich bin eine Katastrophe..." Er unterdrückte ein Schluchzen. Butters öffnete den Kühlschrank, holte eine Tafel Kaffeeschokolade heraus und hielt sie dem schniefenden Tweek unter die Nase. Der andere blinzelte, lächelte ein bisschen, wickelte das Papier ab und biss herzhaft in die Schokolade. „Also, wenn du eine Katastrophe bist, dann jedenfalls die niedlichste Katastrophe, die ich je gesehen habe... und an deinem Tick sind deine Eltern schuld, das ist klar. Kaffee ist ihre Leidenschaft, schön und gut, aber dich deswegen von Kindesbeinen an damit abzufüllen, das geht doch zu weit. Du hast kein ADHS, du hast einen Koffeinüberschuss." „Ich weiß", nuschelte Tweek zwischen zwei Bissen, „Und ich habe auch schon versucht, von dem Zeug runterzukommen, aber auf Dauer kriege ich es nicht hin. Ich kriege nie irgendwas hin... kein Wunder, dass Craig mich nicht mag." „Und wer sagt, dass Craig dich nicht mag?" „Niemand. Aber es ist so. Er ist so cool und selbstsicher, so ruhig und unerschütterlich - sofern du ihn nicht gerade aufziehst - und nichts berührt ihn. Was sollte er da mit einem paranoiden Feigling wie mir anfangen? Wenn er da ist, habe ich viel weniger Angst als sonst, ich fühle mich sicherer und traue mir mehr zu. Ich bewundere seine stoische Gelassenheit und seine Selbstdisziplin... er ist wie ein Fels in der Brandung. Ich wünschte, ich könnte so stark sein." Butters verkniff sich eine Bemerkung. Er hielt Craig nicht für stark, sondern nur für verbittert. Seine zahllosen erbarmungswürdigen Versuche, hetero zu erscheinen, konnte man lediglich als eine peinliche Scharade bezeichnen. Anstatt sich so zu akzeptieren, wie er eben war, ignorierte er seine wahre Neigung und sperrte sie genauso weg wie seine übrigen Gefühle. Er hatte schlicht und einfach nicht genug Mumm, sich damit auseinanderzusetzen, während Tweek vergleichsweise schnell mit sich selbst ins Reine gekommen war, nachdem er sein Interesse für Jungs entdeckt hatte. Er hatte auch keine Hemmungen, seine Gefühle offen zu zeigen. Innerlich war er sehr viel stärker als Craig, obwohl er es nicht wusste. Sich nach außen eine coole Fassade zu komponieren, das war keine Kunst. Entscheidend war, wie es darunter aussah. „Nun, zugegeben, es ist ziemlich schwierig, dahinter zu steigen, wen Craig mag oder nicht, weil er alle mehr oder weniger gleich behandelt. Aber zu dir ist er oft überraschend nett - daher denke ich, dass er dich sehr wohl gernhat." „Glaubst du wirklich?" Tweeks Stimme klang wie Weihnachtsglocken. „Ja. Er hilft dir, wenn du in deiner Eile irgendwas verloren hast, er begleitet dich zu den Kursen, auch zu denen, die ihr nicht zusammen habt, er isst immer an deinem Tisch, hält Rowdys von dir fern und tritt notfalls auf den Kaffeeautomaten ein, wenn der mal wieder nicht so funktioniert wie er soll. Das ist eine Form von Beachtung, die er für kaum jemanden aufbringt. Du brauchst dich also nicht zu fragen, wie du sein Interesse wecken könntest, du hast es bereits. Und nun, mein Freund... darf ich dich bitten, mit den Cocktails weiterzumachen?" „Was für Cocktails? Ach so, die Cocktails...!" Aufgeheitert und getröstet, mit neuem Enthusiasmus die Schokolade kauend, stürzte sich Tweek in die Zubereitung der von Butters ausgewählten Cocktails: Sex on the beach und Coconut Kiss, seine beiden Favoriten. Der Märchenprinz verließ ihn mit einem Lächeln und stolperte fast über Bradley, der neben der Küchentür herumgelungert hatte. „Butters...ich wollte fragen, ob du dir jetzt dein Ständchen aussuchen möchtest. Ich habe klassische und moderne Sachen. Hier sind die Noten." Der Blondschopf blätterte durch das Angebot und hielt plötzlich inne. Seine Augen wurden groß. „Das ‚Schwanensee Ballett‘? Du magst Ballett?" „Ja, die Musik und das Tanzen. Ich bewundere es, wie die Tänzerinnen und Tänzer über die Bühne schweben und es so leichtfüßig aussehen lassen, obwohl es harte Arbeit ist." „Wow, das ist... also, das freut mich sehr. Ich selbst bin Ballerino, weißt du." „Wirklich?! Du bist Tänzer?" „Mit sechs habe ich mit dem Stepptanzen angefangen, mit zehn kam das Ballett und mit dreizehn der erste Tanzkurs für das klassische und lateinamerikanische Repertoire." Bradley war sprachlos. Mit einem Mal sah er Butters vor sich, auf einer prachtvollen Bühne im Scheinwerferlicht, seine anmutige, schlanke Gestalt gewandet in ein eng anliegendes, kostbares Kostüm, seine Bewegungen elegant und kraftvoll. Er musste den Atem anhalten bei dieser Vorstellung und fühlte sich erröten. „Würdest du ‚Schwanensee‘ für mich spielen?" „Natürlich!" Bradley traf seine Vorbereitungen, während Butters ihn ankündigte. Einige wenige, unter ihnen Craig und Damien, hatten keine Lust, sich die „langweilige Scheiße" (O-Ton Damien) anzutun, was dem Sohn Satans eine Kopfnuss von Pip und Craig zwei tödliche Blicke von Clyde und Token eintrug. Kenny wollte ebenfalls nicht, aber da Stan zumindest neugierig schien, es sich anzuhören, sagte er nichts. Das Geburtstagskind nahm direkt vor Bradley auf dem Sofa Platz und betrachtete ihn erwartungsvoll. Er setzte die Geige an und begann zu spielen. ~~ *** ~~ Kyle in seiner Ecke spitzte die Ohren, als die ersten zarten Töne erklangen. Vor seinem inneren Auge rollte noch einmal die Szene mit Cartman ab, seine Worte, seine Gesten, seine Blicke, und, oh, seine Küsse. Er berührte seinen Mund und erschauerte jäh, als er sich an die Hitze und die Erregung erinnerte, die er empfunden hatte - auch in dem Moment, da er so roh und rücksichtslos geküsst worden war, denn mehr noch als seine Worte war dieser verzweifelte, zornige Kuss ein Beweis für den Kampf, der seit Jahren in Cartman toben musste. »...Ich habe nie etwas bemerkt... nie. Ich habe niemals etwas anderes in ihm gesehen als meinen Feind... also habe ich mir eigentlich nichts vorzuwerfen. Aber Butters hat es begriffen, und zwar sofort. Er scheint Cartman so viel besser zu kennen als ich... Hätte das Gesicht, das Cartman mir heute abend zeigte, ihn besonders überrascht? Nein, vermutlich nicht. Ich frage mich, ob Kenny Bescheid weiß, als sein bester Freund? Und was soll ich jetzt tun? Ich kann das Geständnis nicht einfach ignorieren... aber mich mit Cartman... anfreunden? Bah, allein der Gedanke...!« Kyle hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Er lauschte der Musik und ihm fiel ein, dass er Cartman tatsächlich immer wieder eine zweite Chance gegeben hatte, was er auch verbrochen haben mochte. Warum nur? Der Mistkerl hatte ihn immer wieder enttäuscht...hatte nie etwas angefangen mit seiner zweiten Chance... und dennoch... dennoch hatte er nie aufgehört, sie ihm stets aufs Neue zu gewähren. Verrückt. »...Ha, ich bin bescheuert. Total bescheuert. Ich glaube immer noch, dass etwas Gutes in ihm steckt, obwohl er mir tausendmal das Gegenteil bewiesen hat. Wieso bin ich bloß so schrecklich naiv, wenn es um ihn geht!? Warum ziehe ich nicht endgültig einen Schlussstrich!? Wäre das nicht die vernünftigste Lösung?« Er dachte an die große, langsam dahinschwindende Gestalt, die ihn draußen verlassen hatte. Er dachte an die Tränenspuren in diesem vertrauten und zugleich so fremden Antlitz. Er dachte an seinen Wutausbruch, die Ohrfeige, den Handkuss. „Ich hasse dich... weil ich dich liebe." »Also schön, Cartman... ich werde es versuchen. Ich gebe dir eine allerletzte Chance!« ~~ *** ~~ Während Kyle zu einer Entscheidung gelangte, grummelte Craig dumpf vor sich hin. Klassische Musik war nicht sein Fall, aber das war nicht der Grund für seine schlechte Laune. Er hatte permanent schlechte Laune, seit er festgestellt hatte, dass Butters eine Wirkung auf ihn ausübte, die er nicht auf ihn hätte ausüben sollen. Oder dass Tweek so etwas ähnliches wie einen Beschützerinstinkt in ihm weckte, von dem er noch nicht einmal gewusst hatte, dass er ihn überhaupt besaß. Oder dass Clyde und er früher eine Menge zusammen unternommen hatten, diese Rolle nun aber Token zugefallen war. Craig war durchaus im Bilde, was all diese Veränderungen betraf, aber er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Nicht, weil er zu dumm dazu gewesen wäre, oh nein. Sondern weil er Angst hatte. Er pflegte den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Nicht aus Feigheit. Aus Bequemlichkeit. Er wollte sich nicht anstrengen, er wollte seine Gefühle und seinen Verstand nicht beanspruchen, wenn es nicht zwingend nötig war, er wollte Probleme einfach aussitzen, damit ihm seine geheiligte Ruhe und seine wenig strapazierfähigen Nerven erhalten blieben. Bisher hatte das gut funktioniert, doch allmählich merkte er, dass es damit nicht immer getan war. »Clyde... er und ich waren beste Freunde. Warum sind wir es nicht mehr? Na schön, er is‘ bi, aber ihn deswegen abzusägen, sieht mir gar nicht ähnlich. Und trotzdem tue ich nichts. Er hat ja versucht, mit mir zu reden, aber ich hab‘ nur abgeblockt. Warum eigentlich? Ich bin doch nicht sauer, bloß weil er...« Craig blickte zu dem Brünetten hinüber, der neben Token stand und von Bradleys Darbietung feuchte Augen bekam. Er war so ein verdammtes Sensibelchen; spielte man ihm traurige Musik oder eine rührende Filmszene vor, fing er garantiert zu heulen an. Man musste auf ihn aufpassen, bevor er über seine eigenen Füße stolperte und sich wehtat, genau wie bei Tweek. Er war so unselbstständig. Und ob ihm wohl bewusst war, dass er sich an Tokens Schulter lehnte? Craig rümpfte die Nase. »...vielleicht bin ich schon sauer. Irgendwie. Ich meine... wie kann er so offen seine Zuneigung zu einem Jungen zeigen? Wenn‘s ‘n Mädchen wäre, würde ich mich ja nicht beschweren, aber bei ‘nem Kerl? Sexuelle Orientierung hin oder her, ich finde es unmöglich. Dad würde sagen, dass es unnatürlich ist und deshalb nicht öffentlich gezeigt werden darf. Und das ist auch richtig so, oder nicht!? Und Typen wie Butters, die herumspazieren und sich aufführen, als wären sie stolz auf diese Scheiße... gerade er, mit seinen sexy Klamotten, seinem Necken und Flirten, als hätte er ein Recht dazu, so ungeniert damit umzugehen; er, mit all seinem verfluchten Selbstbewusstsein, und seinem Lächeln und seiner Freundlichkeit, dass Jungs wie Tweek oder Clyde ihm vertrauen und Jungs wie Cartman oder Broflovski auf seine gelassene, schlagfertige Art abfahren... warum schafft er das? Hat er denn keine Angst?« Nein, hatte er nicht. Butters konnte zu dem stehen, was er war, ohne Zögern, ohne Scham. Er konnte es sicher und überzeugt verteidigen. Er konnte dafür kämpfen. Er konnte auf sein Herz hören und dessen Entscheidungen akzeptieren, ohne sie anzuzweifeln oder sich vor den Konsequenzen zu fürchten. Und das war etwas, das Craig nie gelernt hatte. Er begriff auch nicht, dass es diese Eigenschaft war, die er in Clyde erkannt hatte und die er ihm nicht verzeihen konnte. Der weinerliche, überempfindliche Clyde durfte in dieser Hinsicht nicht so frei und unverkrampft sein. So... so in sich ruhend. Das war nicht fair. Nein, das war nicht fair! »Tse, Scheiß drauf! Ich komme am besten allein zurecht! Sollen sie doch alle machen, was sie wollen, was geht‘s mich an? Ich brauche diese Halb- und Vollschwuchteln nicht! Ich bin stark! Ich brauche niemanden!« ~~ *** ~~ Gregory von Yardale stand nicht weit von Craigs düsterer Sauertöpfigkeit entfernt, er nahm allerdings keine Notiz davon, da sein kühler Blick auf einem Mädchen ruhte: Wendy Testaburger. Sie trug ein schlichtes Neckholder-Kleid, dessen dunkle violette Farbe sich sehr reizvoll von ihrer hellen Haut abhob. Bis auf ein Paar weißer Perlenohrringe hatte sie auf Schmuck verzichtet, ihr rabenschwarzes Haar fiel lang und glatt auf ihre schönen Schultern. Gregory runzelte die Stirn und fragte sich, warum ihn dieses kleine Biest überhaupt sosehr interessierte. Sie war das erste Mädchen gewesen, für das er im zarten Alter von neun Jahren eine gewisse Zuneigung empfunden hatte - und sie hatte ihn nach anfänglicher Erwiderung zum Teufel geschickt. Er wusste, dass es reichlich kindisch war, ihr das immer noch vorzuhalten, aber er war nicht besonders gut darin, Niederlagen einzustecken... und er war nachtragend. Außerdem war sie die einzige gewesen, die seiner je überdrüssig geworden war. Normalerweise wurde er der Frauen überdrüssig, nicht andersherum. Er sah gut aus, war intelligent, wohlhabend und der zukünftige Erbe eines Adeltitels. Wenn ihm ein Mädchen gefiel, bekam er es, schließlich war es für die betreffende Dame eine große Ehre, mit ihm ausgehen zu dürfen. Und natürlich behandelte er seine Beziehungen mit der erforderlichen Diskretion. Trotzdem. Es hatte nie lange gehalten, weil sie auf Dauer nicht seinen Ansprüchen hatten genügen können. Wendy jedoch schien damals wie heute zu glauben, dass er nicht gut genug war - und das war einfach nur absurd. Sie hatte ihm eine schwere Kränkung zugefügt, als sie ihn am Ende der Kanadageschichte fallenließ. Keine Frau hatte das Recht, so mit ihm umzuspringen! Er starrte böse auf sein Glas Sekt und verwünschte sie und die ganze Welt. »Dass sie es wagt, hier aufzutauchen und so attraktiv zu sein, das ist eine Unverschämtheit! Und überhaupt, wie kommt sie dazu, in einem derart schlichten Kleid so unglaublich elegant auszusehen? Alles, was sie trägt, hat diesen Hauch von Eleganz! Wie macht sie das bloß? Und wie kann sie mich ignorieren? Jede andere würde mich auf den Knien um Verzeihung bitten, wenn sie mich so behandelt hätte wie dieses scharfzüngige Miststück! Aber sie hält das nicht für nötig, nicht einmal nach acht Jahren, fünf Monaten, einer Woche und vier Tagen! Aber wer zählt schon? Ich doch nicht!« Gregory war sich ziemlich sicher, dass er Wendy Testaburger hasste. Und das traf zu, denn ein Mann hasst nichts mehr, als wenn er sich gegen seinen Willen in eine Frau verliebt... ~~ *** ~~ Damien hatte sich ein wenig missgestimmt auf den Teppich gesetzt, Pip hockte Rücken an Rücken mit ihm und hatte die Augen geschlossen, um die Musik richtig auf sich wirken zu lassen. Der junge Dämon war allerdings nicht recht bei der Sache, da sich seine übermenschlichen Sinne in Alarmbereitschaft befanden und er nicht hätte sagen können, weshalb eigentlich. Vielleicht lag es aber auch nur an seinem Familienstress, dass er in letzter Zeit so beunruhigt war, seine Mutter hatte nämlich mal wieder ihre „Ich will die Herrscherin der Hölle werden"-Allüren und das ging meistens auf Kosten seines Seelenfriedens. Satan, sein leiblicher Vater, war ein homosexueller Müßiggänger, der gerne Partys feierte und keinerlei Welteroberungsambitionen oder gottesfeindliche Pläne hatte. Lilith hingegen... sie gehörte zu den obersten Dämonen in der Hölle, war machtbesessen, intrigant und maßlos ehrgeizig. Dieser Ehrgeiz war sogar für seine Existenz verantwortlich. Lilith hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Königin der Unterwelt zu werden - was reichlich schwierig ist, wenn der amtierende König nichts von Frauen wissen will. Also veranstaltete sie eine Riesenparty, lud alles ein, was Rang und Namen hatte und füllte Satan, der natürlich den Ehrengast mimen durfte, bis zum Anschlag mit billigem Fusel. Dann verführte sie ihn und neun Monate später... tja. Satan freute sich sogar über die Geburt seines Sohnes, das, woran er am schwersten zu tragen hatte, war nicht das Kind an sich, sondern die Tatsache, dass er dazu Sex mit einer Frau gehabt haben musste. Er konnte sich an rein gar nichts mehr erinnern und bezweifelte eine ganze Weile, dass Damien wirklich sein Fleisch und Blut war, aber als der Säugling in einem Wutanfall seine Wiege anzündete, ohne dass das Feuer dem Kleinen irgendetwas zuleide tat, hatte er seinen Beweis. Nun wurde Lilith jedoch nicht, wie von ihr erhofft, als Mutter des Thronfolgers automatisch zur Herrscherin der Hölle ausgerufen, sondern lediglich zur Amme und Erzieherin. Sie genoss ein luxuriöses Leben in Satans Palast, ihre Träume von Umsturz und Machtergreifung hatte sie aber noch nicht aufgegeben. Etwa alle drei Monate pflegte sie eine Revolte anzuzetteln, was für gewöhnlich bald wieder im Sande verlief, weil sie keine Anhänger fand. Satan war ein beliebter Monarch, ewige Folterqualen und Verdammnis hatte er schon vor Jahrtausenden abgeschafft. Zwar gab es immer noch das Fegefeuer für die total hoffnungslosen Fälle, aber ohne Gottes ausdrückliche Zustimmung warf er da auch niemanden rein. Die Mehrzahl der Dämonen war damit durchaus zufrieden... und die, die es nicht waren, behinderten sich in ihren egoistischen Bestrebungen meist gegenseitig. Damien seufzte. Er mochte seine Mutter nicht besonders; erst hatte sie ihm den Besuch einer irdischen Schule verbieten wollen („Du kannst nicht mit Menschen zur Schule gehen, mein Sohn! Menschen! Sterbliche! Bei Gehenna, welche Schande!") und später seine Beziehung mit Pip („Was soll das heißen, du liebst ihn?! Er ist ein Sterblicher!! Und zu allem Überfluss sieht er auch noch aus wie ein Engel! Goldenes Haar und blaue Augen, oh Satan! Wie konntest du mir nur so missraten, Luzifer!?"). Luzifer war sein richtiger Name, den Namen „Damien" beziehungsweise „Damien Thorn" benutze er nur auf der Erde. „Bedrückt dich etwas, mein Schatz?", flüsterte eine zärtliche Stimme neben ihm. Pip. Er hatte die Rücken-an-Rücken-Position verlassen und sah ihn nun von der Seite an. Die ehrliche Sorge, die er in diesen atemberaubend schönen Augen las, war wie ein Balsam für sein verunsichertes Herz. Er streckte die Hand aus, um Pip in einen Kuss zu ziehen, als ihm plötzlich ein eisiger Schauer über den Rücken lief, so eisig, dass er das Gefühl hatte, die Kälte würde bis in seine Eingeweide kriechen. Er zuckte zurück, sprang auf und rannte nach draußen, aber er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Hatte er sich die negative Präsenz nur eingebildet? Er konzentrierte sich, atmete tief ein, sog die verschiedenen Gerüche der Umgebung in sich auf, schmeckte die Luft, lauschte den vielfältigen Geräuschen der Nacht... und bemerkte die Aura in letzter Sekunde, ehe sie wieder verschwand. Was war das? Diese Aura war nicht dämonischen Ursprungs... aber ihr haftete etwas Dunkles, Gefährliches an. „Luzifer?" Er drehte sich nicht um. Außer Pip gab es nur eine weitere Person in South Park, die seinen wahren Namen kannte. „Hast du... hast du das auch gespürt?" „Ja, sonst würde ich nicht hier herumstehen. Was hast du wahrgenommen? Dasselbe wie ich?" „Eine negative Aura, möglicherweise gefährlich... sehr gefährlich. Allerdings nicht dämonischer Natur, das hätte ich sofort erkannt." „Was könnte es dann sein?" „Na, wenn du es nicht weißt, weiß ich es erst recht nicht. Aber was immer es ist, es hatte etwas Finsteres und Unnatürliches an sich... das gefällt mir nicht." „Mir auch nicht. Oh nein, mir auch nicht..." Damit kehrte Damien ins Haus zurück, seine Unruhe befiel ihn von neuem. Kenny zündete sich eine Zigarette an, nahm einen Zug und blies den Rauch in den sternenklaren Himmel. »Tja, Boss... sieht so aus, als käme ‘ne Menge Ärger auf uns zu...« Ja, und soweit diesmal. Hoffentlich bekomme ich das nächste Kapitel früher fertig, aber ich will keine Versprechungen machen. Die Jobsuche wird sicher nicht einfach... drückt mir die Daumen!^^ Noch irgendwelche Kommentare zum Kapitel von meiner Seite? Hm, ich mag Butters im "Leo"-Mode und bin froh, dass ich endlich einen Creek-Hint einbauen konnte... am liebsten würde ich ja in jedem Kapitel über alle meine Pairings schreiben, aber dann würden die Kapitel noch länger und Ihr müsstet noch länger am Bildschirm kleben, das geht also nicht. Bis zum nächsten Mal!^^ Kapitel 5: Romeo vs. Juliet --------------------------- So, da bin ich wieder!^^ Dieses Kapitel war eigentlich schon früher fertig, aber das wirkliche Leben hat einen eben nur allzu oft am Wickel, sodass man sich um andere Dinge kümmern muss, bevor man sich mit Fanfictions beschäftigt. In meinem Fall mit der Job/Praktikumssuche, da ich jetzt mein Studium beendet habe. Bisher habe ich nur Absagen kassiert, das ist frustrierend, aber nicht zu ändern. Was mich hingegen sehr freut, ist, dass fünfzehn Leute diese FF in ihre Favoritenliste aufgenommen haben!^^ *happy* Noch mehr freuen würde es mich allerdings, wenn ich etwas mehr Feedback bekommen würde, denn ohne die Favoritenliste wüsste ich nicht einmal, dass mehr als drei Leute diese Story lesen. Das nächste Kapitel ist schon geplant und wird voraussichtlich Tyde und Creek enthalten. Und nun viel Spaß beim Lesen!^^ Kapitel 5: Romeo vs. Juliet Es war halb sieben, als Eric Cartman unsanft aus seinen Träumen gerissen wurde. Er schaltete den Wecker aus, warf die Decke zurück und schleppte sich schlechtgelaunt ins Badezimmer. Er besprengte sein Gesicht mit Wasser und blickte in den Spiegel. Er hatte Ringe unter den Augen und sah überhaupt aus, als wäre er von einem Lastwagen überrollt worden. So fühlte er sich auch. Zwar hatte er Butters‘ Party früh verlassen, aber an Ruhe war nicht zu denken. Mit einer Schachtel Eiscreme und einer Riesenpackung Cheesy Poofs ausgestattet, hatte er sich vor den Fernseher gesetzt und sich von einem mehr oder weniger dümmlichen Programm berieseln lassen, bis es zwei Uhr nachts war. Während der ganzen Zeit lief er wie auf Autopilot, sein Gehirn befand sich in einer Art Schockzustand. Seine Mutter hatte sich nicht um ihn gekümmert, da sie einen Kunden hatte, was zu Erics unendlicher Begeisterung nicht zu überhören gewesen war. Wie er es hasste, wenn sie ihre Kerle zu Hause „bediente"! Nachdem er sich geduscht und angezogen hatte, ging er nach unten in die Küche, wo ihn Kaffeeduft und Cornflakes begrüßten. Den Mann am Tisch ignorierte er. Liane Cartman warf ihrem Sohn einen beunruhigten Blick zu und fragte mit gezwungenem Lächeln: „Eric, Schatz, du kennst doch den Herrn Doktor?" „Dr. Miller.", knurrte Eric unfreundlich in Richtung des Mannes, dem es sichtlich peinlich war, mit dem eigenwilligen Sprössling seiner Affäre konfrontiert zu werden. Besagter Sprössling nahm in eisigem Schweigen am anderen Ende des Tisches Platz, goss Milch über seine Cornflakes und zermanschte sie mit heftigen Bewegungen, ehe er sie zu essen begann. Liane wusste nicht, was sie tun sollte und so versuchte sie, eine Art Unterhaltung zu führen. „War es gestern nett auf der Party? Hast du dich gut amüsiert?" „Nein. Ich war um neun schon wieder hier, aber das hast du ja nicht mitgekriegt, du warst zu sehr mit dem Herrn Doktor beschäftigt." „...Oh. Das ist schade, Poopsie..." Seine Augen wurden zu Dolchen. Liane schloss erschrocken den Mund. „Nenn. Mich. Nicht. So." „Entschuldige, mein Kleiner. Was... was steht sonst so an?" „Was sonst so ansteht, Mom? Keine Ahnung. Warum sagst du es mir nicht?" Sie betrachtete ihn hilflos und zuckte die Schultern. Sie hätte ihn nach der Schule fragen können, aber sie wusste nicht, welche Kurse er belegt hatte. Sie hätte ihn nach dem Training und den nächsten Spielen fragen können, aber sie verstand nichts von Football und interessierte sich auch nicht besonders dafür. Sie hätte ihn nach seinem Job fragen können, aber sie vergaß immer wieder, wo und was er arbeitete. Sie hätte nach seinen Freunden fragen können, aber sie war gar nicht sicher, ob ihr Sohn noch welche hatte. Er war praktisch ein Fremder für sie. „Eric, Schatz..." „Weißt du was, Mom? Schenk es dir. Mein Leben geht dir sowieso am Arsch vorbei, also brauchst du auch kein Interesse dafür zu heucheln." Er klang nicht zornig, als er das sagte, nur resigniert. „Ich muss heute arbeiten. Kommst du allein zurecht?" „Aber ja." Mit anderen Worten: Vermutlich nicht. Eric wusste genau, dass seine Mutter die Kontrolle über ihr Leben schon lange verloren hatte. Sie war nymphomanisch, schien kaum eine Nacht ohne einen Mann im Bett verbringen zu können und verpulverte das Geld, das sie dadurch verdiente, für Drogen und Alkohol. Als er noch klein gewesen war, hatte sie einigermaßen selbstständig handeln können, doch ihre Angst vor dem Alleinsein und ihre damit verbundenen Süchte wurden mit den Jahren immer schlimmer. Je älter Eric wurde, desto häufiger lastete sie ihm ihre Pflichten auf; er musste nach und nach den kompletten Haushalt übernehmen und irgendwann selbst Geld herbeischaffen, um Lianes Verschwendung zu kompensieren. Er trug Zeitungen aus, verkaufte alte Spielsachen und Kleidungsstücke auf dem Flohmarkt oder half den Nachbarn, indem er auf ihre Kinder aufpasste, ihre Autos reinigte, den Rasen mähte und ihre Hecke stutzte. Am Anfang tat er es nur äußerst selten und ausgesprochen widerwillig, nicht sehr erpicht darauf, sein geruhsames und bequemes Dasein aufzugeben, bloß weil seine Mom nichts auf die Reihe kriegte. Er hatte schon genug Stress mit seiner Diät und dem verfluchten Training. Doch dann, eines Tages, er war etwa dreizehn Jahre alt gewesen, hatte er sie regungslos auf dem Sofa gefunden. Er rief den Notarzt, der sie ins Krankenhaus verfrachtete, wo man ihr den Magen auspumpte. Ein giftiger Cocktail aus Aufputschmitteln, Crack, gepanschtem Fusel und sonstiger Scheiße hatte sie ausgeknockt und beinahe getötet. Damals begriff er, dass seine Mutter nicht mehr eigenverantwortlich leben konnte, sie war auf Unterstützung und Betreuung angewiesen. Und wer kam dafür in Frage, außer ihrem eigenen Sohn? Er kippte einen Schluck Orangensaft hinunter. Natürlich, er hätte sich weigern können, hätte verlangen können, dass man sie in eine soziale Einrichtung steckte, aber er war minderjährig und wäre der Fürsorge einer Pflegefamilie anvertraut worden, wenn sein miserabler Ruf nicht von vornherein alle potentiellen Kandidaten vergrault hätte. Außerdem liebte er seine Mutter. Ja, sie hatte ihn schlecht erzogen, sie hatte ihn oft im Stich gelassen, sie hatte ihn belogen und betrogen, sie liebte ihn nicht genug, um für ihn das Kiffen, das Trinken oder das Anschaffen aufzugeben, sie konnte grausam ignorant und verantwortungslos sein...doch sie war und blieb die Frau, die ihn geboren hatte. Sie liebte ihn zumindest ein bisschen. Nur sie. Sonst gab es niemanden. »Fuck, werd‘ gefälligst nicht rührselig, Eric!!«, schimpfte er sich in Gedanken. »Du hast im Moment echt andere Probleme!!« Zum Beispiel Kyle. Ihm wurde beinahe übel, wenn er daran dachte, dass er dem Juden gestern seine Liebe gestanden hatte. Sein bestgehütetes Geheimnis, offenbart in einem Augenblick der Schwäche, der Wut, des verletzten Stolzes. Kyle, der ihn angesehen hatte, als wäre er noch wertloser als der Schmutz unter seinen Schuhsohlen. Kyle, der ihn anbrüllte, Kyle, der all seine Fehler aufzählte, Kyle, der ihm seinen Hass ins Gesicht schrie, ohne zu ahnen, dass er ihn bis auf‘s Blut peinigte. „Du widerst mich an, Cartman! Hörst du!? Du widerst mich an!!" »Kyle, du dummer, arroganter, durchtriebener kleiner Bastard... du bist alles, was ich verachte, alles, was ich hasse, alles, was ich nicht ertrage... Woher nimmst du nur die Kraft, mit der du dich mir entgegenstellst!? Woher kommt diese verdammte Furchtlosigkeit, dieser lächerliche Mut, dieser frustrierend starke Wille!? Wie kannst du es wagen, auf mich herabzusehen, wenn du doch der dreckige Jude bist!? Oh, ich schwöre, manchmal könnte ich dich umbringen für dein selbstgefälliges Grinsen!!« Er berührte seine Lippen und erinnerte sich an die Küsse, die er Kyle aufgezwungen hatte. Der erste war zärtlich gewesen, neugierig, tastend, suchend, da er noch so unsicher gewesen war, was er wohl vorfinden würde. Ein bisschen herumgeknutscht hatte er bisher nur mit Kenny, der sich als „Übungsobjekt" angeboten hatte, aber nichts hätte ihn auf die überwältigende Erfahrung vorbereiten können, die der Kuss mit Kyle für ihn gewesen war. »...Ach, Scheiße... alles, wovon ich je geträumt habe...anders kann ich es nicht beschreiben. Warum musste sein Mund so warm und weich und anschmiegsam sein und gleichzeitig so fest und trotzig? Ich habe ihn nur liebkost, denn überwinden konnte ich ihn nicht... zumindest nicht in diesem Moment. Ich hätte ihn kein zweites Mal küssen dürfen, jedenfalls nicht so grob und... und einnehmend. Aber ich war so wütend...! Da verrate ich ihm, dass ich sein Leben gerettet habe und das seiner Familie mit dazu und er hat nichts Besseres zu tun, als sich auf‘s hohe Ross zu setzen und das neunmalkluge Arschloch heraushängen zu lassen! Fuck!!! Warum er?! WARUM AUSGERECHNET ER, VERFICKT NOCHMAL!?!« Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt, ein Zittern überlief seinen kräftigen Körper. Liane sah es, zog es jedoch vor, es zu ignorieren und wandte sich umso liebenswürdiger an ihren Stammkunden, den Herrn Doktor mit der dicken Brieftasche. Dr. Miller war verheiratet und Vater von zwei Kindern, fand aber nichts dabei, sich sein Vergnügen bei mehr als nur einer Frau zu holen. Eric verabscheute ihn deswegen. Männer, die mit einer Familie gesegnet waren und dieses Glück so leichtfertig riskierten, konnte er nicht begreifen. Männer wie sein eigener biologischer Erzeuger, der Frau und Kind hatte und trotzdem irgendeine billige Hure flachlegte, ohne sich um die Folgen zu kümmern. „Kann ich übermorgen wieder mit Ihnen rechnen, Jason?" „Nein, leider nicht, übermorgen ist mein zwanzigster Hochzeitstag, und ich habe Jennifer versprochen, sie ganz groß auszuführen. Sagen wir nächsten Freitag? Ich rufe Sie vorher an." „Gut, nächsten Freitag also. Eric, verabschiede dich bitte vom Herrn Doktor." „Verpissen Sie sich." „Eric! Das war sehr unhöflich von dir!" Er streckte ihr die Zunge heraus und fuhr fort, seine Cornflakes zu essen. Dr. Miller hielt es für unangebracht, noch länger zu bleiben, wenn Lianes Sohn einen derartigen Ton anschlug und entfernte sich eilig. Sie begleitete ihn zur Tür. Als sie zurückkam, war die Müslischüssel leer und Eric trank den Rest seines Orangensafts. „Du könntest ein wenig freundlicher zu meinen Bekanntschaften sein, Poo... eh, Darling." „Deine Bekanntschaften? Ja, klar. Deine ‚Bekanntschaften‘ meinen Arsch!" „Eric!!" „Sorry, Mom. Ich bin kein kleines Kind mehr, dem du was vormachen kannst. Tu, was du willst und mit wem du‘s willst, aber erwarte nicht von mir, dass ich deinen Kerlen Zucker in den Hintern blase." Er stellte die Schüssel und das Glas auf die Anrichte. „Bis dann." Er begab sich in sein Zimmer und packte seine Schulsachen, seine Sporttasche stand, bereits bis obenhin voll, neben seinem Bett. Während er Bücher und Hefte verstaute, geriet ihm auch sein Geldbeutel in die Finger. Er zählte gerade seine letzten Dollar, als sein Blick an den beiden Fotos hängenblieb, die er in einem der Fächer aufbewahrte: Sie zeigten Kyle, einmal im Grundschulalter, nett in die Kamera lächelnd, seine unvermeidliche Uschanka auf dem Kopf; das andere Bild war aktueller, Kyle in der Studierhalle, kurz vor dem Beginn der Sommerferien, vertieft in irgendeinen Schmöker. Er fuhr die Konturen seines Gesichts nach und drückte das Foto in einer plötzlichen Bewegung an seine Lippen. Ein arroganter Pinkel. Ein hilfsbereiter Freund. Ein nervtötender Besserwisser. Ein cleverer Bursche. Ein scheinheiliges Gerechtigkeitsapostel. Ein extremer Sturkopf. Ein hinterhältiger Mistkerl. Ein ehrgeiziger Streber. Ein willensstarker Gegner. Ein temperamentvoller Kämpfer. Ein stolzer Mann. So unberechenbar, so unbesiegbar, so unbezähmbar. Eine Herausforderung, eine Provokation, ein gefährliches Spiel mit hohem Risiko. Nichts hatte ihn je mehr gefesselt, mehr fasziniert, mehr gereizt als dieser Mensch, keinen Triumph hatte er je sosehr herbeigesehnt - und nie war er sich im Voraus seiner Niederlage so sicher gewesen. Er liebte ihn. Er konnte es nicht ändern. Es gab Dinge an ihm, die er nicht ausstehen konnte, die ihn wahnsinnig machten, und dennoch liebte er ihn. Es war wunderbar und schrecklich, schön und schmerzhaft zugleich. Das Gefühl war tief und dauerhaft und ging weit über eine bloße Teenagerschwärmerei hinaus. Nichts hatte es bisher abschwächen können. Mit einem Seufzer verstaute er die beiden Fotos wieder in seinem Geldbeutel, warf ihn in seinen Rucksack und zog den Reißverschluss zu. Zehn Minuten später brauste Eric Cartman auf seinem Motorrad in Richtung Schule. Kennys Abend und Morgen verliefen ebenfalls unangenehm. Die Party hatte bis halb eins gedauert und er hatte sich hinterher noch in eine seiner Lieblingsbars verkrümelt, wo er sich was Scharfes aufgerissen hatte. Leider stellte sich heraus, dass das hübsche Paar C-Cups schon vergeben und ihr Macker äußerst humorlos war. Einige Zeit später war er draußen vor der Eingangstür wieder zu sich gekommen, mit einer blutenden Nase und einem blühenden Veilchen auf dem linken Auge. Daraufhin hatte er das, was noch von ihm übrig war, nach Hause geschleppt und sich auf seinem Bett verkrochen (na ja, eher auf seinen zwei übereinander gestapelten Matratzen, ein richtiges Bett besaß er nicht). Karen, die letzte Nacht auch in ihren vier heimatlichten, katastrophal zugigen Wänden verbracht hatte, weckte ihn lautstark. „GROßER BRUDER!!!!" „...He, ich bin nicht taub, Schwesterherz!! Bist du vom wilden Affen gebissen, oder was!?" „Das ist mein dritter Versuch, okay? Du schläfst wie ein Toter... und du siehst auch genauso aus. Mit wem hast du dich diesmal geprügelt?" „Mit ‘nem eifersüchtigen Neandertaler. Kann ich riechen, dass die Tussi seine Freundin ist, wenn sie sich mir an den Hals schmeißt? Und dafür kriege ich dann die Fresse poliert! Seh‘ ich wirklich so schlimm aus?" „Ja. Scheiße, um genau zu sein." „Vielen Dank, Karen. Was täte ich nur ohne deinen Trost?" „Hör auf, den Boden mit Sarkasmus zu bekleckern, Ken, das ist mein Job. Du brauchst deine Nerven und dein Mundwerk für was anderes." „Nämlich?" „Für‘s Frühstück." Die Geschwister wechselten einen verständnissinnigen Blick, Kenny stand auf und gemeinsam gingen sie in die Küche. Ihre Eltern hockten dort auf ihren Billigplastikstühlen, Carol mit einem Joint zwischen den Lippen, ihr Gesichtsausdruck entrückt, die Augen glasig; Stuart leerte eine Flasche Bier, rülpste und warf sie achtlos hinter sich, wo sie mit der Wand kollidierte und in zahllose Scherben zersprang. Seine blutunterlaufenen Augen bezeugten die durchzechte Nacht. Karen holte ihren Rucksack aus ihrem Zimmer und packte aus, was sie von ihrem Aufenthalt bei Kevin mitgebracht hatte: Eine Packung Müsli, Milch, Wasser, Tee, etwas Brot, Butter und Obst (zwei Äpfel und eine Banane). Während sie schweigend den Tee aufbrühte, verteilte ihr Bruder das Müsli auf zwei Schüsseln und goss Milch darüber. „Mit Rosinen.", sagte er entzückt. Sie nickte lächelnd. „Car - ...ich meine, Mom? Willst du auch was?" Er hielt ihr die Packung unter die Nase, aber sie reagierte nicht. Schließlich versuchte er es mit einem Stück Brot und einem Apfel, doch Carol zuckte mit keiner Wimper. Sie war weit weg, wo sie sich nicht mit ihrem Elend befassen musste. Karen registrierte, dass Kenny sie beinahe mit ihrem Vornamen angesprochen hätte. „Mom" und „Dad"... diese Bezeichnungen schienen mit den Jahren immer unpassender geworden zu sein. Es fühlte sich nicht mehr richtig an, sie so zu nennen. „Dad? Hast du Hunger?" „...Was‘n das...?" „Ein Apfel. Oder magst du was vom Müsli? Oder ein Butterbrot?" „Ich will ‘n Bier." „Es ist keins mehr da, du hast die letzte Flasche gerade ausgetrunken. Wir haben Tee und ein bisschen was zu essen. Was willst du haben?" „Ein Bier." Er rülpse noch einmal, seine Augen wirkten fiebrig. Als er aufstieß, schlug Kenny sein schlechter Atem entgegen, eine widerliche Mischung aus Alkohol und Erbrochenem. Er hatte sich wohl mal wieder übergeben. „Wir haben kein Bier, Stuart.", zischte der Blondschopf, den Namen absichtlich betonend. „Und selbst wenn, du würdest keins mehr kriegen, du bist voll bis oben! Jetzt komm schon, mach den Mund auf, iss etwas Müsli..." Stuart schlug ihm den Löffel aus der Hand, erhob sich schwankend und brüllte: „Ich will mein Bier, du Drecksbalg!! Was soll ich mit dem Scheißdreck!?!" Kenny sprang auf, wich der Faust, die auf ihn zu raste, mit dem Geschick langer Erfahrung aus und beantwortete die Attacke mit einem eigenen, gut gezielten Schlag, der den Mann zu Boden schickte. Er beugte sich über ihn, um ihn unter die Lupe zu nehmen. Karen schenkte den Tee ein. „Ist er in Ordnung?", fragte sie beiläufig. „Ja, er ist bloß bewusstlos." Kenny spuckte aus. „Dieser Arsch ist so erbärmlich, dass sogar Mitleid für ihn zu schade ist! Den Schulabschluss hat er vergeigt, nichts anderes im Kopf als Drogen und ‚High‘ Life im wahrsten Sinne des Wortes, keine Perspektive, keine Ziele, kein Interesse für irgendwas, außer sich selbst! Nichts hat er auf die Reihe gekriegt, aber Carol schwängern, als sie vierzehn war, das konnte er! Warum dürfen eigentlich die ungeeignetsten Individuen Kinder in die Welt setzen?! Man braucht ein Staatsexamen, um Kinder zu unterrichten, aber jeder dahergelaufene Trottel kann sie zeugen, wenn er will! Gott, das ist so... so... ah, ich könnte kotzen!" Sie legte ihre Hand auf die seine und schob ihm eine der beiden Tassen zu, die Kevin gekauft hatte. Er nahm einen tiefen Schluck. „Etwas bitter. Du hast ihn zu lange ziehen lassen." „Tut mir leid." „Macht nichts. Er ist wenigstens warm." Stanley seinerseits, wurde vom Klingeln seines Handys aufgescheucht („I Kissed A Boy" von Cobra Starship). Er gähnte herzhaft und nuschelte: „Was is‘?" „Guten Morgen, kleiner Bruder! Alles fit im Schritt?" „...Shelly. Was fällt dir ein, mich zu dieser Unzeit anzurufen?" „Wieso Unzeit? Es ist halb neun!" „Ja. In New York, Eastern Standard Time. Hier in Colorado gilt Mountain Standard Time. Hier ist es erst halb sieben. Und tschüss." „STAN!! Jetzt leg‘ doch nicht gleich auf, verdammt! Ich muss unbedingt mit jemandem reden! Tony hat mit mir Schluss gemacht und..." Er unterdrückte einen Seufzer. Seine große Schwester, die nun schon im vierten Jahr am Queens College in New York City studierte, war früher eine aggressive kleine Furie gewesen, deren Lieblingsbeschäftigung darin bestand, ihren Bruder zu verprügeln oder sich auf seine Kosten bei ihren Eltern einzuschleimen. Er hatte sich nie wirklich gewehrt, weil er eine Heidenangst vor ihr gehabt hatte - bis ihm dann eines schönen Tages so richtig der Kragen geplatzt war. Er hatte sich eine Dokumentation über gefährdete Arten ansehen wollen, doch Shelly hatte ihn natürlich wieder stören müssen, mit irgendeiner ihrer schwachsinnigen Seifenopern. Eine Weile kämpften sie um die Fernbedienung, als sie plötzlich die Geduld verlor und ihn anschrie: „Pfoten weg, du Stück Scheiße!! Wen interessieren schon deine blöden Tiere?!" Sie boxte ihm in den Bauch und wechselte selbstzufrieden grinsend den Kanal. Aber diesmal dachte er gar nicht daran, einfach aufzugeben. Er hatte die Fernbedienung gepackt und war explodiert: „Wen nennst du hier ein Stück Scheiße, du geifernde Zicke!? Ich hab‘s satt, mir alles von dir gefallen zu lassen!! Entweder schaltest du freiwillig um oder ich bringe dich dazu!! Schau mich nicht so entgeistert an!! Du bist nichts weiter als eine eingebildete, unverschämte, hirnlose Kuh und es ist kein Wunder, dass dir deine Kerle abhauen!! Ich habe genug von deiner miesen Laune, deinem hysterischen Theater, deinem verdammten Tussigetue...genug von dir!! Fick dich, Shelly - fick dich!!" Er stieß sie heftig zurück, sodass sie vom Sofa fiel. Sie war völlig sprachlos gewesen und hatte ihm sogar gehorcht. Nach diesem Vorfall ging er immer häufiger als Sieger aus ihren Konfrontationen hervor und das einst so gespannte und unfreundliche Verhältnis zwischen den Geschwistern veränderte sich langsam. Sie begann, ihn trotz des Altersunterschieds als gleichwertig zu akzeptieren, er spürte ihre Eifersucht auf, die sie seit jeher für ihren kleinen Bruder empfunden hatte, sie lernte, seine ihr so wesensfremde Sensibilität besser zu verstehen und ihm gelang es, ihre brutal ehrliche, ruppige Art zu tolerieren. So kam es, dass Shelly und Stan bei jeder Abreise nach New York bewegt voneinander Abschied nahmen und einander aufrichtig vermissten. Allerdings hatte sie ihn nun auch zu ihrem persönlichen Kummerkasten ernannt und das bedeutete, dass sie ihn, wenn ihr etwas das Herz abdrückte, sofort anrief, und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Obwohl das Heranwachsen ihre Angriffslust sehr gemildert hatte und sie sich längst nicht mehr so rüpelhaft benahm wie als Kind, fehlte ihr nach wie vor das richtige Händchen für Beziehungen, egal, ob sie freundschaftlicher oder romantischer Natur waren. „Also, Tony hat mit dir Schluss gemacht. Und diesmal wegen...?" „...Ich hab‘ ihn diese Woche nicht rangelassen." „Ihr seid seit drei Monaten zusammen und jedesmal, wenn du ihn mal ‘ne Weile nicht rangelassen hast, macht er mit dir Schluss. Was folgt daraus? Er hat das Problem, nicht du. Manchmal läuft‘s halt nicht. Das ist kein Grund, gleich die Beziehung in den Müll zu schmeißen. Oder ist es nur an Sex interessiert?" „Na ja, vielleicht...?" „Okay, Schwesterherz, ich weiß, dass du Schwierigkeiten mit zwischenmenschlichen Bindungen hast, aber dein Männergeschmack ist auch nicht gerade der Hit. Warum sind es so oft Machos oder talentfreie Volltrottel? Gut, Liebe macht bekanntlich blind, aber du übertreibst es. Warum suchst du dir nicht einfach einen netten, anständigen Typen mit genug Rückgrat, der deine Launen aushält und fertig?" „Die netten und anständigen Jungs sind doch langweilig." „Nein, die netten und anständigen Jungs sind einfach nur nett und anständig. Das ist kein Makel, sondern eine Qualität, Shelly. Und außerdem heißt es ‚Stille Wasser sind tief.‘ Wenn du immer nur auf die Oberfläche starrst, kannst du natürlich auch nichts Überraschendes oder Neues entdecken. Freundschaft und Liebe haben etwas mit Kennenlernen, mit Austauschen, Zuhören, gegenseitiger Achtung und Verständnis zu tun - warum freundest du dich nicht mal mit einem Kommilitonen an, der dir gefällt? Jawohl, anfreunden. Es muss ja schließlich nicht von vornherein auf den sexuellen Aspekt hinsteuern. Und Idioten wie Tony gewöhnst du dir am besten ab, dann bleiben alle deine Nerven ganz!" „..." „Shelly? Bist du noch dran?" „...Du bist mein bester Freund, kleiner Bruder. Weißt du das eigentlich?" Er musste lächeln. Vor seinem geistigen Auge sah er seine Schwester in ihrer Studentenbude auf dem Bett liegen, eine Packung Taschentücher neben sich, während „Titanic" oder sonst ein zu Tränen rührender Schinken über den Bildschirm flimmerte (augenblicklich auf lautlos gestellt, natürlich). Als Tochter gutaussehender Eltern hätte sie eine hübsche, ja, sogar attraktive Person sein können, doch die Natur hatte ihr einen üblen Streich gespielt, unter dem sie auch heute noch litt: Die verschiedenen Details, die ihrem Vater und ihrer Mutter so hervorragend zu Gesicht standen, waren in Shellys Zügen unglücklich zusammengeworfen worden. Sie besaß den zarten, elegant geschwungenen Mund von Sharon, aber das kräftige Kinn von Randy, was ihr einen seltsam harten Ausdruck verlieh. Über ihren Augen thronten dichte Brauen, die an ihrem Vater eindrucksvoll waren, aber da sie die kleineren Augen ihrer Mutter geerbt hatte, passte das alles nicht recht zueinander und ließ sie verschlossen und einschüchternd wirken. Das war der Hauptgrund für ihre Eifersucht gegenüber Stanley, der immer ein anziehendes Kind gewesen war. Dennoch verfügte sie trotz ihrer Schwächen und schwierigen Eigenheiten über einen guten Kern. Man musste sich nur bemühen, ihn zu finden. „Ich weiß es. Ja, ich weiß es." Sie schwiegen eine Weile, bis sie neugierig fragte: „Und was ist mit dir? Hast du dir endlich einen Freund angelacht?" Er wurde puterrot. „Nein, hab‘ ich nicht!!" „Wieso nicht?" Ihre Verblüffung klang echt. „Du bist attraktiv, intelligent, ein toller Sportler, witzig, nett, selbstbewusst, charmant... und du willst mir erzählen, dass du dir noch keinen geangelt hast? Oder dich hast angeln lassen? Was ist denn mit diesem... wie heißt er nochmal? Der Kapitän deiner Mannschaft, dieser Mormone oder was er ist. Jerry Irgendwer." „Gary. Gary Harrison. Was soll mit ihm sein?" „Na, der fährt doch voll auf dich ab!" „Was?! Red‘ keinen Schwachsinn, wir sind Kumpel, mehr nicht! Die Sache im Soccercamp war nur ein... nur ein Versehen!" „Ich würde einen Kuss kein ‚Versehen‘ nennen..." Stan wand sich innerlich. Die letzte Woche der Sommerferien hatten sein Team und er in einem Soccercamp verbracht, zusammen mit einigen anderen Mannschaften aus verschiedenen kleinen Städten außerhalb von Park County. Es war lustig und aufregend gewesen; es galt, neue Leute kennen zu lernen, spannende Spiele zu bestreiten, alberne Streiche auszuhecken...und gewisse Erfahrungen zu machen. Zum Beispiel, ein Zimmer mit seinem Kapitän zu teilen. Das funktionierte auch ganz prima, bis... na ja, bis... ~~ Rückblende ~~ Stanley humpelte die Treppe in den ersten Stock hinauf, wo sein Zimmer lag und setzte sich dort schweratmend auf sein Bett. Warum dieses Arschloch von Nummer Elf keine Rote Karte gesehen hatte, wusste er immer noch nicht. Der hatte ihm doch ein Bein gestellt, mit voller Absicht! Sein weiß-rotes Outfit war total verdreckt, weil er bei seinem Sturz natürlich genau in einer Matschpfütze gelandet war, die man dem anhaltenden Regenguss zu verdanken hatte, dabei hatte er sich irgendwie den Fuß verstaucht und die Lippe aufgeschlagen. Er hatte nichts dagegen, wenn es mal hart wurde, aber das hier war die Schuld der gegnerischen Nummer Elf, die ein Mistkerl war und andere Spieler vorsätzlich fertig machte. Sowas hasste er. Er stakste zum Waschbecken hinüber und begann, sich das Gesicht zu waschen, als er ein zaghaftes Klopfen hörte. „Herein. Oh, du bist es, Käpt‘n..." Gary Harrison, siebzehn Jahre alt, mormonischen Glaubens, mit himmelblauen Augen und goldblondem Haar, war so gut erzogen, dass er sogar an seiner eigenen Zimmertür anklopfte. Stan schmunzelte, doch sein Anflug von Heiterkeit verebbte, als er Garys Gesichtsausdruck bemerkte. Er hatte ihn selten so wütend erlebt. „Dieser Bastard! Und dieser dämliche Schiedsrichter, hat der keine Augen im Kopf!? Ich hab‘ ihm in deinem Namen eine verpasst!!" „Dem Schiedsrichter?!" „Nein, der Nummer Elf! So ein... so ein Wichser, ehrlich!" Kraftausdrücke gebrauchte er auch nur in Ausnahmefällen. Er musste wirklich mächtig angepisst sein. Plötzlich jedoch wich der Zorn aus seinen Zügen und machte unverhohlener Besorgnis Platz. „Du meine Güte, du blutest ja! Das ist mir vorhin gar nicht aufgefallen! Wie geht es dir? Kann ich dir etwas bringen, möchtest du etwas essen oder trinken oder..." „Beruhige dich, Gary, das sieht alles schlimmer aus, als es ist. Ich habe mir bei dem Sturz den Fuß verstaucht und die Lippe aufgeschlagen, aber das wird schon wieder. Die Hauptsache ist, dass du denen noch ein Tor reingedonnert hast! Wir haben gewonnen!" Das schien Gary nicht mehr besonders zu kümmern. Er holte ein Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche, befeuchtete es und fing an, behutsam Stanleys aufgeplatzte Lippe zu betupfen. Von der intimen Berührung überrascht, wagte er nicht, sich ihr zu entziehen. Einen Moment lang glaubte er sogar, eine zarte Röte in die Wangen seines Kapitäns steigen zu sehen. „Gary...? Ist... ist... alles okay?" „...Du hast einen so schönen Mund, Stan", flüsterte der junge Mormone versonnen, als spräche er zu sich selbst. „Vielleicht sollte ich ihn gesundküssen, damit er schneller heilt..." „...Eh?" Warme Lippen küssten ihn sanft. Die Zeit blieb stehen. Stan wusste nicht, was er davon halten sollte. Es fühlte sich gut an, ja, und er mochte Gary...er mochte ihn sehr...aber nicht so sehr... oder? Er war schrecklich verwirrt und machte instinktiv eine ausweichende Bewegung, die Gary in die Realität zurückholte. Er blinzelte, sah den Schwarzhaarigen an, als wäre er ein Fremder, der ihm nicht vorgestellt worden war und wurde schließlich knallrot. „Oh, entschuldige bitte, Stan... ich... ich... weiß auch nicht, was über mich gekommen ist... Es tut mir entsetzlich leid!" Dann stürmte er wie von wilden Hunden gejagt davon. Stan stand da wie festgewachsen, völlig konfus und bestürzt. „Käpt‘n...!" ~~ Ende der Rückblende ~~ „Stan und Gary sitzen in ‘nem Baum, und k-ü-s-s-e-n sich, man glaubt es kaum!", trällerte Shelly in sein Ohr, was ihr ein lautstarkes „Schnauze!!!" eintrug. „...So empfindlich, Brüderchen? Du magst ihn also auch." Es war keine Vermutung, sie sprach es wie eine Tatsache aus. „Klar mag ich ihn, er ist mein Kapitän und wir verstehen uns ziemlich gut. Trotzdem. Seit dem... dem ‚Vorfall‘ geht er mir aus dem Weg. Wenn wir während des Trainings zusammen sein müssen, was sich nun mal nicht vermeiden lässt, beschränkt er unseren Kontakt auf das Nötigste. Das heißt doch, dass er die ganze Sache vergessen will, nicht wahr?" „Ja und nein. Das Problem ist wohl, dass er die Sache vergessen will, sie aber nicht vergessen kann, sonst wäre längst wieder alles beim alten. Ich glaube wirklich, dass er mehr in dir sieht als nur seinen Teamkameraden. Mehr als nur seinen Freund." Sie kam zu demselben Schluss wie Kyle, Kenny und Cartman, denen er ebenfalls von dem Kuss erzählt hatte (wobei Kyle mit brüderlichem Trost reagiert hatte, Cartman mit leisem Spott und Kenny mit überraschend kühler Zurückhaltung). Er würde der gefürchteten Konfrontation nicht ausweichen können. Er musste mit Gary reden. Was Kyle betraf, so war er entgegen seiner ursprünglichen Absicht nur bis elf Uhr geblieben. Seine Mutter verbuchte diesen Umstand als persönlichen Sieg über die Unvernunft ihres Sohnes und er ließ sie in dem Glauben. Seine „tieferen Gründe" hätten ihr noch weniger in den Kram gepasst als seine Homosexualität. Im Moment lag er wie erschlagen in seinem Bett und machte keinerlei Anstalten, sich zu erheben, obwohl der Wecker bereits geklingelt hatte. Er wollte nicht in die Schule gehen. Normalerweise ging er gern dorthin, er war ein ehrgeiziger und fleißiger Schüler. Aber er wollte auf keinen Fall Cartman über den Weg laufen, nicht so kurz nach ihrer Auseinandersetzung und dem damit verbundenen Geständnis. Er hatte schlecht geschlafen, selbst in seinen Träumen von den Bildern des gestrigen Abends verfolgt, und er fühlte sich leer und verbraucht. So stierte er teilnahmslos an die Decke, bis das vorwitzige Gesicht seines Bruders in seinem Blickfeld auftauchte. „Übst du die Pose vom sterbenden Schwan oder was soll diese trübsinnige Miene? Du siehst voll fertig aus, als wäre ‘ne Herde Kühe über dich hinweggetrampelt. Ist auf der Party irgendwas Blödes passiert?" „Das geht dich gar nichts an!!" „Also ja. Und was?" Kyle ließ ein paar herzerfrischende Flüche vom Stapel. Ike zu entgehen war ein Ding der Unmöglichkeit - mit seinem IQ von 170 und seinen hohen analytischen Fähigkeiten durchschaute er alles und jeden, man konnte ihn weder belügen noch austricksen. Und wenn er sich einmal in einer Sache festgebissen hatte, mutierte er zur Jüdischen Inquisition. Es hatte keinen Sinn, ihm etwas zu verschweigen. Und so erzählte er alles, stockend, langsam, bis zum unvermeidlichen Ende. Das erwartete Entsetzen blieb jedoch aus. „...Äh, Ike? Warum... warum flippst du nicht aus, oder so? Vielleicht hast du mir auch nicht richtig zugehört? Eric Cartman hat mich geküsst. Eric Cartman hat mir seine Liebe gestanden. Verstehst du? Möchtest du nicht wenigstens... ich weiß nicht... ein bisschen durchdrehen?" „...Er hat dir endlich gestanden, was er für dich empfindet? Sehr gut, das war echt überfällig." „WAS!?!" Kyle schoss in die Höhe und schüttelte seinen kleinen Bruder aufgeregt. „Was soll das heißen, überfällig!? Du hast... du hast es gewusst?! Du hast es gewusst und hast mir nichts davon gesagt?!" Ike befreite sich aus dem Griff, schwankte ein wenig und plumpste auf das Bett, wo er den Rest seines Gleichgewichts wiedererlangte. „Musst du immer so heftig reagieren, big bro? Da brummt einem ja der Schädel... Puh. Und ja, ich habe es gewusst. Ich sehe meine Mitmenschen ziemlich genau so, wie sie in Wirklichkeit sind und nicht so, wie sie allgemein gesehen werden bzw. gesehen werden wollen. Da bin ich wie Butters, er hat auch dieses Gespür. Ich halte Eric nicht nur für das Arschloch vom Dienst. Ich halte Kenny nicht nur für einen notgeilen Playboy. Ich halte Stan nicht nur für einen idealistischen Hippie. Ich halte Craig Tucker nicht für cool und Tweek Tweak nicht für schwach. Ich halte Clyde Donovan nicht nur für eine verweichlichte Heulsuse oder Token Black nur für ein wandelndes Klischee. Und dich, Kyle, halte ich weder für das völlig schuldlose Opfer von Erics Anfeindungen, noch für den unbescholtenen, ach so perfekten Vorzeigesohn, den unsere Mutter aus dir machen will, obwohl du durchaus dazu neigst, dir in beiden Rollen zu gefallen. Halt, sag nichts, lass mich ausreden! Die Welt ist nicht schwarzweiß, sondern sie ist aus unzähligen verschiedenen Abstufungen zusammengesetzt. Es ist schon seltsam, dass die meisten immer noch glauben, dass eine Tugend und ihr Gegenteil nicht in ein und demselben Menschen vereinigt sein können. Sie unterschätzen die Komplexität ihrer eigenen Natur. Es ist selten damit getan, nur eine Seite der Medaille zu betrachten. Butters hat recht. Gib Eric eine Chance. Er könnte dich überraschen... und ich mag ihn." Kyle musterte ihn sprachlos von Kopf bis Fuß. Ike war sehr schlaksig und etwas zu groß für sein Alter, mit wirren schwarzen Haaren und neugierigen grünblauen Augen. Er hatte einen breiten Mund und eine spitze Nase. Heute trug er seine dunkelblaue Jeans und das schwarze T-Shirt mit dem Konterfei Albert Einsteins, der die Zunge herausstreckte. Elf Jahre (oder elfdreiviertel, wie Ike gern betonte). Hochintelligent, sogar genial, stur, direkt und eigenwillig, bisweilen auch nervtötend, exzentrisch und sarkastisch bis dorthinaus - das war sein Bruder, ein kleines, kompliziertes, liebenswertes Wunder. „Du... du ‚magst‘ Cartman? Ist das dein Ernst?" „Klar. Einmal bin ich ein großer Fan von ihm als Footballspieler. Football ist eine meiner Lieblingsportarten, auch wenn ich selber nicht besonders gut bin. Aber Eric ist superklasse, der könnte in der Profiliga spielen. Sicher bekommt er ein Sportstipendium für‘s College. Okay, er kann ein Arschloch sein, das will ich gar nicht abstreiten, und seine antisemitische Attitüde geht mir gewaltig auf den Keks...andererseits ist er klug und selbstbewusst und stolz, er kann sich durchsetzen und lässt sich nichts bieten. Er hat einen sehr starken Willen. Und er mag kleine kuschelige Tiere, vor allem Katzen. Deshalb arbeitet er auch bei Mr. Pritchard." „Cartman hat einen Job bei Mr. Pritchard? Dem netten alten Herrn mit der Kleintierhandlung? Das hat er nie erzählt..." „Mir hat er es auch nicht erzählt, ich habe ihn nur durch Zufall mal im Laden gesehen. Ich glaube, er ist sein Assistent oder sowas. Logisch, dass er das nicht rumposaunt. Eric Cartman, Kapitän der Park High Bulls, Mr. Star-Quarterback persönlich, der sich um süße Katzen und flauschige Kaninchen kümmert? Das passt nicht zu seinem Image, also hält er dicht. Ich finde es niedlich." Kyle fand es eher absurd, er konnte sich seinen Rivalen einfach nicht als treusorgenden Pfleger vorstellen, obwohl er seine eklatante Schwäche für kleine Streicheltiere kannte. »Allerdings hätte ich mir auch nie vorstellen können, dass er mir seine Liebe erklären würde... also halte ich mich mit meinen Urteilen besser zurück... vorerst.« „Und nun steh auf, sonst verpasst du das Frühstück. Mom hat Waffeln gebacken und wenn du nicht runterkommst, esse ich sie dir alle weg!" „Das wagst du nicht!" „Wollen wir wetten?" Ike sprang lachend davon. Kyle, mit seinem Kissen als Wurfgeschoss, spurtete hinterdrein und erwischte den Jüngeren am Ende der Treppe, wo er ihn auf die Arme wuchtete und ihn auf die Stirn küsste. „Ich hab dich lieb, Ike." „Ich hab dich auch lieb, großer Bruder." Im Hause Stotch glich das morgendliche Beisammensein einem Drahtseilakt ohne Netz und doppelten Boden. Linda, mit rotgeränderten Augen und ungekämmten Haaren, hing mit einem Ausdruck über ihrer Kaffeetasse, als wolle sie jede Sekunde speien. Stephen versteckte sich demonstrativ hinter seiner Zeitung und mampfte seinen schlabbrigen Toast. Als er seinen Sohn die Treppe herunterkommen hörte, ließ er seine Lektüre sinken, begutachtete missbilligend sein Äußeres und sagte vorwurfsvoll: „Leopold! Schon wieder so ein unmöglicher Aufzug! Kannst du dich nicht anständig kleiden? Was sollen denn die Leute denken?" Butters trug ein ärmelloses türkisfarbenes Hemd, von dem er nur die letzten drei Knöpfe geschlossen hatte, sodass sein schöner Oberkörper zu sehen war. Die Hose war weiß und wies an beiden Seiten je einen schmalen Schlitz auf, der am Hosenansatz begann und auf der Höhe des Knöchels endete. Unter dem Netzstoff, der die Schlitze ausfüllte, konnte man die nackte Haut erahnen. Als Schmuck hatte Butters ein schwarzes Halsband mit einem Namensanhänger aus goldenen Buchstaben gewählt („LEO"), dazu einen schwarzen Lederarmreif für den rechten Oberarm, der mit silbernen Nieten besetzt war, sowie einen einzelnen silbernen Ohrring für das linke Ohr, der die Form eines Dreiecks hatte. „Ehrlich gesagt, Stephen", erwiderte Butters ungerührt, „interessiert es mich einen Scheißdreck, was die Leute denken. Ich ziehe mich so an, wie es mir gefällt und basta." „Ich dulde nicht, dass mein Sohn wie eine männliche Hure herumläuft!! Die Hälfte der jungen Kerle in diesem Kaff sabbert dich an!!" „Oh? Du scheinst dich ja gut mit männlichen Huren auszukennen. Und tatsächlich, ich habe eine Menge Verehrer, was aber nicht automatisch heißt, dass ich mit jedem davon in der Kiste war. Ich bin noch Jungfrau, wenn du‘s genau wissen willst. Sicher, ich flirte gern, und es macht mir eine Menge Spaß, die Jungs zu necken, aber ist das gleich ein Verbrechen? Ich stehe wenigstens zu dem, was ich bin, anstatt mich selbst zu belügen, so wie du das tust! Hör also bitte auf, mir die Schuld und die Verantwortung für deine Komplexe aufzubürden! Ich habe genug davon! Und danke der Nachfrage, ich frühstücke heute in der Schule!" Damit schmierte er sich rasch zwei Butterbrote, klatschte Schinken obendrauf und steckte das Ganze in seine Brotbox, die sofort in seinen Rucksack wanderte. „Was fällt dir ein?! Du hast einen Monat Hausarrest, Leopold!!" „Du bist keine Respektsperson mehr für mich, Stephen, daher nehme ich auch keine Anordnungen mehr von dir entgegen. Habe ich Hausarrest, Mom?" Linda blickte einen Moment unschlüssig zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn hin und her. Dann verzog sich ihr Mund zu einer harten Linie. „Nein, mein Baby. Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann und du keinen Unsinn anstellst. Pass aber trotzdem auf dich auf. Ich wünsche dir einen schönen Tag." Butters lächelte und küsste seine Mutter zum Abschied. Von seinem Vater verabschiedete er sich nicht. In der Diele schlüpfte er in seine kniehohen schwarzen Stiefel und hörte gerade noch, wie Stephen ärgerlich seinen Namen rief, bevor er das Haus verließ. »Weißt du was, Mistkerl? Fick dich!« An amerikanischen High Schools war eine wechselnde Stundeneinteilung unbekannt, man hatte fünf Tage die Woche die gleichen Stunden in der gleichen Reihenfolge, ihr individuelles Gepräge erhielten die Stundenpläne einzig durch die unterschiedliche Kurswahl des jeweiligen Schülers. Und von den sieben Kursen, die Kyle täglich besuchte, teilte er fünf mit Cartman, wobei es ihn nicht wenig erstaunt hatte, Mr. Quarterback ausgerechnet in seinen AP-Klassen anzutreffen. AP stand für „Advanced Placement" und diese Kurse behandelten die Themen des Faches mit wesentlich mehr Anspruch und Tiefe und stellten höhere Anforderungen als die normalen Kurse (oft hatten sie College-Level). Nur die besten Schüler besuchten mehr als eine AP-Klasse und Kyle weigerte sich noch immer, zu glauben, dass Cartman ebenfalls zu dieser Kategorie gezählt wurde. Seiner Meinung nach war er zwar nicht unintelligent, aber zu faul und desinteressiert, um auch nur einen dieser Kurse zu bestehen. Das Zusammentreffen der beiden Gegner erwies sich als vergleichsweise harmlos (zu Kyles unendlicher Erleichterung). Cartman redete ihn nicht an, mied jeglichen Blickkontakt und konzentrierte sich auf seine Arbeit und den Unterricht. Die Offenlegung seines Geheimnisses belastete ihn sehr und er brachte es nicht über sich, seinem geliebten Rivalen jetzt schon die Stirn zu bieten. Er hatte Angst. Eric hasste es, Angst zu haben, weil er es hasste, Schwäche zu zeigen. Er fühlte sich verletzbar und wehrlos, was seine ablehnende Haltung nur verstärkte. Die meisten Schüler machten an diesem Tag einen großen Bogen um diesen verwundeten Bären. Ein verwundeter Bär ist jedoch, wie jeder weiß, äußerst gefährlich - früher oder später musste die Bombe platzen. Es war 12 Uhr 30 und für Cartman und Kyle begann ihr AP-Englischkurs bei Mrs. Jenkins, den auch Butters, Token, Wendy, Gregory und Pip besuchten. Heute stand William Shakespeares „Romeo und Julia" auf dem Programm. Mrs. Jenkins, diesmal in einem knallroten Kostüm, marschierte die Reihen ihrer Gefreiten entlang und sagte: „Ich hoffe, Sie haben sich alle gut auf diese Sitzung vorbereitet und das Stück gelesen. Allgemein gilt ‚Romeo und Julia‘ als eine der berühmtesten Liebesgeschichten der Welt... und ich möchte nun, dass Sie Stellung dazu nehmen. Halten Sie das für gerechtfertigt? Wenn ja, warum, und wenn nicht, warum?" Wendy meldete sich. „Ja, Miss Testaburger?" „Also, um ehrlich zu sein, ich hatte... mehr erwartet. Natürlich ist es immer schwierig, ein Stück nur zu lesen, anstatt es aufgeführt zu sehen, so wie es ja eigentlich gedacht ist und wo Schwächen in der Handlung vielleicht nicht so auffallen. Aber wenn ich ‚Romeo und Julia‘ zum Beispiel mit ‚Stolz und Vorurteil‘ vergleiche, halte ich das Drama als Liebesgeschichte für eher unbefriedigend. Wenn man den tragischen Tod der beiden mal ausklammert, bleibt wenig übrig. Das gesamte Geschehen erstreckt sich lediglich über vier Tage! Und da soll mich dann die Romanze überzeugen? Es tut mir leid, aber nein. Sicher, die Szenen zwischen den Liebenden mit ihrer wunderbar schönen, lyrischen Sprache sind zweifellos beeindruckend, doch mir persönlich reicht das nicht. Zumal Romeo praktisch nie eine Sache zu Ende denkt und ständig übereilte Entscheidungen trifft, anstatt sich mal hinzusetzen und zu überlegen. Ich kann den Kerl nicht ausstehen." „Dazu möchte ich etwas sagen." „Bitte, Mr. Yardale." Wendy wandte den Kopf in Richtung Gregory und reckte herausfordernd das Kinn. Er schien es nicht zu bemerken. „Ich war auch ein wenig enttäuscht. Es gibt definitiv bessere Stücke von Shakespeare als ‚Romeo und Julia‘. Trotzdem denke ich, dass man die Protagonisten nicht verurteilen sollte. Romeo ist höchstens sechzehn und Julia erst dreizehn. Sie sind zu jung, als dass sie alle ihre Taten und Entscheidungen vernünftig überdenken würden. Sie wollen zusammen sein, das ist ihnen wichtig. Das kann man ihnen nicht vorwerfen." „Im Bezug auf Julia stimme ich dir zu, sie ist noch ein halbes Kind. Romeo hingegen ist meiner Ansicht nach alt genug, um Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen. Du bist nur ein Jahr älter als er, Gregory - würdest du dich an seiner Stelle auch so unbedacht verhalten?" Er sah sie verärgert an. „Nein. Ich bin ein sehr rationaler Mensch, ich lasse mich selten von meinen Gefühlen leiten. Romeo allerdings ist sehr emotional und außerdem verliebt. In diesem albernen Zustand ist man nicht zurechnungsfähig." Wendys Augen verengten sich zu Schlitzen. „Ach, ist das so? Er denkt nicht nach, weil er verliebt ist? Das lässt nur einen Schluss zu, nämlich, dass es nicht Romeos Verstand ist, der ihn führt, sondern sein... etwas anderes." Einige Mädchen im Kurs kicherten und Gregory wurde rot; ob vor Zorn oder Empörung, ließ sich nicht eindeutig festlegen. „Das ist deine These. Zugegeben, Romeo benimmt sich die meiste Zeit wie ein Dummkopf, aber Julias ‚Tod‘ ist eine Katastrophe für ihn. Findest du es nicht edelmütig, dass er sich opfert, weil er ohne sie nicht sein kann?" „Nein. Er zieht sich feige aus der Affäre, wenn du mich fragst. Anstatt dafür geradezustehen, dass er Julia verführt und in eine überstürzte Ehe getrieben hat, bringt er sich lieber um. Er ist ein Jammerlappen, der mit den Konsequenzen seiner Handlungen nicht leben kann. Und Julia, obwohl sie insgesamt mehr Mumm beweist als Romeo, ist auch nicht ganz schuldlos. Gut, sie ist sehr jung, aber leider hat sie offensichtlich auch keinen Verstand, weil sie sich von Romeo beschwatzen lässt. Was tut er denn, um sie zu beeindrucken? Er umgarnt sie mit schönen Worten, das ist alles! Wie dichtete Odgen Nash so treffend in ‚The Romantic Age‘ über eine seiner Töchter?" Sie räusperte sich kurz und zitierte: „This one is entering her teens, Ripe for sentimental scenes, Has picked a gangling unripe male, Sees herself in bridal veil, Presses lips and tosses head, Declares she‘s not too young to wed, Informs you pertly you forget Romeo and Juliet. Do not argue, do not shout; Remind her how that one turned out." Gregory biss sich auf die Lippen und sagte nichts mehr. Wendy war außergewöhnlich belesen, nie um Worte verlegen und sehr direkt. Gott, er konnte diese Ziege nicht ausstehen! Warum musste sie, die ihn gedemütigt hatte, so hübsch und so klug sein? Mrs. Jenkins warf ihm einen wissenden Blick zu und schmunzelte. „Gut, wie ich sehe, entwickelt sich hier bereits eine lebhafte Diskussion. Weitere Meinungen? Wie wäre es denn mit Ihnen, Mr. Broflovski?" „Nun, ich finde auch, dass das Stück in manchen Punkten eher zu Shakespeares mittelmäßigen Werken zählt, es hat nichts von der überwältigenden Intensität des ‚Macbeth‘ oder des ‚König Lear‘. Dennoch sind die Szenen des Liebespaares zu Recht unsterblich geworden. Die Sprache ist wunderschön, reich an Bildern und Poesie. Und dass Romeo und Julia so jung sind, erhöht die Tragik ihres Schicksals. Ich glaube, Shakespeare wollte demonstrieren, dass wahre Liebe keine Grenzen kennt und sich nicht nach gesellschaftlichen Konventionen richtet." „Tse. ‚Wahre Liebe‘. Dass ich nicht lache." Kyle spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken rann. Langsam, fast wie in Zeitlupe, drehte er sich zu Cartman, dessen verächtlicher Blick eine einzige Provokation war. „Was ist dein Problem, Cartman?", stieß er hervor. „Willst du etwa behaupten, Romeo und Julia wären gar nicht verliebt gewesen?" „Genau das." „Bist du verrückt!? Sie sterben füreinander!" „Falsch. Sie sterben wegen einander. Das Stück ist keine tragische Liebesgeschichte. Ich halte es für eine Satire. Romeo und Julia sind, um es salopp auszudrücken, geil aufeinander, sonst nichts. Es geht um Lust, nicht um Liebe. Die meisten vergessen anscheinend gern, dass Romeo am Anfang der Geschichte ein Mädchen namens Rosaline anschmachtet. Er beklagt, dass sie ihm nicht ‚ihren Schoß geöffnet‘ habe und ihre Schönheit unter einem Nonnenschleier begraben will. Noch am selben Tag begegnet er Julia und schon ist Rosaline aus seinen Gedanken verschwunden. Die Begründung? Julia ist schöner als Rosaline. Wow. Romeo ist ja so tiefsinnig. Und Julia ist keineswegs besser als er. Sie heiratet einen Mann, den sie seit ein, zwei Tagen kennt und steigt gleich darauf mit ihm ins Bett. Im Ernst, Jude, das soll ich als reine, wahrhaftige Liebe auffassen?" Kyle war einen Moment sprachlos. Cartmans Meinung basierte tatsächlich auf dem Text. Er hatte ihn wirklich gelesen und empfand das geschilderte Geschehen nicht als romantisch oder glaubhaft genug, um den Tod des Paares als tragisch zu verstehen. „Ich... ich gebe zu, man... man kann es durchaus so sehen", erklärte er zögernd, „aber die Sprache, die Shakespeare verwendet, zeigt klar, wie die Rosaline-Episode gemeint ist. Er legt Romeo abgenutzte Modeformeln petrarkistischer Liebeslyrik in den Mund, die traditionell eine unerreichbare Dame zum Ziel hat. Erst, als Romeo Julia kennenlernt, entwickelt er seinen eigenen Stil, sein Ausdruck erhebt sich ins Poetische. Julia ist seine wahre Liebe, deshalb haben andere Frauen keine Bedeutung mehr für ihn. Er kann nicht ohne sie leben." „Und deswegen bringt er sich um. Wie bescheuert." „Halt die Klappe, Cartman, sowas kapierst du nicht!" „Was heißt hier: Sowas kapiere ich nicht? Seine übereilte Entscheidung, das Gift zu kaufen, sein daraus resultierender Tod, der Julia veranlasst, sich ebenfalls das Leben zu nehmen... was wäre passiert, wenn Romeo nicht in der Gruft aufgetaucht wäre? Das hätte Julia das Herz gebrochen, sicher, aber sie hätte eine Zukunft gehabt, sie hätte weitergelebt. Und Paris, der durch seinen Besuch an ihrem Grab eine große Zuneigung für sie beweist, hätte ihr ein guter Ehemann sein können, er wird von Shakespeare nicht als unsympathisch dargestellt. Im Gegenteil, er ist geduldig, freundlich und Julia aufrichtig zugetan, während Romeo einen unüberlegten, aufbrausenden, hormongesteuerten Idioten abgibt, der den armen Paris ersticht, obwohl er nichts mit dem Familienstreit zu tun hat und nur gekommen ist, um Julia zu betrauern. In dieser Szene ist Romeo ein Arschloch. Und dann der ach so berühmte ‚Liebestod‘ - tse, hör mir bloß auf! Sich umzubringen, weil man ohne den geliebten Menschen nicht mehr leben will, ist Unsinn. Das hat nichts mit Romantik zu tun. Sowohl Romeo als auch Julia wählen ihren Tod auf egoistische Weise. Romeo sagt sich: ‚Die Frau, die ich liebe, ist tot. Ich habe keinen Grund mehr, zu existieren. Was kümmert mich der Schmerz meines Freundes Benvolio? Was kümmert mich der Schmerz meiner Eltern?‘ Und Julia sagt sich: ‚Der Mann, den ich liebe, ist tot. Ich habe keinen Grund mehr, zu existieren. Was kümmert mich mein Verlobter Paris, der tot zu meinen Füßen liegt? Warum sollte ich um ihn trauern? Was kümmert mich der Schmerz meiner Amme? Was kümmert mich der Schmerz meiner Eltern?‘ Es interessiert sie nicht. Der Geliebte ist tot, das ist das Ende. Bullshit, wenn du mich fragst. Totaler Bullshit." Kyle fixierte ihn, seine grünen Augen funkelten. „Du hast nicht ganz unrecht und ich begreife deine Argumente. Aber egal, wie töricht und egoistisch dir der Tod von Romeo und Julia auch vorkommen mag, sie waren zumindest eines Opfers fähig. Du würdest niemals irgendetwas opfern, Cartman. Für niemanden." Eric starrte ihn an, schweigend. Dann erhob er sich, lauernd, leise, in bedrohlicher Ruhe und ging zu Kyles Platz hinüber. Er stützte sich mit einer Hand auf dem Schreibpult ab und mit der anderen auf der Lehne des Stuhls, neigte sich vor und bannte den Rothaarigen mit dem lodernden Feuer in seinen Augen. „Für einen Menschen, den ich liebe, würde ich alles tun, Jude... sogar für ihn sterben, wenn es sein muss. Aber wenn ich für ihn sterbe, würde ich es tun, um sein Leben zu retten. Sollte er sich umbringen, weil er ohne mich nicht sein kann, so wäre mein Tod umsonst gewesen. Ich würde wollen, dass der geliebte Mensch, nachdem er getrauert und seinen Kummer verarbeitet hat, sein Leben weiterlebt und ein neues Glück sucht. Ich würde mich opfern, damit er leben kann - und nicht, damit er dieses Leben, das ich geschützt habe, einfach wegwirft. Ich erwarte nicht von dir, dass du mir das glaubst. Aber ich erwarte von dir, dass du dir nie wieder anmaßt, darüber zu urteilen, was ich tun oder nicht tun würde. Du kennst mich nicht, Jude. Du weißt nichts von mir." Damit kehrte er an seinen Platz zurück. Kyle wagte kaum zu atmen, er war verwirrt, wütend und unsicher. Was bezweckte Cartman mit diesem Theater? Wollte er ihm ein schlechtes Gewissen einreden? Sein Entschluss, ihm eine allerletzte Chance zu geben, geriet ins Wanken. Er konnte sich nicht mit diesem manipulierenden Arschloch anfreunden, er war zu... zu... zu Cartman eben! Auch wenn er sehr schöne Augen hatte... »Ah, Scheiße!! Ich hasse meine Hormone!!« „...Äh... ja... das war... aufschlussreich.", meinte Mrs. Jenkins in heiterem Tonfall, um die angespannte Stimmung etwas aufzulockern. „Tatsächlich existieren in der Forschung zwei gegensätzliche Meinungen zu ‚Romeo und Julia‘. Die einen sehen es als die Geschichte einer großen Liebe, die Grenzen und Konventionen sprengt, die anderen als eine Satire, die mit dem Ideal der jungen, reinen Liebe aufräumt und aufzeigt, wo es enden kann, wenn sich Menschen blind ihren Leidenschaften hingeben. Für sie liegt die eigentliche Tragödie in dem alten, verhärteten Hass der beiden Familien, an dessen Ursprung sich niemand mehr erinnern kann und an dem trotzdem festgehalten wird." „Moment mal... soll das heißen, Cartmans Ansicht ist korrekt?", fragte Kyle verblüfft. „Es gibt Literaturwissenschaftler, die das Stück genauso auffassen?" „Natürlich. Literatur wird stets subjektiv gedeutet, Mr. Broflovski. Interpret A sagt dieses, Interpret B sagt jenes. Belegen sie es mit passenden Zitaten aus dem Text, ist beides möglich. In der Mathematik ergib eins plus eins immer zwei, aber in der Literaturwissenschaft existiert kein klares richtig oder falsch. Da kann eins plus eins vieles sein, nur nicht zwei. Gerade das macht die Beschäftigung mit Literatur ja so spannend. Es mag ein gewisser Konsens vorherrschen, wie dieses oder jenes Werk allgemein zu interpretieren ist, das ist jedoch keine zu hundert Prozent verbindliche Lösung. Sie tendieren im Falle von ‚Romeo und Julia‘ zu Sichtweise A, Mr. Cartman zu Sichtweise B. Beides ist legitim und völlig in Ordnung. Die in der neueren Forschung bevorzugte, weil gemeinhin als korrekter angesehene Interpretation ist allerdings die von Mr. Cartman und Miss Testaburger. Nicht umsonst hat ‚Romeo und Julia‘ den Ruf, das am häufigsten falsch verstandene Drama der Weltliteratur zu sein." „Aber...!" Kyle biss sich auf die Lippen und wünschte sich sehnlichst das Klingelzeichen herbei, damit er Cartman für sein triumphierendes, selbstgefälliges Grinsen erwürgen konnte. Um 13 Uhr 30 musste sich Kyle auf AP Calculus einstellen, während es sich Stanley Marsh in der Studierhalle gemütlich machte und mit seinen Hausaufgaben begann. „Yo Alter, was geht ab?" „Oh, hallo Kenny! Was ist denn mit dir passiert? Was soll die Augenklappe?" Kenny warf seinen Rucksack auf den Tisch (wobei die Hälfte des Inhalts heraus kullerte) und schwang sich auf den Stuhl, der Stan gegenüberstand. „Die Augenklappe versteckt mein hübsches Veilchen, ein Souvenir von letzter Nacht, als ich versucht habe, ‘ne heiße Braut abzuschleppen. Ihr Macker hatte leider was dagegen. Eifersucht ist echt eine blödsinnige Erfindung. Ich bin froh, dass ich noch nie eifersüchtig war." „Du warst noch nie eifersüchtig? Ehrlich?" „Klar. Ich kenne meine Sexpartner ja gar nicht. Wir vögeln und fertig. Da gibt‘s keinen Anlass zur Eifersucht, wofür ich dankbar bin. Weniger dankbar bin ich für meine Hausaufgaben. ‚It‘ verlangt so ‘n dämlichen Aufsatz von uns, über den Sezessionskrieg. Wir haben den besprochen... so irgendwie... aber bei ‚It‘ verstehen wir alle bloß Bahnhof. Außerdem durften wir uns ellenlange, gähnend langweilige Schilderungen über einen angeblichen Vorfahren von ‚It‘ anhören, der zu der Zeit gelebt haben soll. Komisch nur, dass das Ganze wie eine billige Kopie von ‚Vom Winde verweht‘ klingt!" „Wie lang soll der Aufsatz sein?" „Mindestens drei Seiten, wo ich doch noch nich‘ mal Grußkarten vollkriege. Wenn ich diesen verdammten Kurs nicht bestehen müsste..." „Warum hast du ihn überhaupt gewählt, wenn du das Fach hasst?" Kenny seufzte. „Ich hasse nicht das Fach, ich hasse die Lehrkraft, die es unterrichtet. Und was hätte ich sonst nehmen sollen? Ich brauche drei Credits im sozialwissenschaftlichen Bereich; zwei davon habe ich schon, ich hab‘ Weltgeschichte gemacht, bei Miss Watson, die total super ist, und dann noch Erdkunde, bei Mrs. Jenkins. Der Rest is‘ nix für mich. Politik, Wirtschaft, Soziologie, Recht oder gar Psychologie... bäh, da würde ich noch mehr abstinken. Wenn ‚It‘ seinen... ihren... Unterricht doch nur ein bisschen interessanter rüberbringen würde..." Stan betrachtete das blonde Häuflein Elend vor sich auf dem Stuhl, überlegte eine Weile und bot schließlich an: „Ich könnte dir Nachhilfe geben, wenn du willst. Ich war immer gut in Geschichte und vielleicht kann ich dir den Lernstoff besser vermitteln als ‚It‘? Ich weiß zwar nicht, ob ich das Zeug dazu habe, jemandem was beizubringen, aber einen Versuch ist es wert. Was meinst du?" Die Sonne ging auf. Kennys Mund teilte sich in einem überraschten, glücklichen, strahlenden Lächeln, das ein unwiderstehliches Leuchten in seine Augen zauberte. Er ergriff Stanleys Hände und drückte sie begeistert. „Das würdest du tun? Danke, Kumpel, das ist einsame Spitze!" Stan starrte auf ihre verschränkten Hände und fühlte sich plötzlich seltsam nervös. Er lächelte seinen Freund schüchtern an, und Kenny, gänzlich hingerissen von diesem Lächeln, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Ein Räuspern unterbrach die Situation. Es war Gary Harrison, dessen Blick die ineinander gelegten Hände streifte, ohne eine Veränderung in der höflich-freundlichen Mimik seines Gesichts auszulösen. Nur der Zug um seinen Mund schien energischer geworden zu sein. Er trug Jeans und sein weiß-rotes Spieleroberteil mit der Nummer Zehn. „Gary... wie gut, dass du da bist, ich wollte ohnehin mit dir sprechen." „Ich wollte auch mit dir sprechen, Stan. Es sei denn, ich störe gerade?" Kenny war versucht, „Ja, du störst!" zu sagen, schluckte es jedoch hinunter. Er konnte sich denken, worum es ging und so ließ er die Hände des Schwarzhaarigen missmutig los. Seine Sympathien für Gary musste man als minimal bezeichnen, obwohl er selbst nicht hätte erklären können, warum er den anderen nicht mochte. Er empfand eine starke Abneigung gegen ihn, deren Ursprung ihm ein Rätsel war, denn Harrison hatte ihm nie etwas getan. „Es geht vermutlich um... na ja, um die ‚Sache‘?" „Ja. Es geht um die ‚Sache‘. Ich kann nicht länger davor davonlaufen.", erwiderte Gary ernst. „Allerdings sollten wir das lieber unter vier Augen..." „Schon kapiert", brummte Kenny angesäuert, „Ich verzieh mich." Er sammelte seine Habseligkeiten auf, warf sich den Rucksack über die Schulter und verkrümelte sich in eine der hintersten Ecken der Studierhalle, wo er seinen neuen „Playboy" auspackte. Aus irgendeinem Grund gelang es ihm jedoch nicht, sich ausschließlich auf seine Bunnys zu konzentrieren, immer wieder ließ er das Heft sinken, um möglichst unauffällig in Richtung Stan und Gary zu linsen. Der Kapitän der Soccermannschaft saß jetzt auf dem Platz, den er freigemacht hatte, redete eifrig auf seinen Gegenüber ein und wirkte überhaupt reichlich nervös. Stanley ließ keinerlei Ungeduld erkennen, er hörte aufmerksam zu. Kein Wunder. Er war seit jeher ein guter Zuhörer gewesen, vertrauenswürdig und mitfühlend. In der Vergangenheit hatte seine sensible Art ein paar Leute dazu gereizt, ihn zu verspotten oder zu verprügeln (allen voran seine eifersüchtige Schwester), bis sie es eines Tages büßen mussten. Für Stan galt: Weiche Schale, harter Kern. Er war ein netter, fürsorglicher Mensch, der sinnlose Streitereien verabscheute. In seinem Zorn aber konnte er unberechenbar sein. Um ihn wirklich wütend zu machen, bedurfte es einiges - der Verhöhnung seiner Überzeugungen und Prinzipien, zum Beispiel. Er war nur schwer zu provozieren, doch wenn die Grenze überschritten war...dann war man am Arsch. Kenny würde niemals vergessen, wie Stan mit acht oder neun Jahren mehrere Walfängerschiffe unter Beschuss nahm und versenkte, um ein Exempel zu statuieren. Hatte man den Krug erst einmal zum Überlaufen gebracht, mutierte er zum Badass. Mit vierzehn, nach seinem unfreiwilligen „Ich-bin-eigentlich-noch-nicht-soweit"-Coming Out durch Wendy, schloss er sich ein zweites Mal den Goths an und wurde innerhalb weniger Wochen ihr neuer Anführer. Seine „Regentschaft" dauerte zwar nur ein knappes halbes Jahr, aber man munkelte, dass er auch heute noch Verbindungen zur Szene habe. Derartige Gerüchte festigten Stanleys Ruf als „der nette Kerl mit der dunklen Seite". Und mit seinem rabenschwarzen Haar und seinen durchdringenden dunkelblauen Augen passte er ziemlich genau zu diesem zugkräftigen Image. Ganz davon abgesehen, dass dem sonst so süßen Stan Sex-Appeal aus sämtlichen Poren tropfte, wenn er die Zähne zeigte. Kenny fand nichts heißer als das, nicht einmal seine vier geliebten „Bs", Bunnys, Butters, Bebe und Beyoncé. Und das Gespräch drehte sich um die „Sache", Harrisons Kuss. Dass sich dieser Pomadenjüngling so etwas überhaupt traute! »Hätte ich nicht gedacht, echt. Einfach so hinzugehen und Stanley zu küssen... der hat Nerven! Ich meine... ich meine, Stan knutscht nich‘ in der Gegend rum, er ist sehr wählerisch. Und dann hat er ja auch noch sein Handicap - wenn er jemanden mag, ist Küssen kein Problem, aber wenn er jemanden nicht mag und der will was, sollte man besser eine Kotztüte bereithalten. Andererseits ist ihm nicht schlecht geworden, als Harrison ihn geküsst hat... was bedeutet, dass Stan ihn mögen muss. Na toll.« Seine Stimmung verdüsterte sich rapide. Was war los mit ihm? Wenn ihn nicht einmal der aktuelle „Playboy" ablenken konnte... vielleicht wurde er krank? Oder hatte er etwas Falsches gegessen? Während Kenny leicht beunruhigt seine Stirn befühlte, brachte Gary unter Stottern sein Anliegen vor. „Stan... es... es tut mir sehr leid, dass ich... also, dass ich... deine Privatsphäre... nicht respektiert habe... und dass ich... na ja, dass ich dich gekü- ...gekü- ...geküsst habe... Ich hätte das nicht tun dürfen. Aber ich... ich... habe... dich gern. So richtig. Also, nicht, dass ich dich vorher nicht auch richtig gerngehabt hätte, jetzt ist es nur ...stärker... und ein bisschen anders." Sein Sprechen wurde hastig, sein Gesicht glühte wie eine rote Signalleuchte. „Ich weiß, du siehst in mir nur deinen Kapitän und Teamkameraden, aber ich... ich... ich..." Er holte tief Luft. „...aberichmöchtemehrfürdichseinundwürdedeshalbgernemalmitdirausgehenbitte." Der Satz kam als zusammenhängendes Ungetüm heraus und in einer Geschwindigkeit, als wolle Gary einen Rekord aufstellen. Stan verstand fast kein Wort. „...Hä?" „Ich sagte: Ich möchte mehr für dich sein und würde deshalb gerne mal mit dir ausgehen, bitte.", wiederholte der Mormone unter Aufbietung all seiner verbliebenen Nervenstränge. Seine Augen ruhten sehnsüchtig auf diesem ebenmäßigen Antlitz, das er so gut kannte. Ob nun glücklich, niedergeschlagen, enttäuscht oder fröhlich, es war ihm in mancher Hinsicht vertrauter als sein eigenes Spiegelbild. „Wenn du nicht willst, ist das natürlich auch okay!", beteuerte er eifrig, weil sein Angebeteter immer noch schwieg. Er wusste, dass Stan nicht in ihn verliebt war, aber er hoffte, dass er ihm wenigstens eine Chance geben würde. „Du... möchtest mit mir ausgehen?" „Ja." „Wohin?" „Keine Ahnung... ins Kino? Zum Tanzen? In ein Restaurant? Was dir gefällt." Erneut Schweigen. Endlich sagte Stan: „Gary... ich mag dich wirklich, doch nur wie einen Freund. Da du es dir aber so sehr wünschst, bin ich bereit, mit dir auszugehen. Ich weiß nicht, ob sich daraus etwas entwickeln könnte... ich will dir keine falschen Hoffnungen machen. Wir versuchen es, mehr nicht. Ist das in Ordnung?" „Ja!! Ich war ja nicht einmal sicher, ob du nach meinem...meinem ‚Ausrutscher‘ noch mit mir reden würdest. Wann hast du Zeit?" „Nächsten Samstag wäre prima. So gegen acht. Kannst du mich abholen?" „Ja. Also nächsten Samstag. Klasse!" Er wandte sich zum Gehen. „Oh, und Stan?" „Hm?" „Wir sehen uns beim Training?" Stan lächelte. „Natürlich, Käpt‘n. Wir sehen uns beim Training." Fünf Minuten nach Garys Abgang schlurfte Kenny zu seinem Platz zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen wie ein Sack Mehl. Eine Weile blätterte er in seinem Magazin, ohne seinen Gegenüber zu beachten. Dann fragte er so desinteressiert wie möglich: „Harrison und du hattet wohl einiges zu klären. Wie steh‘n die Aktien?" „Tja... ich schätze, ich habe ein Date." „Oh." Es war ein sehr deutliches Oh. „Sind Glückwünsche angebracht?" „Ich weiß nicht genau. Ich mag Gary, er ist ein wahnsinnig netter Kerl, er sieht gut aus und alles, aber ich habe ihn nie als... als Datingmaterial betrachtet, verstehst du? Immer nur als Kumpel. Vielleicht könnte ich lernen, ihn auf andere Art gernzuhaben, es könnte aber auch sein, dass es so bleibt, wie es ist. Und wenn es so bleibt, muss ich ihm das Herz brechen. Ich bin nicht scharf darauf, glaub mir. Schließlich will ich ihn ja nicht verletzen. Aber soll ich ihm was vorlügen? Das würde ihn erst recht verletzen." „Lieber ein Ende mit Schmerzen als Schmerzen ohne Ende, sag ich immer." „Wahrscheinlich hast du recht..." „Und jetzt entschuldige mich, ich geh draußen eine rauchen." Damit wirbelte Kenny davon, hinaus aus dem Schulgebäude, auf den Hinterhof, wo der allgemeine Raucherplatz war. Er warf den Rucksack zu Boden, zündete sich eine Zigarette an und nahm ein paar schnelle Züge, das Nikotin verschaffte ihm aber nicht die gewohnte Entspannung. Er starrte auf das Heft in seiner Hand, rollte es plötzlich zusammen und stopfte es in einer heftigen Bewegung in eine der Mülltonnen. Heute war ein Scheißtag. »Warum hat Stan bloß Training, warum?« Kyle hatte Kopfschmerzen. Es war Viertel nach drei, offizieller Schulschluss. Die Aktivitäten der zahlreichen Clubs und das Training der Sportmannschaften fielen in die Zeit danach, nur leider nicht immer günstig. Heute zum Beispiel hatte Stan Soccer, während Kyle erst morgen wieder Judo haben würde. Dasselbe galt für Football, er lief also Gefahr, Cartman auf dem Weg zum Parkplatz zu begegnen. In Stans Begleitung wäre es zu ertragen gewesen, aber so? Unbewusst beschleunigte er seine Schritte. Das einzig Gute an diesem verdammten Tag war die Tatsache, dass Mrs. Jenkins nicht die Inhaltsangaben eingefordert hatte, die Cartman und er gestern beim Nachsitzen hätten anfertigen sollen - Cartman hatte wie üblich geschwänzt und Kyle hatte Darmprobleme vorgeschützt und sich alle zehn Minuten auf die Toilette verdrückt, um die Stunde künstlich zu verkürzen. Bei dem diensttuenden Lehrer hatte es sich um ein staubtrockenes Fossil gehandelt, bei dem es Kyle nicht gewundert hätte, wenn er von einer Windböe zerbröselt worden wäre. Und diese Englischstunde! Er knabberte immer noch an dem, was Cartman gesagt hatte und ertappte sich dabei, wie er ihm zumindest im letzten Punkt zustimmte. Sich umzubringen, weil der Geliebte tot war, das war absolut nicht romantisch, das war Bullshit. Schmerz, Trauer, Kummer, das war verständlich, doch Selbstmord? Selbstmord war eine egoistische, feige Tat, nichts anderes. Wer wirklich liebte, würde niemals zulassen, würde niemals wollen, dass der geliebte Mensch sich tötete. Die Liebe von Romeo und Julia war zu verzehrend, zu ausschließlich, zu selbstbezogen, um im Leben bestehen zu können. Sie blendete die Welt aus...und man konnte nun mal nicht in der Welt existieren, wenn man sie ausblendete. Man durfte auch der Liebe nicht alles unterordnen. Er erreichte sein Auto und kramte in seinen Hosentaschen nach seinem Schlüssel. Nichts. Irritiert hielt er inne. Hatte er den Schlüssel vielleicht in seinen Aktentaschenverschnitt (Geschenk von Daddy) gesteckt? Er öffnete sie, durchwühlte sämtliche Fächer. Wieder nichts. Was zum Teufel...? „Suchst du das hier?" Natürlich. Wer sonst würde in der Umkleide lange Finger machen? Da stand er, breitbeinig, prahlerisch, mit diesem grässlichen Grinsen im Gesicht, und am Finger seiner erhobenen Hand baumelte der vermisste Autoschlüssel. Kyles Augen verwandelten sich in Speere aus Smaragd und durchbohrten Cartman. »Ah, deine Augen, Jude... was für fürchterliche Blicke du mit ihnen schleudern kannst!«, dachte Cartman bewundernd und verärgert zugleich. Er wusste, dass er unvernünftig, dass er noch nicht bereit war, sich nach alter Manier mit ihm anzulegen, aber sein Drang, Kyles Feuer zu entfachen, den Vulkan zum Ausbruch zu bringen, war einfach stärker als er. Er hätte schon bei „Romeo und Julia" die Klappe halten sollten, doch dazu war sein Rivale zu... zu... na ja, zu interessant. Belesen, scharfsinnig und sprachgewandt, konnte er jeden verbal auseinander schrauben, zielgerichtet und gnadenlos. Kyle zu widersprechen, hieß in den meisten Fällen, ein Gewitter heraufzubeschwören, wenn man sich nicht auf eine geschickte Verteidigung verstand. Kyle war... er war... wie ein Blitz. Eine elektrische Entladung, hell, leuchtend, doch in all ihrer Kraft und Majestät gefährlich. Das Feuer des Himmels, in seinem Wüten zerstörerisch und gewaltig, forderte Respekt für seine Stärke. Kyle. Der Name war wie Säure auf seiner Zunge. Oder wie Gift. Er machte ihn krank, verletzlich, angreifbar, schwach. Er ließ ihn leiden. Niemand sonst konnte das von sich sagen. „Ich nehme an, du willst den Schlüssel wiederhaben? Nun, vielleicht gebe ich ihn dir zurück, wenn du mich recht schön bittest." „Gib her." Das war keine Bitte, das war ein Befehl. „Wie unhöflich du bist! Aber von einer dummen, dreckigen Ginger-Jersey-Juden-Ratte habe ich auch nichts anderes erwartet. Wie lebt es sich eigentlich, wenn man weiß, dass man eine Beleidigung für die menschliche Rasse ist?" „Unsere Definition von dem, was eine Beleidigung für die menschliche Rasse ist, dürfte ziemlich unterschiedlich sein, Arschloch. Und jetzt gib mir den Schlüssel!" „Hm... nein. Deine schlechten Manieren enttäuschen mich, also werde ich ihn dir nicht geben. Aber ich habe heute meinen netten Tag. Du darfst ihn dir holen." Damit öffnete Cartman ohne mit der Wimper zu zucken Knopf und Reißverschluss seiner Jeans und ließ den Schlüssel vorsichtig in seine Boxershorts gleiten. Es fühlte sich unangenehm an, Kyles entgeisterter Gesichtsausdruck entschädigte ihn jedoch reichlich. „Was ist? Hast du Schiss?" „Das - ist - nicht - dein - Ernst!! Ich werde auf keinen Fall da reinfassen!!!" „Nicht? Wie schade." Cartmans Lächeln wirkte so unschuldig, als könne er kein Wässerchen trüben. Der Rothaarige zitterte am ganzen Körper, er stand kurz vor der Explosion. Er begriff genau, dass es seinem Feind weniger um den homoerotischen Aspekt als um die reine Demütigung ging. Er, Kyle, sollte sich erniedrigen lassen. Für einen Autoschlüssel. „Cartman... du bist und bleibst ein mieser Bastard! Du wirst dich nie ändern oder irgendwie weiterentwickeln! Ich würde dich anspucken, wenn mir meine Spucke nicht zu schade wäre! Du kotzt mich an, verstehst du!? Ich hasse dich! Und ich werde dich immer hassen!!" Er packte den anderen, warf ihn zu Boden und stellte einen Fuß auf seinen Brustkasten. Cartman rang nach Luft; seine Knochen knackten, alles tat ihm weh. „Gib. Ihn. Her." Jetzt war es eine Drohung. Der niedergestreckte Quarterback angelte den Schlüssel aus seinen Shorts, sah sich einen Moment um, grinste plötzlich hämisch und platzierte das gute Stück mit einem geschickten Wurf in einem malerischen Häufchen Hundekot. „So besser, Jude?" „Du...!!!" Das gesamte Gewicht lastete nun auf dem Fuß, das Atmen wurde anstrengend. Cartman biss die Zähne zusammen, umfasste den Fuß mit seinen großen Händen und versuchte, ihn von sich wegzudrücken. Kyle war zwar durchtrainiert und sehr kräftig, doch bei einem direkten Vergleich ohne Judotechniken zog er in der Regel den Kürzeren, so auch diesmal. Der Brünette hob den Fuß Zentimeter um Zentimeter, richtete sich langsam auf und stieß ihn endlich mit voller Wucht in den Staub. Kyle landete unsanft auf der Seite und schürfte sich den Arm auf. Der Hass in seinen Augen traf Eric wie eine gezackte Klinge; trotzdem kam ein verächtliches Lachen aus seiner Kehle. „Ich werde mich nie ändern oder weiterentwickeln, Mr. Neunmalklug!? Darf ich erfahren, in welcher Hinsicht du dich geändert hast? Du bist derselbe arrogante, eingebildete, scheinheilige Mistkerl, der du immer gewesen bist!! Selbstgerecht sitzt du auf deinem Schulprimusthron und beurteilst alles und jeden nach deinen persönlichen Kriterien - und wer ihnen nicht entspricht, hat Pech gehabt! Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass deine Kriterien vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss sind?!" „Das sagst ausgerechnet du?! Wenn jemand eine andere Meinung hat als du, ist er bei dir unten durch! Wer keine Lobeshymnen auf dich singt, ist nichts wert! Wirf mir also gefälligst nicht vor, ich wäre selbstgerecht!! Ich kümmere mich um die Probleme meiner Mitmenschen, obwohl ich selbst welche habe, während du...!!" „Probleme? Was hast du denn für Probleme!? Sicher, deine Mutter ist ‘n überfürsorglicher Kontrollfreak und dein Vater ein Pantoffelheld... aber sonst? Du stammst aus einer reichen Familie, du brauchst nicht mal einen Nebenjob, um dir dein verdammtes Auto, deine Klamotten oder deinen supermodernen Laptop leisten zu können, Daddy bezahlt alles! Du hast es nicht nötig, für dein Geld zu arbeiten, du machst keine Überstunden oder schuftest vier Tage die Woche bis spät abends, weil ein verantwortungsloser Elternteil deine sauerverdienten Kröten verpulvert! Du hast eine richtige Familie, mit Menschen, die füreinander da sind, die sich wirklich für dich interessieren, anstatt dich als unerwünschte Last zu betrachten! Klar gibt‘s Schwierigkeiten, aber du hast jemanden, der dir zuhört, jemanden, der dich nicht vergisst oder anlügt oder ignoriert! Ich kapier‘s nicht! Ich kapier‘s einfach nicht!! Du jammerst auf hohem Niveau, weißt du das!? Du siehst nicht, was du hast, und da du es nicht siehst, würdigst du es auch nicht...aber natürlich bin ich derjenige, der nichts dazugelernt hat...!" Kyle starrte ihn an. Du hast es nicht nötig, für dein Geld zu arbeiten. Du machst keine Überstunden. Du schuftest nicht vier Tage die Woche bis spät abends, weil ein verantwortungsloser Elternteil deine sauerverdienten Kröten verpulvert. Sondern ich. Ich muss für mein Geld arbeiten. Ich mache Überstunden, ich schufte vier Tage die Woche bis spät abends, weil meine Mutter meine sauerverdienten Kröten verpulvert. „Cartman... du..." Du hast eine richtige Familie. Du hast Menschen, die füreinander da sind, die sich wirklich für dich interessieren. Menschen, die dich nicht als unerwünschte Last betrachten. Du hast jemanden, der dir zuhört. Niemand vergisst, belügt oder ignoriert dich. Ich wurde vergessen. Ich wurde belogen und ignoriert. Meine Mutter hört mir nicht zu. Sie interessiert sich nicht für mich, sie ist nicht für mich da. Ich bin eine Last für sie und sie ist eine für mich. Wir sind keine Familie. Und wir werden nie eine sein. Kyle sagte nichts. In seinem Zorn hatte ihm Cartman indirekt mehr verraten, als er wohl je beabsichtigt hatte. Du hattest alles, was ich mir wünschte. Seine Worte von gestern! Erst jetzt wurde ihm klar, dass er damit recht hatte. Cartman reagierte auf seine Umgebung wie ein misshandeltes, in die Enge getriebenes Tier, das sich mit Zähnen und Klauen aggressiv gegen jeden verteidigte, der sich ihm näherte, aus Angst, erneut verletzt zu werden. Das war seine Art, sich zu schützen. Er hatte nichts anderes gelernt. Wieder stiegen Scham und Schuld in ihm hoch, doch er kämpfte sie nieder. Cartman als Menschen mit einem fühlenden Herzen zu begreifen, war ziemlich seltsam, geradezu unheimlich - und außerdem machte er es einem auch wirklich nicht leicht, ihn zu mögen. Wenn er ihn liebte, warum konnte er dann nicht nett zu ihm sein? Schweigend holte er ein Taschentuch aus seiner Aktentasche und puhlte angeekelt seinen Schlüssel aus dem Hundehaufen. „Du hast gesagt, du liebst mich und trotzdem bist du fies zu mir. Solltest du dich nicht lieber von einer besseren Seite zeigen?" „Was soll das bringen? Warum sollte ich mich anders verhalten als ich bin? Du würdest mich sowieso durchschauen. Ich bin gerne fies zu dir, weil ich es liebe, mit dir zu streiten. Hast du das immer noch nicht verstanden? Ich werde dich nie mit Samthandschuhen anfassen. Ich werde nie aufhören, dich zu ärgern und zu beleidigen. Ich liebe es, wenn du dich wehrst. Ich liebe es, wenn du mir etwas heimzahlst. Du lässt dir nicht die geringste Scheiße von mir bieten. Ich bin keiner von den Kerlen, die sich für die ‚Jungfrau in Nöten‘ begeistern. Jemand, der untätig herumsitzt und darauf wartet, von seinem Traumprinzen gerettet zu werden, kann mich mal am Allerwertesten. Ich finde Stärke anziehend. Willenskraft. Temperament. Schlagfertigkeit." »Ich auch.« dachte Kyle unwillkürlich, aber er behielt das für sich. „Ich werde nicht anfangen, dich anders zu behandeln, nur weil du jetzt über meine Gefühle Bescheid weißt. Ich bin ja immer noch ich. Aber ich gebe zu, dass ich... dass ich mich freuen würde, wenn du... vielleicht... möglicherweise... ein bisschen mehr Zeit mit mir verbringen könntest als bisher...?" Er wurde rot bei diesem Vorschlag. Kyle versuchte, den Anflug eines Lächelns zu unterdrücken, doch es misslang ihm. „Ich... ich weiß nicht recht. Ich werde es mir überlegen." Cartman, verwirrt, überrascht, erwiderte das scheue Lächeln. Allerdings nicht lange, denn das vertraute Organ von Mrs. Jenkins ließ sie herumfahren. Die Lehrerin war unversehens hinter ihnen aufgetaucht und musterte sie streng. „Oh... was können wir für Sie tun, liebe Mrs. Jenkins?" „Raspeln Sie kein Süßholz, Mr. Cartman. Und Sie ebensowenig, Mr. Broflovski. Wissen Sie, ich bin froh, dass ich Sie noch antreffe, ich habe nämlich ganz vergessen, Ihre Inhaltsangaben einzusammeln. Wenn Sie sie mir bitte aushändigen würden..." Shit. Und hier endet Kapitel 5! Es ist schon wieder so ein Monster... Verzeihung, dass ich Euch ständig so lange an den Bildschirm zwinge! *verbeug* Ich hoffe, es hat Euch gefallen, Kommis sind wie immer erwünscht!^^ Kapitel 6: That's what friends are for -------------------------------------- Hallihallo, liebe Leser, ich bin zurück! Und ich wünsche Euch allen ein gutes neues Jahr, auch wenn es jetzt schon ein wenig spät dafür ist!^^ Hier ist also Kapitel 6, mit ein bisschen Creek und noch etwas mehr Tyde - und Craig, Tweek, Clyde und Token sind nun auch in den Steckbriefen zu finden. Ich wünsche Euch viel Spaß beim Lesen! Kapitel 6: That‘s what friends are for Der beste Weg, einen Freund zu haben, ist der, selbst einer zu sein. - Ralph Waldo Emerson Ein Monat war ins Land gegangen. Es war Mitte Oktober, und obwohl es ein paar kühlere Tage gegeben hatte, zeigte sich das Wetter golden und mild. Stanley saß im „Funky Town", seiner Lieblingskaraokebar (es gab noch zwei weitere in South Park, eine im Ghettoviertel und eine, die nur Leute ab siebzig aufwärts anlockte und neben dem Altersheim stand) und studierte die Musikauswahl. Seine letzte Verabredung mit Gary hatte hier stattgefunden. »Ich bin jetzt dreimal mit ihm ausgegangen... und es hat immer Spaß gemacht. Trotzdem ist es nicht anders, als wenn ich mit Kyle und Kenny und Cartman abhänge, für mich ist es ein Abend mit einem Kumpel, nicht mit einem richtigen Date. Gary ist glücklich, aber wie lange soll das so weitergehen? Ich mag es, außerhalb der Schule oder des Trainings Zeit mit ihm zu verbringen...aber mache ich ihm dadurch nicht doch falsche Hoffnungen, obwohl ich das vermeiden wollte?« Wobei besagte dritte Verabredung nicht so hundertprozentig gelungen war wie die davor. Gary hatte viele Talente, Singen gehörte allerdings nicht dazu und er wusste es. Deshalb war eine Karaokebar sein natürlicher Feind (es gab andere, bei denen es sich genauso verhielt, die hatten bloß keine Ahnung davon und liebten es, ihre Umgebung mit miesem Gesang zu malträtieren). Er bewunderte Stan für sein musikalisches Können und himmelte ihn an, wenn er auf der Bühne stand, doch seine Begeisterung wirkte manchmal ein wenig gekünstelt und sein Interesse an verschiedenen Sängern und Stilen schien vorgetäuscht. Stan hätte die Wahrheit bevorzugt („Ich kann nichts damit anfangen." oder „Ich verstehe nichts davon."), aber statt dessen bekam er nettgemeinte Heuchelei. Die Bemühungen Garys und seiner Familie, zu allen Menschen immer freundlich und höflich zu sein, waren sicher lobenswert, es hatte aber auch etwas Unnatürliches und Verkrampftes an sich. Manchmal war man eben wütend oder missmutig, hatte mit schlechter Laune oder Frust zu kämpfen. Gary unterdrückte negative Regungen für gewöhnlich, wenn sie also an die Oberfläche drangen, musste wirklich etwas sehr Ernstes vorgefallen sein oder eine Person betreffen, die ihm viel bedeutete. Und es hatte ihn sicher viel Mut gekostet, ihm gegenüberzutreten und ihn um ein Date zu bitten. »Oh Mann... was soll ich tun? Ich bin nicht verliebt in Gary, aber ich will auch nicht, dass unsere Freundschaft den Bach runtergeht. Warum macht das Erwachsenwerden alles komplizierter? Manchmal wäre ich gerne wieder neun Jahre alt...« Er horchte auf, als eine vertraute Melodie seine Ohren erreichte, „The Last Unicorn" von America. Da er mit dem Rücken zur Bühne saß, drehte er sich um und betrachtete neugierig die Person, die gerade das Mikrophon aus seiner Halterung löste. Sie trug Baggypants in Tarnfarben und einen schwarzen Kapuzenpulli, beides weit und schlabberig, sodass keine geschlechtsspezifischen Merkmale zu erkennen waren. Nur die Größe und die breiten Schultern sprachen für einen Jungen. Stans Verdacht wurde bestätigt, als der Fremde zu singen begann. „When the last eagle flies Over the last crumbling mountain And the last lion roars At the last dusty fountain. In the shadow of the forest Though she may be old and worn They will stare unbelieving At the last Unicorn..." Stan hielt den Atem an. Hier in South Park hatte er noch nie eine solche Stimme gehört. Er wusste, dass er selbst ein guter Sänger war und übertroffen hatte ihn bisher nur Token, doch diese Stimme... diese Stimme war makellos. Weich, sanft, anschmiegsam, bewegend, gefühlvoll, tenorgleich. Wer war der Sänger? Die Kapuze verbarg sein Haar, eine dunkle Sonnenbrille seine Augen und die Beleuchtung, stimmungsvoll gedämpft, half auch nicht. „When the first breath of winter Through the flowers is icing And you look to the north And the pale moon is rising. And it seems like all is dying And would leave the world to mourn In the distance hear the laughter Of the last Unicorn! I‘m alive! I‘m alive!" Eine unbändige Lebenslust lag in den letzten Zeilen. Er sang sie mit einer Kraft und Intensität, die einem wohlige Schauer über den Rücken jagte. Eine Stimme, die niemand vergessen konnte. »Wer bist du? Wie ist es möglich, dass ich dich noch nie gesehen habe? Und deine Kleidung... du willst nicht erkannt werden, ist es das? Warum?« Stan erhob sich und näherte sich der Bühne. Die anderen Zuhörer waren genauso verzaubert wie er und lauschten dem Sänger mit einem fast feierlichen Ernst. „When the last moon is cast Over the last star of morning Then the future has passed Without even a last desperate warning. Then look into the sky where through The clouds are packed in swarms Look and see her how she sparkles It‘s the last Unicorn! I‘m alive! I‘m alive!" Die Melodie erstarb. Eine volle Minute war es so still wie in einer Kirche. Dann brach orkanartiger Beifall los, einige forderten lauthals eine Zugabe. Der Sänger schien zunächst erfreut, aber als sein Blick auf den Schwarzhaarigen fiel, zuckte er zusammen, sprang von der Bühne und rannte hinaus. Stanley, von diesem plötzlichen Abgang ebenso überrascht wie das restliche Publikum, eilte kurzentschlossen hinterdrein. „He, du da! Warte einen Moment! Ich möchte mit dir sprechen! Wer bist du?" Der Sänger ignorierte ihn und lief weiter, einen durchtrainierten Soccerspieler konnte er allerdings nicht so einfach abhängen. Stan holte ihn ein und packte ihn am Arm. „Bitte, lauf nicht weg! Ich habe dich singen gehört, du warst wundervoll! Wie ist dein Name? Kommst du öfter ins Funky Town? Ich habe dich noch nie dort gesehen..." „Ich war zum ersten Mal da.", antwortete der Sänger flüsternd, als fürchte er, man könne ihn anhand seiner Sprechstimme identifizieren. Und wirklich hatte sie einen vertrauten Klang, den Stan jedoch nicht genau zuordnen konnte. „Das dachte ich mir, an ein Talent wie dich hätte ich mich sicher erinnert. Wo trittst du normalerweise auf?" „Im Lily‘s. Ja, ich weiß, ich weiß, alte Leute und alte Ausstattung, aber hey, die werfen wenigstens nicht mit Gläsern, wenn ihnen was nicht passt. Das Funky Town ist natürlich schicker und moderner." „Das Lily‘s also. Und wie heißt du?" Die Frage war ihm offensichtlich unangenehm. Er wandte den Kopf ab und schwieg. „...Du musst mir nicht deinen richtigen Namen sagen, wenn du nicht willst. Aber ich würde dich gerne irgendwie anreden." „...Nenn mich ...nenn mich Cinder." „Cinder? Okay. Mein Name ist Stan, Stan Marsh. Freut mich, dich kennen zu lernen." Er streckte ihm die Hand hin und nach einigem Zögern nahm Cinder sie an und schüttelte sie etwas zaghaft. „Danke. Es... es freut mich auch, dich kennen zu lernen. Singst du jeden Samstag hier?" „Nun, solange nichts anderes ansteht... ja. Was ist, kommst du mit zurück? Ich möchte mehr von dir hören, du hast eine wunderschöne Stimme." Cinder zierte sich, wohl aus Verlegenheit angesichts des Kompliments. „Ich...ich weiß nicht recht...Findest du wirklich, dass ich gut war?" „Gut? Du warst bombastisch! Hat dir das denn noch keiner gesagt? Denkst du, das Publikum applaudiert nur aus Höflichkeit? Okay, das gibt‘s zwar auch, aber in deinem Fall...und ich will unbedingt mal ein Duett mit dir singen, damit das klar ist!" Stanleys strahlendes Lächeln und sein spitzbübisches Zwinkern schienen Cinders Schüchternheit noch zu verstärken. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er erneut die Flucht ergreifen, doch dann nickte er leicht mit dem Kopf und gemeinsam traten sie den Rückweg an. Samstag. Er hasste diese Samstage. Das „Tweak‘s" war hoffnungslos überfüllt, am Tresen hatte sich bereits eine Schlange gebildet und einer der Kellner fiel wegen eines gebrochenen Handgelenks aus, sodass Craig seine Schicht hatte übernehmen müssen. Die Kunden, die nur einen Coffee to go bestellten, waren ja noch zu ertragen, die gingen ihn nichts an, aber diejenigen, die sich an einen Tisch setzten und die Karte sehen wollten? Warum war er so blöd gewesen, hier das Arbeiten anzufangen?! Ganz davon abgesehen, dass Tweek, als Sohn des Besitzers, sein Vorgesetzter war - und beim Familiengeschäft kannte er kein Pardon. Er duldete weder Unzuverlässigkeit, noch Unpünktlichkeit oder schlechte Manieren, und den Gästen hatte man stets zuvorkommend und höflich zu begegnen. Es war die Hölle. Frustriert schmeckte er den Kaugummi in seinem Mund. Bäh. Inzwischen war der völlig fad. Mindestens so fad wie dieses kaffeebraune Angestelltenhemd in Übergröße, das an ihm herunterhing wie ein Sack. „Verzeihung, Herr Ober? Ich möchte gern bestellen!" Craig, der auf die Bezeichnung „Herr Ober" reagierte wie ein Magen auf Abführmittel, schluckte seinen Ärger mühsam hinunter und trat zu einem Mann mittleren Alters, der einen kleinen nervtötenden Mistköter dabei hatte, der Craig pausenlos anbellte. „Was darf‘s sein?" „Ich hätte gern einen Cappuccino Grande, dry und decaf, mit Vanillesirup, extra heiß." „Geht klar. Möchten Sie auch etwas essen?" „Warum nicht? Was können Sie mir empfehlen?" „Nichts. Schauen Sie in die Karte, oder können Sie nicht lesen?" „Also, was erlauben Sie sich...?" „Hören Sie, ich bin seit acht Uhr morgens auf den Beinen, meine letzte Pause war vor zwei Stunden und wenn Sie mich stressen wollen, schalte ich sofort ab. Suchen Sie sich was aus und bringen wir‘s hinter uns. Und sagen Sie Ihrem kläffenden Gossenpinscher, dass er die Schnauze halten soll oder ich werfe ihn raus." „Das... das ist ja die Höhe!" „Finde ich auch. ‘Ne schlimmere Promenadenmischung haben Sie nicht gefunden, oder was?" „CRAIG!!" Na toll, die Stimme des Gesetzes. Tweek stand vor ihm, in seinen obligatorischen hellbraunen Hosen und dem dünnen weißen Pulli mit den langen Ärmeln. Darüber trug er ein olivgrünes Hemd, das schief geknöpft war und die „Tweak‘s"-Schürze mit Schriftzug, die den Meistermixern hinter dem Tresen vorbehalten war. Von seiner üblichen Nervosität war nichts zu bemerken, er war jeder Zoll „der Sohn vom Chef" und sein Gesicht ernst und streng. Wenn Craig ihn so erlebte, konnte er nachvollziehen, warum man ihn zum Kapitän des Park High-Schwimmteams ernannt hatte. Als er zehn Jahre alt gewesen war, hatte ein befreundeter Arzt seinen Eltern vorgeschlagen, den paranoiden Jungen in eine Schwimmtherapie zu stecken, in der Hoffnung, dass das seine Zuckungen abmildern würde...und tatsächlich entwickelte Tweek eine starke Affinität zu Wasser; es wirkte beruhigend und entspannend auf ihn. Dort hatte er keine Angst, dort war er frei. Und außerdem sah er sehr sexy aus in knappen Badehosen... ... ... ... Sportlich. Tweek sah sportlich aus in Badehosen. Er fand Frauen sexy, nicht Männer...und schon gar nicht so einen treudoofen Unfallmagneten wie Tweek! „Craig, hörst du mir zu!?" „...Sorry. Hast du gerade was gesagt?" „Das fragst du mich jetzt nicht im Ernst, oder?" „...Eh ...doch...?" „Willst du mich verarschen?! Was bringt es, dir die Verhaltensregeln vorzubeten, wenn du dich taub stellst? Das ist keine Art, mit den Kunden zu reden, Craig! Selbst wenn du genervt bist, du verrichtest hier eine Dienstleistung, Dienst am Gast, und wenn du deine miese Laune nicht im Griff hast, solltest du dir einen Job suchen, in dem du nichts mit Menschen zu tun hast! Dieser Herr war weder ungeduldig noch unhöflich, aber sobald du dich auf den Schlips getreten fühlst, lässt du‘s an deiner Umgebung aus! Falls es dir entgangen sein sollte, die ganze Belegschaft ist schwer im Stress, nicht nur du, also reiß dich zusammen! Das, was du da abgeliefert hast, war durch und durch unprofessionell und ich erwarte, dass das nicht mehr vorkommt! Jetzt sieh zu, dass du dich entschuldigst und die Bestellung erledigst... und dann gebe ich dir eine Aufgabe, die deinem Charakter mehr entspricht!" Craig gehorchte grummelnd. Was hätte er auch tun sollen? Erstens kosteten Diskussionen dieser Art viel zu viel Zeit und Nerven und zweitens mochte er es nicht, wenn Tweek böse auf ihn war. Er fühlte sich unwohl dabei. Nach einer mehr oder weniger nett klingenden Entschuldigung wartete er auf den Cappuccino, servierte ihn mit falschem Lächeln und harrte der Bestrafung, die da kommen würde. Ihm schwante Übles, als Tweek mit einem großen Plastikeimer auf ihn zusteuerte. „Da du so scharf darauf bist, deine schlechte Laune abzureagieren, kannst du das jetzt gerne tun - an unseren Toiletten. Sie geben keine Widerworte und strapazieren deine Geduld nicht. Viel Spaß!" Er reichte ihm den Eimer mit Lappen, Bürste, Gummihandschuhen und Putzmitteln. „Ich soll die Toiletten schrubben?! Auf keinen Fall! Ihr habt eine Putzfrau!" „Und du hast ein Autoritätsproblem. Fang bei den Männern an." „Ich habe noch nie in meinem Leben ein Klo geputzt!" „Na, dann wird‘s Zeit." Craig verschlug es die Sprache. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, dass der scheue und verzagte Blondschopf in allem, was den Familienbetrieb betraf, so unglaublich selbstbewusst war. Das war... irritierend. Und anziehend. ... ... ... »Ich... ich bin überarbeitet... Genau. Völlig überarbeitet.« „Und raus mit dem Kaugummi, aber sofort!" »...Ich hasse diesen Job!« „Nein, dieses Paar Schuhe gefällt mir auch nicht! Haben Sie nichts Extravaganteres?" Clyde unterdrückte das Bedürfnis, die Kundin samt Probierschemel und Ehegatten aus dem Laden zu schmeißen und zwang sich zu einem Lächeln. „Was genau verstehen Sie unter extravagant, Ma‘am? Erst verlangen Sie Sandalen ohne Absatz, dann welche mit; erst soll er niedrig sein, dann hoch; dann fällt Ihnen ein, dass Sie doch lieber Pumps kaufen wollen, können sich aber für keine Farbe entscheiden und nach den sieben Paaren, die Sie anprobiert haben, erinnern Sie sich plötzlich an die Party Ihrer Freundin in drei Tagen, für die Sie unbedingt ein Paar neuer High Heels brauchen, die so extravagant wie möglich sein sollen. Ich habe inzwischen das halbe Lager leergeräumt und Sie finden es immer noch nicht extravagant genug!?" „Nun ja, junger Mann, ich habe eben einen höchst erlesenen Geschmack." „..." „Warum schauen Sie denn so komisch? Ist Ihnen nicht gut?" „Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.", entgegnete Clyde, das Lächeln wie eingefroren auf seinem Gesicht. Er stürzte in den Aufenthaltsraum für die Angestellten, wo sich auch sein Vater gerade aufhielt und einen Kaffee schlürfte. „Dad, ich sage dir... ich... ich...! Diese... diese eingebildete Gans... sie...!" „Mrs. Baxter ist eine unserer besten Kundinnen, mein Sohn. Sicher, sie ist ein wenig anstrengend, aber sie gibt eine Menge von ihrem Geld bei uns aus." „Du meinst, eine Menge vom Geld ihres Mannes!" „Oder so. Jedenfalls ist es unsere Pflicht, sie zufriedenzustellen." Roger Donovan überging Clydes angewiderte Grimasse, trank seinen Kaffee aus und sagte: „Wenn sie dich sosehr stört, kann ich sie ab jetzt übernehmen, okay?" „Das machst du, ehrlich?! Oh danke, danke, danke!!" Clyde umarmte seinen Vater und führte einen kleinen Freudentanz auf. Er konnte Mrs. Baxter absolut nicht leiden und hätte ihr ihre extravaganten Schuhe am liebsten sehr extravagant um die Ohren gehauen, aber das war natürlich nicht drin. Es hätte nur dem Renommee seines Vaters geschadet. „Kann ich dann heute etwas früher gehen? Außer der Schuhschnepfe und ihrem Anhängsel sind doch kaum Leute da und ich bin mit Token zum Basketballspielen verabredet. Wenn ich ihn jetzt anrufe, können wir‘s vorverlegen und haben mehr Zeit." „Die ‚Schuhschnepfe‘?" Roger grinste. „Nun, ich denke, wir schaffen es auch ohne dich. Meinen Segen hast du. Aber komm nicht wieder zu spät zum Abendessen. Du weißt ja, deine Mutter mag das nicht." „Alles klar!" Und schon war er auf und davon. Draußen vor dem Geschäft reckte und streckte er sich gründlich, holte sein Handy hervor und wählte Tokens Nummer. „Hallo Token, ich bin‘s! - Nein, nicht Denzel Washington! Wovon träumst du nachts? Ah, warte, das will ich gar nicht wissen! - Ja, ich bin getürmt. - Tse, du hast ja keine Ahnung! Ich möchte dich mal sehen, wenn man dir die Baxter auf den Hals hetzt! - Genau, das wollte ich auch vorschlagen. Bis gleich!" Er fuhr mit dem Bus in Tokens Wohnviertel, das allgemein als die „Villengegend" bekannt war. Auch Gregory von Yardale und Pip Pirrup lebten dort (wobei Pip, seit seiner Adoption vor neun Jahren, offiziell eigentlich Pirrup-Carter hieß). Wie immer, wenn Clyde diesen Teil der Stadt betrat, kam er sich grauenhaft unzulänglich und deplatziert vor, wie ein Lumpen, der versehentlich neben ein Seidentuch gehängt worden ist. Er wusste, dass seine Unsicherheit im Grunde lächerlich war, seine Familie besaß ein eigenes Geschäft und verdiente sehr gut, aber trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, hier nicht hinzupassen. Seine Befangenheit fiel erst von ihm ab, als er das große Freizeitgelände erreichte, wo sich Sportbegeisterte genüsslich austoben konnten; es gab einen Rasenplatz für Soccer und Lacrosse, zwei Anlagen für Badminton und Squash, einen Skateboard-Parcours und ein Basketballfeld. Token, in kompletter Spielermontur mitsamt Freundschaftsband am Handgelenk, wartete bereits auf ihn. „Hallo Clyde! Schön, dass du früher kommen konntest!" „Ja, ich bin auch froh. Die Baxter ist so ‘ne blöde Kuh..." „Ich weiß. Sie wohnt hier, schon vergessen? Meine Eltern können sie beide nicht ausstehen." „Echt? Komisch, warum nur?" Sie grinsten sich an. Dann holte Token den Ball und fragte: „Wie machen wir‘s? So wie immer? Wer zuerst zehn oder zwanzig Körbe hat, spendiert eine Pizza?" „Zwanzig Körbe. Auf die Art hab‘ ich wenigstens die Chance, noch ein paar Treffer mehr zu landen und dich vielleicht noch zu schlagen." „Du hast mich noch nie geschlagen." Es klang ein bisschen selbstgefällig. Clyde streckte ihm die Zunge heraus. „Klar, du bist ja auch fünfzehn Zentimeter größer als ich! Und du bist der Kapitän der Basketballmannschaft! Du spielst regelmäßig! Ich dagegen..." „Die Basketball-Saison startet erst im Winter, das ist also kein Training, was ich da mache. Kein richtiges, jedenfalls. Aber du spielst regelmäßig mit mir. Und du bist gut... für deine Größe", fügte Token schmunzelnd hinzu. „Willst du mich ärgern?" „Oh, nein, das würde ich doch nie wagen!" Clyde craigte ihn und schnappte sich den Ball, bevor der andere reagieren konnte. Mit schnellen Schritten sprang er davon, visierte den Korb an, warf... und erzielte einen Volltreffer. „Hurra! Eins zu Null! Was sagst du nun? Ich bin super, oder? Gib zu, dass ich super bin!" Token beobachtete Clyde, der den Ball aufhob und ihn jubelnd ein paar Mal hochwarf und wieder auffing, während er herum hüpfte und sich überhaupt gebärdete wie ein Fünfjähriger. Er hätte ihn küssen mögen. »...Eh? Halt, Moment, wie komme ich auf diese Idee?! Clyde ist mein bester Freund... und nichts weiter! Ich bin gern mit ihm zusammen, wir haben Spaß, wir verstehen uns prima. Punkt. Ende. Aus. Ich denke nicht, dass er süß ist... Ich meine, okay, er ist süß, aber nur in einem unromantischen Sinne. Mehr wie ein kleiner Bruder. Ein kleiner Bruder, der technisch gesehen zwei Monate älter ist als ich... ah, das ist nicht das Problem! Er verhält sich die meiste Zeit wie ein kleiner Bruder, oder nicht? Und dann ist er auch oft ungeschickt und tut sich weh und fängt an zu heulen...« „Aua!!" »...soviel dazu...« „Clyde? Was ist passiert?" „Aua... Scheiße, ich bin umgeknickt..." „Ja, und auf die Nase gefallen. Was hüpfst du auch durch die Gegend wie ein Gummiball?" „Nicht auf die Nase, auf‘s Knie", sagte Clyde weinerlich und zog einen Flunsch. „Und ich hab‘ mich nur über meinen Korb gefreut, das darf ich doch!" „Sicher, aber musstest du dich gleich auf den Asphalt legen?" Er ging in die Hocke und schob das Hosenbein nach oben. Das Knie hatte begonnen, bläulich anzulaufen und anzuschwellen. Er betastete es vorsichtig. „AU, AU, AU!!! Das tut WEH, du Wichser!!" „Schrei nicht so, ich bin nicht taub! Sieht nach einer Prellung aus, das ist schmerzhaft, ich weiß. Alles schon gehabt. So kannst du nicht weiterspielen." „Aber... aber deswegen bin ich hergekommen! Basketball, Pizza, Spielhalle, das volle Programm! Das ist nicht fair! Warum bin ich bloß so ‘ne Niete?" Clydes Augen füllten sich mit Tränen. Sein Knie schmerzte, doch es waren sein Ärger und seine Enttäuschung, die sie eigentlich auslösten. Toll. Wirklich toll. Er hatte es geschafft, Token den Tag zu ruinieren, nur weil er zwei linke Füße hatte! Nix Körbe. Nix Pizza. Nix Spielhalle. Statt dessen ein tollpatschiger Trottel zum Nachhausebringen! „Es tut mir leid, Token.", schniefte er. „Bitte? Was tut dir leid?" „Na, dass wir jetzt nicht mehr um die Pizza spielen können und dass ich alles verdorben habe..." „Ach du meine Fre-...Pack die Dramaqueen wieder ein, Clyde! Du wirst dein Knie noch eine ganze Weile spüren, das heißt aber nicht, dass es keine Pizza und keine Games geben wird! Wir brauchen kein Whistlin‘ Willy‘s oder eine blinkende Spielhalle. Ich bringe dich zu mir, wir tun einen Eisbeutel drauf, meine Mom macht ihre berühmten Black-Familienpizzen und wir können sämtliche Konsolen benutzen, die ich habe. Das wird der beste Basketball-Samstag, den wir je hatten, wetten?" „Ein Basketball-Samstag mit Pizza und Computerspielen, aber ohne Basketball?" „Ja! Wir können ja abends noch ein paar Bälle werfen, wenn dein Knie nicht protestiert. Es sei denn natürlich, Moms Familienpizzen und meine Konsolen sind für dich zu wenig, um unseren Samstagen gerecht zu werden. Ich kann dich auch nach Hause fahren..." „Nein! Ist schon okay..." Clyde wischte sich die Tränen ab und lächelte glücklich. „Basketball oder nicht, ich bin mit dir zusammen und nur das zählt. Für mich bist und bleibst du das Beste an unseren Samstagen." Token antwortete nicht, doch er fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Schweigend steckte er den Ball in sein Transportnetz, hängte es sich über die Schulter und wollte Clyde huckepack nehmen, als dieser plötzlich rot anlief und verlegen den Kopf schüttelte. Erst jetzt war ihm bewusst geworden, was er da gerade gesagt hatte. Sie sahen sich eine Weile unschlüssig an, die Stille zwischen ihnen dehnte sich ins Unendliche. Schließlich schlug Clyde die Augen nieder und erneut erwachte in Token der Wunsch, den hübschen Jungen zu küssen. Das Rot auf seinen Wangen war hinreißend und seine Lippen... waren sie schon immer so schön gewesen? »Nein!!! Was zum Teufel ist in mich gefahren?! Wie kann ich ihn nur so... so... so sexuell sehen!? Klar, ich weiß, dass Clyde kein Unschuldslamm ist, der hat‘s faustdick hinter den Ohren, wenn er will, aber er ist mein bester Freund, sogar ein bisschen wie ein kleiner Bruder, und... und... und das darf einfach nicht sein!!« »Was ist mit mir? Warum werde ich in Tokens unmittelbarer Nähe so... schüchtern? Das passt gar nicht zu mir... und warum muss er mich mit seinen wunderbaren schwarzen Augen so genau anschauen? Das macht mich nur noch nervöser... er soll das lassen!!« „Token?", ertönte eine weibliche Stimme und der Angesprochene sprang auf wie gestochen. Er half Clyde auf die Beine, der sich zögernd an ihm festklammerte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren und wandte sich der Dame zu, die ihn angeredet hatte. Sie war sehr vornehm und elegant gekleidet, und ihr schneeweißes Haar hob sich reizvoll von ihrer dunklen Haut ab. Obwohl sie mindestens in den Siebzigern war, wirkte sie keineswegs wie eine alte Frau, ihre Haltung hatte etwas Soldatisches und ihre Stimme war klar und kräftig. „Bob hat mir gesagt, dass ich dich hier finde. Es ist keine Art, nicht zu Hause zu sein und seine Großmutter nicht zu begrüßen, wenn sie eine anstrengende Reise hinter sich hat." „Grandma? Ich dachte, du kämst erst morgen!" „Das ist keine Entschuldigung. Die Familie hat vollständig zu sein, wenn ich eintreffe. Oh - und wer ist das?" Ihr Tonfall verriet eindeutig Missbilligung. Clyde hatte sich in seinen schlichten Klamotten noch nie so unbequem gefühlt wie in dieser Sekunde. „Ah ja, Verzeihung. Grandma, das ist Clyde Donovan, mein bester Freund. Und das, Clyde, ist Cora Black, meine Großmutter, wie du schon gehört hast." „S-s-sehr erfreut, Sie kennen zu lernen, Ma‘am." Sein Stottern schien sie zu verärgern, denn sie verzog verächtlich die Mundwinkel. Er schluckte mühsam, um die Trockenheit aus seiner Kehle zu vertreiben. „Dein bester Freund ist ein Weißer? Warum erfahre ich erst jetzt davon?" „Es gibt keine anderen Schwarzen hier in South Park, Grandma. Und selbst wenn, was würde das ändern? Clyde ist ein netter Kerl und das allein ist wichtig." „Bist du verrückt?! Hast du vergessen, was diese milchgesichtigen Verbrecher deinem Großvater angetan haben!? Was sie unserer ganzen Rasse angetan haben!? Ich werde diese Freundschaft nicht dulden, hast du verstanden, Token?! So weit kommt es noch, dass mein Enkel sich mit diesem Pack abgibt! Warum hat dein Vater mir nie gesagt, dass keine anderen Schwarzen in diesem Kaff leben?" „Weil er genau wusste, wie du darauf reagieren würdest. Es geht dich verdammt nochmal nichts an, ob meine Freunde schwarz, weiß, rot oder gelb sind! Die Hautfarbe ist mir scheißegal! Ehrlich, Grandma - kannst du nicht einmal auf Besuch sein, ohne uns mit deinen rassistischen Ausbrüchen zu nerven?!" Die Miene seiner Großmutter wurde eisig und undurchdringlich. „Ich verbiete dir, in diesem Ton mit mir zu sprechen. Du bist ein dummer Junge, wenn du glaubst, dass die Weißen sich je ändern werden. Du kommst jetzt mit mir. Ich werde deinen Eltern dein ungebührliches Verhalten schildern und dabei selbstverständlich deinen beklagenswert schlechten Umgang erwähnen. Ein Monat Hausarrest erscheint mir angemessen." Sie drehte sich um, merkte jedoch bald, dass Token ihr nicht folgte. „Token! Hast du nicht gehört? Komm sofort mit!" Er ignorierte sie. Wortlos hob er Clyde auf seinen Rücken und schritt in Richtung Bushaltestelle davon. Sie schimpfte ihm hinterher, drohte sogar, aber er blendete sie völlig aus. Erst, als sie die Haltestelle erreicht hatten, wo sie sich auf die Wartebank setzten, brach er das Schweigen. „Bitte entschuldige, Clyde. Es tut mir so leid, dass du diesen peinlichen Auftritt miterleben musstest. Sie hätte dich nicht beleidigen dürfen. Sie ist verbittert und..." „Das macht nichts, wirklich. Die Beleidigung stört mich nicht. Was mich stört, ist, dass sie dir den Umgang mit mir verbieten will. Warum ist sie so... so...?" „...hasserfüllt? Wegen meines Großvaters. Bevor wir nach South Park zogen, lebten wir in New York, in einer gemischten Gemeinde, zusammen mit Grandma und Grandpa. Wir hatten Freunde unter unseren schwarzen und weißen Nachbarn und Grandma war damals ganz anders als heute. Grandpa arbeitete bei der Polizei und stand kurz vor seiner Pensionierung. Eines Nachts, auf einer Patrouille durch eines der verrufenen Viertel von Downtown New York, wurden mein Grandpa und sein Partner in eine Schießerei zwischen zwei Jugendbanden verwickelt. Sie versuchten, die Situation zu entschärfen, bis die Verstärkung eingetroffen wäre, aber es gelang ihnen nicht. Einer der Gangleader schoss meinem Grandpa einfach in den Kopf - mit den Worten ‚Du sollst verrecken, Scheißnigger.‘ Das Arschloch wurde verhaftet und verurteilt, doch das brachte uns Grandpa nicht zurück. Seit dieser Zeit ist Grandma nicht mehr dieselbe..." „Oh Token...!" „Versteh‘ mich nicht falsch, ich begreife, wie furchtbar das für sie war... für uns alle! Aber es ist sinnlos, zu hassen! Hass macht traurig und einsam und unglücklich... Ich bin sicher, dass Großvater das nicht gewollt hätte! Aber weder Mom noch Dad oder ich können sie zur Vernunft bringen! Sie kommt sowieso nur noch zweimal im Jahr zu Besuch, weil wir in ihren Augen Grandpas Andenken verraten haben! Sie hat sich so tief in ihrer Verzweiflung vergraben, dass jeder Versuch von außen, sie wachzurütteln, einfach an ihr abprallt! Ich möchte ihr immer noch gerne helfen, aber manchmal... manchmal kotzt sie mich sowas von an...!" Er vergrub das Gesicht in den Händen und atmete schwer. Auf einmal strich eine warme Hand langsam und sanft über seinen Rücken. Die Berührung war tröstlich, ebenso wie die leise Stimme, die ruhig, aber entschieden erklärte: „Mach dir keine Sorgen. Ich werde immer freundlich zu deiner Großmutter sein, egal, was sie sagt. Man kann nicht ständig hassen, wenn einem nur Freundlichkeit begegnet. Sie tut mir leid, aber ich werde mich kein zweites Mal von ihr einschüchtern lassen, jetzt, wo ich ihre Gründe kenne. Du bist mein Freund, Token... ich würde dich niemals aufgeben. Für nichts in der Welt." Token starrte ihn an. Sein Blick versank in diesen vertrauten braunen Augen und er staunte über die besonnene Kraft, die er in ihnen las. Dies war eine Seite seiner Persönlichkeit, die Clyde nur sehr selten zeigte. „Clyde...!" Er schloss ihn dankbar in die Arme. Clyde, hochrot, überrumpelt, erwiderte die Umschlingung und für eine kleine Ewigkeit hielten sie einander fest... Es wurde Abend. Stan kehrte vom Karaoke zurück, restlos begeistert von der geheimnisvollen Bekanntschaft, die er heute gemacht hatte. Ihre Unterhaltungen hatten Cinder und er weiterhin nur im Flüsterton geführt, da Cinder es bevorzugte, anonym zu bleiben. Stan fand das ein wenig schade, doch er wollte seinen neuen Freund nicht verschrecken. Cinder war ein fantastischer Sänger und ein interessanter Gesprächspartner, der sich im Bereich Musik noch besser auskannte als Stanley. Und genau wie Stanley hatte er einen breitgefächerten Geschmack, der sich weniger nach einem bestimmten Star oder einer Band richtete, sondern einzig und allein nach dem Lied. Es gefiel oder es gefiel nicht, ganz einfach. Er summte vergnügt vor sich hin und achtete nicht besonders auf seine Umgebung, sodass Kyles Anwesenheit vor seiner Haustür ihn erst einmal überraschte. „He, hallo, Kumpel! Was machst du denn hier?" „Ich warte auf dich, was sonst? Es ist halb acht, normalerweise kommst du um sieben vom Karaoke! Was ist passiert?" „Oh, ich habe jemanden kennen gelernt! Die ‚Goldene Stimme‘ von South Park, sozusagen! Ich kann gar nicht beschreiben, wie großartig... halt mal. Wieso bist du hier? Wir waren doch nicht etwa verabredet und ich hab‘s vergessen!? Das tut mir leid, ich..." „Beruhige dich, wir waren nicht verabredet. Wir... wir müssen reden." Stan hob die Augenbrauen. „Ah ja? Ich nehme an, du willst mir endlich reinen Wein einschenken, was deine Konfrontation mit Cartman auf Butters‘ Geburtstagsparty betrifft? Wird auch Zeit, du wolltest lange genug nicht darüber sprechen." „Ich weiß. Es ist nur... das, was da geschehen ist, war ziemlich... verrückt, um ehrlich zu sein. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, und noch weniger wusste ich, was sich daraus entwickeln würde... Okay, entwickelt hat sich eigentlich nichts..." „Na, viel geändert hat sich zwischen dir und Cartman wirklich nicht, ihr streitet wie gehabt, hackt aufeinander rum wie gehabt... Wie auch immer, lass uns reingehen, da ist es gemütlicher als auf der Fußmatte." Kyle lächelte und die beiden Freunde verkrümelten sich, nach einer entzückten Begrüßung von Mrs. Marsh, mitsamt einem Tablett voller Sandwiches und Cola, in Stans Zimmer. „Deine Mom nimmt deine Verspätung ja sehr gelassen." „Es war nur ‘ne halbe Stunde, deswegen reißt sie mir nicht den Kopf ab. Sie ist nicht..." „...so ein Kontrollfreak wie meine? Du brauchst gar nicht so verlegen zu schauen, es ist die Wahrheit. Aber ich bin nicht hergekommen, um mich über meine Mutter zu beschweren." Und bevor sich der Schwarzhaarige noch weiter darauf einstellen konnte, ergossen sich in einem hastigen Redeschwall alle Ereignisse des bewussten Abends auf sein Haupt. Als Kyle geendet hatte, verstand es Stan, seine Verblüffung ausgezeichnet zu zügeln. „..." „...Was ist? Kein Aufschrei? Du ziehst das gleiche Gesicht wie Ike, als ich es ihm erzählt habe! Könntest du dich nicht ein bisschen mehr wundern, nur so aus Prinzip?" „Nein. Ich meine, ich wundere mich fast gar nicht." „Warum nicht!?" Stan verputzte gemächlich ein Sandwich, trank einen Schluck Cola und musterte Kyle dabei durchdringend von Kopf bis Fuß. „Offen gesagt, Kyle, ich hätte nicht gedacht, dass er schon so lange in dich verliebt ist. Aber ich habe..." Er suchte nach den richtigen Worten. „...ich habe eine gewisse... Neigung... von seiner Seite durchaus in Betracht gezogen." „Bist du irre!?! Cartman und ich, wir hassen uns!! Oder... zumindest hat er mich gehasst... Jedenfalls ist das grotesk! Wie kannst du so etwas behaupten?!" „Nun, eure Beziehung ist sehr komplex... nein, keinen Protest bitte, lass mich ausreden. Ich glaube, wenn du eure... eure ‚Verbindung‘ Hass nennst, machst du es dir selbst etwas zu leicht. Ihr seid Gegner und Rivalen, zweifellos, aber ihr seid auch Freunde - auf eine verdrehte, komplizierte und ziemlich anstrengende Art und Weise. Er hat dir während des Snobsturms das Leben gerettet! Ich gebe zu, das haut auch mich um... schließlich heißt das, dass ich es Eric Cartman zu verdanken habe, dass mein bester Freund noch unter uns weilt... worauf ich hinaus will: Hass ist ein starkes negatives Gefühl, das oft als das Gegenteil von Liebe aufgefasst wird. Das ist falsch. Liebe und Hass sind sich sehr ähnlich. Wenn man einen Menschen liebt, denkt man an ihn und daran, was man ihm Gutes tun könnte. Wenn man einen Menschen hasst, denkt man ebenfalls an ihn...und daran, was man ihm Schlechtes antun könnte. Liebe ist positiv und Hass, wie ich bereits sagte, negativ, in ihrer Intensität und Wirkung sind sie hingegen identisch. Liebe kann in Hass umschlagen und Hass in Liebe. Wären die beiden Gefühle so vollkommen wesensfremd, wie immer behauptet wird, wäre das wohl kaum möglich. Das tatsächliche Gegenteil von Liebe... ist Gleichgültigkeit." „Gleichgültigkeit?" „Wenn es dir egal ist, ob ein Mensch aus deinem Umfeld lebt oder stirbt, wenn es dich nicht im geringsten kümmert. Gleichgültigkeit ist die Verneinung jeglichen Gefühls... die Antithese zur Liebe. Und man kann über dich und Cartman sagen, was man will - gleichgültig wart ihr einander nie." Kyle zog unwillig die Stirn in Falten. „Also, selbst wenn wir uns nie gleichgültig waren, sind wir trotzdem keine Freunde! Rivalen, okay, aber Freunde? Im Ernst, Stan, hast du Drogen eingeschmissen, oder was?" „Warum regst du dich auf? Du weißt genau, dass ich recht habe. Du hast ihn gerettet, als er in der gefluteten Höhle unterzugehen drohte... und du hast ihn vor diesem durchgeknallten Snooki-Ding bewahrt, erinnerst du dich? Seltsam, dass deine Jerseygene erst zum Ausbruch kamen, als Cartman in Gefahr war... Fest steht, ihr habt beide eine Menge füreinander riskiert! Du siehst also, Worte wie Hass oder Verachtung allein werden eurer Beziehung nicht gerecht. Außerdem..." „Außerdem?" „...habt ihr einiges gemeinsam." Ein Satz, auf den höchstwahrscheinlich die Todesstrafe stand. Stan hielt sich vorsichtshalber die Ohren zu. Kyle konnte unangenehm laut werden. „AH, JETZT HAST DU VÖLLIG DEN VERSTAND VERLOREN, ODER!?! CARTMAN UND ICH HABEN ABSOLUT NICHTS GEMEINSAM, HAST DU KAPIERT!?! ER IST EIN ARMSELIGER, DUMMER, EGOISTISCHER, INTOLERANTER, RASSISTISCHER, MANIPULIERENDER SOZIOPATH!!!" „...Bist du fertig?" Kyle keuchte, seine Hände waren zu Fäusten geballt und sein Gesicht vor Zorn verzerrt. Er fixierte Stan mit einem unheilvollen, geradezu furchteinflößenden Blick und würgte angeekelt hervor: „Sag‘ das nie wieder! Ich bin nicht wie er!" „Ich habe auch nicht gesagt, dass du so bist wie er, ich habe gesagt, ihr habt einiges gemeinsam. Das ist ein Unterschied... und kein Grund, das Haus zusammen zu schreien. Übrigens liefert das schon einen Beweis für meine Behauptung: Dein Temperament. Du gehst schnell in die Luft, ganz wie Cartman. Du bist ein hoffnungsloser Dickschädel, ganz wie Cartman. Du hast einen ausgeprägten Stolz, ganz wie Cartman. Du sagst immer, was du denkst, ganz wie Cartman. Du bist gut darin, Pläne zu schmieden, ganz wie Cartman. Du hast einen sehr starken Willen, ganz wie Cartman. Du nimmst eine Sache gern selbst in die Hand, ganz wie Cartman. Du bist ausgesprochen ehrgeizig, ganz wie Cartman. Und du bist gerissen, ganz wie Cartman. Ich persönlich halte euch für zwei Seiten derselben Medaille. Ja, er ist ein Arschloch und ich mag ihn nicht besonders, trotzdem gehört er irgendwie zu uns. Er besitzt Eigenschaften, die anderen ein Vorbild sein könnten, würden sie nicht aus egoistischen oder moralisch fragwürdigen Gründen heraus eingesetzt. Er hat dein Leben gerettet und dabei sein eigenes riskiert. Du hast sein Leben gerettet und dabei dein eigenes riskiert. Ist das Hass? Nein. Hassliebe? Ja, das schon eher. Und heute? Heute ist es, zumindest für Cartman, nur noch Liebe. Er ist nicht gefragt worden, ob er dich lieben will, Kyle. Es ist einfach passiert. Natürlich wird er sich deswegen nicht um 180 Grad drehen und den Boden preisen, auf dem du gehst. Das hat nichts mit Liebe zu tun, sondern mit Schwärmerei, und über dieses Stadium ist er offensichtlich hinaus. Du würdest doch keinen Mann wollen, der zu allem Ja und Amen sagt, was du von dir gibst?" „...Nein. Nein, das nicht. Aber... aber kann er nicht versuchen, etwas weniger verachtenswert zu sein? Er ist ein verdammter Nazi, Stan! Er hasst Juden!" „Aber er liebt dich. Weißt du noch, dass er auf Butters‘ Party eine Swastika trug?" „Wie könnte ich das vergessen!" „Dann nehme ich an, du hast auch seine Antwort nicht vergessen, über den Ursprung des Symbols und seine eigentliche Bedeutung, die in vielen Ländern noch gilt und absolut nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hat? Er hat dich extra darauf hingewiesen, dass es nicht die Nazivariante ist. Swastika ist also nicht gleich Swastika, auch wenn fast jeder das denkt. Warum nun sollte Cartman eine Swastika tragen, die nicht der Naziversion entspricht?" „...Du meinst... das war ein Versuch, weniger antisemitisch zu sein...?" „Ja. Gut, noch besser wäre es gewesen, wenn er sie ganz weggelassen hätte, aber für Cartmans Verhältnisse ist das immerhin ein Anfang." Kyle musste zugeben, dass das stimmte. Er dachte daran, dass Cartman ihn darum gebeten hatte, mehr Zeit mit ihm zu verbringen, doch bisher hatte er sich erfolgreich davor gedrückt... und dabei hatte er vermutlich mehr freie Zeit zur Verfügung als Cartman selbst. Sicher, er hatte die Bitte nicht direkt akzeptiert, andererseits verärgerte ihn sein notorisches Hinausschieben. Wovor hatte er Angst? Warum erklärte er seinem Rivalen nicht klipp und klar, dass er nicht mehr Zeit mit ihm verbringen wollte und fertig? Warum zögerte er es hinaus? Was hinderte ihn? Wollte er sich die Möglichkeit offenhalten, der Bitte vielleicht doch noch nachzukommen? Nein, das konnte nicht sein. ... ... ... Oder? »Seit einem Monat befinden Cartman und ich uns irgendwie in der Schwebe. Alles wirkt so normal; wir giften uns an, er nennt mich ‚Jude‘, ich nenne ihn ‚Blödarsch‘... es ist, als hätte das Geständnis überhaupt nicht stattgefunden. Status quo. Das Problem ist nur... jetzt weiß ich, dass es ihm gefällt. Er streitet gern mit mir. Er liebt es, wenn ich mich wehre. So wie neulich...« ~~ Rückblende ~~ Mittagessen. Die Cafeteria war erfüllt von Stimmengewirr, Tellerklappern und Gelächter, die Luft geschwängert von undefinierbaren Gerüchen. Kyle saß im Seniorbereich und verspeiste einen großen Salatteller, während Stan eine Lasagne verdrückte und Kenny sich über einen üppigen Eintopf hermachte. Cartman mampfte laut schmatzend eine Currywurst mit Pommes, sein Blick ruhte aber auf dem Salatteller. „Bäh, Jude, reicht es nicht, dass du koscher essen musst? Jetzt auch noch Kaninchenfraß?" „Nicht jeder frisst wie ein Schwein, Cartman." „...Stimmt. Du frisst wie die Judenratte, die du bist." „Sagte die Nazisau." Cartman lächelte. Es war ein boshaftes, grausames Lächeln. „Säue werden geschlachtet. Ratten vergiftet man. Oder man fängt sie und räuchert sie aus... so wie in Auschwitz." Kyle ließ seine Gabel fallen. Er hechtete über den Tisch und verpasste Cartman einen mächtigen Faustschlag. Geschirr und Besteck klirrte, Stan und Kenny sprangen reflexartig von ihren Stühlen und Kyle setzte unter lautstarken Beschimpfungen („Du wertloser Haufen Scheiße! Du mieses Stück Dreck! Wie kannst du es wagen?!") noch einen Kinnhaken drauf. Cartman stöhnte vor Schmerz und hielt seine Hände schützend vors Gesicht, was Stan dazu veranlasste, seinen besten Freund zu packen und beruhigend auf ihn einzureden. Der Quarterback blutete aus der Nase, seine Wange lief blauviolett an. Dann grinste er und hob die Augen... und da sah es Kyle zum allerersten Mal. In seinem brennenden Blick lag keine Abscheu, nicht einmal Zorn, sondern nichts als grenzenlose Bewunderung. Das war so unerwartet, so paradox, dass Kyles Wut einfach verpuffte. Cartman stand auf, seine Serviette an die Nase drückend, und meinte: „Du bist wirklich gefährlich, wenn du deine Krallen ausfährst, Jude. Aber das ist gut so. Zahnlose Tiger interessieren mich nicht." Seine Stimme klang fast zärtlich. Es schien, als sollte Kyle diese letzten Worte als Kompliment auffassen. „Oh, ist das so? Ist dir nicht klar, dass du eine Menge riskierst, wenn du dich mit einem Tiger anlegst?" Cartmans Grinsen vertiefte sich. „Sagte der Tiger zum Bären." ~~ Ende der Rückblende ~~ Ein treffender Vergleich. Cartmans Erscheinung war mächtig und imponierend. Mit einer Größe von 1,95 m und einem Gewicht von etwa hundert Kilo war er nicht nur größer und schwerer als durchschnittliche Quarterbacks, sondern seine Stärke teilte sich auch durch Worte und Gesten mit. Vor einer Woche, als der Judokurs ausgefallen war, hatte er Cartman beim Training erlebt und ihm widerstrebend Bewunderung zollen müssen. Seine Bewegungen hatten etwas ungemein Kraftvolles und seine Stimme, zum Befehlen geboren, konnte wie ein Schuss über das Spielfeld knallen; nichts entging ihm, kein Pass, kein Lauf, kein Bravourstück und kein Fehler. Der Coach des Teams, Mr. Lanigan, der äußerlich das genaue Gegenteil seiner Jungs verkörperte (klein und schmächtig), führte ein hartes, straffes, aber gerechtes Regiment und Cartman unterstützte ihn dabei hervorragend. Obwohl Mr. Lanigans Persönlichkeit alle seine Spieler überragte und er eigentlich gar keine Unterstützung nötig hatte. Auf dem Platz war Cartman eine Naturgewalt, eine Dampfwalze, der Donnergott persönlich. Ja, Donner... laut und grollend, wie das Knurren eines Bären... ein Bote ungebändigter Kraft, angsteinflößend und zugleich respektheischend... Seine Mannschaftskameraden standen geschlossen hinter ihm. Er erfüllte sämtliche Anforderungen, die sie an ihn stellten. Er war und blieb ihr unangefochtener Kapitän. Kyle durchrieselte eine Woge der Erregung. Warum nur besaß Cartmans Stärke, die doch durch das Training diszipliniert wurde, immer noch diese ungezähmte Qualität? Warum machte ihn das so anziehend? War es der Reiz der Gefahr? Der Wunsch, mit dem Feuer zu spielen? »Verdammt, wie ich das hasse!! Mein Körper sagt das eine, mein Verstand und mein Herz sagen etwas anderes! Gutes Aussehen ist eine jämmerliche Versuchung, der ich am wenigsten nachgeben will! Nicht einmal Butters, der wirklich ein schöner Mann ist, würde mich so fesseln, wenn er nicht auch einen bemerkenswerten Charakter hätte. Aber allein die Tatsache, dass Cartman eine Versuchung für mich darstellt...!« „Was wirst du jetzt tun?" Stans Frage holte ihn in die Realität zurück. Er zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht... Ich wollte ihm eine letzte Chance geben..." „Dann zieh‘s durch. Sag ihm, dass es seine letzte Chance ist und warte ab, was passiert." „Hm...Du hast recht. Einen Versuch ist es wert." Er schaute eine Weile sinnend vor sich hin, bis ihm etwas einfiel. „...Wer ist nun eigentlich deine Bekanntschaft mit der goldenen Stimme?" Und Stanley erzählte. Cartman ahnte von alldem nichts. Er hockte im „Weberstübchen" und aß süßes Gebäck, um zu vergessen, dass seine Mutter einen flotten Dreier auf der Couch gehabt hatte, während er in der Küche nebenan zu essen beabsichtigte. Statt dessen wurde ihm nur speiübel. Also verschwand er so schnell wie möglich, aber das Bild würde noch tagelang nachwirken. „Na, schmeckt‘s?" Er nickte mit vollen Backen. Petra Weber, die Tochter der Webers, denen die kleine Konditorei gehörte, setzte sich zu ihm und musterte ihn wie ein seltenes Museumsexponat. Ihre Eltern und sie lebten seit sieben Jahren in den USA, sie waren aber erst vor drei Jahren nach South Park gezogen, zuvor hatten sie in San Francisco gewohnt (nobody‘s perfect). Wie am Namen unschwer zu erkennen war, stammten sie aus Deutschland, genauergesagt aus München, und sie verkauften deutsche Konditorspezialitäten, denen ein beachtlicher Erfolg beschieden gewesen war, so auch in South Park. Petra kümmerte sich normalerweise um die Bedienung der Gäste, denn es war ein Cafébereich angeschlossen, bescheiden und gemütlich, aber stets gut besucht. Wie einige ihrer eigenen köstlichen Kreationen im Angebot bewiesen, konnte sie ebenso ausgezeichnet backen wie ihre Eltern, doch sie bevorzugte den Kontakt mit den Kunden, die sie häufig zu Gesprächen ermunterte. Auf diese Weise hatte sie Cartman kennen gelernt, der bereits am Eröffnungstag die ganze Karte rauf und runter probiert hatte. „Was drückt dir denn dein zartes Herzchen ab, Eric?" Er starrte sie an. Um die Antwort hinauszuzögern, verspeiste er zunächst den Rest seines Krapfens (in ihrer Heimat gab es verschiedene Sorten von Krapfen, wie Petra ihm erklärt hatte. Als er versuchte, das Wort nachzusprechen, verstauchte er sich fast die Zunge). Das Gebäckstück war noch warm, mit viel Marillenmarmelade gefüllt, und der Puderzucker knirschte beim Reinbeißen. Sein Unbehagen entging ihr nicht. Petra war fünfundzwanzig Jahre alt, groß und hübsch, mit langem Blondhaar, das sie zu einem Zopf geflochten trug, blauen Augen, einer Stupsnase und einem etwas spitzen Kinn. Sie war einer der wenigen Menschen, die Eric Cartman handhaben konnten, weil sie Nerven aus Drahtseilen besaß, obwohl sie in ihrer rüschenbesetzten Schürze keineswegs diesen Eindruck machte. „Lass mich raten: Es ist Kyle, richtig?" „..." „Schluck runter und hol Luft, sonst erstickst du mir noch. Wer sollte sonst das Problem sein, du Gipskopf? Du bist unglücklich verliebt in den Kerl! Immerhin hast du‘s ihm endlich verklickert, das ist schon ein Schritt vorwärts." „Der sich nirgendwohin entwickelt. Ich habe ihn gefragt, ob er nicht mehr Zeit mit mir verbringen könnte, aber bisher unternimmt er nicht das geringste in diese Richtung." „Das kannst du ihm nicht vorwerfen. Nach dem zu urteilen, was du mir erzählt hast, entsprichst du nicht gerade seiner Idealvorstellung von angenehmer Gesellschaft. Du bist ein Nazi, Eric, und ich halte nichts von dieser braunen Scheiße, wenn du verstehst." „Petra..." „Lass die Hundeaugennummer, die zieht bei mir nicht. Ich warne dich: Eine dumme Bemerkung über den Holocaust und ich stopfe dir dein rassistisches Maul mit meinem Serviertablett! Versteh mich nicht falsch, ich mag dich, was merkwürdig genug ist. Du bist willensstark, intelligent und direkt. Genauso direkt wie ich, nur noch unverblümter. Du beißt dich durch, egal, was kommt - und du hast diese putzige Schwäche für niedliche Tierchen." Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu, der glatt an ihr abprallte. „Andererseits kannst du ein echter Arsch sein... Daher finde ich es mehr als nachvollziehbar, dass Kyle angesichts eurer gemeinsamen Vergangenheit nicht sofort auf deine Bitte eingegangen ist. Wenn du nicht so eine gallige Art hättest... fällt es dir denn so schwer, deine intoleranten und ignoranten Prinzipien abzulegen? Es ist eine Ignoranz, für die du deine Mutter anklagst, aber wenn du sie selbst äußerst, ist sie plötzlich okay? Bist du, als Homosexueller, nicht auch Teil einer Minderheit, die Hass, Verfolgung und Mord ausgesetzt war? Denk mal darüber nach, mein scheinheiliger kleiner Hypokrit. Deine Liebe zu Kyle hat begonnen, dich zum Besseren zu verändern, aber wenn der Junge nur halb so stolz und kämpferisch ist, wie du ihn beschrieben hast, dann bist du ihm noch lange nicht ebenbürtig. Er ist stark. Du hingegen bist schwach, denn du kannst nicht einmal dich selbst überwinden." Sie schwiegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit meinte Eric: „Im Ernst, Petra, ich weiß gar nicht, warum ich dich so gut leiden kann." „Das beruht auf Gegenseitigkeit, glaub mir. Übrigens würde ich Kyle gerne persönlich kennen lernen. Kannst du ihn nicht mitbringen, wenn du das nächste Mal herkommst?" „Ich bin nicht sicher, ob er euren Laden freiwillig betreten würde." „Aha? Nun, dann gib ihm das hier und richte ihm aus, dass ich ihn einlade." Sie zog ein Kärtchen aus einer Tasche ihrer Schürze und reichte es ihm. Es war ein Probiergutschein, nach Erhalt sechs Monate lang gültig. „Eine Einladung wird er doch nicht ausschlagen?" „Ich denke nicht. Dazu ist er zu höflich. Warum willst du ihn überhaupt treffen?" „Um mir ein eigenes Urteil zu bilden. Ich möchte wissen, ob er wirklich so umwerfend ist, wie du ihn schilderst. Und nun - darf es noch ein Krapfen sein?" „Habt ihr noch die mit der Vanillefüllung?" „Wir haben sogar noch welche mit Schokoladencreme." „Ehrlich? Dann her damit!" Im Hause Testaburger saßen zur selben Zeit Wendy, Bebe und Patty Nelson zusammen, um den neuesten Klatsch auszutauschen. Patty Nelson war Mitglied bei den Cheerleadern und aufgrund ihrer Größe von 1,80 m und ihrer damit verbundenen Körperkraft in der Regel die Basis sämtlicher Hebefiguren. Wie Bebe hatte sie eine ausgesprochen kurvige Figur, war aber weitaus stämmiger als sie. Ihr schwarzes Haar war zu einem Pagenkopf geschnitten und die ebenfalls schwarzen Augen funkelten vergnügt. Die Mädchen hatten vor einem Jahr Freundschaft geschlossen, als ein aufdringlicher Kerl Wendy und Bebe im Bus belästigt hatte und Patty ihm zeigte, was sie von solchen Typen hielt. Er musste feststellen, dass sie in ihrer Freizeit das Kickboxen erlernte. Außerdem war sie lesbisch und mit Eric Cartman befreundet. Im Moment wurde sie von ihrem Kapitän gelöchert, wann sie endlich mit der Identität ihrer festen Freundin herausrücken würde. „Bebe, ich hab dir schon mal gesagt, dass ich es euch nicht verraten werde. Ihr würdet mir sowieso nicht glauben! Ist es nicht viel wichtiger, herauszufinden, wer dein geheimnisvoller Briefeschreiber ist?" Bebe errötete. Sie bekam regelmäßig pro Woche einen Brief in Gedichtform und hatte immer noch nicht die geringste Ahnung, wer sie verfasst haben könnte. Der erste hatte ihr Haar besungen, der zweite ihre Augen, der dritte ihre Lippen, der vierte ihre Beine und ihren Busen, der fünfte ihre Stimme und der sechste und aktuellste das gesamte Paket. Und trotz des erotisch angehauchten Inhalts waren sie niemals profan oder gar vulgär. Wendy las gerade das zuletzt geschriebene Werk laut vor: „Ihr Haar ein goldner Schleier aus Licht, Doch ich bin ihrer nicht würdig und so berühre ich sie nicht. Ihre Augen reine Edelsteine, deren Strahlen mich lähmt und zerbricht, Doch ich bin ihrer nicht würdig und so sieht sie mich nicht. Ihre Lippen wie der Purpur einer Rose, deren Dorn mich sticht, Doch ich bin ihrer nicht würdig und so küsse ich sie nicht. Ihre Beine sind göttinnengleich und ganz auf den Tanz erpicht, Doch ich bin ihrer nicht würdig und so tanze ich nicht. Ihre schöne Brust wäre Zuflucht und Lust für mich armen Wicht, Doch ich bin ihrer nicht würdig und so liebe ich sie nicht. Ihre sanfte Stimme klingt wie Musik, wenn sie spricht, Doch ich bin ihrer nicht würdig und so hört sie mich nicht. Ohne Hoffnung ist mein Sehnen, ohne Trost mein Schmerz: Ihr allein gehört meine Seele, ihr allein gehört mein Herz." Sie seufzte verzückt. „Nennt mich altmodisch, aber ich liebe diesen Kitsch! Ich meine, dass ein Junge sich so viel Mühe gibt und tatsächlich versucht, seine Gefühle in lyrische Worte zu kleiden, wer macht das heutzutage denn schon? Die meisten hätten Schiss, dass man sie für schwul hält oder sowas. Oh Bebe, hast du wirklich keine Idee, wer es sein könnte?" „Nein. Wenn ich es wüsste, hätte ich ihn längst darauf angesprochen und ihn um ein Date gebeten. Was wollt ihr? Ich bin eben eine hoffnungslose Romantikerin und würde sofort mit so einem Jungen ausgehen! Er muss einfach süß sein!" „Wohl kaum", warf Patty ein und da Bebe sie verständnislos anstarrte: „Nun ja, überleg doch mal, er betont immer wieder, dass er deiner nicht würdig ist. Es muss also jemand sein, der nicht so ohne weiteres den Kapitän der Cheerleader um eine Verabredung bitten kann, aus Angst, sich lächerlich zu machen oder zurückgewiesen zu werden... oder beides. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass es sich um einen langweiligen oder zumindest unscheinbaren Jungen handelt, der sich keinerlei Chancen bei dir ausrechnet. Einer, der süß ist und weiß, dass er dir gefallen könnte, hätte diese Geheimniskrämerei nicht nötig." „...Du hast recht, daran habe ich gar nicht gedacht..." Wendy runzelte die Stirn. „Was soll dieses enttäuschte Gesicht!? Hat dir noch niemand gesagt, dass man oft Frösche küssen muss, bevor man seinen Prinzen bekommt? Du bist ein bisschen oberflächlich in dieser Hinsicht, Bebe, vielleicht sogar oberflächlicher, als dir gut tut. Du wartest auf den Ritter in schimmernder Rüstung, der auf seinem weißen Pferd heranstürmt und dich unter dem Klang von Pauken und Trompeten auf sein Schloss entführt. Das Problem ist nur: Dieses Wunderwesen existiert nicht. Wenn sich dein Briefeschreiber als Frosch entpuppen sollte, musst du dich mit ihm auseinander setzen, anstatt ihn wieder in den Brunnen zurückzuwerfen. So viel Respekt schuldest du ihm." „Du sagst es, Süße!" Patty streckte ihre Hand zu einem High Five aus und Wendy schlug ein. „Aber... was ist, wenn ich ihn nicht mag?" „Das ist dein Risiko. Trotzdem, selbst dann musst du ihm gegenüber fair sein. Versprichst du uns das? Dass du ihm eine Chance gibst, auch wenn er auf den ersten Blick nicht dein Fall zu sein scheint? Ich verrate euch auch, mit wem ich zusammen bin!" „Ehrlich!? Okay! Ich verspreche hiermit, meinem Verehrer auch dann eine Chance zu geben, wenn er ein Frosch sein sollte... denn er könnte sich in einen Prinzen verwandeln. Und jetzt raus mit der Sprache!" Patty verdrehte die Augen. „Schön. Es ist Tammy." „Tammy? Tammy Warner?! Hatte die nicht mal was mit Kenny? Seit wann ist sie lesbisch?" „Ist sie gar nicht, sie ist bi. Sie hat ihre Ausbildung zur Friseuse begonnen und will irgendwann ein eigenes Geschäft eröffnen." „Ausgerechnet Tammy!" Wendy kicherte. „Kenny würde es garantiert umhauen, wenn er das wüsste! Oder er würde fragen, ob er zugucken darf, wenn ihr... du weißt schon." „Oh, Kenny ist im Bilde. Zum Glück neigt er nicht zur Eifersucht." „Das kommt darauf an", erwiderte Bebe grinsend und die beiden anderen glotzten sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. „He, schaut nicht so! Ist euch noch nie aufgefallen, wie mies seine Laune wird, sobald Gary Harrison auftaucht und Stan den Hof macht?" Die drei Freundinnen tauschten verschwörerische Blicke. Konnte Mr. Oberplayboy wirklich eifersüchtig sein? So, und zum Schluss ein paar unvermeidliche Kapitelnotizen: Warum gerade "The Last Unicorn"? Weil es eines meiner Lieblingslieder ist und ich es einfach sehr schön finde!^^ Gut. Aber was hat dieser OC namens Petra da zu suchen? Nun, weil wir bei Kyle und Cartman die Juden/Nazi-Problematik haben und ich es für nötig hielt, eine dritte Partei miteinzubringen, die ebenfalls bis zu einem gewissen Grad von diesem Thema betroffen ist und sowohl Cartman als auch Kyle eine andere Perspektive aufzeigen kann. Und da es meines Wissens keine Figur mit deutschen Wurzeln/deutscher Herkunft im South Park-Canon gibt, musste ich eine erfinden. Anderenfalls hätte ich einen Background-Charakter genommen, wie bei Patty Nelson. Wir wissen nichts über sie (außer dass Cartman sie mag), aber sie existiert im Original, also habe ich sie herausgepickt und ihr eine Persönlichkeit verpasst. Es gibt so viele Figuren in South Park, die nur in einer einzigen Episode auftauchen oder immer nur im Hintergrund zu sehen sind und mit denen man so viel anstellen könnte, weil sie wenig bis gar nicht definiert sind, aber kaum ein FF-Autor macht das. FFs sind wie ein großer Spielplatz, aber fast niemand spielt auf der gesamten Anlage. Schade. *seufz* Na schön, genug philosophiert, wir sehen uns beim nächsten Kapitel!^^ Kapitel 7: Wahrheit oder Pflicht -------------------------------- Hallo, liebe Leser! Endlich ist das neue Kapitel fertig!^^ Ich dachte schon, das wird diesen Monat nichts mehr (Bewerbungsstress, Kassieren von Absagen am laufenden Band und ein absolutes Krea-Tief...außerdem will ich nach Möglichkeit auch irgendwann wieder an meinem Roman arbeiten), aber jetzt freue ich mich, dass ich es doch noch fertig bekommen habe! Ich wünsche Euch allen viel Spaß beim Lesen - ach ja, und das hier werdet Ihr brauchen! *verteilt Sabberlätzchen* Leser: Wofür brauchen wir die?! Nur vorsorglich. Man kann nie wissen... P.S.: Ich widme dieses Kapitel allen, die diese FF favorisiert haben!^____^ Kapitel 7: Wahrheit oder Pflicht „Kenny, bist du bald fertig? Das ist mein Badezimmer, das du da blockierst!" Kevin McCormick, einundzwanzig Jahre jung, Automechaniker und überzeugter Single, stand ungeduldig vor der geschlossenen Tür seines Badezimmers und wartete darauf, dass sein Bruder wieder herauskam, der vor über einer Stunde darin verschwunden war. „Ich bin gleich soweit!" „Das hast du vor zehn Minuten auch schon gesagt! Was zum Teufel kann so lange dauern?!" Karen, die das Ganze vergnügt verfolgte, erklärte: „Was glaubst du wohl? Heute feiert Stan seinen achtzehnten Geburtstag - und Ken ist eingeladen. Da muss er sich natürlich besonders feinmachen, schließlich will er Eindruck schinden." Die Tür öffnete sich und Kenny trat heraus, ein Handtuch um die nackten Schultern gelegt. Er hatte Karens Bemerkung gehört und zog ein Gesicht, als ob er eine Zitrone kaue. „Was soll das heißen, ich will Eindruck schinden!? Bei wem denn? Es wird eine Party im kleinen Kreis, Stan hat nur seine engsten Freunde eingeladen... Kyle, Wendy, Butters, Eric und mich. Von denen steht keiner auf meiner Trefferliste. Na ja, außer Wendy und Butters, aber da hab‘ ich sowieso keine Chance." „Oh, ich dachte nur... du scheinst nämlich gerne zu vergessen, dass Gary Harrison auch kommt. Deswegen war ich der Meinung, du willst dich richtig in Schale werfen..." „...Womit? Ich werde meine bessere Jeans anziehen und mein Lieblingsshirt, mehr is‘ nich‘. Und was genau hat Harrison mit meiner Garderobe zu tun?" Kevin stupste ihn neckend an, seine braunen Augen blitzten. „Komm schon, kleiner Bruder, tu nich‘ so ahnungslos. Du kannst den Typen nich‘ ausstehen, weil er Stan anbaggert." Der Blondschopf blinzelte überrascht. Man sah ihm an, dass ihm diese Idee völlig neu war. „...Du meinst... ich bin eifersüchtig? Klar, Kevin... sicher..." Der Ältere ließ sich nicht beirren. „Zähl auf, was du gerade alles gemacht hast." „Na, was schon. Ich hab‘ geduscht und mir die Haare gewaschen." „Eine Stunde lang?" „Ich will sauber und ordentlich sein. Ist das verboten?" „Du riechst nach meinem Eau de Toilette. Du benutzt nie Eau de Toilette." „...Einmal ist keinmal." „Du weichst mir aus." „Halt die Klappe!" Kenny strebte in den Wohnraum. Er war viereckig, auf der linken Seite befand sich ein winziger Balkon nebst Fenster, unter dem Kevins Bett stand. Gleich im Anschluss folgten die Ausziehcouch mit Blick auf Schrankwand und Fernseher und rechts die kleine Küchenzeile mit Spülbecken, Kühlschrank und zwei Herdplatten. Auf der Couch lag sein Partyoutfit bereit, das er sich schweigend überstreifte. Karen kicherte. „Was ist!?" „Sorry, aber deine Boxershorts mit dem Playboy-Bunny sind so niedlich!" Er zog seine Jeans hoch und schloss Knopf und Reißverschluss, ohne sie einer Antwort zu würdigen. Kevin war indessen nicht gewillt, seinen jüngeren Bruder einfach davonkommen zu lassen. Er bohrte weiter. „Es stört dich also überhaupt nicht, dass Harrison eingeladen worden ist?" „Warum sollte es?" »Ja, warum? Stan hat Harrison sehr gern. Nun, und? Sicher, der Mormonenjunge will bei ihm landen, will mit ihm gehen, aber es ist ‘ne einseitige Angelegenheit. Ich hab‘ gar keinen Grund, mich aufzuregen... Stan und ich sind seit Jahren gute Freunde, mehr aber auch nicht. Okay, es is‘ nich‘ so, dass ich noch nie darüber nachgedacht hätte... Stan ist supernett und immer für uns da...auch wenn er ‘n zynischer Mistkerl sein kann... er ist witzig und cool und irre sexy und hat eine Stimme zum Dahinschmelzen... Trotzdem, meine Kumpel sind tabu, mit denen fange ich nichts an! Ich bin nicht eifersüchtig... Ich meine, ich war es noch nie, und jetzt sollte mir das bei Stanley passieren?! Bullshit!« Indessen ging Philip Pirrup-Carter einem seiner beiden Hobbys nach, dem Bogenschießen. Seine Adoptiveltern waren sehr wohlhabend, unter anderem gehörte ein weitläufiger Garten zu ihrer Villa im englischen Landhausstil, wo man einen Schießplatz für ihn errichtet hatte. Pip besaß außerdem eigenes Geld aus einem Fond, den seine Eltern kurz nach seiner Geburt angelegt hatten und über das er seit seinem sechzehnten Lebensjahr frei verfügen konnte. Sie starben bei einem Flugzeugabsturz, als er fünf war. Der Pfeil sirrte von der Sehne und traf ins Schwarze. Plötzlich hielt er inne und lauschte in die Stille. Nichts. Dabei war er fast sicher, etwas gehört zu haben. Er legte einen neuen Pfeil ein, zögerte ein paar Sekunden und wirbelte blitzschnell herum. Die Spitze zeigte auf einen Anhänger in Form eines umgedrehten Kreuzes. Damien hob abwehrend die Hände. „Du wirst doch nicht auf mich schießen, oder?" Pip war „not amused". Er spannte die Sehne noch ein wenig. „Du weißt genau, dass ich es hasse, wenn du einfach aus dem Nichts auftauchst! Zukünftiger Antichrist oder nicht, benutz gefälligst die Tür! Ich mag keine Männer mit schlechten Manieren!" „Ich bin der Prinz der Hölle, der Sohn Satans!", entgegnete Damien mit bedrohlichem Unterton. „Warum sollte ich auf meine Manieren achten?!" „Weil ich es sage." „So!?! Hältst du das für klug!? Ein Fingerschnippen und du würdest jämmerlich verbrennen! Ich könnte diese ganze Stadt in Schutt und Asche legen, wenn ich wollte!" Die Pfeilspitze stach in seine Haut. „Das will ich sehen." Drei Jahre Beziehung mit dem Erben des Teufels konnten sich nur auf zweierlei Art auswirken: Entweder ging man unter und hauchte frühzeitig sein Leben aus oder man entwickelte ein Rückgrat aus Stahlbeton und lernte, im Angesicht der Gefahr kaltes Blut zu bewahren. „Ich bin unsterblich, Pip. Du kannst mich nicht töten." „Stimmt. Aber ich kann es versuchen." Der junge Dämon starrte ihn sprachlos an. Dann entriss er dem Blonden Pfeil und Bogen, was dank seiner übermenschlichen Kraft nicht weiter schwierig war, zog ihn an sich und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. Pip registrierte vage, dass etwas in seiner Nähe Feuer fing, gab sich jedoch bald dem glühenden Kuss hin, der sein Inneres in ein Inferno verwandelte. Nur widerwillig löste er sich von Damien, der ihm ein diabolisch-triumphierendes Lächeln schenkte. Pip sah sich um und seufzte. Der preisgekrönte Fliederbusch seiner Mutter war abgebrannt. Vermutlich war das Damiens Alter geschuldet; manche seiner Kräfte hatte er noch nicht hundertprozentig unter Kontrolle, seine Feuermagie zum Beispiel. In einem leidenschaftlichen Moment konnte es geschehen, dass der Höllenprinz unabsichtlich etwas anzündete - und das Feuer der Unterwelt war weitaus zerstörerischer als gewöhnliches Feuer. „Den ersetzt du mir." „Und wenn ich nicht will?" „Oh, glaub mir, du wirst wollen." Diesmal wurde Damien von Pip geküsst. Seine Küsse waren weniger drängend, weniger fordernd, dafür aber umso zärtlicher und inniger. Satans Sohn fühlte seine Knie weich werden und verfluchte Philips Talent zur subtilen Verführung. Die seinem Charakter zugrundeliegende Sanftheit ließ jede seiner Liebkosungen zu einem Paradies werden. Es war ohnehin erstaunlich, dass er sich diese Eigenschaft erhalten hatte, denn mit Sanftheit allein ließ sich kein Dämon erobern. Damien erinnerte sich, dass Pips Güte und Freundlichkeit ihn einst zum Spott gereizt hatten. Er hatte ihn verachtet, denn barmherzigen Menschen fehlte die Kraft, sich zu wehren. Sie waren schwach und wertlos (das glaubte er zumindest). Um Anschluss zu finden und sich einen Spaß zu machen, hatte er ihn sogar angezündet! Und Pip? Nun, er war wütend auf ihn und strafte ihn monatelang mit Nichtachtung. Er konnte ihn bedrohen und beschimpfen wie er wollte, der blonde Junge ignorierte ihn. Er hatte keine Angst. Als es ihm endlich gelang, Pip zu konfrontieren, bekam er eine niederschmetternde Antwort: „Hör zu, Thorn... du bist ein Idiot. Du hast mir diesen bösartigen Streich gespielt, um von den anderen akzeptiert zu werden. Es hat nicht funktioniert. Das einzige, was du geschafft hast, ist, mich zu verletzen und meine Zuneigung zu dir kaputtzumachen! Ich wollte dein Freund werden, ohne irgendetwas von dir zu verlangen. Man braucht mir nichts zu beweisen. Die Kinder in meiner Klasse verstehe ich nicht. Ich bin nett und gut erzogen, also bin ich nicht cool. Ich weiß nicht, wer ihnen diese bescheuerte Vorstellung eingetrichtert hat. Und du, ausgerechnet du, den ich für einsam und unverstanden hielt...du bist genau wie sie. Genauso arrogant, genauso oberflächlich, genauso dumm, genauso erbärmlich. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Du bist es nicht wert." Ja. Der liebe, ach so wehrlose Pip hatte ihm einen ordentlichen Brocken reingewürgt. Die Erkenntnis, dass er durch seine eigene Schuld den einzigen Menschen verloren hatte, der bereit gewesen war, ihn um seiner selbst willen gernzuhaben, hatte ihn tief erschüttert. Noch am selben Tag hatte er sein Kinderzimmer abgefackelt und den gesamten Ostflügel des Palastes vernichtet. Und er hatte geheult. Er hatte nie zuvor geweint, doch damals vergoss er seine ersten bewussten Tränen - wegen eines unwürdigen Sterblichen! »Ein unwürdiger Sterblicher, dessen Freundschaft zu ergattern mein Lebensziel wurde... Ein unwürdiger Sterblicher, in den ich mich verliebte, als ich kaum dreizehn war... Ein unwürdiger Sterblicher, der so sanft und so naiv und so verletzlich war... und dessen Herz sich als die härteste Substanz der Welt erwies. Er ist wie ein Diamant, schön, rein und unzerstörbar. Ich werde nie wieder ohne ihn sein können.« »Damien, du dickköpfige, herrliche Katastrophe... Du bist eigenbrötlerisch und ungeduldig, exzentrisch und herablassend... und dabei so ungeschickt, ja, beinahe ängstlich, wenn es um deine Gefühle geht... Dich zu reizen, kann gefährlich sein, aber dich zu küssen, ist wundervoll... Mein Dämon... Ich liebe dich!« Sie trennten sich schwer atmend. „Entschuldige meine miese Laune, Pip... meine Mutter versucht gerade, eine Rebellion anzuzetteln und Vater zu stürzen - mal wieder. Wenn sie ihre Hölleneroberungstage hat, darf man sie nur mit Samthandschuhen anfassen, ihre explosionsartige Stimmung verdient eine Neun auf der Richterskala. Hat sie mir doch vorhin vorgeworfen, ich soll in ihrer Gegenwart nicht so laut atmen, das stört sie in ihrer Konzentration! Wenn es nur das wäre... aber leider ist da noch mehr..." Ernst und ein wenig geistesabwesend schnippte er mit den Fingern, woraufhin der preisgekrönte Fliederbusch in Sekundenschnelle aus der schwarzen Erde wuchs. „Was meinst du?" „Ich habe vor einigen Wochen auf Butters‘ Party eine dunkle Aura wahrgenommen. Sie war nicht dämonisch, aber dennoch unheimlich. Ich bin besorgt, weil ich diese negative Energie keinem Ursprung zuordnen konnte. Das ist ein schlechtes Zeichen." „Könnte es... könnte es der Serienkiller sein?", fragte Pip beklommen. „Welcher Serienkiller?" „...Siehst du nicht fern? Oh, warte, tust du nicht, Dämonen jagen Seelen oder massakrieren Monster in ihrer Freizeit..." „Na und? Natürlich könnte ich mich neben Dad vor der Glotze parken, aber das Programm der Menschen ist stinklangweilig. Ich interessiere mich nicht dafür. Also, da läuft ein Serienkiller durch die Gegend, sagst du?" „Ja, seit ungefähr einem Monat. Er scheint sich vorwiegend in der Umgebung von North Park herumzutreiben. Er greift seine Opfer von hinten an, ersticht sie und schneidet ihnen dann die rechte Hand ab." Er unterdrückte ein Schaudern. „Noch ist nicht bekannt, ob er sein Gebiet ausdehnen wird, aber die Polizei ‚mahnt die Bevölkerung zu äußerster Vorsicht‘, wie es so schön heißt. Wäre es möglich, dass du ihn gespürt hast?" „Nein. Killer oder nicht, er ist ein Mensch und hat keine magische Aura. Und er schneidet seinen Opfern die rechte Hand ab? Gab es da nicht vor ein paar Jahren schon mal so einen Irren, der den Leuten die linke Hand abgeschnitten hat?" „Ja, der ‚Left Hand‘-Killer, aber er wurde von einem Polizisten erschossen. Er ist tot. Es sei denn, er kann aus dem Fegefeuer zurückkehren?" „Unsinn, niemand kann das. Das Abschneiden der Hände ist allerdings eine beunruhigende Übereinstimmung. Vielleicht handelt es sich um einen Nachahmungstäter?" „Jedenfalls ist es schrecklich! Könnten du und Kenny nicht in der Stadt patrouillieren, oder sowas ähnliches?" „Klar, wir kennen schließlich keine Müdigkeit und haben Schlaf nicht nötig. Aber lass den Kopf nicht hängen, es kann sicher nicht schaden, Vorkehrungen zu treffen. Ich werde meine Späher ausschicken... und mich mit dem ‚Untergrund‘ in Verbindung setzen." „Mit... mit dem ‚Untergrund‘? So hast du die Hölle noch nie genannt..." „Ich spreche nicht von der Hölle. Ich spreche vom besten Spionage- und Informationsnetzwerk, das diese Stadt zu bieten hat." Pip hätte gern mehr erfahren, doch Damien verschwand nach einem Abschiedskuss in einer Feuersäule. Dass ein Verrückter frei herumlief, war schlimm genug, und nun gab es auch noch eine dunkle Aura, die der Sohn Satans nicht identifizieren konnte? Scheiße. Er hob seinen Bogen und den Pfeil auf, stellte sich in Positur, legte an, zielte und schoss. Der Pfeil schlug ein Stück über dem ersten ein. Die einzige Art, der Gefahr zu begegnen: Man bewahrte kaltes Blut. Zur gleichen Zeit hatten es sich Craig und Teresa Tucker vor dem Fernseher gemütlich gemacht, um „Red Racer" anzuschauen, ihre Lieblingsserie. Die Stimmung trübte sich, als der Vater der beiden das Wohnzimmer betrat, denn seine Miene verhieß nichts Gutes. „Craig... gerade erfahre ich von deiner Mutter, dass du entgegen meiner Anweisung schon wieder einen Handarbeitskurs besuchst! Ich dachte, du hättest dich für Automechanik als Wahlfach entschieden! Du solltest lernen, wie man einen Motor auseinander baut, nicht, wie man Socken stopft! Jungs tun so etwas nicht!" Terry beobachtete ihren Bruder bei dieser Anklage. Kein Muskel schien sich in seinem Gesicht zu bewegen, es war starr und undurchdringlich. „Dad, hör zu: In dem Kurs sind nur Mädchen, ich bin der einzige Kerl. Die sind ganz begeistert von mir, weil ich ‚dazu stehe‘, Handarbeiten zu machen. Das gefällt ihnen." „...Soll das heißen, das ist nur eine Masche, um sie für dich zu interessieren?" Mr. Tuckers Züge entspannten sich und wichen einem zufriedenen Lächeln. „Klar. Ich hasse Handarbeiten, das ist Weiberkram." Unter normalen Umständen hätte Terry Craig dafür eine heruntergehauen, aber das hier war nicht normal. Ihre Eltern wussten wenig von ihrem Sohn, vor allem ihr Vater, weil das Image, das Craig nach außen präsentierte und sein wahres Ich, das er in seinem Zimmer einschloss, immer mehr auseinander zu driften drohten. Sicher, er war oft ein Arsch und seine spitze Zunge konnte böse Wunden schlagen, aber sie kannte einen Craig, der sie, als sie noch kleiner gewesen war, mit selbstgebastelten Handpuppen zum Lachen gebracht hatte; einen Craig, der sich liebevoll um sein Meerschweinchen kümmerte, der heimlich neue Mützen für sich strickte oder hübsche Stickereien anfertigte, der sich beim Ende von „The Green Mile" regelmäßig in Tränen auflöste und der noch nie geküsst hatte (oder geküsst worden war). Ja, Tatsache. Natürlich schleppte er immer mal wieder die eine oder andere Tussi an, aber keine von ihnen schien irgendwelche echten Qualitäten zu besitzen, praktisch alle erfüllten das Klischee von „sexy, aber dämlich/ungebildet/eitel/egoistisch". Sie eigneten sich zum Herzeigen, damit Daddy nicht die Orientierung seines Sohnes in Zweifel ziehen musste, aber zu mehr auch nicht. Und Craig? Craig spielte diese Farce mit erschreckendem Durchhaltevermögen. »Warum tust du dir das an, großer Bruder? Mom würde dich sofort so akzeptieren, wie du wirklich bist... und Dad? Okay, er hätte Schwierigkeiten damit... aber er würde dich annehmen, ganz bestimmt. Er ist unser Vater. Er liebt uns. Schau mich an! Ich hasse es, Röcke zu tragen und bin der amtierende Skateboard-Champion von South Park. Das hindert mich nicht daran, immer noch My Little Pony zu sammeln und Rosa zu meiner Lieblingsfarbe zu erklären. Ich würde dir so gerne helfen... aber du willst dir nicht helfen lassen. Dabei kann ich genau sehen, wie unglücklich du bist...« Farblich war das Geschwisterpaar ein wandelnder Stereotyp. Craig kleidete sich hauptsächlich in Blau, während Terry mit der hellen Jeans, ihrem rosa T-Shirt (Glitzeraufdruck „Girls Rock") und dem weißen Käppi mit rosa Applikationen und dem großen rosa Herz auf der Frontseite sehr mädchenhaft wirkte - zumindest so lange, bis sie den Mund aufmachte. Bei Craig nutze ihr das wenig, ihre Ratschläge, Bitten oder Drohungen prallten an ihm ab wie an einer Gummiwand. „Na, dann gib nur ruhig weiter den Hahn im Korb, mein Sohn. Vielleicht findest du diesmal eine, mit der du gehen willst." Damit verschwand er. Terry legte in einer Geste des Beistands ihre Hand auf Craigs Schulter, doch er schüttelte sie unwillig ab. Diese Ablehnung traf sie wie ein Faustschlag. Sie sprang wütend auf und zischte: „Weißt du was, du Arsch!? Wenn du dich lieber selbst belügen willst, von mir aus! Du denkst, du brauchst mich nicht? Du denkst, du brauchst niemanden? Du wirst mit allem allein fertig? Schön! Dann versuch‘s mal! Du wirst sehen, was du davon hast!" Er hörte die unterdrückten Tränen in ihrer Stimme und hielt sie fest, als sie in ihr Zimmer laufen wollte. Er sah sie nicht an, seine Worte waren nur ein Flüstern: „Es tut mir leid, Terry." Sie setzte sich langsam wieder, musterte ihn eine Weile aufmerksam und gab ihm schließlich einen tröstenden Kuss auf die Wange. Er streckte seinen Mittelfinger aus und verhakte ihn mit dem ihren. „Du bist ein Idiot, großer Bruder." „Red Racer" erreichte den Höhepunkt der heutigen Episode, aber gerade, als der Titelheld von seinem Rivalen von der Rennstrecke gedrängt wurde, wurde die Sendung unterbrochen. Ein Nachrichtenlogo wurde eingeblendet. „Sehr verehrte Damen und Herren, wir unterbrechen das laufende Programm für eine wichtige Mitteilung: Der ‚Right Hand‘-Killer, in Anlehnung an den ‚Left Hand‘-Killer so genannt, der in North Park, Colorado sein Unwesen treibt, hat der Polizei zufolge sein Gebiet ausgeweitet. Wie ein Pressesprecher der örtlichen Polizeidienststelle vor zehn Minuten verlauten ließ, ist zu befürchten, dass sich nun auch die Bevölkerungen der Städte Middle Park und South Park in seinem Aktionsradius befinden. Die Bürger werden gebeten, ihre Häuser und Wohnungen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr zu verlassen und die nötigen Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Der ‚Right Hand‘-Killer ist mit einem Jagdmesser bewaffnet und extrem gefährlich." Terry erblasste. „Soll das heißen, dieser Durchgeknallte könnte sich in unserer Nähe herumtreiben? Na toll. Bei der Unfähigkeit unserer hiesigen Polizisten kann das ja lustig werden..." „Mach dir keine Sorgen. Ich passe auf dich auf." Er legte schützend den Arm um sie. »Ich werde immer auf dich aufpassen, kleine Schwester.« *** „Happy Birthday, Stan!" „Hallo, Butters! Das ist für mich? Vielen Dank!" Stan legte das Geschenk auf seinen Gabentisch zu den anderen Päckchen. Es war interessant, wie man auf den Charakter der Gäste schließen konnte, wenn man ihre Präsente genauer betrachtete. Butters‘ Paket zum Beispiel war in rosa Hello Kitty-Papier eingewickelt, verziert mit einer großen, sorgfältig gebundenen roten Schleife und Buchstabenstickern, die den Namen des Geburtstagskindes bildeten. Kyles Geschenk in schmucklosem grünen Papier sah aus, als hätte er es mit dem Lineal ausgeschnitten, kein Knick, keine Falte war zu entdecken. Obendrauf schimmerte eine akkurat gesetzte goldfarbene Rosette zum Aufkleben. Wendy hatte sich für ein richtiges Geburtstagsthema entschieden, auf dem weißen Papier prangten bunte Luftballons, Konfetti und Luftschlangen. Cartman hatte sich die Mühe gespart und sein „Päckchen" in eine dieser stabilen Hochglanz-Parfümerie-Tüten gesteckt, während Kenny sein Geschenk in alte Playboy-Poster gewickelt hatte. Nur Gary fehlte noch. „Oh, hallo, Butters. Schick siehst du aus!" „Danke, Wendy. Dieses Kompliment kann ich nur erwidern." „Das finde ich auch. Das Kleid steht dir sehr gut. Neu?" Sie grinste. „Fast. Aber du wirst es kaum kennen, Stan. Ich habe es in deinem Beisein höchstens zehnmal angehabt." „Ah, touché!" Es klingelte und Stan eilte zurück an die Tür. Gary stand draußen, in einer eleganten dunkelblauen Tuchhose und einem weißen Hemd. Er reichte dem Schwarzhaarigen ein liebevoll eingepacktes Geschenk mit allerlei kunstvoll verschnürten Bändern, an denen ein Kärtchen, künstliche Blumen und ein bemaltes Holzfigürchen baumelten. Es spielte Gitarre. „He, das ist niedlich." „Ein kleines Extra... als Glücksbringer oder so..." Garys Belohnung fiel in Form eines bezaubernden Lächelns aus. Er wurde rot und folgte Stan zu der bereits versammelten Gruppe. Er kannte niemanden aus diesem Freundeskreis besonders gut, war aber entschlossen, sie für sich zu gewinnen. Natürlich war ihm der schöne Leo Stotch ein Begriff, der ihn mit entwaffnendem Charme begrüßte, und auch Wendy Testaburger und Eric Cartman genossen einen hohen Bekanntheitsgrad. Kyle Broflovski als Stanleys bester Freund bedurfte ebenfalls keiner großartigen Vorstellung mehr. Dann war da noch Kenny McCormick, die ungerade Zahl, das, was nicht ins Bild passte. Leo war der Leiter der Musical-AG und konnte tanzen wie ein junger Gott. Wendy war die Star-Reporterin der Schülerzeitung und schrieb hervorragende Artikel. Cartman war der Kapitän der Footballmannschaft und spielte meisterhaft. Kyle war der offizielle Schulprimus und zugleich Mitglied der Judo-AG. Stan gehörte zur Soccermannschaft und konnte wundervoll singen. Außerdem war er ein entschiedener Verfechter des Umweltschutzes und wollte Meeresbiologie studieren. Was tat Kenny hier, inmitten dieser erfolgreichen, zielstrebigen Menschen? Was zeichnete ihn aus? Er stammte aus dem Ghetto der Stadt und Gerüchten zufolge schlief er mit allem, was Sexappeal hatte, nahm regelmäßig Drogen und war, wie jeder Hedonist, stets auf der Suche nach dem nächsten Kick, dem nächsten Sinnesrausch, Konsequenzen unerwünscht. Warum war ein Mann wie Stan mit so jemandem befreundet? Gary versuchte, seine Vorurteile zu unterdrücken, doch es gelang ihm nicht. Man hatte ihm beigebracht, immer nett und offen zu allen Menschen zu sein und sich nicht von Vorurteilen blenden zu lassen, aber genau das erwies sich oft als sehr schwierig. Als Kenny ihm die Hand schüttelte, fragte er sich unwillkürlich, ob der Junge aus dem Ghetto sauber war und keine Bazillen mit sich herumschleppte. Und dieses alberne T-Shirt... Prahlerisch. Kindisch. Geschmacklos. »Was ist bloß los mit mir? Will ich denn unbedingt auf die Gerüchte hören!? Aber warum? Warum kann ich ihn nicht leiden? Das ist lächerlich, er hat mir nichts getan...!« Außer vielleicht... die Art, wie er Stanley ansah... sie gefiel ihm nicht. Sie gefiel ihm ganz und gar nicht. Nachdem Stan seine Geschenke ausgepackt und man den Kuchen verspeist hatte, begann der ausgelassene Teil der Party. Die Marshs waren gegen sieben Uhr ausgegangen, damit die Jugendlichen ungestört feiern konnten. Randy hatte bleiben wollen, doch Sharon hatte ihm das rasch wieder ausgeredet. Stan war dankbar, dass sie das richtige Gefühl für diese Dinge besaß. Jetzt hockten alle im Kreis, in der Mitte lag eine leere Plastikflasche. Das Geburtstagskind machte den Anfang und drehte die Flasche, die nach ein paar bangen Sekunden vor Wendy anhielt. „Das war so klar.", bemerkte sie säuerlich. „Augen zu und durch, Wendy, das ist das Beste. Also, Wahrheit oder Pflicht?" „...Wahrheit." „Okay. Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?" „Stan!!!" „Du wolltest Wahrheit, du kriegst Wahrheit. Nun?" „Puh... na gut. Erinnert ihr euch noch an Miss Ellen? Sie hat ‚It‘ vertreten, als er sich das erste Mal unters Messer gelegt hat." „Wie könnte man Miss Ellen vergessen?", seufzte Kenny verzückt. „Sie war ‘n heißer Feger, Lesbe hin oder her! Eine meine ersten Lieben!" „Wohl eher eines deiner ersten Gelüste", meinte Stan mit einem leichten Anflug von Ärger, den er selbst nicht ganz verstand. „Sei nich‘ so scheinheilig, Alter! Du warst auch hinter ihr her, sogar noch mehr als ich!" „Genau. Deswegen war Wendy auch so ‘ne Zicke." „Halt die Klappe, Cartman! Ich möchte dich mal sehen, wenn dir jemand deinen Freund streitig macht! Oh, warte... du hattest noch nie einen." „Fick dich, Hure!" „Fick dich selber, Hurensohn!" „SCHLUSS JETZT!!!" Stille trat ein und alle wandten sich Kyle zu. „Das hier ist eine Party und keine Schlacht! Wenn ihr streiten wollt, dann tut das, aber bitte draußen!" „Und seit wann spielst du den Friedensrichter, Jude?" „Lass mich in Ruhe, Blödarsch." „Ginger!" „Halb-Ginger!" „Jerseybastard!" „Dreckskerl!" „Schnauze, Jungs. Fahr fort, Wendy... aber schnell, sonst sitzen wir morgen noch da." „Danke, Stan. Also, ich war sehr eifersüchtig, das gebe ich zu... deshalb habe ich... na ja, deshalb habe ich sie bei der Polizei angezeigt, anonym natürlich. Ich habe behauptet, sie würde einen ihrer Schüler sexuell belästigen." „WENDY!!!" Sie zuckte schuldbewusst zusammen. „Ich weiß, es war dumm von mir. Als es dann hieß, Miss Ellen solle der Schule verwiesen werden, bekam ich ein schrecklich schlechtes Gewissen und bin zu Principal Victoria gegangen, um mich zu stellen. Sie hat mir drei Wochen tägliches Nachsitzen aufgebrummt und ich erhielt einen Vermerk in meine Schulakte. Miss Ellen wurde rehabilitiert, aber nach dem Vorfall wollte sie nicht mehr bei uns unterrichten." „Du kämpfst mit harten Bandagen, Wendy.", sagte Cartman mit einem Hauch Bewunderung, was sie zu einem Lächeln veranlasste. Nun war sie an der Reihe, die Flasche zu drehen und sie stoppte vor Kenny. „Okay, Kenny... Wahrheit oder Pflicht?" „Pflicht. Was sonst?" „Hm..." Sie überlegte einen Moment, bis ihr das Gespräch einfiel, das sie vor ein paar Tagen mit Patty und Bebe geführt hatte. „Ich hab‘s! Ich fordere dich heraus, Stan zu küssen!" Stan gab ein leicht panisches „Hä!?" von sich, das Tweeks Ausrufen alle Ehre gemacht hätte, während Kennys breites Grinsen kläglich in sich zusammenstürzte, dicht gefolgt von seiner Gelassenheit. „Wa-was hast du da gerade...?" „Oh, du hast mich schon verstanden. Du sollst Stan küssen...und zwar auf den Mund. Keine Sorge, ich bestehe nicht auf Zunge." „Wendy!!!" „Das ist mein Name." „Wendy!!!" „Wieder richtig, ich gratuliere dir, Stan! Also, Kenny, wenn ich bitten darf?" Hätte sie ihn dazu aufgefordert, sich den Hals zu brechen, er wäre schnurstracks auf das Dach des Hauses geklettert und heruntergesprungen. Leider hatte sie ihn nicht dazu aufgefordert, sich den Hals zu brechen. Das wäre ihm lieber gewesen. „Na schön... äh... dann... dann fange ich mal an...?" Er konnte förmlich spüren, wie sich die Blicke sämtlicher Anwesender in ihn hineinbohrten, besonders die von Harrison, dessen Miene mörderisches Missvergnügen verriet. Es half auch nicht, dass Stan ihn anstarrte wie das Kaninchen die Schlange. „Reg dich nicht auf, ja? Es ist bloß ein... ein Küsschen, nichts weiter..." „Ich hoffe, du hältst dich daran, Kenneth...", sagte Stan, wobei seine Stimme aus unerfindlichen Gründen die Anschmiegsamkeit von Samt anzunehmen schien. Hatte er schon erwähnt, dass er immer so ein komisches Kribbeln in der Magengegend bekam, wenn das passierte? Und warum fand er es...aufregend, wenn der andere seinen vollen Namen so aussprach? Er beugte sich nach vorn, schloss die Augen und küsste Stan. Dieser war sich nicht sicher, wie er reagieren sollte. Kennys Lippen waren etwas rau, aber warm und angenehm, so angenehm wie der Duft, den er verströmte. Er musste an den Kuss denken, den Gary ihm gegeben hatte, und stellte fest, dass ihn eine ähnliche Verwirrung befiel wie damals, nur war sie diesmal intensiver. Auch sein Herzschlag beschleunigte sich und er war kurz davor, seine eigenen Augen zu schließen, als Kenny sich plötzlich zurückzog. „Bitte sehr - bist du zufrieden?" Wendy nickte und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Der Blondschopf runzelte die Stirn, entschied jedoch, sich nicht weiter darum zu kümmern und die Flasche zu drehen. Er vermied es allerdings, in Stans Richtung zu schauen. Die Flasche hielt vor Kyle. „Oh la la! Wahrheit oder Pflicht, Mr. Schulprimus?" Kyle verfluchte sein Pech. Bei Kenny waren Wahrheit oder Pflicht keine Alternativen. Er hatte eine perverse Fantasie und praktisch keine Skrupel, was Peinlichkeiten anging. Zwar hatte er (noch) kein Liebesleben, nach dem Kenny hätte fragen können... aber statt dessen würde er dann vermutlich fragen: ‚An wen denkst du, wenn du dir einen runterholst?‘ Und Pflicht? Du liebe Zeit, Kenny könnte alles mögliche von ihm verlangen! Trotzdem war es das kleinere Übel, denn Kyle war es extrem zuwider, über intime Details zu sprechen, jedenfalls in der Öffentlichkeit. Allein mit einem Liebhaber? Das konnte er sich vorstellen. Aber sonst? Er holte tief Luft. „Pflicht." „Ah, prima! Also, Kyle, ich fordere dich heraus, uns einen Striptease zu zeigen!" „WAS!?!" „Mit Musik, natürlich. Und ausziehen musst du dich bis auf die Shorts, damit es wirklich zählt. Deine Socken kannst du vorher wegtun. Äh... Stan, dein Dad und du, ihr habt doch so ‘ne große CD-Sammlung. Ist da nicht irgendwo ein passender Song drunter?" Die Blicke der beiden trafen sich frontal. Der Schwarzhaarige lief rosa an (was Kenny dazu brachte, verlegen den Kopf zu senken) und wurde gleich darauf blass, als er Kyles entsetztes Gesicht bemerkte. „Kannst du dir nicht was anderes ausdenken? Muss bei dir immer alles sexuell sein? Lass ihn von mir aus einen Handstand machen oder sowas, aber keinen Strip!" „Ja, also", schaltete Cartman sich ein, „ich finde es auch nicht gut, Ken. Ich glaube nicht, dass Kyle sich dabei wohlfühlen würde..." „Seit wann kümmert es dich, ob Kyle sich wohl fühlt?" Cartman ignorierte die Frage. „...außerdem gehört Rhythmus zu einem Striptease, man muss sich zur Musik bewegen können. Kyle ist ein Jude, die haben keinen Rhythmus!" „Was!? Das ist nicht wahr, ich habe Rhythmus!" „Ach ja? Du meinst die Art von Rhythmus, die du im Regenwaldchor bewiesen hast? Stimmt, das war sehr überzeugend... darin, wie man es nicht macht! Gib dir keine Mühe, Jude, jeder hier weiß, dass dein Striptease erbärmlich wäre!" Kyle ballte die Fäuste. „Das werden wir sehen! Stan, such‘ bitte Musik für mich aus!" „Ist... ist das dein Ernst...?" „Ja!!" »Dem Blödarsch werde ich‘s zeigen!!« Stan durchforstete das CD-Regal und förderte ein Album von Kylie Minogue zutage. Eine Verwandte im Namen, zumindest fast. Warum nicht sie? Ein geeignetes Lied war schnell gefunden und die Scheibe wanderte in den CD-Player. Kyle zog seine Strümpfe aus und postierte sich vor seinem Publikum. Knew you‘d be here tonight So I put my best dress on Boy, I was so right Our eyes connected Now nothing‘s how it used to be Don‘t second guess it Track in on this feeling Pull focus, close up you and me Nobody‘s leaving Got me affected Spun me 180 degrees It‘s so electric Kyle benötigte eine Weile, um sich in die Melodie einzufühlen, doch nach und nach gelang es ihm. Sein Körper begann, sich mit den Tönen zu wiegen und seine Augen suchten Cartman, dem der Mund offenstand. Er streckte die Arme nach oben, ließ seine Hüften langsam kreisen und drehte sich bei „Spun me 180 degrees" einmal um die eigene Achse. Er bemühte sich, nicht daran zu denken, dass ihn noch andere Leute beobachteten, er konzentrierte sich nur auf seinen fassungslosen Rivalen. Slow down and dance with me Yeah, slow Skip a beat and move with my body Yeah, slow Come on and dance with me Yeah, slow Skip a beat and move with my body Yeah, slow Schlanke Finger strichen über den Bauch und den Torso hinauf und schließlich durch feuerrotes Haar. Er spielte mit dem Saum seines Tops und ließ immer wieder ein Stück nackter Haut hervor blitzen, während seine Hüften weiterhin verführerisch kreisten. Um einen besseren Halt zu haben, lehnte er sich gegen einen Schrank und fing an, mit den Händen seine Lenden und Oberschenkel hinauf- und hinab zu gleiten. Don‘t wanna rush it Let the rhythm pull you in It‘s here so touch it You know what I‘m saying And I haven‘t said a thing Keep the record playing Slow down and dance with me Yeah, slow Skip a beat and move with my body Yeah, slow Come on and dance with me Yeah, slow Skip a beat and move with my body Yeah, slow Er schloss die Augen und schob das Top hoch bis zum Halsansatz, was seine geschmeidige, durchtrainierte Brust und seine rosigen Nippel entblößte. Ob Cartman ihn ansah? Er blinzelte vorsichtig, die übrigen Gesichter waren kaum mehr als verschwommene Flecken... ja, Cartman sah ihn an. Er wirkte wie hypnotisiert, die Augen weit aufgerissen, der Körper regungslos... jetzt fuhr er sich mit der Zunge über die trockenen Lippen... Kyle zog das Oberteil aus und ließ es achtlos zu Boden fallen, begleitet von seinen Hüften, die, passend zum Tempo der Musik, quälend langsame Beckenstöße nachahmten. Er warf den Kopf zurück und fuhr mit beiden Händen über seinen Schritt, ermutigt von der Vorstellung, Cartman tatsächlich beherrschen zu können. Eine heiße Woge erfüllte ihn und er nestelte am Knopf seiner schwarzen Hose. Read my body language Take it down, down Slow down and dance with me Yeah, slow Skip a beat and move with my body Yeah, slow Come on and dance with me Yeah, slow Skip a beat and move with my body Yeah, slow Die Hose war eng, deshalb trug er keine weiten, sondern formschöne weiße Boxershorts, die, wie er genau wusste, seinen Hintern perfekt betonten. Er schälte sich mit dem Rücken zum Publikum wie in Zeitlupe aus dem Kleidungsstück, bis er halbnackt dastand. Dann wandte er sich um und rutschte am Schrank hinunter in die Hocke, die kräftigen Beine gespreizt. Er streichelte seinen Bauch, erhob sich gemächlich wieder und näherte sich seiner Nemesis, wobei er den Text des Liedes mitsang: „Skip a beat and move with my body... Skip a beat and move with my body... Skip a beat and move with my body..." Cartman starrte ihn unentwegt an. Kyle lächelte triumphierend und beendete seine Darbietung, indem er das Schlusswort in das Ohr des Quarterbacks hauchte. „Slow...!" Das schien ihn aus seiner Trance zu wecken, denn er zuckte zusammen, sprang auf und stürzte aus dem Wohnzimmer. Der Rest der Gäste applaudierte. Butters, als der Tanzprofi, der er war, meinte: „Das war ausgezeichnet, Kyle! Inzwischen hast du Rhythmus entwickelt, daran besteht kein Zweifel. Hättest du nicht Lust, der Musical-AG beizutreten?" „Das ist sehr nett von dir, Butters, aber nein", entgegnete Kyle geschmeichelt, während er in seine Klamotten schlüpfte. „Ich habe einfach keine Zeit dafür... und meine Mom würde es auch ganz sicher nicht erlauben. Es war schon schwierig genug, sie vom Judo zu überzeugen." „Wow... das war echt stark, Kumpel!" Stan strahlte ihn an (obwohl er ein bisschen grün um die Nase war). „Ich muss zugeben, dass ich dir das nicht zugetraut hätte..." „Ich auch nicht", räumte Kenny beschämt ein. „Ich habe damit gerechnet, dass du eine einmalig komische Figur machen würdest... aber das? Wow, Alter. Wow." Wendys Wangen hatten sich dezent gerötet. „Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, dass ich ein paar Fotos mit meinem Handy geschossen habe?" „Klar... nur wofür?" „Na, damit meine Freundinnen und ich was zum Anschauen haben...Außerdem gibt es neben der Galerie der heißesten Girls auch eine Galerie der heißesten Boys in der Schülerzeitung und für diese Rubrik kann man nie genug Material haben!" Gary, der aus Höflichkeit geklatscht hatte, war zurückhaltender. Kyles Wagemut hatte ihn beeindruckt, aber der Striptease als solcher war im Vergleich zu dem Kuss unbedeutend. Stan war anfangs erschrocken gewesen, doch während des Kusses hatte er erstaunlich... bereitwillig gewirkt. Er mochte McCormick, das war sicher. Aber wie sehr genau? Und warum überhaupt? Er war ein notgeiler Perverser, den die Gefühle anderer nicht interessierten. »Verdammt, ich muss damit aufhören! Da spricht die Eifersucht, nicht mein gesunder Menschenverstand! Wenn Stan ihn mag, muss er einen guten Grund haben! Ich sollte ihm vertrauen, schließlich kennt er McCormick viel besser als ich!« Was nun Kyle selbst betraf, so war er stolz, dass er die Herausforderung angenommen und mit Bravour erledigt hatte. Jetzt galt es, Cartman damit zu konfrontieren. Er wusste, dass das nicht besonders fair war, aber der Wunsch, seinen Gegner zu demütigen, erwies sich als stärker. Er fand Cartman in der Küche, schwer atmend über das Spülbecken gebeugt. „Na, Blödarsch? Hast du gesehen, wie viel Rhythmus ich habe?" Der Quarterback drehte sich aufreizend langsam zu ihm um und fixierte ihn. Kyle wollte etwas sagen, doch der Ausdruck auf Cartmans Gesicht verschlug ihm die Sprache. Dieser Ausdruck war ein einziges Geständnis für die Bedürfnisse, die der Anblick seines Körpers in einem Mann erwecken konnte und er warf Kyle völlig aus der Bahn. Instinktiv wich er ein paar Schritte zurück, als Cartman auf ihn zu kam, bis die Wand ihn stoppte. Der großgewachsene, muskulöse Körper seines Rivalen presste sich gegen den seinen und Kyle schnappte nach Luft. Er hatte nur auf das Mienenspiel des anderen geachtet und auf nichts sonst, weshalb ihn das, was er da spürte, zunächst außerordentlich schockierte. Cartman war... hart. »Oh Gott... das... das kann doch nicht...!« Heißer Atem streifte sein Ohr und eine tiefe, heisere Stimme flüsterte: „Wie grausam du sein kannst, Jude... Mir so deutlich zu zeigen, was ich nie haben werde...!" „Aber... aber du hast mich doch provoziert...!" „Ich provoziere dich ständig. Ich hatte nicht erwartet, dass du dich diesmal darauf einlassen würdest, wo dir der Striptease so unangenehm zu sein schien... Um mir eins auszuwischen, bist du zu allem fähig, was?" „Ich... ich..." Kyles Gedanken wirbelten durcheinander wie Treibholz. Die erregende Hitze, die gegen seinen Unterleib drückte, löste das inzwischen bekannte Prickeln aus, und er hasste sich dafür, dass sein Körper danach schrie, einfach aufzugeben. Er kratzte seine verbliebene Widerstandskraft zusammen und stieß Cartman von sich, doch das glühende Verlangen in den braunen Augen verschwand nicht. Im Gegenteil, seine Abwehr steigerte es offenbar noch. Nie hätte er vermutet, dass ihn irgend jemand so begehren könnte! Cartman machte keinen zweiten Versuch, sich ihm zu nähern, sondern blieb wie versteinert stehen, das Gesicht abgewandt, bis sich sein Atem wieder normalisiert hatte. Dann, nach einem qualvoll langen Moment, holte er ein kleines Kärtchen aus seiner Hosentasche hervor, das er Kyle hinhielt. Es war ein Gutschein. „...Das ‚Weberstübchen‘? Ist das nicht diese deutsche Konditorei? Was soll ich damit?" „Die Tochter des Eigentümers ist eine Freundin von mir. Sie möchte dich gern einmal kennen lernen und das ist ihre Einladung. Ihr Name ist Petra." „Und warum sollte ich sie kennen lernen wollen?" „Warum solltest du nicht? Ich habe ihr von dir erzählt und sie will dich treffen." Kyle war nicht begeistert. Wenn diese Petra mit Cartman „befreundet" war, teilte sie vermutlich auch seine... seine „Gesinnung". Danke, aber danke nein. „Vergiss es. Du kannst ihr ausrichten, dass ich nicht daran interessiert bin, mir noch mehr antisemitische Scheiße anzuhören." „...So. Sie ist eine Freundin von mir und deutscher Herkunft. Das macht sie automatisch zu einem Nazi, ja? Wer klingt jetzt wie ein rassistisches Arschloch?" „Das ist nicht rassistisch. Das ist eine naheliegende Vermutung." „Ist es nicht!! Und verdreh‘ gefälligst nicht die Augen, du scheinheiliger kleiner Mistkerl!! Ich bin mit Kenny, Stan und Butters befreundet und sie sind keine Nazis, oder!? Ich bin mit Patty Nelson befreundet und auch sie ist kein Nazi! Du sagst, dass ich kein Recht habe, dir Dinge zu unterstellen, nur weil du ein Jude bist - aber du unterstellst Petra, dass sie ein Nazi ist, nur weil sie aus Deutschland kommt und mit mir befreundet ist! Weißt du was, Kyle!? Genau das ist Rassismus! Genau das ist das Verhalten, das du mir vorwirfst! Bevor du also weiter in meinem Fahrwasser schwimmst, solltest du dich von den Tatsachen überzeugen, denn diese Frau, von der du da sprichst, hat mir angedroht, mir eins mit ihrem Tablett überzuziehen, falls ich eine blöde Bemerkung über den Holocaust mache!" Kyle glotze ihn dümmlich an, wie eine Eule, die man am helllichten Tag aufschreckt. Er starrte auf das Kärtchen, das in zuckergussrosa Schönschrift die Leckereien des „Weberstübchens" anpries, die er kostenlos würde probieren dürfen und Scham erfüllte ihn. Cartman hatte recht! Wie konnte er diese Person verurteilen, obwohl er sie noch nicht einmal kannte? „Da tönst du immer so groß, dass du keinerlei Vorurteile hast... von wegen! Jeder Mensch hat Vorurteile, das liegt in unserer Natur! Wir ordnen in Schubladen ein, wir verallgemeinern, wir stigmatisieren! Und warum? Weil es einfacher ist! Hinter die Fassade blicken, den Stereotyp nicht als Norm akzeptieren, Erforschen, Lernen, Begreifen - die meisten Menschen tun das nicht. Es kostet zu viel Zeit und Mühe. Ich muss es wissen, denn ich habe es genauso gemacht und es ist schwer, festgefahrene Verhaltensweisen zu ändern... für mich wie für dich. Du siehst dich gern in der Rolle des unschuldigen Opfers, Kyle, aber das bist du nicht. Du hattest zum Beispiel nie ein Problem damit, Butters als Sündenbock zu benutzen. Wenn wir die Schuld auf ihn abwälzen konnten, haben wir es getan und ich kann mich nicht erinnern, dass du je dagegen protestiert hättest. Oh, warte, einmal hast du, bei unserer Toilettenpapieraktion. Aber das war das einzige Mal. Spricht nicht gerade für dich, wenn man bedenkt, wie viel du dir auf dein ‚guter Junge‘-Image einbildest. Wo war er sonst, dein Sinn für Gerechtigkeit, hm? Und als Pip an die Schule kam, hast du ihn verspottet wie wir alle. Wo war sie, deine vielgepredigte Toleranz? Und weißt du noch, wie die Mädchen ihre berühmt-berüchtigte Liste erstellten und du dachtest, du wärst zum hässlichsten Jungen der Klasse gewählt worden? Wendy hat mir später erzählt, dass Stan und sie dich gerade noch daran hindern konnten, die Schule anzuzünden. Gut, es war ursprünglich nicht deine Idee, aber trotzdem wolltest du aus verletzter Eitelkeit ein ganzes Gebäude abfackeln. Das klingt sehr nach mir, wenn du mich fragst. Im Grunde deines Herzens bist du ein hilfsbereiter und freundlicher Mensch, Kyle, aber du hast auch eine gefährliche Seite. Du magst diese Seite vielleicht nicht, doch sie ist ein Teil von dir... und du weißt das." Kyle antwortete nicht. »Es ist wahr... ich habe eine gefährliche Seite. Eine Seite, die unversöhnlich und hartherzig sein kann... Eine Seite, die meinen Stolz in Hochmut verwandelt und meinen Drang, Cartman zu bekämpfen, in blinde Vergeltung... Ich hasse diese Seite, mit all ihrem Egoismus und ihrer Arroganz! Na schön, sie kommt selten zum Vorschein... aber sie ist da. Warum... warum weiß er diese Dinge? Kennt er mich denn wirklich so gut?« „Schau nicht so entgeistert, Jude. Ich kenne dich... sehr viel besser, als du mich kennst." »Und er liest in meinen Gedanken wie in einem offenen Buch!« Der Rotschopf hätte aus Frust und Ärger am liebsten geschrien oder irgendetwas zertrümmert. Er konnte es nicht ertragen, wenn Cartman die Oberhand inne hatte und es juckte ihn in den Fingern, auf dieses verhasste, anziehende Gesicht einzuprügeln. Plötzlich jedoch entdeckte er, dass sein Rivale die Arme hinter dem Rücken verschränkt hielt, wie um der Versuchung zu entgehen, ihn zu ergreifen und dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Sein Körper stand unter einer deutlichen Anspannung, seine Augen glichen einer Feuersbrunst. Grün und braun tauchten ineinander und die Zeit fror ein. „..." „..." „...Jungs?" Kyle und Cartman stießen beide einen Laut der Überraschung aus, als Butters sie ansprach. Er schenkte ihnen ein hinreißendes Entschuldigungslächeln. „Verzeihung, ich wollte euch nicht unterbrechen... bei was auch immer ich euch hier gerade unterbreche. Aber wir würden jetzt gern weiterspielen und du bist mit dem Drehen an der Reihe, Kyle. Kommst du?" „Oh, ja..." Butters‘ Blick flirrte neugierig zwischen den beiden hin und her, er sagte jedoch nichts. Kyle starrte sich eine Weile an der Flasche fest und drehte erst, als Kenny ihn mit einem „Jetzt mach schon, Kumpel!" daran erinnerte, warum er das hier überhaupt tat. Die Flasche wirbelte herum, wurde langsamer und kam schließlich zum Stehen. Vor Cartman. »NEIN!!! Im Ernst, Gott, warum hasst du mich so!?!« „..." „..." „Leute? Hat‘s euch die Sprache verschlagen?", erkundigte sich Wendy vorsichtig. „...Hä? Ach so, richtig, ich muss ja... Wahrheit oder Pflicht, Blödarsch?" „...Wahrheit." „..." „Was is‘ jetzt, Jude? Brauchst du ‘ne Einladung?" „...Du willst Wahrheit? Bist du dir da auch ganz sicher? Ich könnte dich etwas Gemeines fragen. Oder etwas Peinliches." „Das ist der Sinn des Spiels. Frag mich, was dir gerade einfällt, ich kann‘s verkraften." „Kannst du?" „Ja doch, verdammt! Jetzt stell dich nicht so an!" „...In wen bist du verliebt?" Eric fiel aus allen Wolken. Genügte es nicht, dass Kyle ihm heute gezeigt hatte, wie unglaublich verführerisch er sein konnte?! Nun sollte er auch noch vor anderen zugeben, dass er in diesen großartigen Mistkerl verliebt war?! Begriff dieser Bastard denn nicht, wie viel Mut und Überwindung es ihn gekostet hatte, es ihm zu gestehen?! „Vielleicht bin ich gar nicht verliebt, Jude. Schon mal daran gedacht?" „Oh, ich bin sicher, dass du verliebt bist. Ich habe meine Quellen, weißt du." »Du scheinheiliges Arschloch!!« wütete Eric im Inneren, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, dieses verlogene Lächeln in Kyles Gesicht mit seiner Faust zu zerschlagen und dem Verlangen, ihn an sich zu ziehen und diesen Kerl um seinen nervtötenden kleinen Verstand zu küssen. Was sollte er tun? „Also, Cartman? Wir warten auf deine Antwort. Du willst doch nicht etwa kneifen?" Die Siegesgewissheit in Kyles Stimme verursachte ihm Übelkeit. Ah, er war so ein mieser, hinterhältiger, stolzer, anbetungswürdiger Schuft! Er wollte die Wahrheit? Gut, er würde seine Wahrheit kriegen! „...Ich liebe dich, Kyle. Ich brauche dich, so, wie Pflanzen den Regen brauchen. Du bist meine Luft zum Atmen, die Sonne an meinem Himmel. Du machst alles besser - du machst mich besser. Du hast mir meine Fehler, meine Schwächen, meine Irrtümer und meine Dummheiten aufgezeigt. Du hast mir ein Gefühl eingeflößt, das ich vorher nicht kannte, ein Gefühl, das begonnen hat, mich zu verändern. Du hast mein Herz zum Leben erweckt." Er stand auf. „Da hast du deine Antwort." Damit drehte er sich um und verließ das Wohnzimmer. Man hörte ihn im Flur nach seiner Jacke greifen und die Schuhe anziehen. Dann ging die Tür und wie auf Kommando wandten sich alle Blicke Kyle zu, der keinen Ton hervorbrachte. Er hatte fest damit gerechnet, dass sich Cartman irgendein Lügenmärchen zurechtbasteln würde, um ihm nicht die Genugtuung eines Sieges zu gönnen, aber statt dessen hatte er einfach die Wahrheit gesagt und Kyle sämtlichen Wind aus den Segeln genommen. »Was... was zum Teufel ist gerade passiert? Er hat... er hat es zugegeben! Er hat vor allen hier zugegeben, dass er mich liebt! Wann ist er so... so mutig geworden? Früher hätte Cartman garantiert den Schwanz eingezogen! Ich... ich kann es nicht glauben...! Das hätte ich nie von ihm erwartet! Könnte es sein... könnte es sein, dass ich tatsächlich nichts von ihm weiß, wie er selbst gesagt hat? Dabei war ich doch immer derjenige, der Cartman am besten kannte...oder?« Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als ihn Stan und Kenny plötzlich packten, auf die Füße stellten und in die Küche zerrten. Beide wirkten verärgert, besonders Stan, der auch gleich zum Punkt kam: „Hast du den Verstand verloren, oder was?! Ist dir allen Ernstes keine andere Frage eingefallen? Eine, die ihn nicht so vorführt?! Eine, die nicht ganz so tief unter die Gürtellinie zielt?! Du weißt seit rund einem Monat, dass Cartman in dich verliebt ist und du benutzt dieses Wissen, um ihn so rücksichtslos zu beschämen!? Tut mir leid, Kyle, aber das ist nicht nur taktlos und daneben, das ist schlicht und ergreifend Scheiße!" „Stan..." „...Du weißt es?", wiederholte Kenny fassungslos. „Die ganze Zeit über wusstest du, was er für dich empfindet und du hast trotzdem den Striptease durchgezogen und ihm diese Frage gestellt!? Ist dir eigentlich klar, dass ich bis vorhin keine Ahnung hatte!? Und du... du hast den Nerv, so auf seinen Gefühlen herum zu trampeln?! Sicher, Eric ist kein Heiliger, aber diese Nummer war echt mies! Du glaubst vielleicht, dass dein Verhalten gerechtfertigt ist, doch wenn man sich wie ein Arschloch aufführt, um einem anderen Arschloch etwas heimzuzahlen - nun ja, dann ist man selbst ein Arschloch. Der Zweck heiligt nicht immer die Mittel, Kyle! Es stimmt schon: Um Eric eins auszuwischen, bist du zu allem fähig!" In Kyle regte sich der Trotz. „Du bist ein Heuchler, Ken", erwiderte er ungnädig, „was ist denn mit dir? Wenn einer deiner One Night Stands Gefühle für dich entwickelt, trampelst du auch darauf herum, um sie loszuwerden! Und dass du von Cartmans Gefühlen nichts wusstest, überrascht mich sehr, wo du doch immer behauptest, sein bester Freund zu sein! Ein schöner bester Freund, der keine Ahnung von nichts hat und sich nur für Sex interessiert, stets auf der Suche nach dem nächsten Kick, der dir den Rest deines Gehirns auch noch wegpustet!" „Das reicht, Kyle!", rief Stan, aber der andere beachtete ihn nicht. „Warum du Wert darauf legst, als Cartmans Freund zu gelten, verstehe ich sowieso nicht! Ihr seid doch im Grunde nur zwei Fremde, die sich Beleidigungen an den Kopf werfen und aus Gewohnheit und Langeweile zusammen abhängen...!" Kennys Faust schnellte vor und traf Kyles Wange mit voller Wucht. Stan schlang seine Arme um den wütenden Blondschopf, um ihn von weiteren Gewalttätigkeiten abzuhalten. „Du verdammter Mistkerl!! Woher nimmst du dir das Recht, über die Freundschaft zwischen Eric und mir zu urteilen?! Du als Sohn einer reichen Familie, du, der du Eltern hast, die ihr Leben im Griff haben, weißt nicht das geringste über Menschen wie uns!! Was glaubst du wohl, wie es ist, hilflos dabei zusehen zu müssen, wie dein Vater oder deine Mutter sich selbst ruinieren?! Was glaubst du wohl, wie es ist, sie nicht aus ihrer Lethargie herausholen zu können, weil sie sich schon längst aufgegeben haben?! Was glaubst du wohl, wie es ist, sich um Eltern zu kümmern, die nichts von dir wissen wollen, denen du nicht vertrauen kannst, die so in ihr eigenes Leid verbohrt sind, dass es ihnen scheißegal ist, wer sonst noch vor die Hunde geht?! Ja, Eric und ich streiten, wir beleidigen uns, aber wir teilen die gleiche Verantwortung, den gleichen Frust, das gleiche Elend!! Eric hat etwas mehr Geld als ich und wohnt in einem besseren Viertel, aber das ändert nichts daran, dass ihm das Leben kaum mehr geschenkt hat als mir!! Er ist höchstens geschickter darin, es zu überspielen, das ist alles! Mit welchen Schwierigkeiten hast du denn schon zu kämpfen?! Du hast eine überfürsorgliche Mutter und einen Pantoffelhelden als Vater, wie schrecklich! Du bekommst reichlich Taschengeld, wohnst in einem schönen Haus, fährst ein eigenes Auto und hast einen Notendurchschnitt, der dich in jedes College deiner Wahl bringen wird - und deine Eltern werden es dir bezahlen, ohne dass du einen Finger krumm zu machen brauchst!" Er spuckte Kyle vor die Füße. „Du bist wirklich sehr zu bemitleiden!", fügte er mit beißendem Sarkasmus hinzu, entwand sich Stans Umklammerung und stapfte hinaus, Richtung Haustür. Stan folgte ihm. „Du willst gehen?" „Ja, ich bleibe keine Sekunde länger, ich hab‘ so einen Hals! Vielleicht erwische ich Eric noch und kann mit ihm reden. Ich hatte ehrlich keine Ahnung von seinen Gefühlen für Kyle. Na ja, was Gefühle betrifft, da bin ich oft ein ziemlicher Trottel, das stimmt schon, aber ich mache große Unterschiede zwischen meinen One Night Stands und meinen besten Freunden. Meine Freunde sind mir immer wichtig. Kyle sollte das wissen." „Ich bin sicher, dass er das weiß. Er hat es nicht so gemeint, Kenny." „Wahrscheinlich nicht, aber das ist keine Entschuldigung. Wenn du mich nicht zurückgehalten hättest..." Er verweilte einen Moment bei der Erinnerung an Stanleys kräftige Arme, die sich so fest und entschlossen um seinen Körper gelegt hatten und dachte an den Kuss, jene kurze, flüchtige Berührung von warmen weichen Lippen. Erneut verspürte er dieses merkwürdige Kribbeln und schüttelte unwillig den Kopf. „...hätte ich unserem Schulprimus gezeigt, wie die Jungs im Ghetto solche Sachen lösen. Sorry, dass ich deine Party versaut habe." „Hä? Na hör mal, du hast gar nichts versaut! Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen! Sehen wir uns morgen in Englisch?" „Klar. Also, bis dann!" Kenny wirbelte davon und Stan ging in die Küche zurück, wo sich zu seinem Erstaunen der Rest seiner Partygäste versammelt hatte. Butters war sichtlich empört und fuchtelte mit seinem Zeigefinger vor Kyles Nase herum. „Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?! Du kennst Erics wahre Gefühle! War es nötig, ihn so bloßzustellen!? Begreifst du denn überhaupt nicht, wie viel Überwindung es ihn gekostet hat, dir seine Liebe zu gestehen!? Hältst du das alles nur für eines seiner üblichen Spielchen?! Antworte mir, du Idiot, oder ich verliere gleich die Geduld!" Kyle hockte wie ein Häuflein Elend auf einem Stuhl und schwieg. Seine Wange schmerzte, aber noch mehr schmerzte die Gewissheit, dass er viele Dinge, die er genau zu kennen geglaubt hatte, falsch eingeschätzt hatte. Er war immer so überzeugt davon gewesen, dass Kenny und Cartman außer einer Pseudo-Freundschaft nicht wirklich etwas verband... und nun? „Du hast eine überfürsorgliche Mutter und einen Pantoffelhelden als Vater, wie schrecklich!" Cartman hatte seine Eltern mit den gleichen Worten beschrieben, hatte die gleichen Vorwürfe erhoben wie Kenny... „Kyle! Hörst du mir zu!? Ich verlange eine Antwort!" „...Ich... ich bin ein Trottel..." Butters runzelte die Stirn. „Oh? Wie zutreffend, mein Freund! Sag schon, was sollte das? Eric versucht nicht, dich hereinzulegen, verdammt nochmal, es ist ihm ernst! Ich kann ja verstehen, dass dich seine Gefühle vermutlich überfordern, aber könntest du wenigstens so tun, als würdest du sie respektieren?!" „Also, ich bin völlig durcheinander!", bemerkte Wendy. „Ich hätte nie gedacht, dass Cartman tatsächlich in dich verliebt sein könnte! Gut, zugegeben, ich habe mich oft gefragt, warum er nur dir seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkt, aber das...! Und was er gesagt hat...Dass du sein Atem bist, seine Sonne... dass du sein Herz zum Leben erweckt hast! Und du wusstest, was er für dich empfindet?! Kyle, wie konntest du! Cartman war vollkommen aufrichtig, so habe ich ihn noch nie erlebt...!" »Ja, ich weiß. Kein Trick der Welt hätte mich so aus den Fugen bringen können wie die Wahrheit. Warum war ich nur so unfair? Ich meine, wenn er mir einen Streich gespielt hätte oder sowas, dann hätte ich auch das Recht, es ihm heimzuzahlen, aber im Grunde habe ich seine Gefühle nur benutzt, um ihm eins reinzuwürgen. Was habe ich denn erwartet? Dass er plötzlich alles abstreitet und seine Liebe verleugnet, nachdem er mir verzweifelt und leidenschaftlich gestanden hat, wie viel ich ihm bedeute? Habe ich wirklich darauf gehofft? Wollte ich, dass er lügt? Wollte ich, dass er es zurücknimmt, damit ich endlich aufhören kann, mich so verdammt schuldig zu fühlen?« Gary sagte nichts, er war zu überrumpelt. Er hatte sich stets für einen sehr guten Beobachter und Menschenkenner gehalten, doch Cartmans offenes Geständnis widerlegte das Bild, das er sich von dem Quarterback gemacht hatte, zumindest teilweise. Seine Augen suchten Stanley, der besänftigend auf den immer noch verärgerten Butters einredete. „Beenden wir die Party, ich möchte jetzt gern mit Kyle allein sprechen. Noch einmal vielen Dank für eure Geschenke und dass ihr hergekommen seid, um mit mir zu feiern. Ich habe mich sehr darüber gefreut." Seine ruhige Stimme stellte die Ordnung wieder her und die Gäste traten, wenn auch etwas zögernd, den Nachhauseweg an. Wendy und Butters gaben Stan ein Abschiedsküsschen (sie rechts, er links), und Gary überkam eine Art Neid, als ihm klar wurde, wie unverkrampft und herzlich ihr Umgang mit seinem Angebeteten war. Er war zwar mit Stan befreundet, aber nicht in gleichem Maße. Es fehlte diese natürliche Vertrautheit zwischen ihnen, die auch McCormick für sich beanspruchen durfte. Wieder spürte Gary den winzigen Stachel der Eifersucht, doch er unterdrückte ihn sofort. „Mach‘s gut, Gary. Hoffentlich hattest du ein bisschen Spaß, trotz des verfrühten Endes." „Nun, es war... sehr interessant." „..." „Stan?" „Hör mal, wenn es dir nicht gefallen hat, dann sag‘s mir." „Ich möchte aber deine Gefühle nicht verletzen. Außerdem wäre es unhöflich, den Gastgeber auf Mängel hinzuweisen." Stan verdrehte die Augen. „Und wie soll der Gastgeber dann aus seinen Fehlern lernen? Gary, zu allen Menschen nett und freundlich sein zu wollen, das ist lobenswert, aber einfach kritiklos alles zu schlucken, nur weil man die Gefühle sämtlicher Beteiligter schonen will, bringt auf Dauer auch nichts. Man kann es nicht allen recht machen." „Ja, das stimmt vermutlich... doch man kann es versuchen, nicht wahr?" „Das ist hoffentlich nicht dein Ernst?" Stanleys Reaktion erschütterte Gary ein wenig. Bislang hatte er geglaubt, der andere würde seine idealistische Weltsicht teilen, aber er vergaß gern, dass der Schwarzhaarige eine sarkastisch-zynische Seite besaß, die zu Garys Gutgläubigkeit einen starken Gegensatz bildete. Das war ein Aspekt von Stans Persönlichkeit, der ihn abstieß. „Wenn man immer nur versucht, es allen recht zu machen, verliert man das, was man selbst will, aus den Augen, bis man sein Ich irgendwann auch verloren hat. Erzähl‘ mir bloß nicht, dass du dein Leben so ausrichten möchtest, dass sich niemand auf den Schlips getreten fühlt!" „Ich... ich muss jetzt gehen." Damit ergriff Gary die Flucht. Er hatte selten Angst vor Konfrontationen, doch wenn Stan in den „Deadpan Snarker"-Modus wechselte (bei gleichzeitiger Aktivierung des „Sarcasm Mode"), hatte er ihm kaum etwas entgegenzusetzen. Außerdem wollte er nicht mit ihm streiten. »Ich weiß nicht... wenn wir ein Paar wären, könnte ich auch nicht ständig weglaufen, sobald er... sobald er ‚schwierig‘ wird. Ich muss lernen, mit seiner... nun, seiner stachligen Seite besser zurechtzukommen...« Stan sah ihm eine Weile verstimmt nach und kehrte schließlich zu Kyle zurück. Der Rotschopf ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen, sondern sprudelte den Inhalt des Gesprächs, das nach dem Striptease zwischen Cartman und ihm stattgefunden hatte, einfach so hervor. „...Er kennt dich wirklich gut." „Ja. Ist das nicht furchtbar?" „Für dich? Total. Ist sicher nicht angenehm, daran erinnert zu werden, dass man nicht so perfekt ist, wie man sich selbst sieht." „Stan! Wie kannst du so etwas sagen!?" „Ich bin dein bester Freund, ich darf das. Ich muss das sogar. Und jetzt hör auf, mich so mitleidheischend anzuschauen, ich habe nicht die Absicht, dich zu bedauern. Du wirst dich morgen bei Cartman und Kenny entschuldigen." „Bei Kenny will ich mich gern entschuldigen, es tut mir auch sehr leid, was ich gesagt habe, aber bei Cartman? Ich... ich kann nicht richtig mit seinen Gefühlen umgehen." „Du kannst überhaupt nicht mit ihnen umgehen, Kumpel. Ich weiß, das mit euch beiden ist kompliziert, aber es wird nicht besser, wenn du solche Sachen bringst. Wovor hast du eigentlich Angst? Dass ihr womöglich echte Freunde werdet? Gott bewahre, nein! Das kann nicht sein, das darf nicht sein, weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Ist das dein Problem?" Kyle zuckte ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung... vermutlich." »Stan hat recht, wovor habe ich Angst? Warum fällt es mir so schwer, Cartmans Liebe zu akzeptieren? Weil ich insgeheim immer noch nicht daran glauben kann?« Ja. Das musste es sein. Sein Misstrauen gegenüber Cartman war zu tief verwurzelt, er konnte seine Gefühle nicht einfach so annehmen und ihre jahrelange, von Hass und Zorn vergiftete Beziehung vergessen. Er konnte nicht an diese Liebe glauben. Und ein Teil von ihm wollte auch gar nicht daran glauben. Eric war indessen fast zu Hause angekommen. Er konnte immer noch nicht fassen, dass er es geschafft hatte, offen vor allen Partygästen zu seinen Gefühlen zu stehen. So unangenehm es für ihn gewesen war, jetzt war er beinahe ein wenig stolz auf sich. Sofern es sein Innenleben betraf, hatte er bisher die Lüge der Wahrheit vorgezogen, denn hinter einer Lüge konnte man sich verstecken. Plötzlich zuckte er zusammen und drehte sich um. Hatte er da nicht gerade etwas gehört? Er hätte schwören können... aber es war niemand zu sehen, nur der Wind rüttelte an den kahl werdenden Ästen der Bäume und trieb Blätter vor sich her. »Ich... ich hab‘ mich wohl getäuscht...« Er setzte seinen Weg fort, hielt jedoch erneut abrupt an, als er wieder ein Geräusch zu hören meinte. Er versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen, aber es war sinnlos. Nervosität, fast Angst, stieg in ihm auf, während er in die Stille hinein lauschte. »Ich werde allmählich paranoid! Wer sollte...« In diesem Moment traf ihn ein harter Schlag am Hinterkopf und er verlor das Bewusstsein. Leser: ... *baut eine Schutzvorrichtung, um den fliegenden Tomaten zu entgehen* Leser: Du kannst doch nicht DA aufhören?! Aber ja, ich kann! *finsteres Gelächter* Das ist ein sehr guter Cliffhanger, der in die nächsten drei Kapitel überleitet. Ja, die nächsten drei, denn nach diesem Kapitel folgt meine erste South-Park-Kapitel-Trilogie, die den Episoden-Trilogien der Serie entspricht. Ich hoffe, dass ich das so spannend hinkriege, wie ich es mir vorstelle. Sonstige Kommentare zu diesem Kapitel? Nun, ich mag die kleine Stenny-Szene und das Gespräch zwischen Kyle und Cartman am liebsten. Und falls sich jemand über "Sarcasm Mode" und "Deadpan Snarker" wundert - ich spreche TV Tropes. Für diejenigen unter Euch, die diese Seite noch nicht kennen, hier ist der Link zur englischsprachigen Startseite: http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/HomePage Das ist der Entry für South Park: http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/WesternAnimation/SouthPark?from=Main.SouthPark Sicher kennen viele diese Seite schon. Und wenn nicht, na ja, dann schaut einfach mal dort vorbei. Vielen Dank fürs Lesen, wir sehen uns beim nächsten Kapitel, dem Auftakt zur ersten Heartbeat-Trilogie: "The Dark Angel"! Bis dann!^^ Kapitel 8: The Dark Angel: 1. Akt - Nevermore --------------------------------------------- Hallo, liebe Leser! Endlich habe ich das neue Kapitel fertig bekommen!^^ Allerdings kann es sein, dass das nächste noch länger auf sich warten lassen wird. Ich habe nämlich ab August ein Vollzeitpraktikum (nach einem halben Jahr Arbeitssuche, Hurra!!) und so sehr ich mich darüber freue, etwas für meine berufliche Zukunft tun zu können, ändert das nichts daran, dass ich jetzt fünf Tage die Woche jeweils acht Stunden lang beschäftigt sein werde, außerdem muss ich pendeln. Das heißt, ich kann nicht sagen, wann das nächste Kapitel erscheinen wird. Vielleicht schaffe ich es in meinem Drei-Monats-Schritt, vielleicht auch nicht. Das nur zur Info, damit niemand glaubt, ich hätte diese FF aufgegeben. Eine FF aufgeben ist etwas, das ich nur extrem ungern tue und ich möchte es nach Möglichkeit vermeiden. So, genug der Vorrede, jetzt wünsche ich Euch viel Spaß beim Lesen!^^ Kapitel 8: The Dark Angel: 1. Akt - Nevermore „Nicht da? Was soll das heißen, Cartman ist nicht da!?" Es war der Tag des 20. Oktobers, 9 Uhr 30 Ortszeit, offizieller Beginn des normalen Senior-Englischkurses an der Park High, und Kenny McCormick ärgerte sich soeben über seinen besten Freund, der offensichtlich schwänzte. Stan, der neben ihm saß, lächelte nachsichtig. „Das heißt, dass er nicht da ist. Und nach dem, was gestern passiert ist, kann ich‘s ihm nicht mal verdenken. Vielleicht braucht er Abstand zu Kyle." „Stimmt, das kann sein. Ich hab‘ ihn leider auch nich‘ mehr erwischt, sonst hätte ich noch mit ihm gesprochen. Apropos Kyle... wird er...?" „Sich bei dir entschuldigen? Ja. Es tut ihm leid, was er gesagt hat, ehrlich. Und ich bin sicher, dass ihm auch das mit Cartman leid tut, er ist nur zu stur, um es zuzugeben." „Der Käpt‘n ist nicht da?" Stan und Kenny wandten sich der Stimme zu, die aus der Reihe hinter ihnen gekommen war und Terrance Mephisto gehörte, dem Sohn des extrem exzentrischen Dr. Mephisto (ja, in South Park gingen verrückte Wissenschaftler als nur „extrem exzentrisch" durch). Er war früher ein berüchtigter Schläger gewesen, ehe er dem Footballteam beitrat und unter Coach Lanigans eiserne Faust geriet, die einen halbwegs anständigen Kerl aus ihm heraus prügelte (bildlich gesprochen). Gerüchten zufolge war er außerdem heimlich in Cartman verknallt, was seine einstmals besten Freunde, Billie und Fosse, dazu gebracht hatte, ihn fallenzulassen und sich Trent Boyett anzuschließen. Sie zählten auch zu Butters‘ größten Gegnern, da sie ihm vorwarfen, Terrance gegen seinen Willen „umgepolt" zu haben (eine Erklärung, die Terrance später ermunterte, die beiden Schwachköpfe in die nächstbeste Kloschüssel zu tauchen). Er spielte auf der Position des Tight End (gehört wie der Quarterback zur Offense und darf Pässe entgegennehmen. Ist ansonsten ein Allroundspieler, der je nach Situation entweder blockt oder den Ball fängt), war groß und erstaunlich flink. Man konnte ihn kaum als besonders hübsch bezeichnen, aber nachdem er sich von seinem Vater seine zusammengewachsenen Augenbrauen permanent hatte trennen lassen und auch sein Verhalten akzeptabel geworden war, hatte sich das allmächtig-finstere Gremium der Beliebtheitsskala (die Mädchen der Schülerzeitung) dazu durchgerungen, ihm den Wert 4 zu verpassen, „nettes Aussehen" (wofür Terrance dankbar war). Und man musste zugeben, dass sein schulterlanges dunkelbraunes Haar, das er sorgfältig pflegte, wirklich gut an ihm aussah. Im Moment wirkte der Besitzer dieser schönen Mähne allerdings besorgt. „Was ist mit ihm? Ist er krank?" „Nein, er schwänzt, weil er angepisst is‘. Er hatte ‘nen Zusammenstoß mit Kyle - und Kyle einen mit mir", erklärte Kenny und zog eine Grimasse. „Schon wieder? Kann ihn dieser Arsch nicht einfach in Frieden lassen?" „Hey, sprich nicht so über meinen besten Freund!" „Krieg dich ein, Marsh. Aus meiner Sicht ist dein ‚bester Freund‘ nun mal ein Arsch. Wenn er so schlau ist, wie er tut, warum springt er dann immer wieder auf den Käpt‘n an? Heißt es nicht, der Klügere gibt nach? Ja, der Käpt‘n hackt auf ihm rum, aber Broflovski macht genau das gleiche. Er ist kein wehrloses Opfer, klar? Obwohl er sich natürlich sonst immer wie ein verdammter Mr. Goody Two-Shoes aufführt, der kein Wässerchen trüben kann. Der ist auch nicht über jeden Verdacht erhaben, der scheinheilige Mistkerl. Aber zurück zum Käpt‘n: Ihr seid sicher, dass alles mit ihm in Ordnung ist?" Genau in diesem Moment betraten Billie Allen und Fosse McDonald das Klassenzimmer. Sie waren beide weder so groß noch so breit wie Terrance, machten dies jedoch mit ihrer Widerwärtigkeit mehr als wett. Sie postierten sich links und rechts von ihrem ehemaligen Anführer, als wollten sie ihn in die Zange nehmen und grinsten ihn höhnisch an. „Oh, hörst du, Fosse? Die Schwuchtel macht sich Sorgen um ihren Lover!" „Ist ja niedlich. Ich muss gleich kotzen." „Ich muss auch gleich kotzen", mischte Stan sich ein. „Ihr seid nämlich meine Lieblingsplagen: Die Blattern und die Pestilenz." „Halt die Schnauze, Marsh. Wir haben mit Mephisto gesprochen. Oder fühlst du dich verpflichtet, der Schwuchtel zu helfen, weil du selbst eine bist?" „Nein. Ich fühle mich verpflichtet, euch in den Arsch zu treten, weil ihr euch wie Volltrottel benehmt. Lasst ihn in Ruhe." „Und was willst du tun, wenn wir ihn nicht in Ruhe lassen, du Weltverbesserer?", fragte Billie und baute sich drohend vor Stan auf, der sich damit begnügte, gelangweilt eine Augenbraue nach oben zu ziehen. „Dann melde ich euch Mr. Elliot, unserem reizenden, freundlichen Englischlehrer, der es bedauert, dass man Schulen ohne Kerker für die Unartigen baut. Er wird entzückt sein, euch einen Monat Nachsitzen aufbrummen zu können." „Wenn du das wagst", knurrte Fosse und schob sich neben seinen Kumpel, „dann wirst du es bereuen, Marsh. Wir reißen dir den Arsch auf." „Wow. Wie einfallsreich. Da wäre ich nie draufgekommen. Die brutalen Schläger wollen mir den Arsch aufreißen. Zu Hilfe." Stans kühle Stimme und seine ungerührte Miene brachten seine Gegner sichtlich aus dem Konzept. Es wollte ihnen nicht in den Kopf, dass er sie nicht ernst nahm. Nun meldete sich auch Kenny zu Wort. „Niemand reißt einem meiner Freunde den Arsch auf, kapiert? Ich bin im Ghetto dieser Stadt aufgewachsen, ich hab‘ mehr Prügeleien hinter mir als ihr beide zusammen. Und wenn mir jemand wirklich auf den Sack geht, kämpfe ich nicht fair. Außerdem haben wir Kyle auf unserer Seite. Er beherrscht Judo. Wir sind nicht die Art von Typen, mit denen ihr es euch verscherzen solltet. Sonst noch was?" „Du riskierst ‘ne ganz schön große Klappe für einen armen Versager! Woll‘n doch mal sehen, wie tough du tatsächlich bist!" Billie holte aus, doch Terrance ging dazwischen und fing die heran schnellende Faust ab. „Mr. Elliot kann jede Sekunde hier sein. Ich schlage vor, ihr verzieht euch auf eure Plätze. Und falls ihr weiterstänkern wollt - ich kann euch gern nochmal ins Klo stopfen." Billie und Fosse wechselten einen Blick. „Fick dich, Alter." Damit verkrümelten sie sich an ihre Tische, gerade noch rechtzeitig, bevor Mr. Elliot zur Tür hereinstürmte. Wie die meisten Lehrkräfte an der Park High war auch er ein Unikat: Gekleidet in eine Hose, die aus bunten Flicken bestand, einen giftgrünen Poncho und Korksandalen zu blau-rot gestreiften Socken, erinnerte er mehr an einen verirrten Clown als an einen Englischlehrer. Er war in den Fünfzigern und trug eine Hornbrille auf der Nase, durch die seine Augen eulenartig vergrößert wurden. Am Anfang hatten seine Schüler noch geglaubt, leicht mit ihm fertig zu werden, doch das stellte sich bald als Trugschluss heraus. Mr. Elliot war sehr streng, legte extrem Wert auf Disziplin und scheute sich nicht, seine Schüler mit zwei gefüllten Wassereimern in jeder Hand in den Flur zu schicken, wenn sie den Unterricht störten. Sie durften dann Gewichtheben damit spielen - und Mr. Elliot überprüfte in unregelmäßigen Abständen, ob der Delinquent seine beiden Eimer auch schön oben hielt. Sein Spitzname lautete „The Iron Teacher". „Guten Morgen, Ladies und Gentlemen. Ziehen Sie nicht so ein miesepetriges Gesicht, Mr. McDonald, Sie kriegen höchstens Falten. Mr. Tucker, senken Sie Ihren Stinkefinger und stellen Sie sich in eine der hinteren Ecken des Zimmers, Gesicht zur Wand. Nein, keine Diskussion. Stinkefinger bedeutet bei mir, für den Rest der Stunde in der Ecke zu stehen, Mr. Tucker, und Sie wissen das. Falls Sie sich weigern, kann ich Ihnen auch eine Woche Nachsitzen anbieten, Ihre Entscheidung. Mr. Donovan, wenn dieser Taco, von dem Sie gerade abbeißen wollten, nicht sofort wieder in Ihrer Lunchbox verschwindet, wird er im Müll landen. In meinem Unterricht wird nicht gegessen und nur dann getrunken, wenn Sie dehydriert sind. Und Sie, Mr. Thorn, nehmen bitte zur Kenntnis, dass es Ihnen nicht gestattet ist, mit einem Feuerball in meine Richtung zu zielen. Ja, Sie sind der Sohn Satans, aber das hier ist meine Klasse und was ich sage, ist Gesetz. Ich bin Ihre persönliche Hölle. Ihr Vater ist harmlos im Vergleich zu mir. Und was Sie betrifft, Mr. Tweak, hören Sie auf, zu hyperventilieren und entwickeln Sie endlich ein Rückgrat. Wir fangen an - mit der Überprüfung der Hausaufgaben." „Hausaufgaben? Was für Hausaufgaben!?" „Die, die Ihnen offenkundig entgangen sind, Mr. McCormick. Erstens: Das Auswendiglernen von Edgar Allan Poes berühmtem Gedicht ‚Der Rabe‘. Zweitens: Schriftliche Vorbereitung von Hintergrundinformationen. Drittens: Überlegungen zur Interpretation, ebenfalls schriftlich auf wenigstens einer halben Seite, formuliert in ganzen Sätzen, nicht in Stichpunkten. Hm...aus Ihren entgleisenden Gesichtszügen schließe ich, dass Sie nichts in dieser Art getan haben. Sie werden heute eine Stunde nachsitzen, Mr. McCormick. Außerdem dürfen Sie sich jetzt in die andere Ecke stellen, um über Ihre Vergesslichkeit nachzusinnen. Und was Sie beide angeht, Mr. Allen und Mr. McDonald, so bin ich mir durchaus im Klaren darüber, dass Sie nicht einmal wissen, wer Edgar Allan Poe überhaupt war. Sie finden die Eimer wie üblich im Schrank ganz hinten. Bitte auffüllen, mit in den Flur nehmen und gleichmäßig auf und ab bewegen, das stärkt die Armmuskulatur. Falls Sie sich mit dem lächerlichen Gedanken tragen, meine Anordnungen zu missachten, werde ich Ihnen Nachsitzen verpassen, bis Sie dreißig sind. Sollten Sie zu schwänzen versuchen, werden Sie von der Schule geworfen. Sollte Ihnen auch das nichts ausmachen, werde ich jeden Tag für eine Stunde zu Ihnen nach Hause kommen und Sie dort terrorisieren. Was ist, Sie sind ja noch da?" Billie und Fosse sausten davon, um die Eimer mit Wasser zu füllen, Kenny trottete seufzend in seine Ecke (er stand nicht das erste Mal da) und Mr. Elliots gnadenloser Blick der Vernichtung scannte die Klasse nach Opfern, die er ausfragen konnte. „Mr. Marsh, wie wäre es denn mit Ihnen? Seien Sie so freundlich und rezitieren Sie für uns die erste Strophe." Stan lächelte. Mr. Elliot konnte ja nicht wissen, dass er ein Fan von Poe war. Er hatte den Autor damals während seiner ersten Goth-Phase entdeckt und ihn anfangs nur gelesen, um dazuzugehören, aber bald schon hatte er Gefallen gefunden an den melancholischen Gedichten und den spannenden Kurzgeschichten. Ohne Zögern deklamierte er: „Once upon a midnight dreary, while I pondered, weak and weary, Over many a quaint and curious volume of forgotten lore — While I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping, As of some one gently rapping, rapping at my chamber door. ‚‘Tis some visiter,‘ I muttered, ‘tapping at my chamber door — Only this and nothing more‘." Der Lehrer starrte ihn überrascht an. „Das war... das war gut, Mr. Marsh. Mal sehen, wie lange das anhält, wenn ich Sie die Strophen durcheinander abfrage. Versuchen Sie es mal mit, sagen wir, den Strophen Zehn und Siebzehn." „Aber gern", entgegnete Stan und fuhr fort: „But the Raven, sitting lonely on the placid bust, spoke only That one word, as if his soul in that one word he did outpour. Nothing farther then he uttered — not a feather then he fluttered — Till I scarcely more than muttered ‘Other friends have flown before — On the morrow he will leave me, as my Hopes have flown before.‘ Then the bird said ‚Nevermore.‘ ‘Be that word our sign of parting, bird or fiend!‘ I shrieked, upstarting — ‘Get thee back into the tempest and the Night's Plutonian shore! Leave no black plume as a token of that lie thy soul hath spoken! Leave my loneliness unbroken! — quit the bust above my door! Take thy beak from out my heart, and take thy form from off my door!‘ Quoth the Raven ‚Nevermore‘." Kenny gruselte sich ein bisschen. Er verstand herzlich wenig von Lyrik und Mr. Elliot, der von ihnen verlangte, Gedichte mit achtzehn Strophen auswendig zu lernen, war garantiert völlig übergeschnappt, aber Stans Vortrag war großartig. Seine tiefe, samtweiche Stimme passte zu der düster-traurigen Atmosphäre der Verse und er verstand es, sie richtig darzubieten. Kenny war fast erleichtert, dass es heller Tag war und die entsprechende Kulisse mit Nacht und Sturm fehlte, sonst hätte er sich an Stanley gekuschelt und... Halt mal. Er hätte sich an Stanley gekuschelt? »Das sind wohl Nachwirkungen von der Party... Ich meine, ich müsste lügen, wenn ich jetzt sagte, dass mir der Kuss am Arsch vorbeigeht. Tut er nämlich nicht... dabei war‘s noch nich‘ mal ‘n richtiger Kuss, nur ‘ne Berührung mit den Lippen. Stans Lippen...« Wieso dachte er immer noch daran? Es war angenehm gewesen, beinahe schön, doch das erklärte nicht den nachhaltigen Eindruck, den es auf ihn gemacht hatte. Küssen war für ihn ein nettes, aber letztendlich langweiliges Vorspiel ohne Bedeutung, das vom eigentlichen Sex nur ablenkte. Er pflegte weder seine One Night Stands noch seine One Week Girlfriends/Boyfriends zu küssen und er verstand das Theater nicht, das die meisten Teenager um ihren ersten Kuss machten, vor allem einen, der erstmal ohne Zunge auskam. War das nicht öde? Andererseits, warum beschäftigte ihn dann der Kuss, den er Stan gegeben hatte? Kenny grübelte den Rest der Stunde und fand keine Antwort. Um 11 Uhr 15 begann die Mittagspause. Kyle und Stan, die ihren Französischkurs und einen Vokabeltest hinter sich ließen, entdeckten ihren blonden Freund an einem Tisch an der Fensterfront und steuerten auf ihn zu. Er hatte den Kopf über sein Geschichtsbuch gebeugt und seufzte aus Gemütstiefen. Als Kyle sich räusperte, sah Kenny ihn erwartungsvoll an. „Es tut mir schrecklich leid, Ken. All diese Sachen, die ich gestern zu dir gesagt habe, hätte ich nicht sagen dürfen. Ich war gemein und unfair. Bitte verzeih mir." „Hey, nicht nötig, gleich die Schmalzkanone rauszuholen. Ein ‚Sorry, Alter‘ reicht dicke, solange du‘s ehrlich meinst. Und jetzt setz dich und zieh nicht so ein zerknirschtes Gesicht, da fang‘ ich ja an, mich zu schämen, dass ich dir eine reingehauen habe. Hilf mir lieber beim Unabhängigkeitskrieg, wir kriegen garantiert wieder einen Aufsatz auf‘s Auge gedrückt!" „Der Unabhängigkeitskrieg?", wunderte sich Stan. „Wart ihr nicht schon beim Sezessionskrieg zwischen den Nord- und Südstaaten?" „Ja, waren wir. ‚It‘ springt zwischen den Epochen hin und her, wie er lustig ist und hinterher ist er erstaunt, dass wir keinen geordneten Überblick in unserm Gehirn haben." „Verstehe. Apropos Geschichte - du hast mir nie erzählt, wie der Aufsatz ausgefallen ist, den du mit meiner Hilfe geschrieben hast. Vier Seiten waren es." Kenny fabrizierte ein schiefes Lächeln. „Ich hab‘ ein C gekriegt, die beste Note bisher in diesem Fach. ‚It‘ hat meine Rechtsschreibung gelobt und meine Argumente ‚positiv gewürdigt‘, wie in der Bemerkung stand, aber er hatte das Gefühl, nicht alle Formulierungen wären ‚aus meiner Feder geflossen‘. Was ja auch stimmt, einige Sachen hast du mir diktiert, Stan, und ich kann mich nun mal nich‘ so vornehm ausdrücken, du stammst aus ‘ner höheren Bildungsschicht und so, deine Texte klingen dementsprechend und meine... na ja, legen wir ‘nen großen Stein drüber und gut is‘. Wen interessiert schon Amerikanische Geschichte? Warum ist das ein eigenes Fach? Ich meine, ernsthaft, die USA hat etwa zweihundert Jahre Geschichte, ‘n paar Jährchen hin oder her. Verglichen mit anderen Ländern, die Tausende von Jahren auf dem Buckel haben, sind wir doch ‘n Zwerg." Kyle, erleichtert und dankbar, dass Kenny seine Entschuldigung angenommen hatte, stürzte sich sofort in eine historische Diskussion, während Stan den Kellner herbeiwinkte (ja, im Senior-Bereich der Cafeteria gab es zwei Kellner) und bestellte. Es wurde ein vergnügtes Mittagessen und Kyle war froh, dass Cartman schwänzte. Er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Cartman hatte Mut bewiesen, als er vor sämtlichen Gästen seine Gefühle offenbarte und obwohl Kyle sich dagegen wehrte, nötigte ihm das einen gewissen Respekt ab. Er verspeiste gerade seine Nudeln in Knoblauchsoße, als die Stimmung umschlug. „Du hast mich angerempelt." Bradley zuckte zusammen. Er hatte sein Essen nachwürzen wollen und hatte sich einen Salzstreuer vom Nebentisch stibitzt, weil der an seinem Tisch fast leer war. Als er sich umgedreht hatte, war er aus Versehen an einen großen Jungen gestoßen, der soeben an ihm vorbeiging. Ein harmloses Missgeschick, aber der Tonfall des Angerempelten verriet, dass es für ihn mehr war als das. Bisher hatte sich Bradley gut mit seinen Mitschülern verstanden, doch dieser da wirkte nicht wie einer, mit dem man reden konnte. Er war genauso groß und muskulös wie Cartman, mit einer blonden Geltolle auf dem Kopf und seine Arme waren bedeckt mit unheimlichen Tätowierungen wie Totenschädeln oder blutbefleckten Waffen. „Entschuldigung", wisperte Bradley erschrocken. „Entschuldigung!? Glaubst du etwa, das reich!? Du bist mir in die Quere gekommen, Arschloch, und ich hasse Leute, die mir in die Quere kommen!" „Und ich hasse Leute, die meine Freunde blöd von der Seite anmachen, Boyett!" Bradley atmete auf. Butters hatte sich zwischen ihn und den Schlägertypen gestellt und funkelte ihn zornig an. Leider war der andere nicht besonders beeindruckt. „Na sieh mal an, der schwule König unserer Schule, Mr. Fancy Pants persönlich! Aus dem Weg, Stotch, ich hab‘ deinem ‚Freund‘ die Fresse zu polieren!" „Weil er dich unabsichtlich angerempelt hat? Ich wusste gar nicht, dass du so empfindlich bist! Ich hoffe, du hast dir nicht wehgetan?" „...Sprich nicht in diesem mitleidigen Ton mit mir, du armseliges Würstchen! Er ist ‘n Neuer, oder? Er hat noch kein Willkommensgeschenk von mir gekriegt, eine schöne, schmerzhafte Abreibung. Man soll Verlierer wie ihn nicht warten lassen." „Ausgerechnet du hast den Nerv, andere als Verlierer zu bezeichnen? Was ist denn mit dir? Du bist zweimal durch die Abschlussprüfung gefallen und solltest mit zwanzig nicht mehr auf der High School sein! Deine Noten sind mies, deine Manieren auch und deine größten geistigen Höhenflüge bestehen darin, das Alphabet zu rülpsen und Leute zu verprügeln!" „Warum sollte ich mich anstrengen? Meine Eltern haben Geld genug, die können mich in jedes College einkaufen, wenn ich es wollte. Ich bin ein freier Mensch, Stotch, ich kann tun und lassen, was mir passt. Ein Langweiler wie du kapiert das nich‘, das is‘ mir klar!" „Deine Freiheit endet da, wo sie die Freiheit eines anderen beeinträchtigt. Oh ja, ich weiß, deine Eltern haben Geld und halten dich für ach so wunderbar und könnten dir für den Rest deines Lebens Unterhalt zahlen, ohne dass du je einen Finger krumm zu machen bräuchtest, aber das ändert nichts daran, dass du ein verwahrloster Mensch bist!" „Ich bin reich, du Stück Scheiße! Wenn du jemanden verwahrlost nennen willst, dann nimm McCormick, der is‘ das beste Beispiel!" „Kenny ist hundert von deiner Sorte wert, Boyett. Du bist emotional verwahrlost. Du liebst nichts außer dir selbst und verlangst doch ständig nach Aufmerksamkeit, wie ein kleines Kind, das mit dem Fuß stampft, wenn es seinen Willen nicht bekommt. Das Problem ist nur: Du bist inzwischen zu alt, um dich noch wie ein Kleinkind aufführen zu dürfen. Du tust mir leid, aber ich werde nicht zulassen, dass du deine Überlegenheitskomplexe an Bradley abreagierst!" Trents Gesicht lief vor Wut dunkelrot an. „Ich... tue dir leid!? Ich tue dir leid!?! ICH TUE DIR LEID!?! Ich brauche dein Mitleid nicht, du dreckige Schwuchtel!!" Seine mächtige Faust donnerte gegen Butters‘ Kinn und der Tänzer stürzte zu Boden. Bradley eilte zu ihm und half ihm wieder auf die Beine. „Butters, du blutest! Lass uns zur Krankenschwester gehen, bitte!" Stan, Kyle und Kenny schoben sich in den Vordergrund des Geschehens. Trent begrüßte sie mit einer verächtlichen Grimasse. „Was hast du eigentlich im Hirn, Boyett!? Ein Vakuum?! Warum man dich nicht längst von der Schule geworfen hat, ist mir ein Rätsel!" „Verreck doch, Broflovski. Kleine regelkonforme Streber wie du sind widerlich. Ist dir noch nicht aufgefallen, dass ihr und Mr. Fancy Pants so ziemlich die einzigen seid, die dem Neuling helfen wollen? Alle anderen glotzen nur dümmlich oder zücken ihre Handys, um das Ereignis ja nicht zu verpassen. Wisst ihr Schwachköpfe denn nicht, dass Zivilcourage uncool ist? Dass man riskiert, selbst zum Außenseiter zu werden, wenn man für Außenseiter einsteht?" „Warum hältst du nicht einfach dein verdammtes Maul?", fragte Butters und wischte sich das Blut aus dem Mundwinkel. Bradley umfasste immer noch seine Hand. „Wir sollten wirklich zur Krankenstation gehen, Butters. Komm mit, bitte. Wir können ja dem Direktor Bescheid sagen... nur lass uns weggehen!" Der blonde Schönling musterte seinen Freund. Er hatte Angst, weit mehr, als bei vier Beschützern nötig war. Ob ihn das hier an ein schlimmes Erlebnis in seiner alten High School erinnerte? Er wirkte so... so furchtsam und hilflos. Butters musste an jene Zeit zurückdenken, da er selbst noch der Prügelknabe seiner Mitschüler gewesen war und hatte plötzlich das Bedürfnis, Bradley in seine Arme zu schließen und nie wieder loszulassen. „Ich soll... mein verdammtes Maul halten? Was für eine Sprache, Stotch! Ich bin sicher, dein Daddy wäre schockiert, wenn er dich hören könnte! Aber der ist ja sowieso schockiert, egal, was du tust! In seinen Augen bist du ‘ne Schande für die Familie - wie jede Schwuchtel!" In der nächsten Sekunde wirbelte Butters einmal um die eigene Achse. Sein Fuß kollidierte seitlich mit Trents Gesicht und die Wucht des Tritts schleuderte ihn nach hinten, direkt in eines der dekorativen Lorbeerbäumchen. Billie und Fosse sprangen hinzu, um ihrem Anführer aufzuhelfen, doch dieser stieß sie verärgert beiseite. Sein Kopf dröhnte. Er spürte seine linke Gesichtshälfte anschwellen und schmeckte Blut in seinem Mund. Sein Blick ruhte auf Butters, der ihn kalt und unbewegt anstarrte, wie eine Statue. „Kumpel, du bist sowas von Badass", sagte Kenny bewundernd. Butters schenkte ihm ein Lächeln, dann wandte er sich an Trent: „Du hast recht, Boyett. Ich bin schwul." Er machte einen Schritt in seine Richtung. „Ich sammle Hello Kitty." Weitere Schritte. „Ich tanze Ballett." Noch ein paar Schritte. „Ich liebe extravagante Kleidung." Jetzt stand er vor ihm, packte ihn am Kragen und zog ihn auf die Füße. Trent fühlte die körperliche Kraft dahinter mit Unbehagen. „Don‘t. Fuck. With. Me." Damit ließ er ihn los und die drei Rowdys suchten das Weite, nicht ohne eine freundliche Schlussbemerkung von Billie: „Dieser Arsch! Eins is‘ sicher: Ich hab‘ noch nie so ‘ne miese kleine Schwuchtel gesehen!" Worauf Butters lässig erwiderte: „Wahrhaftig? Und ich habe noch nie gesehen, dass der Müll sich selbst rausbringt." „Ich erwürge ihn!!" „Is‘ ja gut, Trent, lass uns gehen, sonst hetzt er uns noch seinen Harem auf den Hals...!!" Butters rümpfte die Nase und nahm an seinem Tisch Platz, Bradley hockte sich ihm gegenüber. Eine Weile aßen sie schweigend, bis Bradley schüchtern murmelte: „Danke, Butters. Es war sehr mutig von dir, mir zu helfen." „Mutig? Das war doch nicht mutig, sondern selbstverständlich. Seit wann ist man mutig, wenn man einem Idioten die Meinung sagt?" „Nun ja, seit die meisten es vorziehen, die gaffende Menge zu sein? Weißt du, an meiner alten Schule gab es auch so einen Kerl, der alles und jedem das Leben zur Hölle gemacht hat, der nicht in sein Weltbild passte. Er hat mich beschimpft, meine Sachen ruiniert, mich oft verprügelt... kurz, er hat mich gemobbt auf Teufel komm raus. An manchen Tagen habe ich mich nicht mal in die Schule getraut und hab‘ mich in meinem Zimmer eingeschlossen..." „Hat denn niemand etwas dagegen unternommen!? Die Lehrer, der Direktor, deine Freunde? Deine Eltern?" Bradley schien in sich zusammenzufallen. Er legte das Besteck beiseite und krampfte die Hände ineinander. Er sah Butters nicht an, während er leise seine Geschichte erzählte: „Ich... ich hatte keine Freunde. Jedenfalls keine, die das Wort verdient hätten. Ich meine, ein echter Freund ist für dich da, wenn es dir scheiße geht, oder? Er ist nicht nur vorhanden, wenn du obenauf bist, er kümmert sich auch um dich, wenn du ganz unten bist. Bringt er das nicht fertig, war er niemals wirklich dein Freund. Und in diese Kategorie gehörten die beiden Jungs, mit denen ich meine Zeit verbracht habe. Sie waren die einzigen, die noch mit mir abhängen wollten, nachdem ich mich geoutet hatte." „Aber das spricht doch für sie." „Leider nein. Sie haben sich über meine Homosexualität genauso lustig gemacht wie alle anderen. Vielleicht meinten sie es nicht boshaft, aber warum konnten sie, als meine Freunde, nicht einfach die Klappe halten? Habe ich sie aufgezogen, weil sie hetero sind? Nein, warte, das geht ja gar nicht, hetero ist die Norm und über die Norm kann man sich nicht lustig machen. Ich vergaß." Die Bitterkeit in seiner Stimme war für Butters schmerzlich zu hören. „Sie haben mir auch nie geholfen, wenn mich der Schläger, Jack hieß er, durch die Mangel gedreht hat. Klar, hinterher haben sie mich aufgesammelt, aber sie haben Jack nie aufgehalten, nie einen Lehrer geholt, der es hätte unterbinden können, keinen Versuch gemacht, ihn gemeinsam zu überwältigen... Sie warteten ab. Sie warteten immer nur ab!! Und dann, als es mir zu viel wurde und ich ihnen gesagt habe, was ich von ihrer sogenannten ‚Freundschaft‘ halte... haben sie mich fallengelassen. Wie durfte ich, die arme, bedauernswerte Schwuchtel, es wagen, ihre Freundschaft abzulehnen? Wer war ich denn schon?! Welches Recht hatte ich, irgendetwas von ihnen zu fordern? ‚Du bist ein Verlierer, Stokes, und wirst immer einer bleiben!‘ ‚Wir haben uns mit dir abgegeben und das ist der Dank?‘ Diese falschen, verlogenen, scheinheiligen Arschlöcher!!" Ein Schluchzen schüttelte ihn. „Und die Lehrer? ‚Das gehört alles zum Erwachsenwerden dazu. Das beruhigt sich wieder.‘ ‚Sie sollten sich lieber Sorgen um Ihre Noten machen, Mr. Stokes. Schülerrangeleien sind Ihr kleinstes Problem.‘ ‚Sprechen Sie mit Ihren Eltern, die sind für sowas zuständig.‘ Sie haben alle die Augen geschlossen, sich die Ohren verstopft und den Mund nicht aufgemacht. Nichts Schlechtes sehen, hören oder reden, dann existiert es nicht. Dann existiert es nicht!!" Tränen rannen ihm über das Gesicht und tropften auf seine zitternden Hände. Butters stand auf und lotste Bradley aus der Cafeteria, fort von all den neugierigen Blicken. Er fand eine dunkle Nische unter der Treppe zum ersten Stock, wo sie sich verbergen konnten. „So, hier ist es besser. Was... was war denn mit deinen Eltern? Haben sie nichts getan?" „Was glaubst du wohl!? Meine Eltern haben mich wegen ‚unerfreulicher Tendenzen‘ mit acht Jahren in ein verdammtes Entschwulungscamp gesteckt! ‚Unerfreuliche Tendenzen‘, so hat unser Gemeindepfarrer es genannt! Weil ich mit meinen Stofftieren ‚Vater-Mutter-Kind‘ gespielt habe und nicht ‚Cowboy und Indianer‘! Weil ich keinen ‚starken Wachhund‘ als Haustier wollte, sondern ein ‚wehrloses Kaninchen‘! Weil ich in meiner Freizeit Geige spielen wollte und nicht Baseball!" „...Das ist nicht dein Ernst?" „Doch! Unser Pfarrer war total paranoid und meine Eltern haben ihn hochgehalten als leuchtendes Beispiel für ein erstrebenswertes Leben! Sein Tod war einer der Gründe, warum wir weggezogen sind, meine Eltern konnten den neuen Priester nicht akzeptieren. Er war ihnen zu... liberal, schätze ich. Dabei glaube ich, dass unser alter Pfarrer selbst schwul war." „Wäre nicht das erste Mal der Fall. Oft sind diejenigen, die am lautesten schreien, genau das, was sie verachten, weil sie selbst zu feige sind, um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Aber trotzdem, du bist gemobbt worden! Die Gründe sind unerheblich, hat deine Eltern nicht die Tatsache an sich aufgeregt? Waren sie nicht entsetzt, dass ihr Sohn so behandelt wird?" „..." „Du... hast es ihnen nicht gesagt?" „...Ich vertraue meinen Eltern nicht. Sie sind... seltsam. Sie leben wie in einer Art Blase und alles muss schön und perfekt sein. Etwas Unangenehmes oder Unerwünschtes ignorieren sie einfach. Und wenn sie es nicht ignorieren, reagieren sie völlig übertrieben und machen das ganze Wohnviertel närrisch, wie bei der Sache mit dem Entschwulungscamp. Die gesamte Nachbarschaft wusste davon und wurde in ihre Panik mit hinein gezogen. Sie haben sich aufgeführt, als wäre ich ein Aussätziger mit einer tödlichen Krankheit! Und sie haben pausenlos die Bibel zitiert! Du brauchst dich nicht zu wundern, dass ich im Camp ein halbes Wrack war!" „Das die Bibel zitiert." „Ja, das die Bibel zitiert." Bradley lächelte unter Tränen. Butters konnte sich nicht mehr zurückhalten. Er zog den anderen in eine innige Umarmung und strich ihm tröstend durch das goldbraune Haar. Bradley war verblüfft, schmiegte sich jedoch bald an seinen Freund und lauschte versonnen dem Klopfen seines Herzens. Bei ihm fühlte er sich angenommen und beschützt. Und auch Stan, Kyle und Kenny waren bereit gewesen, für ihn einzustehen. Er musste keine Angst mehr haben. Nach drei weiteren Tagen wurde allmählich klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Cartman schwänzte gelegentlich mal einen Tag, aber kaum mehrere hintereinander. Obwohl er nicht unbedingt gern zur Schule ging, war er doch inzwischen diszipliniert genug, um regelmäßig zu erscheinen. Im Sekretariat hieß es, es läge keine Krankmeldung vor. Kenny und Stan fingen langsam an, sich Sorgen zu machen und auch Kyle konnte eine wachsende Unruhe nicht leugnen. Am meisten störte ihn Cartmans Abwesenheit in Fremdsprachiger Literatur, weil er niemanden mehr hatte, mit dem er kontroverse Debatten führen konnte. Wendy, Gregory und Token, die sich am häufigsten an den Diskussionsrunden beteiligten, waren im Regelfall seiner Ansicht, und so begann er, sich zu langweilen. Cartman war nicht da, also gab es niemanden, mit dem er sich in einen echten Disput verstricken oder den er mit seinen Argumenten beeindrucken konnte. Nicht, dass er Cartman beeindrucken wollte... ... ... Na ja... vielleicht ein bisschen. Auch am Wochenende rührte sich Cartman nicht, er ging nicht ans Telefon, beantwortete keine SMS und als Kenny bei ihm zu Hause klingelte, gab niemand ein Lebenszeichen von sich. Am siebten Tag endlich störte man Kyle und Stan in AP Biologie und Kenny in Astronomie. Mrs. Hill, die stellvertretende Direktorin, holte sie aus dem Unterricht und geleitete sie ins Allerheiligste der Park High, das Büro von Principal Grenville Sinclair. Mr. Sinclair war dreiundfünfzig Jahre alt und ein Mann von imponierender Statur. Er besaß breite Schultern, ein sonnengebräuntes Gesicht mit vielen Lachfältchen, einen erstaunlich üppigen graumelierten Haarschopf und ein markantes Kinn. Er trug gewöhnlich Anzug und Krawatte und hatte ein großes Herz für die Sorgen und Probleme seiner Schülerschaft. Als Kyle, Stan und Kenny sein Büro betraten, entdeckten sie, dass der Direktor nicht allein war: Cartmans Mutter Liane, unordentlich gekleidet, mit wirren Haaren und ohne Make-up, hockte auf einem der Besucherstühle und rang verzweifelt die Hände. „Mrs. Cartman, Erics Freunde sind da." Liane drehte sich um und die Jungen sahen, dass sie geweint hatte. Sie lief auf sie zu und packte Kyle, der ihr am nächsten stand, an den Armen und schüttelte ihn. „Wo ist er?! Wo ist mein Poopsiekins?! Er ist nicht zu Hause!! Hat er euch nichts gesagt?! Was ist mit ihm passiert?! Versteckt ihr ihn vor mir?!" Sie brach erneut in heftiges Schluchzen aus und Mr. Sinclair legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter. „Beruhigen Sie sich bitte, Mrs. Cartman. Erzählen Sie den Jungs, was Sie mir erzählt haben." „Also gut... Ich habe mein Baby das letzte Mal gesehen, als er zu Stans Party ging. Ich... ich war... bei der Arbeit, deshalb kam ich selbst erst gegen ein Uhr nach Hause. Ich dachte, er wäre schon im Bett und so bin ich auch schlafen gegangen." „Sie haben nicht überprüft, ob er in seinem Bett ist?" „Mein Sohn ist fast erwachsen, Sir. Ich hielt es nicht für nötig. Ich war außerdem... nun ja, ich war nicht sehr... nüchtern." „Ich verstehe. Und am nächsten Tag?" „Ich habe bis Mittag geschlafen, wie meistens. Normalerweise hinterlässt mir Eric einen Zettel, auf dem steht, was er zum Essen für mich vorbereitet hat... Reste von gestern, Fertiggerichte, manchmal auch etwas, das er am Morgen gekocht und in den Kühlschrank gestellt hat. Ich kann es mir dann warm machen. Auf dem Zettel steht auch, ob er Training hat oder arbeiten muss, damit ich weiß, wo er ist. Er schreibt immer seine Handynummer dazu, weil ich sie ständig vergesse oder verliere... Aber diesmal war kein Zettel da. Es war kein Zettel da!!" Ein Anflug von Panik schlich sich in ihre Stimme. „Ich habe auf ihn gewartet... die ganze Nacht... aber er ist nicht heimgekommen!" „Warum haben Sie nicht sofort die Polizei informiert?" „Die Polizei?", wiederholte Liane in einem Ton, als hätte sie noch nie davon gehört. „Ich weiß nicht, ob sie mir geholfen hätte. Ich habe nämlich eine Akte... wegen kleinerer Vergehen..." „Kleinerer Vergehen?" „...Diebstahl. Drogenbesitz. Kleinigkeiten, wie ich schon sagte. Dieser Herr von der Polizei war nicht sehr nett zu mir, also wollte ich nicht mit ihm reden." „Mrs. Cartman, zu diesem Zeitpunkt war Ihr Sohn seit über 24 Stunden verschwunden. Die Polizei ist verpflichtet, nach Ablauf dieser Frist eine Suche einzuleiten. Das war am Mittwoch Morgen. Heute ist Montag. Sie sind erst heute in mein Büro gekommen. Warum?" Liane blinzelte Mr. Sinclair verständnislos an. „Ich... ich musste..." Sie zögerte, ihr Blick flirrte vom Direktor zu den wie erstarrt lauschenden Jugendlichen und wieder zurück. „Ich musste zuerst... meinen Schock verarbeiten, Sir. Ein wenig Whiskey wirkt dabei Wunder. Und dann hatte ich auch noch ein paar wichtige Kunden, die durfte ich nicht verprellen. Und das Wochenende, Sir! Das Wochenende ist immer so... so... nun ja, stressig. Ich habe Hochbetrieb. Meine Kunden erwarten, dass ich Ihnen all meine Aufmerksamkeit schenke... sie zahlen gut dafür! Da habe ich Eric... da habe ich ihn... wohl einfach... vergessen." „Natürlich", entgegnete Mr. Sinclair mit enormer Anstrengung. Er war selbst Vater und dieser Mangel an Verantwortungsgefühl und elterlicher Fürsorge schockierte ihn über die Maßen. Er kannte Mrs. Cartmans Lebensumstände und bezweifelte keine Sekunde, dass sie ihren Sohn liebte, doch wie viele suchtkranke Menschen reagierte sie mit Flucht und Verdrängung, ihr Mutterinstinkt zugedeckt von einer Masse aus ungesundem, übersteigertem Egoismus. Eric Cartman war seit letztem Montag nicht mehr zu Hause gewesen. Das war eine Katastrophe. „Ich habe Sergeant Yates verständigt, er wird den Fall untersuchen. Hoffentlich." Wie aufs Stichwort klopfte es an der Tür und Sergeant Yates betrat die Szene. Er war im Großen und Ganzen kein übler Kerl und galt als einer der fähigsten Polizisten South Parks, was leider keine besondere Kunst war. Ein Drittel des Departments war zu faul, ein Drittel zu unterbelichtet und das Drittel, das weder faul noch unterbelichtet war, war zu korrupt. Bis auf den Chef des Departments, Sergeant Yates und zwei, drei andere nahm praktisch niemand den Job wirklich ernst. Und Ernst allein war unglücklicherweise noch kein Garant für gute Polizeiarbeit. Yates würde ermitteln, aber wie und mit welchem Erfolg, das stand in den Sternen. Er hatte zwei Kollegen im Schlepptau, die sich um die Zeugenaussagen kümmern sollten und bombardierte Mr. Sinclair mit Fragen. „Wo waren Sie gestern zwischen zwanzig Uhr und Mitternacht?" „Bitte? Bei mir zu Hause, fragen Sie meine Frau. Aber ist das überhaupt von Interesse?" „Alles ist von Interesse!", schnarrte Sergeant Yates. „Welche schmutzigen Geheimnisse haben Sie? Sind Sie mit der Verdächtigen verwandt, verwitwet, verschwägert? Ist Sie Ihre Geliebte?" „Erlauben Sie mal, was fällt Ihnen...?" „Unterbrechen Sie nicht meine Gedankengänge, ich kombiniere! Du da, Blondschopf! Du siehst heruntergekommen aus! Bist du ein Ghetto-Kid?" „Also... also, hören Sie mal...!" „Schau nicht so empört, ich muss jeder Spur nachgehen! Bist du drogenabhängig? Arbeitest du als Dealer? Oder als Pimp für Prostituierte?" Kenny würdigte ihn keiner Antwort, was Sergeant Yates jedoch nicht aufhalten konnte. Er fragte den Jungen weiter aus, als hätte er einen echten Tatverdächtigen vor sich, bis Kyle, der immer noch Mühe hatte, die Situation zu erfassen, lautstark explodierte. „WAS SOLL DIESER ZIRKUS!?! KÖNNEN SIE NICHT RICHTIG ERMITTELN, SIE MÖCHTEGERN-DETEKTIV!?! CARTMAN WIRD VERMISST UND SIE TREIBEN HIER DUMME SPIELCHEN, SIE AUFGEBLASENER, INKOMPETENTER VOLLTROTTEL!!! ICH KÖNNTE SIE...!!!" „Na, na, na, Bursche, nun reg‘ dich nicht so künstlich auf. Selbstverständlich habe ich einen Verdacht, was mit deinem Freund passiert sein könnte. Es ist sogar ein ziemlich guter Verdacht, auch wenn ich keine richtigen Beweise habe. Ich vermute, dass Eric Cartman von dem ‚Right Hand‘-Killer entführt wurde. Er ist vielleicht sogar schon tot." Bei diesen Worten stieß Liane einen Schrei aus und brach erneut in Tränen aus. Mr. Sinclair hielt sie fest und warf dem Polizeibeamten einen angewiderten Blick zu. „Ich wollte Sie damit nicht erschrecken, Madam, aber wir müssen alle Eventualitäten berücksichtigen. Das schließt den Tod des Opfers mit ein. Da wir noch keine Leiche gefunden haben, ist es allerdings wahrscheinlicher, anzunehmen, dass er noch am Leben ist. Der ‚Right Hand‘-Killer versteckt seine Leichen nicht." „Mein Baby... mein Baby...!!" Kenny wurde es zu bunt. „Und da stehen Sie noch hier rum!? Mein bester Freund schwebt in Lebensgefahr und Sie stellen uns unnötige Fragen!? Warum zum Teufel ist fast jede öffentliche Autorität in dieser Stadt ein verdammter Witz!? Machen Sie Ihren verfluchten Job!!" „He, keine Unverschämtheiten, du Bengel!!" Kyles Wut war verraucht und einer dumpfen Betäubung gewichen. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und stierte zu Boden, sein Herz von kalter Angst umklammert. Er wusste nicht, was er denken sollte. Es hatte eine Zeit gegeben, da er selbst Cartmans Tod herbeigesehnt hatte. Er schämte sich entsetzlich, aber noch tiefer als die Scham saß seine Furcht, ihn zu verlieren, so widersprüchlich und unlogisch das auch war. Und die letzte Erinnerung, die Cartman an ihn haben würde, wäre die Bloßstellung auf der Party. „Ich liebe dich, Kyle. Ich brauche dich, so, wie Pflanzen den Regen brauchen. Du bist meine Luft zum Atmen, die Sonne an meinem Himmel. Du machst alles besser - du machst mich besser. Du hast mir meine Fehler, meine Schwächen, meine Irrtümer und meine Dummheiten aufgezeigt. Du hast mir ein Gefühl eingeflößt, das ich vorher nicht kannte, ein Gefühl, das begonnen hat, mich zu verändern. Du hast mein Herz zum Leben erweckt." Cartman. Cartman, der möglicherweise... Er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Ihm war schlecht. Plötzlich erhob sich eine klare, beherrschte Stimme über den Tumult: „Sergeant Yates, haben Sie es schon einmal mit dem ‚Untergrund‘ versucht?" Der Angesprochene musterte Stanley argwöhnisch. „Was weißt du denn vom ‚Untergrund‘?" „Der ‚Untergrund‘ ist das beste Informationsnetzwerk, über das diese Stadt verfügt. Auch bekannt unter dem Namen ‚Nevermore‘. Warum wenden Sie sich nicht dorthin?" „Was soll das bringen? Zugegeben, die anonymen Hinweise, die wir bekommen haben, waren immer korrekt, aber wie sollen wir jemandem vertrauen, der uns bis auf ‚Untergrund‘ oder eben ‚Nevermore‘ keine Namen nennt und unsichtbar bleibt? Deshalb kann man sie auch nicht kontaktieren, ihr Verhalten zeigt deutlich, dass sie direkte Zusammenarbeit verweigern. Das ist sehr unseriös." „Und warum stört Sie das, unseriös, wie Ihr eigenes Team ist? ‚Nevermore‘ könnte sehr nützlich für Sie sein." „Nein danke, kein Bedarf." Mrs. Hill kam herein und erkundigte sich, ob Stan, Kyle und Kenny in den Unterricht zurückkehren könnten. Mr. Sinclair betrachtete seine Schüler, schüttelte den Kopf und ordnete an: „Mr. Marsh, Mr. Broflovski und Mr. McCormick sind mit sofortiger Wirkung vom Unterricht befreit. Mrs. Cartman sollte zur Krankenstation gebracht werden. Übernehmen Sie das bitte, Beverly, ich kann hier im Moment nicht weg." Mrs. Hill nickte und stützte Erics aufgelöste Mutter. Mr. Sinclair war sich sicher, dass die Krankenstation der Park High der beste Aufenthaltsort für sie sein würde. Er hatte kein Vertrauen zu den Fachidioten im Hell‘s Pass. „Nun zu Ihnen, Sergeant..." Damit schloss sich die Tür des Direktors hinter den drei Freunden, die zunächst eine Minute lang still im leeren Korridor standen und anschließend verzagte Blicke miteinander tauschten. Dann sagte Kenny kurz und überzeugend: „Fuck." „Ich kann es nicht glauben...! Cartman... verschwunden!", flüsterte Kyle und sein Magen verkrampfte sich. Er hatte das Gefühl, jede Sekunde speien zu müssen. „Was für eine beschissene Situation! Dieser Dummkopf von einem Sergeant wird Cartman garantiert nicht finden! Er hat den ‚Righ Hand‘-Killer nur ins Spiel gebracht, weil der im Moment unsere Stadt unsicher macht und groß nach ihm gefahndet wird! Aber Beweise, um seinen Verdacht zu untermauern, hat er keine!" „Es spricht aber auch nichts dagegen, Stan." „Nein, doch das hilft uns nicht. Wir können nicht warten, bis Mr. ‚Unfähig-ist-mein-zweiter-Vorname‘ in die Gänge kommt. Es ist schlimm genug, dass Cartman seit Montag Abend nicht mehr gesehen wurde. Ja, es gibt noch keine Leiche, aber wir wissen nicht, wie lange das noch der Fall sein wird - und je länger wir diskutieren, umso weniger Zeit zum Handeln werden wir haben. Yates hält ‚Nevermore‘ für unseriös und unkooperativ, dabei sind sie unsere einzige Chance. Folgt mir." „Alter, wovon redest du eigentlich? Hast du den Verstand verloren? Woher kennst du eine geheimnisvolle Untergrundorganisation, die anonyme Hinweise an die Polizei verteilt?" „Ganz einfach, Ken. Ich habe sie gegründet." „WAS?!" „Sag das nochmal!" Stan ging nicht auf die perplexe Reaktion seiner Freunde ein, er rannte aus dem Schulgebäude, zum Parkplatz, sprang in sein Auto und zündete den Motor. Kyle und Kenny schwangen sich auf den Rücksitz und der Schwarzhaarige brauste mit Vollgas zu seinem Haus. „Was sollen wir hier?" „Wartet kurz, ich muss mich umziehen, sonst werden wir nicht reingelassen." „Was is‘ los!? Wer soll uns wo reinlassen? Wieso umziehen?!" Keine Antwort. Der Blond- und der Rotschopf glotzten ihrem Kameraden hinterher, als hätte er zugegeben, der illegitime Sohn des Präsidenten zu sein. Keiner von beiden begriff auch nur annähernd, was gerade passierte. Sie verstanden zwar, dass Stan Cartman retten wollte, aber sein Verhalten erschien ihnen reichlich merkwürdig. „Was ist mit ihm? Was soll das heißen, er hat dieses ‚Nevermore‘-Ding gegründet? Will er uns verarschen? Ich finde das nicht komisch." „Ich weiß nicht, Ken, er meint das alles wirklich ernst, glaube ich. Und hey, es ist Stan. Er würde nie einen von uns im Stich lassen, auch Cartman nicht. Er muss einen Plan haben. Außerdem hat er recht, Yates können wir vergessen." „Klar, der Sergeant ist ‘ne Null, trotzdem benimmt sich Stan irgendwie... bescheuert." Sie warteten volle zehn Minuten und Mr. Oberplayboy wurde langsam ungeduldig. „Wo bleibt diese Schnarchnase?! Erst totaler Aktionismus und jetzt hocken wir hier rum...!" „Ich bin keine Schnarchnase, Kenneth." Kyle klappte der Mund auf vor Staunen. Kenny ebenfalls, doch sein Staunen vermischte sich mit dem süßen Kribbeln, das ihn befiel, sobald Stan seinen vollen Namen mit diesem sexy Unterton aussprach. Während er den anderen anstarrte, kroch besagtes Kribbeln aus seiner Magengegend eine Etage tiefer. Kein Wunder. Stan trug ein schwarzes Lederoutfit: Kniehohe Stiefel, eine eng anliegende Hose und einen langen Mantel, der in der Mitte von einem mit silbernen Nieten besetzten Gürtel zusammengehalten wurde. Die Schnalle stellte einen silbernen Raben dar. Unter dem Mantel trug er... nun, nichts, die geschmeidig-muskulöse Brust war entblößt; einzig die beiden silbernen Kettchen, die über dem Bauch die beiden Hälften des Mantels miteinander verbanden, beschränkten die freie Sicht ein wenig. Um den Hals war in mehrfachen Windungen ein Lederband geschlungen, die Augen hatte Stan mit schwarzem Kajal betont. „Wow, scharf! Das sieht so ähnlich aus wie mein..." Kenny biss sich erschrocken auf die Lippen und schwieg. „Das sieht so ähnlich aus wie dein... was?" „Ach, nichts! Ich hab‘ nur laut gedacht! Also, was soll dieses heiße Goth-Outfit, Stan?" „Das ist notwendig, um bei ‚Nevermore‘ vorgelassen zu werden. Und nennt mich bitte nicht mehr ‚Stan‘, während ich in diesen Klamotten stecke. Ich bin ‚Raven‘." „Raven? Was ist das, dein Codename?" „Du sagst es, Kyle." „Das... das war ein Scherz, St... Raven." „Ja, und in der Zwischenzeit ringt Cartman vielleicht um sein Leben. Wenn man in dieser Stadt etwas richtig gemacht haben will, muss man es immer selbst tun. Das war schon in unserer Kindheit so. Wir sind uns doch einig, dass wir auf die Hilfe der Polizei pfeifen können, oder?" Kyle und Kenny wechselten einen Blick und nickten. „Gut. Dann los... und Jungs? Lasst um Himmels Willen mich reden." „Ist gebongt. Was kommt als nächstes? Dein Hybridvehikel ist in Wahrheit das Batmobil?" Damit konnte Raven nicht dienen, aber das kleine Auto erfüllte auch so seine Aufgabe. Eine Viertelstunde später parkten sie in einer Seitenstraße und Raven führte seine hochgradig verwirrten Freunde in einen winzigen Laden mit dem klangvollen Namen „Das Strickhäuschen". Innen wirkte alles so ordentlich und altmodisch-gemütlich, dass man den Eindruck hatte, man wäre durch ein Zeitportal gegangen und im Viktorianischen England wieder herausgekommen. Das Goth-Mädchen, das lustlos hinter der Kasse lümmelte, war ein grober Stilbruch, allerdings fiel sie in dem Halbdämmer, der im Geschäft herrschte, nicht großartig auf. Sie sah nicht auf, als Raven an ihre Theke trat. „Du bist neu, oder?" Sie gähnte, ohne aufzublicken. „Yeah. Mein Name ist Lisa. Was darf‘s sein?" Er deklamierte: „Open here I flung the shutter, when, with many a flirt and flutter, In there stepped a stately Raven of the saintly days of yore; Not the least obeisance made he; not a minute stopped or stayed he; But, with mien of lord or lady, perched above my chamber door — Perched upon a bust of Pallas just above my chamber door — Perched, and sat, and nothing more." Jetzt kam Leben in das Mädchen. Sie hob ruckartig den Kopf, starrte Raven überrascht an, erkannte ihn offensichtlich und machte eine schnelle, ungeschickte Bewegung, die eine Art Verbeugung zu sein schien. „Du bist Raven? Oh mein Gott, die anderen haben mir so viel von dir erzählt! Ich hätte nie gedacht, dass ich dich mal persönlich kennen lernen würde! Was kann ich für dich tun?" „Zuerst möchte ich gern deinen Codenamen erfahren." „Ebony." „Ebony. Würdest du mich bitte zu ‚ihm‘ bringen?" „Direkt? Das geht nicht. Normalerweise muss vorher ein Termin mit Dark Lady vereinbart werden, bevor irgend jemand zu ‚ihm‘ vorgelassen wird." „Sag ihr, dass Raven ihn sprechen möchte. Das sollte genügen." Lisa alias Ebony verschwand eilig hinter dem Perlenvorhang, der das Lager vom Verkaufsraum trennte und blieb eine ganze Weile fort. Schließlich betrat Dark Lady die Szene, besser bekannt unter dem Namen Henrietta Biggle, das bis dato einzige Mädchen der Goth-Clique, bevor Ebony hinzugekommen war. Sie war neunzehn Jahre alt und hatte ein paar Kilo zu viel auf den Hüften, war aber dennoch eine attraktive Person, die sich vorteilhaft zu kleiden verstand (wenn auch hauptsächlich in Schwarz). „Raven, welch unerwartete Ehre", sagte sie hoheitsvoll. „Welcher Anlass bringt dich her?" „Ein Freund von mir ist in Gefahr. Ich brauche eure Hilfe." „Natürlich. Was ist mit diesen beiden Konformisten da hinter dir?" „Die gehören zu mir." „Nun gut, wenn das so ist, dürfen sie der Audienz beiwohnen. Ich hoffe aber, dass du dir im Klaren darüber bist, dass es durch deine Anwesenheit böses Blut geben könnte. ‚Er‘ und Vampire sind sich immer noch nicht... sehr zugetan." „Das habe ich befürchtet." Dark Lady führte sie durch den Perlenvorhang und sie gelangten in einen Raum, der nur aus Regalen mit Schachteln für Wolle, Stricknadeln und sonstigem Handarbeitskram bestand - bis sie eines der Regale zur Seite schob wie eine Tür und eine Wendeltreppe in den Keller zum Vorschein kam. Der Korridor, der sich an die Treppe anschloss, war spärlich erhellt und besaß die anheimelnde Atmosphäre eines Minenschachts. Dark Lady hielt vor der letzten Tür am Ende des Ganges und klopfte. „Wer ist da?", meldete sich eine tiefe Stimme. „Raven will dich sprechen." „..." „Soll ich ihn wegschicken?" „...Nein. Nein, lass ihn herein." Sie öffnete die Tür und ließ die drei Besucher passieren. Das Zimmer, das sich ihnen präsentierte, war eine Mischung aus Empfangssaal und Detektivbüro. An der Stirnseite unter dem Kellerfenster stand ein kolossaler Schreibtisch und davor ein antik wirkendes Sofa mit schwarzem Polster. Die linke Wand war mit Büroschränken vollgestellt, an der rechten prangte eine überdimensionale Straßenkarte von South Park, die mit roten, gelben oder grünen Fähnchen gespickt war, daneben hing eine Pinnwand mit Phantombildern von gesuchten Verbrechern. „Okay, allmählich wird‘s unheimlich", meinte Kenny. „Wo sind wir hier?" Derjenige, der hinter dem Schreibtisch saß, antwortete ihm: „Willkommen, Gentlemen. Wir sind die Schatten der Nacht, die Kämpfer in der Dunkelheit. Wir sind der geduldete, aber ungeliebte Rivale unserer Polizei. Wir sind die mit den besseren Ergebnissen. Wir sind eure letzte Hoffnung. Wir sind die schützende Kraft im Untergrund. Wir sind die Männer und Frauen in Schwarz. Wir sind ‚Nevermore‘." „...Hä?" „Ich dachte, deine konformistischen Freunde wären ein wenig intelligenter, Raven." „Und ich dachte, du wärst inzwischen ein wenig toleranter, Curly." Curly, der Anführer der Goths und Leiter von „Nevermore", war zwanzig Jahre alt und hatte mit Hängen und Würgen seinen Schulabschluss geschafft, nachdem ihm Stan/Raven mehrmals gut zugeredet hatte. Er war groß und etwas mager, mit dunklen Augen und prachtvollem schwarzen Haar, das in einer langen wallenden Locke über seine rechte Gesichtshälfte fiel (daher sein Codename). Er sah sehr elegant aus, trug er doch einen schwarzen Anzug und ein schwarzes Hemd mit weißer Krawatte. „Du bist ja immer noch so schlagfertig, mein Freund", stellte Curly schmunzelnd fest und erhob sich. „Ich gebe zu, dein rebellischer Geist hat mir ein bisschen gefehlt." Er kam näher und umfasste Raven zärtlich am Kinn. „Eigentlich... hat er mir... sogar sehr gefehlt." „Curly, bitte. Ich bin nicht hier, um mich euch wieder anzuschließen." Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein zweiter schwarzgekleideter Jüngling stürmte ins Chefzimmer. Er war in Curlys Alter, sein Outfit war allerdings durch kräftige rote Akzente aufgepeppt und sein schwarzes Haar hatte er im Nacken grün gefärbt. Dark Lady gab ein „Oh Shit" von sich, Curlys Miene verdüsterte sich. „Vampire!", rief er unfreundlich. „Was im Namen von Cthulhu hast du hier zu suchen!?" „Ich bin ebenfalls ein Mitglied von ‚Nevermore‘, du kannst mich nicht einfach ignorieren! Warum hat mir niemand gesagt, dass Raven zurück ist!?" „Weil du dann eine Szene gemacht hättest... also genau das, was du jetzt gerade tust. Weshalb ist es für dich von Interesse, ob Raven da ist? Er ist ein Ex-Goth, kein Ex-Möchtegernvampir und untersteht daher meiner Verantwortung." „Wie kann er dir unterstehen, wenn er ein Ex-Anführer ist? Die gelten als ranggleich! Und überhaupt, es geht hier nicht um Ex-Goth versus Ex-Vampir, sondern um Ex-Freund versus Ex-Freund! Denkst du, ich sehe tatenlos zu, wie du ihn mit Beschlag belegst?!" „Haltet die Klappe, ihr beiden verhinderten Romeos!" Raven baute sich zwischen den Kontrahenten auf und stemmte verärgert die Hände in die Hüften. „Ich bin hergekommen, weil ein Freund von mir in Lebensgefahr schwebt, nicht, um mir eure Eifersüchteleien anzuhören! Victor...", wandte er sich an Curly, dem es vor Schreck, dass Raven seinen richtigen Namen benutzt hatte, die Sprache verschlug, „...ich habe unsere gemeinsame Zeit sehr genossen, aber ich bin über dich hinweg. Tu mir einen Gefallen und hör auf, mir weiter hinterher zu trauern! Und was dich betrifft, Mike, wir waren nie ein festes Paar! Ich hatte dich gern wie einen Kumpel, mehr nicht! Wann kapierst du das endlich?!" Damit nahm er ungeniert in dem Lederstuhl hinter dem Schreibtisch Platz und Dark Lady bot ihm eine Zigarette an. Ohne ein Wort zu sagen, hielt er die Zigarette zum Anzünden hin und die Feuerzeuge von Curly und Vampire klickten gleichzeitig. „Danke, Jungs. Kommen wir nun zum Geschäftlichen. Eric Cartman ist seit letztem Montag verschwunden. Sergeant Yates ist der Meinung, er sei vom ‚Right Hand‘-Killer entführt worden, aber er hat keinerlei Beweise und kann seine Vermutungen durch nichts erklären. Das genügt nicht. Selbst, wenn sich herausstellen sollte, dass er recht hat, wir brauchen eine Spur, die auf Fakten und nicht auf Geratewohl basiert, eine Spur, der wir folgen können. Und wir brauchen Informationen bezüglich seines Aufenthaltsorts, falls er es wirklich war. Wie schnell könnt ihr das erledigen?" „Gib uns vier Tage, maximal fünf." „Das ist zu lang, Curly." „Hey, wir sind vielleicht die MIB von South Park, aber unsere Ausrüstung ist nicht halb so modern. Wir sind gut, zaubern können wir aber nicht. Die hiesige Polizei wird dir in vier bis fünf Wochen Material liefern, doch bis dahin ist Cartman toter als die Karriere von Tom Cruise. Wir sind deine beste Option." „Also schön. Der übliche Preis?" „Raven! Wie kannst du nur glauben, ich würde Geld von dir verlangen? Das ist natürlich ein Freundschaftsdienst! Außerdem wurden wir bereits von einem anderen Kunden gebeten, den ‚Right Hand‘-Killer aufzuspüren, wir arbeiten dran. Der Kerl ist ein Meister darin, seine Spuren zu verwischen, daher kann ich dir nicht versprechen, dass wir seinen festen Aufenthaltsort in vier Tagen finden werden - vorausgesetzt, er hat überhaupt einen festen Aufenthaltsort. Aber wir werden unser Bestes geben." Raven lächelte. „Das weiß ich. Danke." Er reichte Curly die angerauchte Zigarette und küsste ihn zum Abschied auf die Wange. „Auf Wiedersehen, Victor." „Auf Wiedersehen... Stan." Vampire wurde beauftragt, Raven und seinen „konformistischen Anhang" hinauszubegleiten. Er führte sie schweigend bis in den Lagerraum, bevor er herausplatzte: „Warum musst du gehen!? Warum bleibst du nicht bei uns!? Ohne dich würde ‚Nevermore‘ nicht einmal existieren! Deine Regentschaft mag nur ein halbes Jahr gedauert haben, aber du bist eine Legende in unseren Kreisen! Du bist der einzige, der zwischen den Szenen hin- und herwechseln kann! Wir bewundern dich, wir...!" „Mike... ihr seid ein verschrobener, eigensinniger, liebenswerter Haufen und ich mag euch alle. Aber letzten Endes ist dies hier nicht mein Weg. Für mich ist die Welt zu farbig, um immer nur schwarz zu tragen. Lass mich gehen." Vampire seufzte. „Ich war in dich verliebt, Stan... und ein Teil von mir ist es noch. Du gehörst nicht zu den Männern, die man einfach so vergisst. Ich... ich wünsche dir viel Glück." Er drückte einen Kuss auf Ravens Hand, lächelte wehmütig und schob die Regaltür wieder hinter sich zu. Ebony empfing die Gruppe und brachte sie zum Geschäft hinaus. „Das war schräg", meinte Kyle und musterte seinen besten Freund von Kopf bis Fuß, als sähe er ihn zum ersten Mal. „Du kannst also problemlos dein Goth-Ich gegen dein ‚bürgerliches‘ Ich austauschen und umgekehrt, hast eine Art Spionagenetzwerk ins Leben gerufen, das offenbar tatsächlich Ergebnisse erzielt, und nebenbei sind da noch ein Ex-Freund und ein glückloser Rivale. Wann genau hattest du vor, mir das zu erzählen?" „Ich wollte es dir sagen, sobald es nötig wäre. Die Sache mit Curly und Vampire solltest du allerdings wissen, das habe ich damals lang und breit vor dir ausgewalzt." „...Ich erinnere mich an die Namen ‚Victor‘ und ‚Mike‘, ihre Alter Ego-Namen hast du nie benutzt, wenn du mit mir darüber gesprochen hast..." „Du scheinst sehr beliebt zu sein, besonders bei der Lockentolle und dem Typ mit dem giftgrünen Haar. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so begehrt bist!" Raven runzelte die Stirn angesichts Kennys aggressivem Tonfall. Der Blonde hatte seinen Mund zu einer Schnute verzogen (einer niedlichen Schnute, wie Raven zugab) und schien sich vornehmlich darüber zu ärgern, dass er nicht über die Anzahl von Stans Verehrern aufgeklärt worden war. „Ich bin dir über nichts, was ich tue, Rechenschaft schuldig, Kenneth. Wendy hat mich mit meiner Homosexualität konfrontiert, als ich es noch nicht akzeptieren konnte und deshalb bin ich in eine ernste Goth-Phase zurückgefallen. Curly war eine unerwartete Stützte für mich und so kam eben das eine zum anderen... auch Goths haben Hormone, weißt du?" Kenny streckte ihm die Zunge heraus. „Rede nicht mit mir, als ob ich ein Kleinkind wäre!" „Wenn du dich wie eines benimmst, ist dein Argument null und nichtig." Sie erreichten das Auto und Raven öffnete den Wagenschlag. „Überhaupt, mit welchem Recht richtest du über mich? Was geht es dich an, wie viele Männer mal mit mir zusammen waren oder sich für mich interessieren? Wieso stört dich das?" „...Ich... ich weiß es nicht..." „...Wie auch immer. Steigt ein." „Was machen wir jetzt?" „Warten. Schau nicht so angepisst, Kyle. Solange wir noch keine handfesten Informationen haben, können wir Cartman nicht helfen. Hoffen wir, dass Yates sich irrt und der Täter nicht der ‚Right Hand‘-Killer ist. Hoffen wir, dass ‚Nevermore‘ eine andere Spur entdeckt." „Und wenn Yates sich nicht irrt?" „Müssen wir beten", murmelte Kenny entrückt und starrte aus dem Fenster, an dem Gebäude und Straßen vorbeiflogen. „Denn dann ist Beten das einzige, was wir noch haben." And the Raven, never flitting, still is sitting, still is sitting On the pallid bust of Pallas just above my chamber door; And his eyes have all the seeming of a demon's that is dreaming, And the lamp-light o'er him streaming throws his shadow on the floor; And my soul from out that shadow that lies floating on the floor Shall be lifted — nevermore! Ja, die Goths sind die MIB von South Park (WIB im Fall von Dark Lady und Ebony) - weil ich sie dazu gemacht habe. Fragt mich bloß nicht, wie ich ursprünglich auf diese Idee gekommen bin, ich weiß es nicht mehr. Da die Polizei vor Ort so inkompetent ist, wollte ich eine Alternative einführen, aber ein simpler OC-Detektiv war mir dann doch zu schnöde. Und ja, außerdem wollte ich Stan in ein Lederoutfit stecken...*unschuldig pfeif* Wie es Cartman ergangen ist, werdet Ihr im nächsten Kapitel herausfinden, aber wie gesagt, wegen meines Praktikums weiß ich nicht, wie oft ich schreiben kann, das heißt, die Fortsetzung wird wohl eine ganze Weile auf sich warten lassen. Bleibt mir bitte treu bis dahin!^^ Kapitel 9: The Dark Angel: 2. Akt - Something Wicked ---------------------------------------------------- Hallo, liebe Leser! Ja, ich bin zurück. Wie sich ein paar von Euch vielleicht noch erinnern, habe ich im Vorwort des letzten Kapitels davon erzählt, dass ich endlich ein Praktikum ergattert hätte. Ich habe mich nach meiner monatelangen Suche wahnsinnig darüber gefreut - nur leider hat sich das Ganze als Riesenfehler entpuppt. Nicht wegen des Teams (generell Kollegen und andere Praktikanten), das war echt prima...aber die Chefin? Nun, sie war ein Drachen. Ich glaube, ich bin noch nie in meinem Leben einer so eingebildeten, rücksichtslosen, scheinheiligen, unzuverlässigen und verantwortungslosen Person begegnet. Ihre Lieblingsbeschäftigung bestand darin, ihre gesamte Belegschaft auszubeuten und zu mobben, eine Angestellte und eine Praktikantin hatte sie schon vorher rausgeekelt und nach dem Anwalt meines einen Kollegen zu schließen, ist der Arbeitsvertrag ein Knebelvertrag von so unglaublicher Frechheit, dass die Dame eigentlich mit einem Bein im Knast steht. Inzwischen hat sie drei Arbeitsklagen am Hals. Sie selbst hält sich natürlich für das Beste vom Besten, sie ist niemals an irgendetwas schuld (natürlich nicht, Schuld haben immer nur die dummen Praktikanten!), und ihre emotionale Reife ist irgendwo bei dreizehn anzusiedeln - sie ist über vierzig. Einen Monat Schikane habe ich mir bieten lassen, dann habe ich die Reißleine gezogen. Ich habe sehr dringend ein Praktikum gesucht, aber ich bin nicht bereit, mich ausnutzen und mies behandeln zu lassen, ohne halbwegs vernünftige Bezahlung oder auch nur mal ein Lob. Also habe ich gekündigt (wie nachfolgend dann auch nach und nach der Rest der Belegschaft). Jetzt soll die Drachenlady mal sehen, wie sie den Karren allein aus dem Dreck zieht, anstatt uns davor zu spannen! Ich habe das Ganze unter "schlechter Erfahrung" abgelegt, aber ich hoffe, es erklärt, warum ich nach diesem Fiasko erstmal nichts geschrieben habe. Ich war fertig mit den Nerven. Aber genug von mir, viel Spaß beim Lesen! Kapitel 9: The Dark Angel: 2. Akt - Something Wicked Double, double, toil and trouble/Fire burn and cauldron bubble. [...] By the pricking of my thumbs/Something wicked this way comes. - William Shakespeare: Macbeth, 4. Akt/1. Szene Eric öffnete die Augen. Er spürte einen dumpfen, pochenden Schmerz am Hinterkopf und langsam erinnerte er sich daran, dass man ihn niedergeschlagen hatte. Um ihn herum herrschte Finsternis und es lag ein ekelerregender Geruch in der Luft, der ihn an Chemikalien oder Textilfarbe denken ließ. Er saß auf einem Stuhl, seine Arme auf den Rücken gedreht und die Hände gefesselt. Vor ihm stand ein Tisch mit etwas darauf, dessen Umrisse einer Flasche zu gehören schienen. Eine Art Stäbchen ragte aus der Flasche, bis Eric aufging, dass es sich um einen Strohhalm handeln musste. Seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt und so tastete er mit dem Mund vorsichtig nach dem Strohhalm und nahm einen winzigen Schluck. Mineralwasser. Sein Entführer hatte also nicht vor, ihn verdursten zu lassen. Das war schon mal beruhigend. »Ich frage mich, wie spät es ist. Wie lange war ich wohl bewusstlos? Wo bin ich hier!? Und warum zum Teufel muss das ausgerechnet mir passieren?! Ich schwöre, wenn das irgendein verdammter Penner war, der Geld für ein Saufgelage aus mir rauspressen will, dann ramme ich ihn ungespitzt in den Boden!« Er versuchte, sich zu befreien, merkte aber bald, dass es sinnlos war, die Stricke waren zu fest. Vielleicht konnte er sie an einer Tischkante aufdröseln? Er stand auf und drehte sich hüpfend mitsamt dem Stuhl um, manövrierte sich an eine Kante und begann, seine Fesseln zu lockern. Außer dass die Stricke ein klein wenig nachgiebiger wurden, erreichte er jedoch nichts. Er wuchtete sich zurück in seine Ausgangsposition und grübelte. Was sollte er tun? Er hatte nicht die Absicht, dumm herumzusitzen und Däumchen zu drehen, bis sein Entführer auftauchte! Nach und nach konnte er auch seine Umgebung besser erkennen; er sah die Umrisse großer Maschinen und mehrere Reihen Fließbänder, außerdem etwas, das ein Kran zu sein schien. Die ganz oben angebrachten Fenster waren mit Jalousien oder Brettern verschlossen, sodass kein Funken Licht eindringen konnte. Selbst wenn es inzwischen Tag war, er konnte es nicht sehen. Immerhin wusste er jetzt, dass er in einer stillgelegten Fabrik war. Wie klischeehaft. Plötzlich ging das Licht an und Schritte ertönten. Eric verdrängte seine aufkeimende Angst und nahm noch einen Schluck Wasser, um seine Anspannung zu verbergen. Der Mann, der durch eine Seitentür hereingekommen war, sah nicht wie ein Obdachloser aus. Er sah vielmehr erschreckend gewöhnlich aus, fast bieder. Er war etwas untersetzt, trug einen grauen Jogginganzug und Turnschuhe und wirkte wie der nette ältere Herr von nebenan, den man gern zu einem Kaffeekränzchen einlud. „Oh, du bist zu dir gekommen, mein Junge?" Seine Stimme und sein Tonfall hätten wunderbar zu einem Kindergartenonkel gepasst. Eric hätte ihn lächerlich gefunden, wenn sein schmerzender Kopf nicht gewesen wäre. Der Kindergartenonkel hatte ihn niedergestreckt und ihn hierhergetragen, er musste also körperlich fit und sehr kräftig sein, schließlich war Eric nun wirklich kein Fliegengewicht. „Wer sind Sie?! Und was wollen Sie von mir?!" „Warum willst du das wissen?" „Warum!? Weil sie mir eins übergezogen und mich an einen Stuhl gefesselt haben!! Ich habe das verdammte Recht, den verdammten Grund dafür zu erfahren!!" Der Kindergartenonkel schüttelte den Kopf. „Das geht leider nicht, ich habe noch nicht alles vorbereitet, was ich dir zeigen möchte. Deshalb wirst du jetzt erst einmal ein kleines Nickerchen machen, um dich zu entspannen." Er holte eine Spritze aus seiner Jogginghose und verabreichte dem fluchenden Eric ein Schlafmittel. „Es wird schnell wirken und dann wirst du brav schlummern." „Sie Arschloch!! Lassen Sie mich frei!! Ich... will... nicht..." Er spürte, wie ihm die Lider schwer wurden und trat wild nach seinem Entführer, doch seine Sicht verschwamm und er hörte hämisches Gelächter in seinen Ohren. Einbildung? Wirklichkeit? Was sollte dieser Scheißdreck!? Was wollte er ihm zeigen? Warum musste er es vorbereiten? Was dachte dieser Spinner, wen er hier vor sich hatte!? »Ich... ich darf nicht einschlafen... Wer weiß, was dieses Schwein mit mir anstellt, während ich nicht bei Bewusstsein bin?! Ich darf... ich darf nicht... einschlafen...« „Gute Nacht, Eric. Süße Träume." »Er... kennt meinen Namen? Wer ist dieser Kerl? Fuck, mein Kopf...! Scheiße, Scheiße, Scheiße...! Ich bin so müde... ich darf nicht...« Es wurde dunkel um ihn. Als Eric wieder aufwachte, hatte er einen noch größeren Brummschädel als vorher, seine Kehle war trocken und seine Gliedmaßen steif von der unbequemen Haltung, in die man ihn gezwungen hatte. Die Flasche Wasser stand immer noch auf dem Tisch und er sog die Flüssigkeit gierig ein. Es schmeckte abgestanden, aber das kümmerte ihn nicht. Moment, abgestanden? Wie lange war er diesmal k.o. gewesen? Er suchte nach dem Kindergartenonkel, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Das elektrische Licht schmerzte in seinen Augen und für eine bange Minute dachte er schon, er würde halluzinieren, bis er merkte, dass der Diaprojektor neben ihm echt war. Es war auch eine Leinwand aufgebaut worden und Erics Magen verkrampfte sich vor Entsetzen, denn dieses Szenario erinnerte ihn an Michael Deets, den „Left Hand"-Killer, von dem er als kleiner Junge gefangengenommen worden war... damals, als er sich als Medium ausgegeben hatte. Deets glaubte, er wäre schuld daran, dass sein „Genie" nicht erkannt wurde und quälte ihn tagelang mit hoffnungslos öden Diashows, bevor er sich dazu entschied, ihn zu töten, was die Polizei verhindern konnte. Aber die Diasutensilien waren nicht das Problem. Das Problem war, dass dies ein Indiz dafür war, dass sein neuer Entführer ein Nachahmungstäter war. Nicht nur im Bezug auf Dias. Vielleicht auch im Bezug auf Mordtaten, bei denen man den Opfern eine Hand abgeschnitten hatte. Schritte. Eric unterdrückte ein Würgen. „Sie sind der ‚Right Hand‘-Killer, nicht wahr?" Der Mann klatschte beifällig. „Sehr gut, Eric. Ich muss sagen, genau das habe ich von dem berühmten Kindermedium erwartet, das den genialsten Killer dieses Jahrhunderts entlarvt hat. Zu schade, dass du deine Fähigkeiten inzwischen eingebüßt hast, sonst hättest du das hier auch vorhersehen können." „Was reden Sie da?! Ich hatte nie irgendwelche Fähigkeiten! Ich habe allen nur was vorgespielt! Ich habe mir die Dummheit der Leute zunutze gemacht, um Vorteile daraus zu ziehen! Und was soll das heißen, ‚genialster Killer dieses Jahrhunderts‘!? Deets?! Der war so offensichtlich, dass es wehtut! Unsere Polizei ist katastrophal inkompetent, das ist der einzige Grund, warum er überhaupt so viele Menschen umbringen konnte!" „Unsinn. Niemand hätte ihn je geschnappt, wenn du nicht gewesen wärst! Gib doch zu, dass du mit Sergeant Yates telepathisch Verbindung aufgenommen hast, um ihn zu Michael zu führen! Wie sonst hätte mein Idol so jämmerlich enden können?" „Telepathische Verbindung? Sind Sie blöd?! Ich habe gelogen!! Ich hatte keine Visionen und keine besonderen Kräfte, ich war nichts weiter als ein kleiner Schwindler! Und Deets war ihr Idol!? Damit ist es amtlich: Sie sind krank!" „Aber nein, ich bin völlig vernünftig. Ich habe damals im Gefängnis seine Taten sehr genau verfolgt. Seine Vorgehensweise war bewundernswert, seine Pläne unglaublich clever! Seine Morde steckten voller hingebungsvoller Details, sie waren Kunstwerke! Natürlich hat niemand außer mir das verstanden... ich war zutiefst erschüttert, als ich von seinem Tod erfuhr." „...Im Gefängnis? Sie saßen im Gefängnis?!" „Ja, wegen Betrugs. Und wegen versuchten Mordes. Mein Chef war mir auf die Schliche gekommen und das ärgerte mich. Leider war ich damals noch nicht der Genialität von Michael Deets ansichtig geworden, so dass ich bei diesem Verbrechen reichlich plump vorging und erwischt wurde. Und mein Chef überlebte noch dazu. Dilettantisch, scheußlich dilettantisch." „Warum sind Sie dann auf freiem Fuß? Sind Sie abgehauen?" „Nein. Aber dank guter Führung und dem hirnverbrannten Resozialisierungsprogramm unseres Waschlappengouverneurs wurde aus meiner dreißigjährigen Haftstrafe eine zehnjährige. Ich hatte bereits ein Jahr abgesessen, als Michaels Kunst in mein Leben trat. Ich wurde ganz offiziell entlassen, Eric. Mir ist durchaus klar, dass ich ein Kandidat für den elektrischen Stuhl bin, falls ich diesmal geschnappt werde, aber bis dahin werde ich meine Rache genossen haben, ich werde also wenigstens zufrieden sterben." „...Sie wollen sich dafür rächen, dass Deets meinetwegen erschossen wurde?!" „Du hast die Polizei zu ihm gebracht. Ohne dich würde er noch leben und dieses Land in Angst und Schrecken versetzen, wie es sich für einen Verbrecher seines Kalibers geziemt. Seine Kunst hätte eine Inspiration sein können für so viele andere unverstandene Seelen wie mich!" Eric brach der kalte Schweiß aus. Dieser Typ war vollkommen irre. Nicht genug, dass er unter einer fehlgeleiteten Obsession litt, er war genau das, wofür er sein Vorbild hielt: Er war ein erfolgreicher Killer, der kaum Spuren hinterließ und der Polizei auf der Nase herumtanzte. Und dann, ganz plötzlich, fiel ihm etwas ein, das alles noch schlimmer machte. Es stimmte, er hatte nach seinem dummen Flugversuch vom Dach keinerlei hellseherische Fähigkeiten besessen. Er nicht... aber Kyle. Stan hatte ihm nach seiner Befreiung erzählt, dass Kyle das Äußere des Killers beschrieben und seine exakte Adresse genannt hatte. Es war Kyle gewesen, der Sergeant Yates auf die richtige Spur gebracht und somit Deets‘ Ende herbeigeführt hatte. Wenn dieser Verrückte das erfuhr... Erics Herz schien sich zu verknoten, er würgte erneut. „Wir werden heute mit meiner Diashow beginnen. Sie besteht aus zwei Teilen und wird ein paar Tage in Anspruch nehmen. Ich hoffe, das stört dich nicht, aber es muss sein. Ich möchte nämlich versuchen, dir meine Kunst zu erklären. Das erste, was du sehen wirst, ist eine Reihe von Gemälden, die ich während meiner Gefangenschaft angefertigt habe. Nicht alle, denn dazu fehlt uns die Zeit, nur meine besten. Malen war Teil des Resozialisierungsprogramms und ich hatte Talent dafür, was mich sehr überraschte. Ich habe viel experimentiert und ausprobiert." Er zeigte das erste Dia, eine Art postapokalyptische Landschaft in düsteren Farben, mit einem schwarzen Himmel und einem See aus Blut, in dem tote Körper schwammen. „Mein Lehrer fand dieses Bild zu deprimierend und schlug mir vor, etwas fröhlicheres zu versuchen. Das nächste Bild ist das Ergebnis meines Versuchs." Es war ein typisches Stilleben, die Darstellung einer Schale Obst mit einem Blumenstrauß in einer Vase direkt dahinter. Es wirkte allerdings kaum „fröhlicher", alles war in modrigen Braun- und Grautönen gehalten - und als Eric genauer hinsah, entdeckte er, dass Obst und Blumen im Verfaulen begriffen waren. „Das ist Ihre Idee von fröhlich!?" „Na ja, das war nur mein erster Versuch. Das hier ist überzeugender, meinst du nicht auch?" Diesmal warf der Projektor eine Gruppe junger Frauen an die Leinwand, die im Kreis tanzten. Sie trugen bunte Kleider, der Himmel leuchtete blau und die Wiese unter ihren Füßen war grün und blühte. Dominierend war jedoch die Rückansicht eines in Schwarz gekleideten Mannes, der sich den Tänzerinnen näherte, mit einem blutigen Beil in der Hand. „Wenn Sie das unter ‚fröhlich‘ verstehen, will ich Ihre Interpretation von ‚traurig‘ niemals zu Gesicht kriegen!" „Genies werden oft verkannt, das ist mir nicht neu. Mein Lehrer war auch nicht besonders entzückt. Er hatte kein Verständnis für meine Kunst, dabei war er sonst ein so aufgeschlossener Geist. Tod und Gewalt sind allgegenwärtig in unserer Gesellschaft, Eric! Sie begegnen uns jeden Tag, im Fernsehen, im Radio, in den Zeitungen, im Internet! Sie umgeben uns überall, aber wir ziehen es vor, die Augen davor zu verschließen und uns und diese Welt für ewig zu halten! Aber wir und diese Welt sind endlich, mein Junge... und meine Kunst rückt dies ins Bewusstsein!" Es folgten noch sieben weitere Bilder, ebenso drastisch-makaber wie ihre Vorgänger, die der „Right Hand"-Killer mit sich steigernder Liebe zum Detail umgesetzt hatte. Eric hätte ihnen jede noch so langweilige Diashow vorgezogen, außerdem bekam er allmählich Hunger und das Wasser ging auch zur Neige. Als sein Magen knurrte, beendete der Mann die Vorführung. „Wie unhöflich von mir, du wirst hungrig sein. Geistige Nahrung allein ist nun mal leider nicht ausreichend. Ich habe dir natürlich etwas mitgebracht!" Er hatte beim Chinesen eingekauft und stellte eine Schachtel mit Hähnchen Süßsauer auf den Tisch, wechselte die Wasserflasche und machte Anstalten, Eric zu füttern. „Was soll der Mist!? Binden Sie mich los, damit ich selbst essen kann! Ich werde nicht weglaufen, ich verspreche es!" „Selbstverständlich wirst du nicht weglaufen", erwiderte der Killer lächelnd, angelte einen kleinen Revolver aus einer Innentasche seiner Joggingjacke und schoss seinem Opfer in den linken Unterschenkel. Eric stieß einen Schmerzensschrei aus. Er fühlte, wie warmes Blut sein Bein hinunter rann und biss die Zähne zusammen. „Was... was zum Teufel...!?! Sie verdammtes Arschloch...!!!" „He, kein Grund, ausfällig zu werden. Ich wollte nur sicherstellen, dass du wirklich nicht laufen kannst. Man soll kein Risiko eingehen. Jetzt darfst du allein essen." Er band ihn los und Eric packte die Stäbchen, die wie das Hähnchen Süßsauer so gnadenlos und brutal normal waren, dass er in hysterisches Schluchzen hätte ausbrechen mögen. Er musste sich zu der Mahlzeit überwinden; in seinem Mund vermischte sich der Geschmack des Fleisches mit dem Geruch seines Blutes, sein dröhnender Kopf und der pochende Schmerz in seinem Bein erzeugten eine brennende Übelkeit. Nachdem er gegessen hatte, geleitete ihn sein Entführer zu einem Toilettenraum. Eric humpelte mit aller Verachtung, die er aufbringen konnte, an ihm vorbei, rettete sich in eine der vier Kabinen und übergab sich. Zwischen den Fliesen wucherte Schimmel und es stank nach Urin und alten Reinigungsmitteln. Während er sich die Hände wusch, merkte er, dass das Fenster von innen zugemauert war. Eric starrte eine ganze Weile auf diesen Wall aus Ziegeln. Kein Fluchtweg! Und selbst wenn, wie hätte er mit seinem Bein da durchklettern sollen? Vielleicht hätte er auch gar nicht erst durch gepasst! Es war eben manchmal von Vorteil, klein und leicht zu sein. Das Klo konnte er also abhaken. Er setzte sich auf den Boden, schob das Hosenbein nach oben und untersuchte die Wunde. Der Jeansstoff hatte einen Teil des Bluts aufgesaugt und mit Klopapier und Speichel versuchte er, sich ein wenig zu säubern und zu desinfizieren. Seine Jacke, die seine persönlichen Habseligkeiten enthielt, hatte ihm der Kerl wohlweislich abgenommen. Wo hatte er sie hingetan? Konnte er sie finden und mit seinem Handy um Hilfe rufen? „Willst du dadrin übernachten, Eric? Wenn du nicht gleich herauskommst, komme ich rein." Der junge Mann antwortete nicht und kehrte, eine ungerührte Miene zur Schau stellend, zu seinem Platz zurück. Die Stäbchen lagen unschuldig auf dem Tisch und einem plötzlichen Gedanken folgend, schnappte er sich eines davon und attackierte den Verbrecher. Er zielte auf dessen Gesicht, doch der Killer trat hart gegen sein verletztes Bein und drückte den kleinen Revolver gegen seine Schläfe. Der schreckliche Schmerz zwang Eric auf die Knie, aber der kalte Stahl auf seiner Haut war noch schrecklicher. Er hörte das Klicken des Hahns. Es war laut wie ein Donnergrollen. Er erinnerte sich wieder an das Sommercamp, wo ihm klargeworden war, was Kyle ihm bedeutete. Er erinnerte sich daran, wie es war, allein in der Dunkelheit zu sein. „Ich muss schon sagen, mein Junge, du bist aus außergewöhnlichem Holz geschnitzt. Was hattest du denn mit dem Stäbchen vor?" „Ich wollte Ihnen das Auge ausstechen. Eigentlich hatte ich sogar gehofft, ich könnte es so tief in Ihren Schädel hineinstoßen, dass es Ihr Gehirn erreicht." „Oho." Ein anerkennendes Zungenschnalzen. „Nun, deine körperliche Kraft hätte vielleicht für das Ausstechen ausgereicht, trotz des stumpfen Gegenstands. Nein wirklich, ich habe dich unterschätzt. Ich schieße dir ins Bein und du hast genug Nerven, um mich anzugreifen? Und es war noch nicht einmal ein dummer Angriff - wäre ich unbewaffnet gewesen, hättest du mir dieses Ding mit der Kraft der Verzweiflung tatsächlich bis ins Hirn rammen können, wer weiß? Ich gebe es nur ungern zu, aber ich bin beeindruckt. Und so etwas im zarten Alter von siebzehn Jahren! Meinen Respekt, Eric. Nun sei ein liebes Kind und setz dich." Den Revolver immer noch an der Schläfe, ließ er sich auf den Stuhl fallen. Der Killer verzichtete diesmal auf herkömmliche Fesseln und legte Eric Handschellen an. „Was soll das? Warum denn jetzt Handschellen?" „Spart in der Zeit. Außerdem sind sie ästhetischer als diese groben Stricke." „Und was haben Sie nun mit mir vor?" „Im Moment? Nichts weiter. Unsere erste Session ist vorüber und für die nächste musst du frisch und ausgeruht sein. Ich werde dir ein Narkosemittel spritzen, so wie das letzte Mal." „Ein... ein Narkosemittel!? Soll das heißen, Sie haben mich nicht einfach nur eingeschläfert, sondern mich in Narkose versetzt!?" „Exakt. Wie sagt man doch? Augen zu und durch, Eric." Ein gleißendes Licht hüllte ihn ein. Er wusste, dass er träumte, aber er hatte nicht den Wunsch, aufzuwachen und wieder mit seiner grausigen Lage konfrontiert zu werden. Dieses Licht war so viel angenehmer... so warm, so schützend, so voller Kraft und Hilfe... „Eric", sagte eine vertraute Stimme, „Kannst du mich hören?" „Kyle? Bist du das?" Er schlug die Augen auf. Das hier war definitiv ein Traum, denn er lag in seinem Bett, nur mit seinen Boxershorts bekleidet und neben ihm...neben ihm...! Kyle räkelte sich genüsslich in den weichen Laken und blinzelte zu dem anderen hinauf, der sich aufgesetzt hatte und ihn mit einer Mischung aus Verlegenheit und Faszination anstarrte. „Wieso trägst du auch bloß Shorts? Was soll das werden?" „Das ist deine Fantasie, Eric, woher soll ich das wissen?" „Und warum bist du hier?" Traum-Kyle sah ihn überrascht an. „Warum ich...? Aber ich bin immer da, Eric. In deinen Erinnerungen, deinen Gedanken... und manchmal eben in deinen Träumen. Du weißt, dass du auf mich zählen kannst. Mein reales ‚Ich‘ kann dich nicht leiden, das stimmt, aber hat er dich jemals im Stich gelassen, wenn du wirklich in Not warst?" Eric ließ sich auf das Bett zurücksinken und streichelte Traum-Kyle durch die roten Locken. „Nein... nein, seltsamerweise war er immer für mich da. Er hat mich vor dem Ertrinken gerettet, und vor diesem Snooki-Etwas aus New Jersey... ganz von sich aus, ohne dass ich ihn darum bitten musste. Ich glaube, er weiß selbst nicht so genau, was er eigentlich mit mir anfangen soll... Wenn er da ist, habe ich keine Angst. Wenn er da ist, habe ich das Gefühl, alles bewältigen zu können. Ich will noch nicht sterben. Nicht, bevor ich ihm nicht wenigstens meine Liebe beweisen konnte... und dann habe ich mich auch noch nicht für den Mist entschuldigt, den ich ihm früher angetan habe. Ich muss diese Scheiße überstehen, irgendwie..." Traum-Kyle lächelte und küsste Eric auf die Stirn. „Du wirst es überstehen, solange du an dich glaubst und deinen Freunden vertraust. Ich bin sicher, sie werden alles versuchen, um dich zu finden und zu befreien. Besonders Kyle. Er kann nicht mit dir, aber ohne dich kann er erst recht nicht. Kenny ist dein bester Freund und Stan... nun, Stan würde dich wohl auch einen Freund nennen. Keinen sehr geschätzten Freund, zugegeben, aber im Sommer hat eure Clique fünfzehnjähriges Jubiläum. Stan wäre die letzte Person auf der Welt, das zu ignorieren. Fürchte dich nicht, Eric. Euch vier kann nichts aufhalten, nicht wahr? Ihr seid unschlagbar?" „Ja. Ja, wir sind unschlagbar." Eric blinzelte. Das warme Licht des Traums wich dem erbarmungslos grellen Leuchten der Glühbirnen und er hörte, wie der Mann, der ihn gefangen hatte, am Projektor herumhantierte. Er war zurück in seinem persönlichen Horrorfilm. „Showtime, mein Junge! Wir sind noch nicht fertig! Heute zeige ich dir ein paar Bilder aus meiner Porträtphase! Du wirst es lieben!" Erics leerer Magen füllte sich mit Ekel und Entsetzen. Hätte ihn der „Right Hand"-Killer bedroht, hätte er darauf reagieren können, doch diese absurde, beinahe kindliche Heiterkeit war weitaus verstörender. Selbst als er ihm ins Bein geschossen hatte, war er so... so unbekümmert gewesen, als hätte er ihm lediglich Stubenarrest erteilt. Auch hatte Eric jegliches Zeitgefühl verloren und fragte sich, wie viele Stunden oder Tage zwischen seinen Wach- und Schlafphasen vergangen sein mochten. Vor ihm standen die unvermeidliche Flasche Wasser und ein Plastikteller mit zwei großen Pizzastücken. „Ah, ja, dein Essen, diesmal vom Italiener. Ich hoffe, heute behältst du es bei dir, schließlich will ich, dass du meine Kunst in wohlversorgtem Zustand würdigst! Ich habe sogar deine Wunde verbunden! Gut, die Kugel steckt noch drin, aber das ist allenfalls ein Kollateralschaden. Du wirst ohnehin sterben, habe ich nicht recht?" Er löste Erics rechte Handschelle, schloss sie aber gleich darauf wieder um eine Strebe der Stuhllehne, damit sein Opfer nur eine Hand frei hatte. Der Siebzehnjährige aß in eisigem Schweigen seine Pizza, während eine neue Reihe Dias vor ihm abrollte. „Hier habe ich meinen Lehrer porträtiert. Sieht er nicht sensationell aus?" Die Züge des Lehrers waren naturgetreu wiedergegeben worden, aber der „Künstler" hatte allerlei Insekten hinzugefügt, die über sein Gesicht oder aus Ohren und Nase krochen. Sie wirkten widerlich real und Eric schüttelte sich. „Sehr schmeichelhaft. Was hat denn Ihr Lehrer dazu gesagt?" „Er fand, es sei zu morbid und war insgesamt etwas enttäuscht. Vielleicht hätte ich lieber einen Strick um seinen Hals malen sollen..." „Ja, das hätte er sicher nicht morbid gefunden!" „Sarkasmus, mein Junge? In deiner Lage? Ich bin begeistert! Es wird richtig Spaß machen, dich zu töten. Du wirst das Meisterwerk meiner Sammlung!" Als nächstes folgten verschiedene Porträts von Gefängnisinsassen oder Wachleuten. Alle waren ihren Vorbildern gut nachempfunden (soweit Eric das beurteilen konnte), doch seinem Entführer war es immer wieder gelungen, die Darstellung zu verunstalten. Einer der Porträtierten sah wie ein Zombie aus, ein anderer wie ein Pestkranker, übersät mit schwarzen Beulen. „Tod und Verwesung über alles, das ist wohl Ihr Credo, he?" „So könnte man es formulieren. Schön, nicht wahr?" „Ich wünschte, Sie würden tot umfallen." Der Killer lachte. „Warte unsere kommende Sitzung ab, Eric. Dann erst wirst du das Ausmaß meiner Kunst begreifen können. Und in der darauffolgenden Sitzung... nun, wirst du die Ehre haben, bei der Erschaffung eines neuen Werkes dabei zu sein." „...Es gibt nur noch zwei Sitzungen?" Der Mann nickte bedächtig. „Ja. Es wird dir gefallen." Es hätte nicht viel gefehlt und Eric hätte seine Pizza hochgewürgt. Er trank ein paar hastige Schlucke Wasser, um den Brechreiz zu unterdrücken und bekam nur halb mit, wie seine rechte Hand wieder angekettet wurde. Kalte Angst presste ihm das Herz zusammen. Er würde sterben. Wenn ihn hier niemand herausholte, würde er sterben. Sterben! „Oh, und Eric?" Er wandte sich der schmeichlerischen Stimme zu, die er zu hassen gelernt hatte. „Ich habe ein bisschen in deinen Sachen gewühlt und zwei hübsche Fotos in deinem Portemonnaie gefunden. Wer ist denn der süße Rotschopf? Ein Freund von dir?" „WAGEN SIE ES NICHT, IHN ANZUFASSEN, SIE PERVERSES ARSCHLOCH!!!!" „Na, na, na, was für eine böse Reaktion. Das lässt tief blicken. Du magst diesen Jungen?" „..." „Wer ist er?" „..." „Nun rede schon! Auch meine Geduld ist begrenzt, mein Bester. Ich könnte ihn zu unserer letzten Session einladen, weißt du? Leider muss ich noch einmal kurz weg, weil mir das Narkosemittel ausgegangen ist. Ich wusste, ich hätte mehr besorgen sollen, das habe ich jetzt davon. Ich werde dich also einen Moment allein lassen. Wenn ich zurück bin, solltest du etwas gesprächiger sein und mir den Namen des Rotschopfs verraten. Ich interessiere mich für ihn und kann es absolut nicht ausstehen, wenn mir Informationen vorenthalten werden. Bis später!" Das Licht wurde ausgeschaltet und Eric saß erneut in undurchdringlicher Finsternis. Irgendwo öffnete sich eine Tür und fiel schwer ins Schloss. Der Bastard „interessierte" sich für Kyle. »Nein...! Nicht Kyle...! Nicht Kyle!! NICHT KYLE!!!« Eric ließ den Kopf sinken und fing an zu weinen. *** Es war immer noch der siebte Tag seit Cartmans Verschwinden. Es war immer noch der Vormittag, an dem die Freunde es erfahren hatten. Es war immer noch der 26. Oktober, kurz vor halb elf, und die Gruppe hockte teilnahmslos auf einer Bank am Ufer von Stark‘s Pond und schien nichts mit sich anfangen zu können. „Also, die Story?", fragte Kenny in die Stille hinein. „Welche Story?" „Die von dir und deiner Untergrundorganisation, Stan. Leg los." „Ach so... wenn‘s dir Spaß macht. Ihr erinnert euch noch an die Rivalität zwischen den Goths und den ‚Vampiren‘? Während ich Anführer war, habe ich beide Parteien an einen Tisch gebracht und ihnen erklärt, dass es sinnlos ist, sich zu bekämpfen, besonders, wenn man sich so ähnlich ist. Zuerst hagelte es Proteste von allen Seiten, aber dann bin ich... bin ich laut geworden und habe ihnen meine Idee beschrieben." Stan wurde nicht im klassischen Sinn „laut". Er hob zwar die Stimme, wenn er verärgert war, doch er blieb dabei nach außen völlig ruhig. Was sich statt dessen deutlich verstärkte, waren seine sarkastischen Spitzen, die er so treffsicher und schnell abschießen konnte wie ein Schütze seinen Pfeil. Niemand war sehr glücklich, wenn Stan Marsh „laut" wurde. „Und deine Idee war, Schnüffler aus ihnen zu machen?" „Ja. Das ist nicht so weit hergeholt, wie es klingt. Wo du gehst und stehst, kann es dir passieren, dass du über einen Goth oder Vampir stolperst. Der einzige Ort, wo sie höchstwahrscheinlich nicht sind, ist die Schule. Sie rauchen, trinken Kaffee oder Tomatensaft, beobachten Menschen, belauschen Gespräche und tauschen Klatsch aus, und das den ganzen Tag, im Falle der Goths begleitet von schwermütigen Versen, im Falle der Vampire begleitet von schwülstiger Prosa. Peitsch sie in Form und die graben dir in kürzester Zeit die geheimsten Informationen der Stadt aus, mit Garantieschein." Kenny wurde etwas rot um die Nase. „Und du hast sie... äh, in Form gepeitscht?" „Ohne Disziplin kann man so einen Job nicht professionell angehen. Es war aber nicht wirklich schwierig, sie zu überzeugen, da ich ja im Grunde nur von ihnen verlangt habe, das zu tun, was sie sowieso am liebsten tun: Herumspionieren. Außerdem war ich da schon mit Victor zusammen - und dass ich Mike gefiel, dem Anführer der Vampire, hat meinem Einfluss sicher auch nicht geschadet." „Kein Wunder, dass du bei denen ‘ne regelrechte Legende bist... Du hast ihnen eine Aufgabe gegeben, die ihnen Spaß macht und mit der sie Geld verdienen können, ohne dass sie ‚Konformisten‘ werden müssen. Was sagst du dazu, Kyle? ...Kyle?" Der Angesprochene hatte der Unterhaltung seiner beiden Freunde nur mit halbem Ohr zugehört. Er blickte auf den glitzernden See hinaus, ohne Augen für dessen Schönheit zu haben und spielte gedankenverloren mit einem Stück Pappe, das er in seiner Jackentasche gefunden hatte. Es schien, als wäre er überhaupt nicht da. „Was ist denn das?" „Hä...?" Stan nahm Kyle das Stück Pappe aus der Hand und studierte es. „Ein Probiergutschein vom ‚Weberstübchen‘? Seit wann magst du deutsche Konditorspezialitäten?" „...Bitte? Oh... ach ja, ich erinnere mich... Cartman hat mir den Gutschein geschenkt. Auf der Party. Er hat gesagt, die Tochter des Eigentümers will mich kennen lernen. Sie ist mit ihm befreundet. Ich habe das Kärtchen erst in meine Hosentasche und später in meine Jacke gesteckt... mit der Absicht, es dort zu vergessen." „Schäm dich. Denkst du etwa, bloß weil sie Deutsche ist, ist sie ein Nazi? Wisst ihr was? Wir gehen da jetzt hin! Meine Eltern waren schon öfter dort und beide finden es ‚zauberhaft‘. Was meint ihr?" „Ich bin dabei, Alter... und für Süßkram bin ich immer zu haben!" „...Muss ich wirklich mitkommen, Stan? Ich habe Angst, dass ich mich vielleicht danebenbenehme... Und was ist mit Cartman?" „Dem können wir im Moment nicht helfen, wir haben getan, was wir konnten. Bis ‚Nevermore‘ Informationen für uns hat, können wir gar nichts unternehmen. Sei kein Feigling, die Tochter wird dich bestimmt nicht beißen." Kyle seufzte und stand auf. „Also gut." „He, wenn sie ‘n steiler Zahn ist, dann lasst mich ran, okay?" „Wieso? Hältst du dich für unwiderstehlich, oder was?" „Nun, ich wackle ein wenig mit meinen Augenbrauen und warte auf deine Antwort", entgegnete Kenny mit charmantem Grinsen. Stan blieb ungerührt. „Jetzt komm schon, Kumpel! Diesem Blick kann niemand widerstehen! Du könntest ruhig etwas mehr Begeisterung zeigen!" Der Schwarzhaarige musterte ihn und sagte schließlich so gelangweilt wie nur irgend möglich: „Woohoo, extra hoo. War‘s das? Wenn du glaubst, dass ein bisschen Augenbrauenwackeln etwas bei mir auslöst, hast du recht. Es reizt mich zum Gähnen." Sogar Kyle musste schmunzeln. Stan hakte ihn unter und Arm in Arm machten sich die Freunde auf den Weg. Kenny trottete angesäuert hinterdrein. »Ich schwöre bei Gott, das ist einer dieser Momente, wo ich nicht weiß, ob ich Stan jetzt umbringen oder ihm das Gehirn rausvögeln soll... nein, stop! Falscher Gedanke, ganz falsch!!« Das Weberstübchen war um diese Uhrzeit vornehmlich ein Treff für Senioren und so staunte Petra erst einmal, als drei junge Kerle die Konditorei betraten. Der erste trug ein auffälliges schwarzes Lederensemble, der zweite einen orangefarbenen Parka und der dritte hatte prächtiges rotes Haar... he, rotes Haar...? Oh, das konnte nur Kyle Broflovski sein - und das bedeutete, die anderen waren Stan Marsh und Kenny McCormick. Petra überprüfte den Sitz ihrer Schürze und steuerte auf die Burschen zu, die inmitten der gemütlichen Einrichtung reichlich deplatziert wirkten. „Herzlich willkommen im Weberstübchen. Was kann ich für euch tun?" „Oh, guten Tag. Haben Sie noch einen Tisch frei?" „Wegen des schönen Herbstwetters haben wir auch draußen gedeckt. Möchtet ihr rausgehen oder lieber hier drin bleiben?" „Wir möchten lieber drinnen sitzen, danke." Das war ungewöhnlich für Gäste in diesem Alter, die normalerweise frische Luft bevorzugten, solange draußen noch keine arktischen Temperaturen herrschten. Sie machten einen betrübten Eindruck, als hätte ihnen irgendetwas gründlich die Laune verdorben. „Ihr habt Glück, wir haben noch einen freien Tisch in dieser Nische da drüben. Er liegt etwas abseits, so dass ihr nicht zu sehr den Gesprächen der anderen Leute ausgesetzt seid. Folgt mir." Sie führte sie an den beschriebenen Tisch und die Jungen nahmen Platz. „Wir... wir haben einen Gutschein", sagte Kyle schüchtern. „Können wir den einlösen?" „Natürlich, er ist sechs Monate lang gültig. Darf ich mal sehen?" Während sie so tat, als untersuche sie die Gültigkeit des Gutscheins, spürte sie Kyles Blick auf sich. Sie wollte ihm Gelegenheit geben, sie ausgiebig zu betrachten, damit er ein erstes Urteil über sie fällen konnte. Ihre Anwesenheit, oder, richtiger, ihre Nationalität, verunsicherte ihn. »Hm... groß, blond, blauäugig. Perfekt arisch. Warum sieht sie ausgerechnet so aus? Sie lächelt ganz nett, aber das muss nichts heißen... ah, was denke ich da?! Ich kenne sie überhaupt nicht und sie hat mir nichts getan!« „Der Gutschein ist in Ordnung. Ihr könnt alles aus der Karte auswählen, das euch anlacht, nur die Getränke müsst ihr bezahlen. Was wollt ihr trinken?" „Ich hätte gern einen Pfirsich-Eistee." „...Ich weiß nicht genau... Ein Glas Mineralwasser erstmal. Mit Kohlensäure, bitte." „Ich krieg ‘ne Cola... und kann ich Ihre Handynummer haben?" Petra hielt im Notieren der Bestellungen inne und zwinkerte Kenny vergnügt zu. „Wenn du acht Jahre älter wärst, könnten wir darüber reden, aber so...? Hast du keine Freundin, die du becircen kannst, du Charmebolzen?" „Ich binde mich nicht." „Oho... so einer bist du. Na, ich hole euch jetzt eure Getränke. Bis gleich." Nachdem sie davongeeilt war, meinte Kenny: „Die gefällt mir, sie ist kess. He, schau nicht so angefressen, Kyle. Du bist total verkrampft. Du benimmst dich, als ob Miss Weber auf dem Grab deiner Großmutter getanzt hätte. Gib ihr ‘ne Chance, verdammt nochmal!" „Er hat recht, Kumpel. Ich finde sie sympathisch. Ich verstehe ja, dass das nicht leicht für dich ist, eure Völker haben eine schlimme gemeinsame Vergangenheit, aber wer die Vergangenheit nicht ruhen lassen kann, ist in meinen Augen ein Idiot." „Das ist mir auch klar. Trotzdem fühle ich mich ein bisschen unwohl, ich kann‘s nicht ändern. Werden wir ihr von Cartman erzählen?" „Wenn sie fragt..." Petra fragte, als sie ihre Getränke servierte. „Ihr seid Stan, Kyle und Kenny, nicht wahr? Eric ist ein guter Kunde und ein Freund von mir, er hat mir viel von euch erzählt. Warum ist er nicht bei euch, wenn ihr gemeinschaftlich die Schule schwänzt?" „Wir schwänzen nicht, wir wurden vom Unterricht befreit. Cartman ist seit dem 19. Oktober, also seit meiner Geburtstagsparty, verschwunden. Die Polizei vermutet, dass er vom ‚Right Hand‘-Killer entführt wurde." Die junge Frau wurde blass. „Aber... aber das ist ja schrecklich! Und was heißt hier, die ‚Polizei vermutet‘? Ich wohne schon lange genug in dieser Stadt, um zu wissen, dass sich die hiesige Polizei Inkompetenz auf die Fahnen geschrieben hat. Sergeant Yates hat geraten, oder?" „Sie kennen Sergeant Yates?" „Bei uns wurde vor zwei Jahren eingebrochen. Es war kaum Geld in der Kasse, der Sachschaden war jedoch beträchtlich. Yates hat den Täter nie gefunden und hat uns statt dessen irgendwelche halbgaren Theorien und Vermutungen um die Ohren gehauen, die vielleicht sehr kreativ, aber ansonsten völlig nutzlos waren. Armer Eric. Wie geht es denn seiner Mutter?" „Sie ist total mit den Nerven fertig, obwohl sie bis heute damit gewartet hat, ihren Sohn als vermisst zu melden. Okay, ‚gewartet‘ ist das falsche Wort - sie hat es verdrängt, bis sie keine Ausreden mehr hatte. Saufen und Kiffen ist ja so viel wichtiger als die eigenen Kinder." Der resignierte, bittere Ton in Kennys Stimme erinnerte Petra an Eric, wenn er von seiner Mutter sprach. Sie sah, wie Stan seine Hand tröstend auf die des Blonden legte. Kyle nippte verlegen an seinem Wasser. „...Na, dann braucht ihr etwas, um euch zu stärken, damit ihr Eric retten könnt. Wollt ihr, dass ich euch einen Probierteller zusammenstelle, oder wollt ihr einzeln aussuchen?" „Warum glauben Sie, dass wir vorhaben, Cartman zu retten?" „Weil es das ist, was ihr eben so tut, falls Erics Geschichten über eure Kindheitsabenteuer auch nur ein Körnchen Wahrheit enthalten. Ihr seid daran gewöhnt, die Initiative zu ergreifen. Nun? Probierteller oder Einzelbestellung?" „Wir nehmen den Probierteller... he, was ist ein ‚Kalter Hund‘?", erkundigte sich Stan, der sich in die Speisekarte versenkt hatte. „Ich kenne nur Hot Dogs..." „Lass dich überraschen." Der Probierteller entpuppte sich als ein großes, üppig ausgestattetes Tablett mit allerlei Kuchen und Gebäck. Jedes Stück war mit einem kleinen beschrifteten Fähnchen versehen, damit die Gäste wussten, um welche Spezialität es sich handelte. Es gab „Kalter Hund", Baumkuchen, Nussschnecken, Marmorkuchen, Gugelhupf (dieses Wort verursachte spontane Heiterkeit am Tisch), „Granatsplitter" und verschiedene Sorten von Krapfen und anderem Schmalzgebäck, sodass keine Wünsche offenblieben. Sie schmausten, bis sie stöhnend kapitulieren mussten. „Hat es euch geschmeckt?" „Absolut... aber es ist noch so viel übrig...", jammerte Kenny und betrachtete verzweifelt die leckeren Sachen, die er nicht mehr essen konnte. „Ich kann euch den Rest einpacken. Jeder eine Portion zum Mitnehmen?" „Oh ja, bitte!" Während Petra hinter der Theke drei zuckergussrosa Kartons bestückte, bot Kyle sich an, die Rechnung für die Getränke zu übernehmen. Er zählte den Betrag ab, den Petra ihm nannte und sein Blick fiel dabei auf ein schwarzweißes Bild hinter ihr an der Wand, das einen glücklich lächelnden Mann zeigte, der einen Säugling auf dem Arm hatte. „Ein hübsches altes Foto. Wer ist das?" „Mein Großvater, das Baby ist mein Dad. Er war auch Konditor und hat uns viele von seinen Rezepten hinterlassen. Leider habe ich ihn nie kennen gelernt. Er half seinen jüdischen Nachbarn bei ihrer Flucht und wurde von den Nazis erwischt. Sie haben ihn erschossen." „..." Kyle war zu bestürzt, um etwas zu sagen. Sie reichte ihm seinen Karton und er griff mechanisch danach, bewegte tonlos die Lippen. Sie lächelte. „Es hat mich gefreut, dich persönlich zu treffen, Kyle. Falls du mal jemanden zum Reden brauchst oder Eric dir auf die Nerven geht, kannst du gerne zu mir kommen. Ich drücke euch die Daumen für eure Rettungsmission. Viel Glück!" Er war schon fast an der Tür, da drehte er sich noch einmal um. „...Danke." Die nächsten Tage waren erfüllt von ängstlicher Erwartung. Jeden Moment fürchteten die Freunde, dass man im Radio oder Fernsehen vom Fund einer Leiche berichten und sie als Eric Cartman identifizieren würde. Sergeant Yates strapazierte die Geduldsfäden aller Beteiligten und Unbeteiligten mit albernen Fragen, die offenbar nur der Befriedigung seiner Klatschsucht dienten und war dabei wie gewöhnlich so taktlos, dass Liane Cartman erneut einen hysterischen Anfall erlitt, Kyle kurz davor war, ihm eine reinzuhauen und Direktor Sinclair ihm verbot, jemals wieder das Schulgelände zu betreten. Das Verschwinden des Star-Quarterbacks war zum Gesprächsthema Nummer 1 avanciert und Stan, Kenny und Kyle konnten kaum einen Fuß in die Park High setzen, ohne sofort von einer neugierigen Meute umringt zu werden. Die meisten waren nur an der Sensation interessiert; diejenigen, die Cartman persönlich kannten, wie zum Beispiel Butters, Wendy oder Patty, hielten sich diskret zurück. Niemand von ihnen brachte es so richtig über sich, sich auf die alljährliche Halloweenparty der Schule zu freuen, wo immer das beste Kostüm prämiert wurde. Schließlich kam der 31. Oktober heran. „Nevermore" hatte sich noch nicht gemeldet, was insbesondere Stan allmählich beunruhigte. Er saß zusammen mit Kenny und Kyle in seinem Zimmer und half dem Blonden bei seinem neuen Geschichtsaufsatz, während sein bester Freund über seinem Laptop brütete und Gesetzestexte für AP Recht studierte. Plötzlich klopfte es und Sharon öffnete die Tür. „Du hast Besuch, mein Schatz." Neben Stans Mutter stand ein junger Goth, etwa dreizehn Jahre alt, mit Piercings und Ketten überall. Der ehemalige „Kindergoth", der sich inzwischen in „Punk Goth" umbenannt hatte und mit Ike in eine Klasse ging. „Punk? Was tust du hier?" „Ich habe einen Auftrag. Das hier ist für dich, Raven. Mit einem schönen Gruß von Curly." Er drückte ihm einen USB-Stick in die Hand, verbeugte sich leicht und entschwand. Sharon blickte ihm kopfschüttelnd nach und kehrte zu ihrem Fernsehfilm zurück. Manchmal konnte sie sich über die seltsamen Bekanntschaften ihres Sohnes nur wundern. „Sind das unsere Infos?" „Sieht ganz danach aus. Los, ab in den Laptop damit." Auf den USB-Stick waren mehrere Dateien gepackt worden. Die erste war „Curlys Notiz", die Stanley sofort anklickte. Lieber Raven, wir haben getan, worum du uns gebeten hast. Ich fürchte sehr, ich habe schlechte Nachrichten für dich und deine Freunde. Alle Spuren führen zum „Right Hand"-Killer. Im Gegensatz zu Sergeant Yates kann „Nevermore" dies auch beweisen. Michael Deets, der „Left Hand"-Killer, zog mit seiner „Mordkunst" einen Häftling im Park County Gefängnis in seinen Bann. Dieser Häftling hatte zehn Jahre abzusitzen (ursprünglich dreißig, bevor unser dämlicher Gouverneur die Resozialisierungsnummer aus dem Boden stampfte) und sprach immer wieder offen über seine Bewunderung und Verehrung für Deets. Sein Name ist Owen Everett, 61, ehemals wohnhaft in North Park, Colorado, zur Last gelegt werden ihm: Betrug und versuchter Mord. Jetzt hat er sich zum waschechten Mörder entwickelt und versucht wohl, Deets‘ Taten zu wiederholen. Ja, er ist ein Nachahmungstäter. Der Tod seines Idols hat ihn tief getroffen. Der Gefängnispsychiater sagt aus, dass Everett in einen regelrechten Trauerzustand verfallen sei, nachdem Deets erschossen wurde. Wie euch sicher bekannt ist, galt Eric Cartman zu dieser Zeit als Medium. Er wurde von Deets entführt, weil er ihn in der „Ausübung seiner Kunst" gestört hatte (Aussage des achtjährigen Eric Cartman, aufgenommen nach seiner Befreiung). Deets hatte die feste Absicht, ihn zu töten, was jedoch durch die Polizei verhindert werden konnte. Die Identität des Killers und seine Adresse wurden Yates durch ein echtes Medium mitgeteilt: Durch Kyle Broflovski, der nach einem Sturz vom Dach tatsächlich mit der Gabe des zweiten Gesichts gesegnet war. Diese Gabe hat er inzwischen verloren. Da es um Kyle keinen Medienrummel gab, ist seine Beteiligung an der Aufklärung dieses Falles unter den Teppich gekehrt worden - ganz davon abgesehen, dass sich Yates nicht von einem Achtjährigen den Rang ablaufen ließe. Meine These ist, dass Everett wirklich an Cartmans Kräfte glaubt und deshalb überzeugt ist, er habe die Polizei zu Deets geführt und sei indirekt für seinen Tod verantwortlich. Er will Rache. Wenn er sich als Deets‘ geistiger Nachfolger versteht, betrachtet er seine Morde wahrscheinlich als Kunstwerke und wird Cartmans Tod als solches zu inszenieren wünschen. Die Leichen des „Right Hand"-Killers wurden bisher immer an öffentlichen Orten gefunden. Zwischen dem Verschwinden seiner Opfer und ihrer Wiederentdeckung vergehen im Schnitt zehn bis zwölf Tage. Rechnen wir vom 20. Oktober an, ist heute der zwölfte Tag. Wir können vermuten, dass Cartman jetzt noch lebt, aber seine Chancen verringern sich mit jeder Stunde. Anbei findest du eine Datei mit Everetts biographischen Daten und sein Foto aus der Gefängniskartei. Die dritte Datei enthält Spekulationen zu seinem Aufenthaltsort. Wir haben vier mögliche Orte ausgewählt, die seinen Zwecken dienlich wären und wo die Anwohner in den letzten Monaten umherstreifende Unbekannte gemeldet haben. Ich hoffe, dass dir diese Informationen etwas nützen und es dir gelingt, Cartman zu retten. Aber dir gelingt eigentlich alles. In treuer Verbundenheit, Curly „Gut. Wir drucken alles aus, was ‚Nevermore‘ uns geliefert hat. Dann ziehen wir uns unsere Kostüme an und suchen diesen Geisteskranken!" „Wolltest du deshalb, dass wir unsere Kostüme mitbringen? Denkst du nicht, dass wir damit zu sehr auffallen?" „Heute ist Halloween, Kenny, und die Schule veranstaltet eine große Party. Kinder gehen hinaus, um Süßigkeiten zu sammeln. Die halbe Stadt wird unterwegs und verkleidet sein. Wir würden ohne Kostüm auffallen!" Eine halbe Stunde später hockte Kyle auf dem Wohnzimmersofa und wartete auf seine Kameraden. Wieder und wieder las er Curlys Botschaft und seine Schuldgefühle schnürten ihm fast die Kehle zu. Er war derjenige, den Everett wirklich wollte, er hatte Deets in den Untergang getrieben, nicht Cartman! Und trotzdem... trotzdem war es nun Cartman, der sich in den Händen eines Verrückten befand und Angst um sein Leben haben musste! Was mochte ihm dieses Scheusal angetan haben? Hatte er ihn gefoltert? Hatte er ihn hungern lassen? Hatte er ihn vielleicht sogar... angefasst!? Kyles Magen rebellierte und er begann, tief und gleichmäßig zu atmen, um den bitteren Geschmack aus seinem Mund zu vertreiben. Was, wenn sie zu spät kamen? Was, wenn Cartman bereits... »Nein, das wird nicht passieren! Es darf nicht passieren! Ich könnte seiner Mutter nicht mehr in die Augen sehen! Ich könnte niemandem mehr in die Augen sehen, nicht einmal mir selbst! Aber Cartman... ist zäh, nicht wahr? Er hat die Sache mit Deets überstanden, also warum sollte er das hier nicht auch überstehen? Er ist eine Kämpfernatur, oder nicht?! Er lässt sich von nichts unterkriegen! Er gibt nie auf! Er darf nicht aufgeben...!« Ein Rascheln schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Es war Kenny, der einen zerrissenen schwarzen Umhang mit Kapuze trug, der so lang war, dass er am Boden schleifte. Eine grausige Totenkopfmaske verbarg sein Gesicht. „Was stellst du denn dar? Den Grim Reaper?" „Genau den. Und wer bist du, ein irrer Zahnarzt?" Kyle steckte in einem hochgeschlossenen Laborkittel; schwarze Gummistiefel und schwarze Gummihandschuhe sowie eine toupierte schwarze Perücke mit zwei weißen Haarstreifen links und rechts vervollkommneten das Kostüm. „Ich bin ein verrückter Wissenschaftler. Oder ein wahnsinniges Genie, was dir lieber ist. Von mir aus auch ein irrer Zahnarzt." „Wahnsinniges Genie? Na, von deinem Genie habe ich noch nicht viel gesehen..." „Mach so weiter, Ken, und du siehst eine Menge von meinem Wahnsinn." „Ui, da grusel‘ ich mich aber ganz furchtbar!" „Kitzelt mich mal, damit ich lachen kann", erscholl Stans Stimme. „Wir haben keine Zeit für Scherze, Cartmans Leben ist in Gefahr." Er war als klassischer Vampir verkleidet, stilecht mit französischem Mantel in Königsblau, Rüschenmanschetten, Halstuch, Stiefeln und schwarzem Cape. Kenny stieß einen bewundernden Pfiff aus. „Bist du gerade von Anne Rice überfallen worden oder wo hast du das her?" „Aus dem Kostümverleih. Auf geht‘s, Jungs - wir müssen einen Freund befreien!" Es war zwar erst sieben Uhr, aber schon dunkel. Die Straßenlaternen wetteiferten mit den Kürbislaternen um das unheimlichste Licht und fast jedes Haus war schaurig dekoriert, mit Knochengirlanden, Fledermäusen, Spinnennetzen oder sogar Blutflecken für den besonderen Horroreffekt. Einige Wände sonderten grünen oder lila Schleim ab, manche Vorgärten zierten Grabsteine oder Gespenster und wieder andere sahen aus wie Draculas Zweitwohnsitz oder Frankensteins Ersatzlabor. Die bunten, düsteren, schrillen, harmlosen oder furchteinflößenden Maskierungen, die die Menschen angelegt hatten, verwandelten South Park in einen surrealen Ort, der Tim Burtons Gehirn hätte entsprungen sein können (obwohl bereits das „normale" South Park dazu neigte, in jede Menge surrealen Kram verwickelt zu werden). Auf ihrem Weg begegneten sie auch etlichen ihrer Mitschüler: Butters etwa, der als Vampirjäger verkleidet war und sogleich einen Pflock zückte, als er Stan bemerkte; Craig, der als Zombie durch die Gegend wankte, begleitet von einem Seemonster (Tweek), Dr. Frankensteins neuestem Experiment (Clyde) und der Mumie eines ägyptischen Prinzen (Token); Jimmy und Timmy waren beide Werwölfe, während Gregory als Phantom der Oper und Pip als Kopfloser Reiter die Straßen unsicher machten; Bradley spukte als Geist und Wendy und Bebe schwangen ihre Zauberstäbe, um ahnungslose Passanten zu verhexen. Damien schließlich, kam einfach als er selbst - allerdings in seiner wahren, teuflischen Gestalt, komplett mit Schwanz, blutroter Haut, krallenartigen Fingernägeln, geschwungenen Hörnern und imposanten Fledermausflügeln. „Guten Abend, Luzifer", flüsterte ihm Kenny beim Vorbeigehen zu. „Guten Abend, mein Freund. Was für ein passend gewähltes Kostüm. Ich hoffe, du wirst heute keine echten Todeskräfte bemühen müssen." Der Jüngere blieb stehen und starrte Satans Sohn ernst an. „Was weißt du?" „Nicht mehr als du, glaub mir. Aber der Typ, mit dem ihr es aufnehmen wollt, ist jemand, der zu seinem Vergnügen mordet. Er wird sich nicht von drei High-School-Schülern aufhalten lassen. Wenn er wirklich entschlossen ist, Cartman zu töten, wird er nicht davor zurückschrecken, euch mit ins Jenseits zu befördern. In deinem Fall wäre das unproblematisch, du würdest wieder auferstehen, aber Stan und Kyle haben nur ein Leben." „Und ich werde alles tun, um diese Leben zu schützen, Luzifer, denn sie sind mir kostbar. Ich bin kein gewöhnlicher High-School-Schüler, ebensowenig wie du." „...In der Tat. Nun, Kenneth, vergiss nicht: Du hast Flügel. Benutze sie." „Das werde ich." Er verabschiedete sich von Damien und schloss zu seinen Freunden auf. Stan hatte die Unterlagen mit den möglichen Aufenthaltsorten aus einer Tasche seines Mantels gezogen und las sie nun gründlich durch. „Vier Alternativen! Welche ist die richtige? Ich glaube nicht, dass wir noch lange herum probieren sollten!" „...Und was ist, wenn es schon längst zu spät ist?", meldete sich Kyle zu Wort und seine Stimme klang verzagt und ängstlich. „Was ist, wenn Everett sein krankes Spiel längst beendet hat? Was ist, wenn wir nur noch Cartmans Leiche bergen können?! Was ist, wenn unsere Bemühungen sinnlos sind und wir auch noch draufgehen?!" „Kyle!!" Stan packte ihn an den Schultern und fixierte ihn. „Ich weiß, du machst dir jetzt Vorwürfe, weil du derjenige bist, dem Everetts Rache gelten sollte! Ja, wir wissen nicht, ob Cartman noch lebt, aber wenn wir aufgeben, nur weil wir vielleicht zu spät kommen, verschenken wir die letzte kleine Chance, ihn doch zu retten! Du hast Angst? Ich auch. Wir wären Dummköpfe, wenn wir keine Angst hätten. Aber wir haben zusammen schon so viel Scheiße durchgestanden, dass wir auch das hier schaffen können! Es ist an uns, Kyle - es ist immer an uns, so ist das nun mal! Cartman braucht uns! Und so verrückt es sich anhört, wir brauchen Cartman auch! Er war stets an unserer Seite, egal, wie sehr die Kacke am Dampfen war! Er war an unserer Seite... mehr als zehn Jahre lang! Es gibt Freundschaften, die an Kleinigkeiten zerbrechen, doch es gibt auch Freundschaften, die jede Katastrophe überleben! Und ob es uns gefällt oder nicht, Cartman ist unser Freund! Wir sind es ihm schuldig, ihm zu helfen! Selbst wenn wir scheitern, was sollen wir sonst tun? Uns abwenden und sagen: Das geht uns alles nichts an? Das betrifft uns nicht? Das kann ich nicht. Wir können es nicht. Cartman ist ein waschechtes Arschloch, aber er vertraut uns! Er liebt dich! Er ist Kennys bester Freund! Er... verdammt, er mag mich, obwohl ich keine Ahnung habe, wieso! Wir können ihn nicht im Stich lassen, Kyle! Er zählt auf uns!" Kenny sah den Schwarzhaarigen bewundernd an. Wie schaffte er es bloß immer, so direkte, schonungslos offene Worte zu finden? Wenn man ihm zuhörte, fühlte man sich plötzlich viel mutiger, als würde man von innen heraus gestärkt. Stan konnte überzeugen, motivieren, mitreißen... oder jemanden mit dem gleichen Elan und einer Salve Sarkasmus auseinander nehmen. In seinem eleganten Kostüm erinnerte er Kenny an in Seide gehüllten Stahl, weich und sanft nach außen, aber innen hart und unbeugsam. Es stimmte, die Zeit lief ihnen davon. Sie konnten nicht auch noch untersuchen, wo Cartman eventuell gefangengehalten wurde, nachdem sie schon so lange auf ihre Informationen hatten warten müssen (obgleich man nicht vergessen durfte, dass Yates nach wie vor nichts zustandegebracht hatte). Aber sie mussten natürlich vorher wissen, mit wem sie es zu tun haben würden. Er konnte die Suche sofort entscheiden, doch durfte er seine Kräfte einfach so zeigen? »Das ist ein Notfall, Kenneth.« »Gott? Das heißt, du erlaubst mir...?« »Ja, das ist nur vernünftig. Du bist, wer du bist, also handle danach. Ich erteile dir hiermit offiziell den Auftrag, Eric Cartman zu retten und Owen Everetts sündige Seele zu richten. Bestrafe ihn mit dem Fegefeuer.« »Und wenn er bereut?« »Du wirst ihn fragen. Du wirst ihn prüfen. Lügt er, wird die Sense herniederfahren. Sagt er die Wahrheit, wird er geschont und der weltlichen Justiz überliefert. Du kennst die Prozedur, du machst es nicht zum ersten Mal. Viel Glück.« »Danke, Herr.« Die majestätische Stimme verschwand aus Kennys Kopf und er sagte: „Gib mir die Papiere, ich werde herausfinden, wo Eric steckt." „Ach ja? Und wie?" Der Blondschopf schob die Totenkopfmaske nach hinten, griff sich die vier Seiten und legte sie vor sich auf den Boden. Er kniete sich hin, breitete die Arme aus und versank in einer Trance. Stan und Kyle wollten schon gegen diesen nutzlosen Unsinn protestieren, aber es verschlug ihnen fast im selben Moment die Sprache, als Kennys ganze Gestalt von einem bläulich-weißen Licht umstrahlt wurde. Es erfasste die Papiere, sie begannen zu glühen und drei von ihnen lösten sich plötzlich auf. Die übriggebliebene Seite landete wie selbstverständlich in der ausgestreckten Hand des Beschwörers. „Eric befindet sich in der stillgelegten Farbenfabrik, im alten Industriebezirk kurz vor der Stadtgrenze, der in ein neues Wohn- und Freizeitgebiet umgebaut werden soll. Die Ecke ist voller Baustellen und außer den Arbeitern verirrt sich fast keiner mehr dahin, am allerwenigsten die Polizei. Wir brauchen ein Auto." „Kenny... was... was hast du gerade gemacht...?" „Ich kann euch das jetzt nicht erklären, Jungs. Wir müssen los!" Niemand erhob Einwände. Sie rannten zurück zu Kyles Haus und sprangen in seinen Wagen. Der Motor zündete, Kyle trat das Gaspedal durch und sie rauschten hinaus in die Dunkelheit. Stan, der neben seinem besten Freund saß, beobachtete ihn eine Weile und stellte zufrieden fest, dass die Unentschlossenheit und Zweifel von ihm abgefallen waren. Sein Gesicht wirkte beinahe grimmig, so konzentriert war er auf ihr Ziel. Stans Blick wanderte auch nach hinten zu Kenny, dessen Züge mit einem Mal von einem Ernst und einer Reife gekennzeichnet waren, die er bisher nur selten an ihm hatte bemerken können. Bei all den perversen Sprüchen und albernen Witzen, die er so gerne vom Stapel ließ, vergaß man leicht, dass er heldenhaft und selbstlos sein konnte. Zum Beispiel war er einst freiwillig in die Hölle hinabgestiegen, um die Welt zu retten. Und in seiner Rolle als „Mysterion" hatte er Ungerechtigkeiten zu bekämpfen versucht und war damit sogar erfolgreich gewesen. Aber magische Kräfte? Das war neu. Ob das mit seinen ständigen Todesfällen zusammenhing? Kenny war anders, doch da in South Park so vieles anders war, fiel seine Sterben-und-wiederauferstehen-Nummer nicht besonders ins Gewicht. Außer für ihn selbst, natürlich. Nun jedoch schien es, als gäbe es da ein größeres Geheimnis, das er heute mit ihnen teilen würde. „Alles in Ordnung, Stan?" Er erschrak, weil er nicht damit gerechnet hatte, von dem anderen angesprochen zu werden und fühlte sich erröten, als ihn ein intensiver Blick aus Kennys himmelblauen Augen traf. Er drehte sich verlegen um und starrte auf die Straße. Sie fuhren an lachenden Kindern vorbei, die für „Trick or Treat" an den Haustüren klingelten, vorbei an einer Gruppe schaurig verkleideter Teenager, die auf dem Weg zur Schulparty waren und Erwachsene erschreckten, vorbei an Kürbissen, Grabsteinen, Geistern und Fledermäusen. Halloween hatte begonnen. Puh... es war nicht einfach, Everett zu schreiben und ich hoffe, er kam creepy genug rüber. Das nächste Kapitel wird voraussichtlich "The Dark Angel: 3. Akt - All Hollows' Evening" heißen und Ihr werdet endlich erfahren, was es mit dem Titel auf sich hat...falls Ihr es nicht schon erraten habt! Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit und bis zum nächsten Mal!^^ Kapitel 10: The Dark Angel: 3. Akt - All Hollows' Evening --------------------------------------------------------- Hallo, liebe Leser! Ja, ich habe es endlich geschafft, das neue Kapitel zu schreiben. Es tut mir sehr leid, dass es länger gedauert hat als sonst, aber das echte Leben hatte mich am Wickel und ich habe mich einfach nicht aufraffen können, mich an diese FF zu setzen. Dann habe ich mir einige der neuen Folgen angesehen (da hinkte ich nämlich hinterher), um meine South-Park-Batterien wieder aufzufüllen und tatsächlich wurde ich wieder inspiriert!^^ Nein, leider habe ich immer noch keinen Job, ich sammle immer noch Absagen und bin sehr frustriert, aber ich werde schon durchhalten! Ich wünsche Euch viel Spaß beim Lesen! An dieser Stelle ein Dankeschön an moonie-chan, die diese FF entdeckt und mir prompt für jedes Kapitel (oder fast jedes) ein Kommi dagelassen hat. Ich freue mich immer über Feedback (und ja, ich hätte Cartman sagen lassen sollen: "Leckt mich, Leute, ich geh' nach Hause!", aber ich habe einfach nicht daran gedacht...vielleicht finde ich mal anderswo Gelegenheit^^)! Kapitel 10: The Dark Angel: 3. Akt - All Hollows‘ Evening Glücklich ist, wer das, was er liebt, auch wagt, mit Mut zu beschützen. - Ovid Eric schwamm in einem Meer aus Schmerzen. Das tagelange Stillsitzen in einer unnatürlichen Position, nur gelegentlich unterbrochen von Essens- und Toilettenpausen; die Wunde in seinem linken Bein, in der immer noch die Kugel steckte; das wiederholte Narkotisieren und schließlich die neue Verletzung, die sein Entführer ihm beigebracht hatte, weil er sich geweigert hatte, ihm Kyles Namen zu verraten - all das zermürbte ihn langsam. Seinen rechten Arm zierte jetzt ein tiefer blutiger Schnitt, den ihm der Killer mit seinem Jagdmesser zugefügt hatte. Als nächstes war seine Hand an der Reihe, da war Eric sich sicher. „Mein guter Junge", erklang die Stimme seines Peinigers, „der Moment unserer vorletzten Sitzung ist gekommen. Ich werde dir heute meine wahre Kunst in all ihrer Pracht zeigen. Du wirst dich in ihrer Ausstrahlung verlieren, das verspreche ich dir! Wie fühlst du dich? Bist du aufgeregt? Bist du neugierig?" „...Sie werden mir Ihre Opfer präsentieren, oder? Ihre Morde?" Der Mann zog ein Gesicht wie ein Kleinkind, dem man seine Süßigkeiten weggenommen hat. Er stieß einen theatralischen Seufzer aus. „Wie gemein von dir, immer alles zu erraten. Ja, ich präsentiere dir meine Morde. Aber ‚Mord‘ ist so ein hässliches Wort. Ich bevorzuge Skulptur. Oder Werkstück. Oder Geniestreich. Du bist genau wie mein Lehrer, er wusste die Arbeiten meiner reifen Schaffensperiode auch nicht zu schätzen." „Heutzutage ist jeder ein Kritiker. Ein Genie wird eben oft verkannt." „...Dein Sarkasmus ist ekelhaft, Eric. Du befindest dich in einer verzweifelten Situation. Könntest du dich bitte dementsprechend verhalten?" „..." Das Lächeln des Killers verkrampfte sich ein wenig. „Du bist sehr mutig... und sehr stolz. Und sehr, sehr dumm. Glaubst du wirklich, dass dir noch jemand helfen kann? Wenn du erst tot bist, werde ich mich nach einem neuen Opfer umsehen... Dein rothaariger Freund, zum Beispiel. Er wäre ein dankbares Versuchsobjekt." „Wenn Sie Kyle anfassen, bringe ich Sie um!!!" „Wie amüsant. Du wirst dann schon längst hinüber sein, mein Lieber, unsterblich geworden als ein weiterer Teil meiner Sammlung. Und nun, beginnen wir unser Programm!" Der Projektor warf das erste Dia an die Leinwand und Eric kniff automatisch die Augen zusammen. Er wollte sich keines dieser sicherlich grässlichen Bilder ansehen, wollte nicht wissen, was genau ihm noch bevorstand. Da spürte er kalten Stahl an seiner Schläfe. „Ich würde dir empfehlen, es dir anzuschauen. Du möchtest doch nicht, dass wir diese Sitzung überspringen und gleich zum Höhepunkt kommen, oder?" Er schluckte, seine Nerven bis zum Zerreißen gespannt, und öffnete die Augen. Vor seinem entsetzen Blick schwebte die Leiche einer jungen Frau mit blonden, zu Zöpfen geflochtenen Haaren, deren Arme über Kreuz gelegt worden waren. Die Finger der linken Hand hatte man zur Faust geballt, rechts gab es nur noch einen blutenden Stumpf. Sie trug ein weißes Kleid, auf das der Killer ein paar tote Schmetterlinge gesteckt hatte. Darum herum drapiert lagen Kindermalbücher und Buntstifte. Um ihre Stirn hatte man einen Kranz aus Stoffblumen geschlungen. Eric fragte sich, wer sie gewesen war, wer sie jetzt vermisste, wer um sie trauerte, und fühlte eine ungeheure Tränenflut in sich aufsteigen. „Ich muss bei meinen Werkstücken natürlich immer schnell agieren, weil die Leichenstarre jegliche Veränderung der Position unmöglich macht. Deshalb zeichne ich vorher immer einen Entwurf, den ich dann in der letzten Session umsetze. Was sagst du?" „...Sie... Sie sind krank! Krank und pervers!" „Sei ein bisschen vorsichtiger mit deiner Wortwahl, ja? Wenn dich dieses Bild schon so aufwühlt, wie soll das erst bei den anderen werden? Es fehlen noch fünf und die musst du auch begutachten, um meine Kunst besser begreifen zu können." „Ihre Kunst!? IHRE KUNST!?! Wenn es Ihnen von Anfang an nur um mich ging, warum haben Sie dann Menschen umgebracht, die mit Deets oder mir gar nichts zu tun haben!?!" „...Ich musste üben. Außerdem ist die Sieben eine sehr symbolische Zahl. So hat Gott in sieben Tagen die Welt erschaffen, nicht wahr? Auch ich werde mein großes Werk am siebten Tag vollenden. Freust du dich nicht, Teil davon zu sein?" „...Gott ruhte am siebten Tag, soweit ich mich erinnere. Das haut also mit Ihrer durchgeknallten Symbolik nicht ganz hin!" „...Das ist ein unwesentliches Detail." „...Und üben, he? Sie mussten üben, Leute zu ermorden!? Sechs Menschen sind tot - weil sie als Probematerial herhalten mussten!?!" Ein krampfartiges Schluchzen schüttelte ihn, Tränen liefen ihm über die Wangen. „...Ich hasse Sie!!! Sie und ein Künstler!?! Dass ich nicht lache!!! Sie... Sie sind ein Schwein!!! Ein krankes, perverses, widerliches Schwein!!! Sie sind ein Haufen Scheiße... nein, weniger noch als Scheiße!!!" Zornig brachte er seinen Stuhl zum Kippen und er fiel wie beabsichtigt gegen den Projektor, der zu Boden krachte. Die Linse zerbrach und das schreckliche Bild erlosch. In der darauffolgenden Stille war nur Erics schweres Atmen zu hören, der Killer rührte sich nicht. „Ich werde mich nicht von Ihnen fertigmachen lassen, klar!? Sie kotzen mich an und ich werde mir Ihren Dreck nicht weiter ansehen!! Sie werden für Ihre ‚Kunst‘ in der Hölle schmoren!! Das ist ein Versprechen!! Diesmal kommen Sie nicht davon!! Daran glaube ich!!" Der Mann stellte den Stuhl auf, was Eric zum ersten Mal direkt zeigte, wie kräftig er war. Er wirkte nicht verärgert, sondern verblüfft. „Du hast meinen Projektor kaputtgemacht", sagte er und sein Tonfall war fast respektvoll. „Du hast versucht, mich anzugreifen, du bis sarkastisch und beleidigend, trotz deiner Schuss- und Schnittwunde, du ruinierst meine Sitzung und verdammst mich... alle Achtung. Ich hatte nicht erwartet, dass du so ein schwerer Gegner sein würdest. Du hast Angst und du bist verzweifelt, aber ich kann deinen Willen nicht brechen. Du erstaunst mich wirklich. Ich sollte dich für deine Unverschämtheit töten, andererseits hatte ich noch nie so ein interessantes Opfer. Du bist ein ungewöhnlicher Mensch, Eric, daher gewähre ich dir eine Gnadenfrist. Weißt du was? Morgen ist Halloween. Ich könnte dir ein paar Süßigkeiten kaufen. Was magst du gern? Schokolade? Bonbons? Fruchtgummi? Kekse?" „..." „Jetzt strafe mich nicht wieder mit deinem eisigen Schweigen, mein Junge. Bedenke, es wird deine Henkersmahlzeit sein." „...Ich mag Cheesy Poofs." „Oh, du bevorzugst etwas Pikanteres? Gut. Ich nehme es dir zwar übel, dass du den Projektor zerstört hast, aber nun ja, du wirst mein bestes Werk sein und bist dessen auch würdig, da kann ich...nein, da sollte ich netter sein. Du darfst ein letztes Mal Halloween feiern, das ist doch schön! Dein mangelndes Kunstverständnis ist allerdings beklagenswert." Er zückte eine Spritze und lächelte. „Ruh dich aus, damit du fit bist." *** Eric wurde Stunden später noch eine weitere Dosis Schlafmittel verabreicht und er kam erst wieder vollständig zu Bewusstsein, als er ein unerträglich gut gelauntes „Happy Halloween!" hörte. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er in einer Bleihaube gefangen und der Schmerz in seinem angeschossenen Bein hatte deutlich zugenommen. Auch sein Atem ging schnell und flach. Ein schlechtes Zeichen. Hatte sich die Wunde entzündet? „Ich sagte: Happy Halloween! Sei nicht so unkooperativ, Eric, hab‘ noch ein bisschen Spaß! Ich meine, du wirst nie wieder welchen haben, sobald ich mit dir fertig bin, nicht wahr? Und hier, wie versprochen, eine Portion Cheesy Poofs! Ich habe auch dekoriert! Wie findest du es?" Auf dem Tisch, auf dem eine schwarze Tischdecke ausgebreitet worden war, standen tatsächlich eine Schüssel mit Cheesy Poofs und ein Glas Kürbissaft. Auf dem Boden waren erschreckend naturgetreue Spinnen und Schlangen aus Plastik verstreut und über die Glühbirnen hatte man künstliche Jack-O‘-Lanterns gestülpt. Normalerweise fand Eric sie lustig, aber nun erschienen sie ihm wie ein Reigen höhnisch lachender Gespenster mit unheimlichen Fratzen, die auf seinen Tod warteten. Er wollte nach Hause. Er wollte nach Hause zu seiner Mutter. »Mom... wie geht es dir, ohne mich? Kommst du zurecht? Wenn heute Halloween ist, warst du fast zwei Wochen allein. Wie hast du das ausgehalten? Bist du zusammengebrochen? Wer hat sich um dich gekümmert? Wer hat dir dein Essen gekocht und das Haus geputzt? Machst du dir Sorgen um mich, wenigstens ein bisschen? Oder hast du dich ins Delirium gekifft? Wäre nicht das erste Mal. Und trotzdem... trotzdem hast du mich getröstet, wenn ich traurig war, hast auf mich aufgepasst...Warum konntest du nicht stärker sein? Du erträgst es nicht, allein zu sein, aber bin ich dir denn nicht genug? Bin ich nicht dein Sohn? Manchmal warst du streng mit mir, aber du hast mir so gut wie nie Grenzen gesetzt, hast mich wie deinen Freund behandelt, nicht wie dein Kind. Was kann ich denn tun, damit du dich nicht mehr so einsam fühlst? Du willst dich selbst nicht ändern, und ich soll alles schultern, was es zu schultern gibt. Wenn du nicht bereit bist, dein Leben in die Hand zu nehmen, kann ich dich nicht zwingen. Veränderung kommt von innen. Du bist kein schlechter Mensch, Mom. Im Gegenteil. Du bist freundlich und großzügig ...aber du bist auch schwach. Du läufst vor deinen Problemen immer nur davon! Und ich? Ich bin so... machtlos... und hilflos. Ich dringe nicht zu dir durch! Meine Vorwürfe sind wie ins Leere gesprochen, meine Wutausbrüche prallen an dir ab, nicht einmal, wenn ich kurz vorm Heulen bin, kriege ich mehr aus dir raus als ein ‚Ich brauche das, Poopsiekins‘ oder ‚Du verstehst das nicht, mein Baby‘! ‚Mein Baby‘... Dein ‚Baby‘ wird sterben, Mom. Wie wirst du das verkraften? Du erträgst es nicht, wenn dich einer deiner längerfristigen Lover verlässt und stürzt dich danach gleich in eine Sauforgie oder dröhnst dir sonst wie das Gehirn zu! Was wirst du erst tun, wenn man meine Leiche findet!? Was wirst du tun!?!« „Was ist? Gefällt dir die Dekoration nicht?" „...Sie ist... gruselig." „Ah, wenigstens ein Zugeständnis! Ich werde jetzt rechts deine Handschelle lösen, damit du essen und trinken kannst. Und dann ist da natürlich noch mein Entwurf für dein Kunstwerk! Hier, sieh es dir an! Ich habe mir Mühe gegeben!" Eric schüttelte seinen befreiten Arm, knabberte mechanisch ein paar Cheesy Poofs und starrte auf das Papier, auf dem eine sorgfältig schattierte Bleistiftskizze sein Ende zeigte. Er lag auf dem Boden, um ihn herum ein Kreis aus brennenden Kerzen, die schwarze Tischdecke war als eine Art Leichentuch drapiert und ein Messer steckte in seinem Herzen. Richtig, der „Right Hand"-Killer erstach seine Opfer. Das hatte er ganz vergessen. Und wie bei der jungen Frau, die er gesehen hatte, endete sein rechter Arm in einem blutigen Stumpf. Das Blut war das einzige auf dem Bild, das mit roter Farbe gemalt worden war. Vermutlich des künstlerischen Effekts wegen. Blut, ja. Blut. Moment mal. „Warum blute ich!? Wenn ich tot bin, sollte es kein Blut mehr geben! Sie töten Ihre Opfer und schneiden ihnen danach die Hand ab! Warum ist da Blut!?" „Wie aufmerksam du bist! Eine Verletzung, die nach Eintritt des Todes zugefügt wird, blutet im Regelfall nicht. Es stimmt, bei fünf meiner Werkstücke habe ich es so gehalten. Beim ersten und beim letzten jedoch nicht. Um der Symbolik der Sieben noch einen weiteren ästhetischen Aspekt hinzuzufügen, wollte ich meinen Werkzyklus mit einer blutigen Amputation beginnen... und ihn mit einer blutigen Amputation beenden." Das nackte Entsetzen in Erics Gesicht amüsierte ihn. Er lachte. „Ja, mein lieber Junge. Das bedeutet, du wirst mitkriegen, wie ich deine Hand abtrenne. Das wird für dich sicher kein Vergnügen sein. Anders als ein Metzger, der ein Beil benutzt und einen einzigen Schlag benötigt, um Gliedmaßen zu zerteilen, werde ich dein Fleisch mit einem Messer schneiden. Eine herrlich qualvolle Methode. Für den Knochen werde ich allerdings ein Beil verwenden müssen, obwohl mir dieses rohe Instrument wirklich nicht sehr zusagt. Zum Schluss werde ich mein Messer in dein Herz bohren. Du musst verstehen, du bist das große Ziel meiner Rache. Ich kann es dir nicht erleichtern." „Und die junge Frau!?! Warum musste sie diese Qual erleiden, wenn Sie sich an mir rächen wollen!? Sie war völlig unschuldig, genau wie die anderen!!!" „Nur Säuglinge und sehr kleine Kinder sind ‚völlig unschuldig‘, mein Bester. Nein, sag nichts! Kinder können genau wie Erwachsene bemerkenswert grausam sein. Das reine Böse existiert, Eric. Ich spreche nicht von Dämonen oder dunklen Mächten, sondern vom Bösen in uns Menschen. Meine beste Freundin zum Beispiel. Sie war ein bezauberndes Mädchen, kam aus einer wohlhabenden Familie und hatte liebende Eltern, doch durch eine Laune der Natur waren in ihrem Erbgut Eigenschaften und Charakterschwächen zusammengeworfen worden, die in ihrer Kombination äußerst unglücklich waren. Als ihr kleiner Bruder geboren wurde, war sie krank vor Eifersucht - und so erstickte sie ihn in seiner Wiege. Sie erzählte mir triumphierend davon, wie einfach es gewesen sei. Das war in der vierten Klasse. Sie wurde lebenslänglich eingesperrt. Ich weiß noch, wie hübsch sie war, aber innen war sie... verfault. Es gibt Menschen, die so auf die Welt kommen, Menschen, die ohne Skrupel und ohne Gewissen geboren werden und an einer gefährlichen, grenzenlosen Eitelkeit leiden. Du denkst wahrscheinlich an jemanden, der sich zu viel auf sein Aussehen einbildet, wenn ich ‚Eitelkeit‘ sage, aber das meine ich nicht. Eitelkeit, echte, tiefgehende Eitelkeit ist etwas Furchteinflößendes. Ein Mensch von dieser Gesinnung denkt: ‚Warum sollte ich nicht alles haben, was ich will? Mir steht alles zu, weil ich eben ich bin!‘ Ihre eigene Person ist für sie das Maß aller Dinge. Familie, Freunde, Liebhaber, Kollegen, Fremde auf der Straße...das ist für sie ein und dasselbe. Mörder, insbesondere mehrfache Mörder, unterscheiden sich wie normale Menschen auch durch ihr Aussehen, ihre Persönlichkeit, ihre Herkunft und zusätzlich durch ihre Motive, ihre Ziele, ihre Methoden. Aber eines ist ihnen allen gemeinsam: Die Eitelkeit. Die absolute Überzeugung, dass sie das Recht haben, zu tun, was sie tun, weil sie es sind, die es tun." „...Sie... Sie wissen, dass Sie das miteinschließt? Sie wissen, dass Sie krank sind?" Der Killer verdrehte die Augen. „Eric, Eric, Eric. Begreifst du immer noch nicht? Ich bin nicht krank. Meine Entscheidungen werden mir von der Logik diktiert. Ich habe studiert, habe brav gearbeitet wie jeder andere anständige Bürger. Ich hatte weder eine tragische Kindheit noch war ich je das Opfer eines Verbrechens, von dem ich ein Trauma hätte davontragen können. Ich wurde, wie meine reizende Freundin aus der Grundschule, mit dem Bösen im Herzen geboren. Ich bin nur nach den Maßstäben derer krank, die über ein Gewissen verfügen, über Moral und Skrupel. Und nun iss auf und nimm einen letzten Schluck. Ich möchte anfangen." Eric zitterte am ganzen Körper. Er wandte den Blick ab und aß so langsam wie möglich einen einzelnen Cheesy Poof nach dem anderen. „Selbst jetzt noch versuchst du, Zeit zu schinden? Bravo. Nein, ernsthaft. Nicht viele Menschen besitzen eine solche Willenskraft. Dein Widerstand ist fantastisch. Dass du in deiner Lage diese Dinger überhaupt herunterbringst!" »Es ist vorbei. Er wird mich foltern und töten. Ich werde sterben. Wer sollte mir noch helfen? Mom... was wird aus dir werden? Du bist eine miserable Mutter, aber ich liebe dich trotzdem. Wann habe ich dir das eigentlich das letzte Mal gesagt? Und Kenny? Bei wem sollst du dich auskotzen, wenn dich deine Eltern mal wieder wahnsinnig machen? Wer schaut sich mit dir zusammen ‚Glee‘ und den ganzen Musical- und Opernkram an? Wem wirst du jetzt deine ewig gleichen Sexgeschichten vorbeten? Und Stan? Wen sollst du mit Umweltvorträgen zuschwallen, wenn ich nicht mehr da bin? Mit wem wirst du über Soccer und Football diskutieren? Und warum habe ich dir nie gesagt, dass ich dich trotz deines dämlichen Hippiegetues verdammt gut leiden kann? Und du, Kyle? Mit wem wirst du streiten, dass die Fetzen fliegen? Wer wird deine selbstzufriedene Ruhe erschüttern? Wer wird dich herausfordern, wer dich zum Nachdenken bringen? Wohin wirst du gehen, was wirst du erreichen? Ja, ihr alle... ich werde nicht wissen, was ihr erlebt. Ich werde kein Teil eurer Zukunft sein. Werde ich euch fehlen? Ich jedenfalls vermisse euch jetzt schon. Ohne euch wird es in der Hölle sehr langweilig sein. Aber vielleicht kommst du mich ab und zu besuchen, Kenny, wenn du gerade mal wieder abgekratzt bist. Dann kannst du mir von Mom erzählen, und von Kyle, Stan und dir. Und von Butters, das wäre auch nett. Ob er es zum Broadway geschafft hat oder so. Komisch... ich war sicher, dass ich das Leben im Grunde hasse. Wie man sich täuschen kann...« Unterdessen hatten Kyle, Stan und Kenny das Auto zwei Straßen entfernt geparkt, damit das Geräusch des Motors Owen Everett nicht alarmierte. Sie eilten so schnell durch die Dunkelheit, wie ihre Angst es erlaubte, angeführt von Kenny, der mit einer Sicherheit vorausschritt, die die beiden anderen beeindruckte und verwirrte. Außerdem schien er die Augen einer Katze zu haben und den Weg auswendig zu kennen, denn er geleitete sie zu ihrem Ziel, ohne auch nur einmal eine falsche Abzweigung zu nehmen. Die stillgelegte Fabrik ragte vor ihnen auf und bildete eine drohende Silhouette gegen den schwarzen Abendhimmel, das einzige Licht in ihrer Nähe stammte von einer alten Straßenlaterne, die beunruhigend flackerte. Die Hintertür war von Everett aufgebrochen worden und die drei Freunde tauschten einen entschlossenen Blick, ehe sie das Gebäude betraten. Sie fanden Eric und den Killer in der großen Arbeitshalle, wo sie Zeugen des Gesprächs wurden. „Der Kerl... ist total irre", flüsterte Stan und seine Finger krampften sich unbewusst in Kennys Schulter. Kyle hielt sich die Hand vor den Mund, um Cartmans Namen zurückzudrängen, der ihm in Panik über die Lippen wollte. Sich vorzustellen, dass sein Rivale zwölf Tage in der Gewalt dieser... dieser Kreatur verbracht hatte! Er wirkte wie zusammengefallen, an seinem Arm prangte ein blutverkrusteter Schnitt und der Jeansstoff am linken Unterschenkel war dunkel verfärbt, als hätte er eine Flüssigkeit aufgesaugt. Auch Blut? Kyle hämmerte das Herz bis zum Hals hinauf. „Bleibt hinter mir, alle beide!", raunte Kenny und der Ton seiner Stimme duldete keinen Widerspruch. „Dieser Mann ist einer von ihnen. Dem seid ihr nicht gewachsen." „Einer von ‚ihnen‘? Wie meinst du das?" Stan bekam keine Antwort. Kaltblütig verließ der Blondschopf ihr Versteck hinter einer der Farbmischmaschinen und platzte mitten ins Geschehen. Seine Freunde folgten ihm zögernd. „Dein Spiel ist hier zu Ende, Everett!! Du wirst deinen Plan nicht in die Tat umsetzen!! Lass Eric frei und ergib dich!! Es wäre besser für dich!!" Der Killer blinzelte irritiert und musterte die drei Störenfriede, die ihm so plötzlich seinen Spaß verdorben hatten. Der Schwarzhaarige in dem blauen Mantel fürchtete sich, bemühte sich aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Interessant. Das war beachtlich. Der zweite Schwarzhaarige war vermutlich gar nicht schwarzhaarig, da er eine Perücke trug. Seine Gesichtszüge erschienen ihm bekannt, nur wo sollte er den Burschen unterbringen? Natürlich! Er hatte ihn vor einigen Tagen auf einer Fotografie gesehen! Das war der Rotschopf, Erics besonderer Freund! Ebenfalls ein ungewöhnlicher Typ - er fürchtete sich auch, aber seine Miene verriet in erster Linie Zorn und Abscheu. Was den Blonden betraf, an dem war irgendetwas... seltsam. Er riskierte eine große Klappe wie jeder vorlaute Bengel, aber da lag eine Autorität in seinen Worten, ja, in seiner gesamten Haltung, die ihn merkwürdig berührte. Und was noch viel wichtiger war: Er hatte keine Angst vor ihm. Warum nicht? „...Jungs?!" Erics Stimme schnappte fast über, sie schwankte zwischen Unglauben, Erschrecken und Erleichterung. „Was macht ihr hier!? Wollt ihr mich retten, oder was!? Ist die Polizei bei euch!? Warum höre ich dann keine Sirenen!?!" „Wir brauchen keine Polizei", sagte Kenny und es klang wie eine Drohung. Everett hätte beinahe laut aufgelacht, doch irgendetwas im Tonfall des Jugendlichen schnürte ihm die Kehle zu. Dieser armselige Grim-Reaper-Verschnitt hatte etwas an sich, das ihm den Schweiß ausbrechen ließ. Als Kenny auf ihn zuging, holte er seinen Revolver hervor und schoss zweimal. Die Kugeln trafen ihn in die Brust, hielten ihn allerdings nicht auf. „Aber... aber... aber was...!?" „Ich bin neugierig, Owen." Kenny öffnete den langen Umhang, unter dem seine ausgefranste Jeans und ein weißes Shirt zum Vorschein kamen, das zwei immer größer werdende Blutflecken verunzierten. „Nachdem du mich getötet hast - was hast du als nächstes vor?" Damit berührte er seine Brust, die Kugel wurden wie von einer unsichtbaren Macht herausgezogen und fielen zu Boden. Die Wunden schlossen sich in Sekundenbruchteilen, seine Hand schnellte vor und legte sich auf die Stirn des Killers, der stand wie paralysiert. „Und jetzt, Owen, werde ich dir eine kleine Frage stellen. Ich werde dabei bis in deine Seele blicken, also antworte wahrheitsgemäß. Bereust du?" Der Mann gab eine Art Röcheln von sich und rührte keinen Muskel mehr. „Stan. Nimm ihm den Schlüssel für die Handschellen ab. Er befindet sich in seiner linken Hosentasche." Stanley gehorchte. Er begriff nicht das geringste und war eigentümlich fasziniert von den Handlungen seines Freundes. Er löste die Handschelle und stützte Eric, der sehr geschwächt war und sich kaum auf den Beinen halten konnte. „Los, Kumpel. Wir gehen nach Hause." Dieser einfache Satz trieb dem Quarterback erneut die Tränen in die Augen. Er lächelte Stan, Kenny und zuletzt Kyle an, der schüchtern zurück lächelte. „Ja. Lasst uns nach Hause gehen." Dieser kurze Moment der Unachtsamkeit genügte Everett, um sich aus der Trance zu befreien. Er zückte sein Jagdmesser, rammte es Kenny in den Bauch und schlitzte ihn auf. „Ich... bereue... nicht!!" „KENNY!!!" Der junge Mann stürzte auf die Knie, Blut lief ihm aus dem Mund. „Hast du wirklich geglaubt, ich ließe mich von so einem High-School-Bengel fertigmachen!? Ich weiß nicht, wer oder was du bist, aber niemand, hörst du, niemand wird mich daran hindern, meine Rache auszukosten und meinem großen Idol denjenigen zu opfern, der ihn an die Polizei verraten hat!!" Er wollte sich auf Eric stürzen, doch Kyle warf sich dazwischen. Er fixierte den Killer, indem er durch eine Hebeltechnik kontrollierten Druck auf sein Ellbogengelenk ausübte. Die Bewegung entgegen der anatomisch vorgesehenen Bewegungsrichtung führte bei Everett zu einem stechenden Schmerz und das Messer entfiel ihm. Er begann, sich wie eine Schlange zu winden und schaffte es, sich Kyles Griff zu entziehen. „Zurück zu dir, mein Bester! Wo waren wir stehen geblieben?" „Schluss jetzt, Sie Wahnsinniger!! Es ist nicht Cartmans Schuld, dass Deets geschnappt wurde!! Er hatte nichts damit zu tun!! Ich habe ihn verraten!! Ich habe der Polizei seine Adresse genannt!! Ich bin der, den Sie wollen!!" „...Du...?" Everett kicherte. Ein beklemmendes kleines Kichern, das bei allen, die es hörten, eine Welle der Übelkeit hervorrief. Die nächsten Sekunden verdichteten sich für Eric zu einem Alptraum. Er sah den Revolver blitzen, registrierte halb, wie Stan ihn losließ, um den Killer zu attackieren, gewahrte Kyles blasses Gesicht und seine angstgeweiteten Augen, spürte das schmerzhafte Pochen in seinem Bein und sprang mit einem gewaltigen Satz vorwärts, wie er es oft bei seinen Touchdowns tat. Ein Schuss ertönte. „CARTMAN!!!" „Hey, was sagt man dazu, Jude? Ich hab‘ deinen Arsch gerettet!" Alles drehte sich um ihn. Der Boden sackte unter ihm weg und er fiel gegen Kyle, der ihn geschickt auffing. Irgendwas stimmte nicht. Er betastete vorsichtig seine linke Körperseite. Ein süßlich-metallischer Geruch drang ihm in die Nase. „...Das... ist Blut, oder? Wow. Ich hab‘ eine Kugel für dich abgefangen, Jude. Das ist fast zu kitschig, um wahr zu sein, wenn ich mich nicht wie ein Schwein auf der Schlachtbank fühlen würde. Was musstest du auch deine blöde Klappe so weit aufreißen?" „Cartman...!! Du Trottel...!! Was hast du nur gemacht?!" „Ich hab‘s dir doch gesagt... Für einen Menschen, den ich liebe, würde ich alles tun. Sogar für ihn sterben, wenn es sein muss. Und ich liebe...!" Er konnte nicht weitersprechen, ein grauenvoller Schmerz durchzuckte ihn und er schrie auf. Kyle riss einen Teil seines Laborkittels in Streifen und wickelte sie als provisorische Verbände um Erics Körper. Dann zog er sich die Perücke vom Kopf und drückte das dichte Haarknäuel gegen die Wunde, in der Hoffnung, die Blutung damit zu stillen. Stan kämpfte inzwischen mit Everett. Der Killer war über ihm, hatte seine kräftigen Hände um seinen Hals gelegt und würgte ihn. Aber nicht lange. Jemand packte ihn am Kragen seines Jogginganzugs und schleuderte ihn gegen eine der Maschinen. „Ruft den Notarzt. Ich erledige den Bastard." „Kenny...!" „...Du... du lebst noch!? Wie ist das möglich!? Ich habe... ich habe dich aufgeschlitzt!! Deine Gedärme lagen draußen!! Du müsstest tot sein!! Aber deine Verletzung ist einfach... weg!? Wieso... wieso bist du nicht tot!?!" „Tja, ich bin nicht tot. Oder sagen wir, nicht mehr. Warum? Nun, Owen, ich will offen sein: Ich habe mich immer und immer wieder dasselbe gefragt, aber die Antwort bekam ich erst an meinem dreizehnten Geburtstag. Für dich ist es keine gute Antwort, soviel ist sicher." Er faltete die Hände wie im Gebet und schloss die Augen. „Im Namen des Herrn!!" Aus Kennys Rücken wuchs ein Paar großer schwarzer Flügel. Sie hüllten ihn komplett ein und ein gleißendes Licht erstrahlte. Als sich die prachtvollen Schwingen öffneten, erschien eine schwarzgekleidete Gestalt vor den fassungslosen Menschen in der Halle. Schwarze Stiefel, die am oberen Rand mit einer gezackten Silberborte geschmückt waren. Eine schwarze Hose, die die Figur betonte und darüber ein knöchellanger schwarzer Mantel, dessen Ärmel in silbernen Gelenkschützern endeten. Der Oberkörper war sichtbar, zusammengehalten wurde der Mantel in der Taille von einem breiten silbernen Schmuckgürtel. Um den Hals hing ein schwarzes Lederband mit einem silbernen Kreuz. Kennys Zopf hatte sich gelöst und sein langes blondes Haar fiel frei auf die Schultern. Vervollkommnet wurde sein Äußeres durch die langstielige Sense in seiner rechten Hand und natürlich die Flügel. „...Ich wusste ja, dass Kenny anders ist als wir... aber so anders? Heilige Scheiße...", murmelte Eric und grinste. „Sprich nicht, Cartmann, das strengt dich viel zu sehr an! Und deine Stirn wird heiß, du bekommst Fieber! Ruh dich aus, bis der Krankenwagen da ist!" „Was denn, kein Kommentar zu Kennys Hokuspokus?" Kyle zuckte die Achseln. „Ich wohne in South Park, ich habe schon eine Menge verrückten Kram erlebt. Das hier ist vergleichsweise harmlos. Aber es ist dafür ziemlich cool." Er versuchte, aufmunternd zu lächeln, doch es gelang ihm kaum. Die Blutung schien nicht aufhören zu wollen und Cartmans bleiches Gesicht war schmerzverzerrt. Kyle streichelte seine Wange und sprach über Football, um ihn bei Bewusstsein zu halten. „Das... das sieht tatsächlich so ähnlich aus wie mein Goth-Outfit", erklärte Stan mit kindlichem Erstaunen. Kenny war attraktiv, aber in dieser Form besaß er eine geradezu einschüchternde Schönheit. Etwas Betörendes, Unwirkliches war im Spiel. „...Wer... wer bist du!?" „Wer ich bin, Owen?" Seine Stimme war gefährlich ruhig. „Ich bin der Fürst der Schwarzgeflügelten Engel, der Anführer der Krieger Gottes. Ich entscheide über das Ende eines Sterblichen und gewähre Heil oder Verdammnis. Asche zu Asche und Staub zu Staub. Mein Name bedeutet ‚Wem Gott hilft‘. Ich bin der Engel des Todes. Ich... bin Azrael!" „...Engel des Todes...?!" „Spreche ich vielleicht undeutlich? Ich bin hier, um dich zu richten und deine verdorbene Seele ins Fegefeuer zu verbannen. Ich habe sie mir angesehen, und glaub mir, das war kein schöner Anblick. Du bist einer von ihnen, den Gebrandmarkten. Gebrandmarkte werden mit einem unsichtbaren Zeichen geboren, das nur Engel erkennen können. Es handelt sich um jene Menschen, die vom reinen Bösen beherrscht werden. Menschen wie deine kleine Freundin Deborah, die ihren Bruder umbrachte. Sie wird in drei Jahren an Lungenkrebs sterben, falls es dich interessiert. Das heißt, so wird die offizielle Diagnose lauten. Einer meiner Mitstreiter wird ihr einen Besuch abstatten. Möglicherweise auch ich persönlich, da sie sich einbildet, dem Tod entgehen zu können. Wenigstens bist du in diesem Punkt klüger als sie." „Ein unsichtbares Zeichen? Wie... schmeichelhaft." Azrael war zutiefst angeekelt. Die unverhohlene Befriedigung in der Stimme des Gebrandmarkten widerte ihn an. Wie die meisten von ihnen betrachtete er es als Würdigung seiner Person, als etwas, das ihn von gewöhnlichen Menschen abhob. „Genug! Lass uns überprüfen, ob du es noch so schmeichelhaft findest, wenn du es spürst!" Er schulterte die Sense, streckte die Hand aus und der Killer schrie auf. Irgendetwas schien ihm grausige Schmerzen zu bereiten. In heller, wilder Panik riss er sich die Jacke vom Leib und zerrte sein Hemd aus der Hose. Über seinem Herzen glühte ein Brandzeichen, dessen heiße Linien ihm die Haut versengten. Der Buchstabe „P" in altertümlicher Schrift. „Was ist das!?!" „Das Zeichen. P für ‚peccatum‘. Sünde. Nun zu deinem Urteil." Azraels Stimme klang plötzlich, als würde sie von einem Lautsprecher verstärkt. „OWEN EVERETT, DEINE SEELE IST EIN VERSTÜMMELTES, GIERIGES MONSTRUM!!! DU HAST KEINEN FUNKEN MENSCHLICHKEIT IN DIR!!! DU WIRST FÜR ALLE EWIGKEIT IM FEUER DER HÖLLE SCHMOREN UND DIE QUALEN DEINER OPFER TAUSENDFACH ZURÜCKZAHLEN!!! IN NOMINE PATRI...!!!" Der Engel hob seine furchteinflößende Sense und die Erde begann zu beben. Im Boden klaffte ein Riss, der sich in Richtung Everett ausbreitete. Der Mann versuchte zu fliehen, doch der Riss folgte ihm unbeirrt wie ein Raubtier. „...ET FILII...!!!" Der Riss weitete sich unter seinen Füßen zu einem Abgrund. Gnadenlose Hitze empfing ihn, Lava brodelte blubbernd nach oben. Aus der geschmolzenen Masse brachen gigantische Dornenranken hervor, die den kreischenden Everett umwickelten. Im Angesicht seines Untergangs war er nur noch ein wimmerndes Nichts. „...ET SPIRITUS SANCTI!!!" Die Sense fuhr hernieder. Meterhohe Flammen loderten auf und verschluckten ihn. Als sie wie ein Strudel in den Abgrund hinab wirbelten, stieß ein schwarzes, schleimiges Etwas, das mit einem Menschen nichts mehr gemein hatte, einen markerschütternden Schrei aus und verschwand. Der Boden glättete sich von selbst. Hinterlassen hatte das Inferno nur den reglosen Körper des Killers. „Amen", sagte Azrael, während er auf die wertlose Existenz hinuntersah, die er ihrer gerechten Strafe zugeführt hatte. „Ich verstehe nicht... Was ist passiert? Wurde er nicht... Warum ist sein Körper noch da?" „Ich habe seine Seele in die Hölle geschickt, Stan, nicht seinen irdischen Leib. Seine offizielle medizinische Version lautet Herzschlag." „Du meinst, dieses schwarze, scheußliche Ding war... war seine Seele!?" „Ja. Ich sagte doch, dass es kein schöner Anblick war. Gut, dass ich rechtzeitig fertig geworden bin, der Krankenwagen müsste jede Sekunde hier eintreffen." Er umfasste das silberne Kreuz, es leuchtete kurz auf und im nächsten Moment stand Kenneth McCormick wieder unter ihnen. Keine Minute zu früh, denn Sirenengeheul zerstörte die abergläubische Stille, die sich auf die vier Freunde herabgesenkt hatte und ein Notfallteam polterte in die Fabrik. Eric erhielt eine Erstversorgung und wurde auf einer Bahre in den Krankenwagen geschoben. Einer der Fahrer informierte die Polizei. „Ihr könnt ruhig mitkommen, Jungs", bemerkte die leitende Notärztin. „Sergeant Yates wird schon bei euch anklopfen, wenn er euch braucht - mit anderen Worten, nicht vor morgen. Steigt ein, ihr seht sehr erschöpft aus." „Vielen Dank, Ma‘am." Sie kletterten ins Auto und fuhren mit Blaulicht zum Hell‘s Pass. In der Notaufnahme scheuchte man sie sofort in den Wartesaal, der wohl wegen Halloween wie leergefegt war. Aber das konnte auch damit zusammenhängen, dass das Hospital keinen besonders guten Ruf genoss. Wie auf der Polizeistation gab es auch hier nur eine geringe Anzahl wirklich kompetenter Fachkräfte. Zwei davon schienen der Arzt mittleren Alters und die wie aus dem Ei gepellte Krankenschwester zu sein, die nach einiger Zeit zu ihnen kamen. Vermutlich waren sie beide neu. Neue Leute von außerhalb waren meist kompetent, hielten es nur leider nicht allzu lange in South Park aus. „Sie sind Kyle Broflovski, Kenny McCormick und Stan Marsh? Freut mich. Ich bin Doktor Bradford, der neue Oberarzt. Ihr Freund, Eric Cartman, hat zwei Schusswunden davongetragen, sowie eine Schnittverletzung. Die erste Schusswunde am linken Unterschenkel wurde ihm bereits vor mehreren Tagen zugefügt und hat sich vor kurzem entzündet, daher das beginnende Fieber und die flache Atmung. Er befindet sich im Anfangsstadium einer Sepsis." „Ist das schlimm?" „Kommt darauf an, was Sie unter ‚schlimm‘ verstehen, Mr. Marsh. Sie kennen die Diagnose ‚Sepsis‘ vielleicht eher unter dem Ausdruck ‚Blutvergiftung‘, der fachlich zwar falsch, aber allgemein bekannt ist. Nach Herzinfarkt und Aids ist sie die dritthäufigste Todesursache. Die zweite Kugel ist in den Bauchraum eingedrungen und wird nicht leicht zu entfernen sein. Ich kann Sie jedoch beruhigen, das Geschoss hat keine lebenswichtigen Organe verletzt und die Infektion am Bein ist auch noch nicht lebensbedrohlich. Wenn Mr. Cartman nach der OP, auf die wir ihn gerade vorbereiten, gut auf die Antibiotika anspricht, sollte seiner Genesung nichts im Wege stehen. Was mir ein wenig Sorgen macht, ist der Blutverlust. Er hat eine extrem seltene Blutgruppe und ich weiß nicht, ob dieser Saftladen genug Konserven AB negativ vorrätig hat." Er hüstelte verlegen. „Habe ich das Krankenhaus einen ‚Saftladen‘ genannt?" „Das verschafft Ihnen bei uns nur Pluspunkte, glauben Sie mir." „...Ich... ich könnte Ihnen helfen, Sir!" „Sie, Mr. Broflovski? Inwiefern?" „Ich habe Blutgruppe AB negativ." „Ist das Ihr Ernst? Nun, warum eigentlich nicht? Eine Rückversicherung für den Notfall kann nicht schaden. Wie alt sind Sie?" „Siebzehn." „Oh. Nun, dann bräuchte ich eine schriftliche Genehmigung Ihrer Eltern." „Warum? Ich dachte, Blutspenden ist bei uns ab sechzehn Jahren erlaubt!" „Das hängt vom jeweiligen Staat ab. In Colorado müssen Sie achtzehn sein - oder siebzehn, mit einer schriftlichen Genehmigung des Erziehungsberechtigten." „...Wie soll ich das machen!? Meine Eltern wissen nicht mal, dass ich hier bin! Sie denken, ich bin auf unserer Schulparty!" „Schwester Morris wird sich darum kümmern. Es soll ja auch nur für den Notfall sein und Ihre Eltern werden doch sicher Verständnis dafür haben, dass Sie einem Freund helfen wollen. Es ist schließlich nicht gesagt, dass wir Ihr Blut brauchen werden. Schwester Morris wird Ihre Eltern benachrichtigen, sie kommen her und dann unterschreiben sie das Formular." „Sie kennen meine Mutter nicht...!" „Ich kann die Schwester bitten, Ihren Vater zu verlangen. Wäre Ihnen das lieber?" Kyle nickte und folgte der Krankenschwester zum Empfangszimmer. Doktor Bradford kehrte zu seinem Patienten zurück und Stan und Kenny verblieben allein im Wartesaal. Sie saßen sich gegenüber und schwiegen. „..." „..." „...Also... du... bist ein Engel?" Die schönen Lippen des Blonden verbreiterten sich zu einem melancholischen Lächeln. „Ja und nein. Die korrekte Bezeichnung für das, was ich bin, ist ‚Astralwirt‘. Ich bin der menschliche Träger einer Engelsseele." „...Hä?" „...Oh Mann, wo genau soll ich anfangen? Sagt dir der Ausdruck ‚Höllenportal‘ etwas?" „Hat das was mit dem ‚Schlund der Hölle‘ zu tun?" „Das ist das gleiche. Jedenfalls: Es existieren insgesamt 666 Höllenportale auf der Erde, durch die Dämonen in unsere Welt gelangen können. Dabei kann nicht jedes Portal von jeder Art von Dämon benutzt werden. Das erste Höllentor ist zum Beispiel kaum größer als ein Taschenkalender und nur winzige Dämonen mit sehr wenig Macht benutzen es. Sie sind keine Gefahr, sondern treiben nur Schabernack mit den Menschen - die Autoschlüssel verstecken, die Milch überlaufen lassen, das Klo verstopfen, solche Sachen. Würde ein mächtiger Dämon versuchen, die Erde durch dieses Portal zu betreten, würde es kollabieren. Es könnte dem Druck der magischen Aura nicht standhalten. Je höher die Nummer des Tores ist, desto leichter können Dämonen mit stärkeren Kräften bei uns eindringen und weit mehr Schaden anrichten als ein verstopftes Klo - Unfälle, bei denen Tiere oder Menschen sterben, Überschwemmungen, Brände, Erdbeben. Das bedeutet nicht, dass jede Katastrophe automatisch auf einen Dämon zurückzuführen ist, aber in fünfzig Prozent der Fälle ist es so. Die mächtigsten Dämonen, die Stürme, Fluten oder Infernos von apokalyptischen Ausmaßen hervorrufen können, verwenden natürlich die sieben mächtigsten Portale, Nummer 660, 661, 662, 663, 664, 665 und 666. Von diesen ist nur Nummer 666 stark genug, um Satan und seinen Sohn durchzulassen, ohne in sich zusammenzufallen. Es ist auch das größte aller Tore." „...Wow. Und du behauptest, Dämonen steigen regelmäßig hinauf zur Erde, um uns das Leben zu vermiesen? Sollten wir dann nicht schon längst von ihnen überrannt worden sein?" „Nein. Jedes der Portale hat einen himmlischen Wächter, der die ungebetenen Gäste wieder in die Unterwelt zurückschickt, wenn sie zu übermütig werden. Er kann es auch versiegeln, allerdings nur für einen Zeitraum von dreimal neun Tagen, und danach muss er sechsmal sechs Tage warten, bis er es wieder tun darf. Das hängt mit dem Gleichgewicht von Gut und Böse zusammen - und mit dem Vertrag zwischen Gott und Satan, der da besagt, dass nur eine bestimmte Anzahl von Dämonen innerhalb eines Jahres ein Portal passieren darf und außerdem die Immunität der Wächter garantiert. Soll heißen, keiner der Dämonen darf sich beschweren, wenn er von einem der Engel konfrontiert wird. Er hat sich ohne Gegenwehr zurückzuziehen. Sollte er versuchen, den Wächter zu töten, ist sein Leben verwirkt." „...Kann man denn einen Engel auf Dauer töten?" „Du meinst, weil ich immer wieder auferstehe? Ja, es ist möglich. Die Astralkräfte eines Engels sind in seinen Flügeln gespeichert. Werden sie abgeschnitten, wird seine Verbindung zu Gottes heilender Macht unterbrochen und die Selbstheilung setzt nicht ein. Ein Engel kann zwar ohne Flügel überleben, aber er wird durch ihren Verlust sterblich und müsste in einem Krankenhaus versorgt werden wie jeder normale Mensch. Er kann somit auch sterben wie jeder normale Mensch. Natürlich reicht es nicht, nur einen Flügel abzuschneiden, es müssen beide sein." „Aha. Interessant." Stan zerbrach sich den Kopf, was er als nächstes fragen sollte. Er kam sich ungeschickt und dumm vor. Kennys ungewohnt ernste, würdevolle Ausstrahlung und das wissende Lächeln ließen ihn irgendwie größer und imponierender wirken, obwohl er in seinem schäbigen Kostüm steckte. Und seine Augen, die ihn unverwandt anstarrten... was sahen sie in ihm? Blickten sie in seine Seele, wie bei Everett? Bei diesem Gedanken fühlte sich Stan mehr als unbehaglich. Die Vorstellung, seine Seele könne nackt und ungeschützt der unergründlichen Tiefe dieses Blicks ausgesetzt sein, ließ ihn schaudern. Er wandte das Gesicht ab. „Stan?" Er hörte, wie der andere sich bewegte. Kenny sank vor seinem Freund auf die Knie und legte eine Hand an seine Wange. „Du zitterst, Stan. Hast du... hast du Angst vor mir?" „Ich... ich weiß es nicht. Das ist alles ein bisschen viel." Er lachte gekünstelt. „...Ich kenne dich seit meinem dritten Lebensjahr, Ken. Ich war mir sicher, zu wissen, wer du bist. Aber jetzt... na ja, jetzt bist du so... anders. Irgendwie. Ich kann es nicht richtig erklären, es ist einfach..." „Fürchtest du, dass ich in deine Seele hineinschaue?" „...Ja." „Nein. Ich kann das nur, wenn ich deine Stirn berühre und mich konzentriere. Bitte hab‘ keine Angst, Stanley. Ich würde niemals ohne deine Erlaubnis in deine Seele blicken." Der Ältere war unfähig zu antworten. Er sah das goldene Haar, die kecke Nase, den makellosen Mund... und diese reinen, himmelblauen Augen, die ihn unter das unwiderstehliche Joch ihres Zaubers zwangen. Fast gegen seinen Willen fiel ihm der Kuss wieder ein, den sie beim Flaschendrehen getauscht hatten. Er erinnerte sich an die Wärme dieser Lippen... „...Warum sind deine Flügel und deine Kleidung eigentlich schwarz? Weil du der Engel des Todes bist?" Kenny stand auf und setzte sich neben Stan. „Es hat damit zu tun. Es gibt mehrere schwarzgeflügelte Engel, zum Beispiel elf weitere Engel des Todes, zwölf Engel der Rache, sechs Engel der Bestrafung, einige Engel des Schreckens, die gezielt Verbrecher verfolgen, ein paar Engel der Vernichtung..." „Okay, die schwarzgeflügelten Engel sind also für die unangenehmen Sachen zuständig?" „Genau. Wir führen auch den Titel ‚Krieger Gottes‘ im Gegensatz zu den weißgeflügelten Engeln, die sich die ‚Hüter Gottes‘ nennen und über die Schöpfung wachen. Sie besitzen die Gabe, andere zu heilen, können jedoch niemanden verletzen oder töten, während wir verletzen und töten, aber nicht heilen können. Die einzigen weißgeflügelten Engel, die das Recht genießen, sowohl Leben als auch Tod zu bringen, sind die sieben Engel des Himmlischen Gerichts: Metatron, Sandalphon, Camael, Michael, Raphael, Gabriel und Uriel. Uriel ist offiziell der Engel der Vollstreckung, deshalb gilt er als mein direkter Vorgesetzter. Ich selbst bin ein Seraph, ein Engel des Ersten Ranges, Erster Chor. Das heißt, Azrael ist ein Seraph." „Das verstehe ich nicht. Du bist doch Azrael, oder nicht?" „Ich bin sein Astralwirt, ein Mensch, der mit einer Engelsseele geboren wurde. Meine Aufgabe ist es, eines der Höllenportale zu bewachen. Je mächtiger das Portal, desto mächtiger sind die Dämonen, die es passieren können und desto mächtiger ist auch der Engel, der es beschützt." Stan musterte ihn von der Seite und eine dunkle Ahnung beschlich ihn. „...Ken. Du lebst in South Park. Du... du willst doch nicht etwa andeuten, dass...!?" „...unter unserer Stadt das 666. Höllenportal vor sich hin schwelt? Nein, warum auch, bei dem ganzen surrealen Mist, der hier stattfindet? Und dass der Sohn Satans ausgerechnet bei uns zur Schule geht, ist ein unglücklicher Zufall!" „Ach du Scheiße...!" „Ich will es dir erklären. Engel können nur für einen begrenzten Zeitraum auf Erden wandeln, nämlich drei Tage: Einen im Namen von Gott Vater, einen im Namen von Gott Sohn und einen im Namen des Heiligen Geistes. Nun sind die Portale aber Schnittstellen zwischen der Menschenwelt und der Hölle und müssen ständig im Auge behalten werden. Um es also einem Engel zu ermöglichen, länger als drei Tage die Sphäre der Sterblichen zu besuchen, ohne ihm gleich die Flügel abzuschneiden, werden Körper und Seele des Engels, der als Wächter ausgewählt wurde, voneinander getrennt. Der Körper wird in Kristall eingeschlossen und für dreimal drei Menschengenerationen in der ‚Halle der Wächter‘ im Neunten Himmel verwahrt. Das ist sozusagen die ‚Jobdauer‘. Die Seele wird zur Erde geschickt und vereint sich dort mit ihrem Astralwirt, jenem Menschenkind, das ausersehen wurde, der nächste Wächter zu sein. Das Kind ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren, die Mutter befindet sich erst im dritten Monat. Und bevor du fragst - dreimal drei Menschengenerationen sind dreimal neunundneunzig Jahre. Heilige Dreifaltigkeit und so, deshalb ist die drei eine sehr wichtige Zahl und jedes Vielfache von ihr auch. Nach dem Tod des ersten Astralwirts wird ein neues Kind erwählt und das Ganze beginnt von vorne. Stirbt der dritte Astralwirt, kehrt die Seele in den Himmel zurück und ein anderer Engel übernimmt für die nächsten dreimal drei Menschengenerationen die Aufgabe, Portal XYZ zu bewachen. Du siehst, ich bin zwar Azrael, weil ich mit seiner Seele geboren wurde, aber ich bin trotzdem zuerst und vor allem Kenny McCormick! Meine Erinnerungen sind die von Kenny McCormick! Über Azraels Leben weiß ich nichts, außer den Dingen, die Gott mir erzählt hat... mit dem ich übrigens telepathisch verbunden bin, falls ich das noch nicht erwähnt habe." „Ehrlich? Cool! Aber was meinst du mit ‚Tod des Astralwirts‘? Du bist doch unsterblich, du kommst immer wieder!" „Das ist richtig, doch meine Dienstzeit hat ein Ende, sobald ich neunundneunzig bin. Meine Engelsseele wird einen ziemlich rüstigen und weitgehend gesunden Großvater aus mir machen, ja, aber eben einen Großvater. Ewige Jugend besitze ich nicht. Ich werde alt werden und sterben, wie jeder Mensch. Darauf freue ich mich schon." „Du freust dich darauf?" „Logisch. Ich möchte mein Leben leben - und dann möchte ich irgendwann die Augen schließen und für immer einschlafen. Glaubst du etwa, es macht mir Spaß, überfahren, verbrannt, geköpft, gefressen, aufgespießt, gevierteilt, erschlagen, zerquetscht, erschossen, gehängt oder erwürgt zu werden!?! NEIN!!! Ich fühle die Schmerzen, jedes - verdammte - Mal!!! Ich habe Gott einmal gefragt, warum ich das ertragen muss. Er sagte, dass ich einige meiner Todesfälle den Dämonen zu verdanken hätte, die den Frieden zwischen Himmel und Hölle sabotieren wollen und deshalb die Wächter attackieren. Vor meinem dreizehnten Lebensjahr war ich noch nicht offiziell ‚im Dienst‘ und konnte meine Kräfte nicht nutzen, und so mussten sie keine Strafe fürchten. Die ‚Leben verwirkt‘-Klausel bezieht sich auf vollwertige, eingeweihte Astralwirte, nicht auf kleine Kinder. Seit ich als Azrael erwacht bin, hat das fast aufgehört, ich sterbe jetzt meistens aus dem Grund, aus dem alle Astralwirte hin und wieder abkratzen." „Und der wäre?" „Ich nehme den Tod eines anderen auf mich. Stell dir vor, ein Mädchen droht überfahren zu werden. Geschieht das im Wirkungskreis eines Astralwirts, wird der Astralwirt, selbst wenn er kilometerweit von dem Ort des Unfalls entfernt ist, im selben Moment über die Straße gehen und an ihrer Statt sterben. Ich bin der mächtigste amtierende Astralwirt, mein Wirkungskreis ist ganz Colorado. Anfang September wurde ein fünfjähriger Junge in Denver unter einem Strommast begraben, doch er überlebte, nur leicht verletzt. Ich hatte nicht so viel Glück." „Du bist für ihn gestorben?" „Ja. Für ihn... und viele andere." Sie schwiegen eine Weile, bis Stan leise sagte: „Du bist der tapferste Mensch, den ich kenne. Ich wusste schon immer, dass du etwas Besonderes bist." Kenny wurde rot. „Mach keine Witze!" „Mache ich nicht. Du bist ein Held, Ken. Ich habe nie über den Tod nachgedacht, während du schon so oft auf unzählige schreckliche Arten gestorben bist!" Er griff nach seiner Hand. „Und nun erfahre ich, dass du als Krieger Gottes die Welt vor dem Bösen verteidigst! Ich weiß nicht, ob ich den Mut und die Kraft hätte, diese Verantwortung zu tragen - noch dazu mit diesem tödlichen Handicap und all den grausamen Schmerzen, die damit verbunden sind!" Er führte die Hand an seine Lippen und küsste sie sanft. „Du bist wundervoll, Ken." Kenny glotzte wie hypnotisiert auf seine Hand, sein Herz begann zu rasen. Stans saphirblaue Augen fesselten ihn und seine Worte brachten etwas in ihm zum Klingen. Auch nachdem er von Gott über seine Funktion aufgeklärt worden war, hatte er sich nie als einen Retter der Welt empfunden, sondern nur als Menschen mit einer... nun, reichlich abgefuckten Bestimmung. Und jetzt hatte ihm einer seiner besten Freunde gesagt, dass er ein Held war. „...Stan..." Es rumpelte, die Tür zum Wartesaal flog auf und ein nach Atem ringender Gerald Broflovski stolperte herein. „Ist Kyle nicht bei euch? Da kriege ich vor zehn Minuten einen Anruf, mein Sohn, den ich sicher auf der Schulparty wähnte, teilt mir mit, dass er im Krankenhaus ist und den entführten Eric Cartman gefunden hat und gerne eine Blutspende abgeben will und ob ich nicht schnell die Genehmigung unterschreiben könnte...!! Was soll das heißen, er hat Eric gefunden!? War der nicht angeblich in der Gewalt eines Serienkillers!? Der Junge hat den Verstand verloren, jawohl! Er kann froh sein, dass seine Mutter gerade in der Badewanne sitzt und ich mich davor drücken konnte, ihr das alles zu erzählen! Ist ihm klar, dass Sheila uns einen Kopf kürzer machen wird!?" „Dad? Hier bin ich!" Gerald schoss herum und fuchtelte wild mit den Armen. „Da bist du ja, du Nagel zu meinem Sarg! Bist du des Wahnsinns fette Beute, auf eigene Faust ein Entführungsopfer zu suchen!? Weißt du, was deine Mutter dazu sagen wird!? Ich sage dir, was sie sagen wird: ‚Wo ist der verdammte Bengel, damit ich ihm den Hals umdrehen kann?!‘ Und danach wird sie ihn mir umdrehen!" „Dad, wenn du damit fertig bist, Randy Marsh 2.0 zu spielen - nichts für ungut, Stan - , dann lies bitte dieses Formular und unterschreib." „Warum willst du ausgerechnet für Eric Cartman Blut spenden? Ihr seid keine Freunde!" „Doch. Ich meine, wir sind keine richtigen Freunde, das stimmt schon, aber wir sind... etwas. Außerdem hat er sich zwischen mich und eine Kugel geworfen, okay? Ich will ihm helfen!" „Er... er hat was!?" „Er hat sich zwischen mich und eine Kugel geworfen", wiederholte Kyle, den Blick gesenkt. »...Cartman, du Blödarsch! Was fällt dir ein?! Du warst verletzt, du hattest Schmerzen, und trotzdem...! Scheiße...! Du hast die Wahrheit gesagt! Du liebst mich wirklich! Das ist so verrückt... völlig verrückt! Ich meine, im Ernst... wie kannst du dein Leben für einen Kerl riskieren, der dich verabscheut!? Du bist ein Idiot! Idiot... Idiot... Idiot...!!« Gerald betrachtete seinen Sohn, sah die zusammengepressten Lippen, die bebenden Schultern, die geballten Fäuste. Wortlos nahm er ihm das Formular aus der Hand, las es aufmerksam durch und unterschrieb. „Eric muss dich sehr gern haben." „Ja. Er hat mich...sehr gern." „Das ist... unerwartet." »Oh Dad, du hast ja keine Ahnung...!« Kyle eilte zu Schwester Morris, um ihr die Erlaubnis zu zeigen und die Blutspende durchführen zu lassen. Er kam sich vor wie ein Gefäß, das bis oben hin mit Scham und Schuld gefüllt war. Cartmans Liebe nicht zu bemerken und aufgrund ihrer Vergangenheit nicht an sie zu glauben, war eine Sache. Aber sie aus dieser Überzeugung heraus gegen ihn zu verwenden, ihn bloßzustellen, war boshaft und falsch. Umso mehr, da Cartman die Tiefe seiner Gefühle heute bewiesen hatte. Er war bereit gewesen, für ihn zu sterben. „Ich liebe dich, Kyle. Ich brauche dich, so, wie Pflanzen den Regen brauchen. Du bist meine Luft zum Atmen, die Sonne an meinem Himmel. Du machst alles besser - du machst mich besser. Du hast mir meine Fehler, meine Schwächen, meine Irrtümer und meine Dummheiten aufgezeigt. Du hast mir ein Gefühl eingeflößt, das ich vorher nicht kannte, ein Gefühl, das begonnen hat, mich zu verändern. Du hast mein Herz zum Leben erweckt." Er war bereit gewesen... ...für ihn zu sterben...! Ja, damit wäre Kennys Geheimnis gelüftet, er ist ein Engel bzw. Astralwirt, der in Gottes Diensten steht und die Dämonen in South Parks hauseigenem Höllenschlund in Schach hält. Ich möchte mich an dieser Stelle für die langen Erklärungen entschuldigen, aber seit Kenny als Mysterion enthüllt wurde, habe ich gehofft, dass mit der Idee "Kenny kann nicht sterben" noch mehr passieren würde. Die Coon-Trilogie zeigt ja, dass Kennys Freunde immer wieder vergessen, dass er stirbt, was sehr viel besser funktioniert hätte, wenn das in früheren Staffeln auch so gewesen wäre (ich denke da an eine Episode, wo Kenny aus dem Nichts wieder in die Szene pufft, direkt vor Cartmans Nase, und Cartman sagt ganz unbeeindruckt: "Hi, Kenny."). Andererseits würde es erklären, warum alle so fertig sind, als er in "Kenny Dies" wirklich für immer sterben soll... Das Problem ist, dass Kennys Tode vorher nichts weiter waren als ein Running Gag, und einen Running Gag im Nachhinein zu etwas komplexerem zu machen, ohne dass es Widersprüche gibt, ist schwer. Ich habe lange über Kennys "Anderssein" nachgedacht und diese Lösung gefiel mir am besten. Sie ist etwas ausführlich geraten, aber ich mag keine halbgaren Sachen und offengelassene Fragen. Ich hoffe, dass es für Euch spannend und interessant war und bedanke mich für Eure Aufmerksamkeit! *verbeugt sich* Bis zum nächsten Mal! Kapitel 11: Wenn die Masken fallen ---------------------------------- Hallo, liebe Leser! Ja, es ist unglaublich, aber ich bin zurück! Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber das echte Leben hatte Vorrang. Ende letzten Jahres ist meine Großmutter gestorben und mein Großvater ist vor ein paar Wochen schwer gestürzt. Ich war oft krank und hatte keinen rechten Antrieb, irgendetwas zu schreiben, auch keine wirkliche Inspiration. Dieses Kapitel ist leider auch nur Filler (im Sinne von: es geht nicht um die Mainpairings), aber ich hoffe, dass es Euch trotzdem gefällt. Ich widme es allen, die diese FF favorisiert haben und ich werde mich anstrengen, das nächste Kapitel früher zu bringen. Leider habe ich dafür noch keine konkreten Ideen, aber ich weiß zumindest, dass Craig und Tweek drin vorkommen werden, das ist wenigstens etwas! Und nun viel Spaß beim Lesen!^^ Kapitel 11: Wenn die Masken fallen Die Liebe ist so unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind nur die Lenker, die Fahrgäste und die Straße. - Franz Kafka Während der dramatischen Rettung Eric Cartmans ging es in der Park High hoch her. Die Halloweenparty war sehr beliebt, da sie eine jener Veranstaltungen der Schule war, an der sämtliche Klassenstufen ohne Einschränkung teilnehmen durften. Für die Jüngeren gab es Spiele wie Apfelschnappen oder Wahrsagen und ein eigenes Buffet, die Älteren machten die Tanzfläche unsicher, tranken Bowle und flirteten mit Begeisterung, oft ohne einander zu erkennen. Die Prämierung des besten Kostüms fand immer um Mitternacht statt, also zu dem Zeitpunkt, an dem man sich auch offiziell demaskierte. Patty Nelson hatte sich als Lara Croft verkleidet und war mit ihrer Freundin Tammy Warner gekommen, die sich für Disneys Dornröschen im blauen Kleid entschieden hatte (die blonde Perücke störte sie allerdings). Sie saßen an einem Tisch etwas abseits vom Trubel und Tammy, die junge Kosmetikschülerin, beschrieb gerade eine aufwendige Steckfrisur, die sie neulich in einem Magazin gesehen hatte. „Es macht dir wirklich Spaß, die Beauty School zu besuchen, was?" „Worauf du deine Großmutter verwetten kannst. Ich bin nur froh, dass meine Eltern kein Problem damit haben, dass ich nicht studieren will. Was ist eigentlich mit dir? Was hast du vor, wenn du nächstes Jahr abgehst?" „Keine Ahnung. Ich spüre keine bestimmte Berufung, so wie du, und obwohl ich mich für viele verschiedene Dinge interessiere, mag ich doch keines davon so sehr, dass ich es studieren möchte. Ich würde am College gern weiter Cheerleading machen, aber was soll ich lernen? Warum erwartet man überhaupt von mir, mit siebzehn oder achtzehn schon zu wissen, was ich in meinem späteren Leben anfangen will? Ich bin sportlich, schön. Was hilft mir das? Schließlich muss ich mit irgendwas Geld verdienen. Und vor diesem ‚irgendwas‘ habe ich Angst. Ich meine, ich will eigentlich nicht in einem normalen Nine-to-Five-Job hängen bleiben, den ich nur wegen des Geldes angenommen habe! Ich will, bei allem Stress und sonstigen Schwierigkeiten, Spaß an meiner Arbeit haben! Und ich weiß einfach nicht, wofür ich mich entscheiden soll!" Tammy gab ihr einen tröstenden Kuss auf die Wange. „Du hast recht, es ist ziemlich krass, dass die Gesellschaft von den Seniors erwartet, einen perfekten Lebensplan im Kopf zu haben. Ich hatte ja auch keinen, ich liebe es nur, mich mit Styling und Kosmetik und Frisuren zu beschäftigen, also bin ich zur Beauty School gegangen. Und du magst Sport, das ist doch schon was. Warum wirst du nicht Sportlehrerin? Ich könnte mir das bei dir echt gut vorstellen." „Meinst du das im Ernst?" „Sicher. Du bist energisch, durchsetzungsfähig, hilfsbereit, humorvoll und eine prima Zuhörerin, der man sein Herz ausschütten kann. All das braucht ein guter Lehrer, finde ich." „...Das ist echt süß von dir, Tammy. Und eine super Idee. Danke." Patty küsste sie auf die Lippen und wollte sie spontan auf die Tanzfläche ziehen, als ein Schrei die beiden jungen Frauen veranlasste, sich umzudrehen. In einiger Entfernung hatte sich ein Pulk Schülerinnen versammelt, von dem die eine Hälfte, die sich um eine auffallend hübsche Blondine geschart hatte, laut vor sich hin schimpfte, während die andere hilflos und schweigend dabeistand. Patty erkannte die meisten als Mitglieder des Cheerleading-Teams und ihre Alarmglocken begannen zu schrillen. Sie wandte sich an Tammy. „Geh los und such‘ Bebe. Ich habe das Gefühl, da drüben entwickelt sich was Übles." Und richtig: Kaum hatte sie die Gruppe erreicht, begriff sie, was hier vorging. Die Blondine war Jessie Clark, die Bebe ihre Stellung als Kapitän neidete und prinzipiell alle Mädchen nicht mochte, denen sie Freundschaft oder Zuneigung entgegenbrachte (besonders Wendy, da es sich nach Jessies Meinung nicht gehörte, als Kapitän der Cheerleader mit einer Streberin wie Testaburger Kontakt zu haben). Eines ihrer „Lieblingsopfer", an denen sie regelmäßig ihren Frust ausließ und die Harmonie in der Mannschaft störte, war Rebecca Cotswolds, Kyles Ex-Freundin aus der Grundschulzeit, die wegen ihrer häufig wechselnden Liebhaber den schmeichelhaften Ruf der „Schulnutte" inne hatte. Im Moment hagelte es Beleidigungen aus Jessies Mund, tatkräftig unterstützt von ihrem Sprechchor. Rebecca hockte wie ein Häuflein Elend am Boden und schluchzte. Diejenigen, die sich nicht an der Sache beteiligten, standen betreten herum und wussten nichts mit sich anzufangen. „Du bist ein verdammtes Miststück, Rebecca! Du hast mir meinen Freund ausgespannt, du miese kleine Hure! Ich möchte mal wissen, was Dave nur an dir findet! Du bist dumm, hässlich und wertlos! Eine Schlampe! Eine dreckige, verlogene Schlampe, die nur glücklich ist, wenn ihr jemand einen Schwanz reinschiebt...!" „Schluss damit!!" Patty baute sich zwischen Rebecca und ihrer Peinigerin auf und verschränkte die Arme. „Hör zu, Jessie, ich weiß nicht, was dein Problem ist, aber lass sie endlich in Ruhe! Sie hat dir nichts getan! Wie zum Teufel soll sie dir Dave ausgespannt haben, wenn du zwei Wochen vorher mit ihm Schluss gemacht hast!? Ihr wart nicht mehr zusammen! Du hast schon eine Verwarnung von Bebe kassiert wegen deinem beschissenen Verhalten und lernst trotzdem nichts dazu!" „Oho, die Kampflesbe ist sauer! Ich habe solche Angst!", deklamierte Jessie übertrieben und ihre Gefolgschaft kicherte unterwürfig. „Patty, lass es", würgte Rebecca mit tränenerstickter Stimme hervor. Ihr Make-up war verlaufen und jemand hatte die Flügel ihres Feenkostüms ausgerissen. Sie erhob sich schwankend und zwang sich zu einem Lächeln. „Es ist ja nichts neues, dass ich mich rechtfertigen muss, nur weil ich ein reges Sexleben habe, obwohl ich ein Mädchen bin. Ich bin daran gewöhnt, beschimpft zu werden. Es ist okay. Wirklich." „Nein! Es ist nicht okay! Du hast eine Entschuldigung verdient, jetzt sofort! Los, entschuldigt euch! Ihr alle! Ja, auch die, die nichts getan oder gesagt haben, um das hier zu unterbinden! Eure Kameradin wird gemobbt und das einzige, was euch einfällt, ist, regungslos herumzustehen!? Seid ihr alle ohne Rückgrat geboren worden, oder was?! Ach ja, und Jessie? Danke für das Kompliment! Ich bin nämlich in der Tat eine Kampflesbe - soll ich dir mal zeigen, wie sehr mir das Kickboxen gefällt!?" „Genug!" Bebe war eingetroffen, neben ihr Wendy und Tammy, und die ganze Gruppe verstummte schlagartig (ihre Verkleidung als Maleficent trug sicherlich einiges dazu bei). So oberflächlich sie auch in manchen Belangen sein mochte, es steckten Tiefe, Ernsthaftigkeit und Mut in Bebe; Eigenschaften, die ihr bei ihren Freunden Respekt verschafft und ihre Feinde das Fürchten gelehrt hatten. Wortlos strich die Kapitänin dem verschreckten Mädchen ein paar Strähnen aus der Stirn, betupfte das ruinierte Make-up mit einem Taschentuch und gab ihr das Flügelpaar zurück, das sie zu ihren Füßen entdeckt hatte. Dann legte sie den Arm um sie und bannte ihre Kontrahentin mit einem Blick, den sie nur bei wichtigen Spielen oder offiziellen Wettbewerben zu tragen pflegte. „Jessica. Wenn du etwas an meinem Führungsstil auszusetzen hast, besprich das bitte gleich mit mir, anstatt deinen Ärger an anderen abzureagieren. Dein Benehmen ist nicht akzeptabel. Es vergiftet nicht nur die Atmosphäre innerhalb des Teams, das sich plötzlich in Fronten aufspaltet, es vergiftet vor allem Rebeccas Leben! Das muss aufhören!" „Warum nimmst du diese Hure in Schutz!? Du hättest sie schon längst aus der Mannschaft werfen sollen! Sie schadet unserem guten Ruf!" Einige wenige wagten zustimmende Bemerkungen, krochen aber sofort in sich zusammen, als sie Bebes eisige Miene gewahrten. „Natürlich", erwiderte sie verächtlich, „wenn ein Mädchen mit mehreren Jungs schläft, ist sie eine Schlampe. Aber wenn ein Junge mit mehreren Mädchen schläft, ist er ein toller Hecht oder ein ‚Playboy‘, was immer noch positiv besetzt ist. Die unberührte Unschuld und die böse Verführerin, das sind die Rollen der Frau und dazwischen gibt es nichts. Ist ein Mädchen nicht sexuell genug, gilt sie als prüde und unnormal. Geht ein Mädchen offen mit seiner Sexualität um, wird sie als Nutte verschrien. Egal, was wir tun, es ist falsch! Das ist ein verdammter doppelter Standard, der seit Jahrhunderten existiert und mir zum Hals raushängt! Es interessiert mich nicht, mit wem Rebecca Sex hat oder nicht, oder wann und wie oft. Das ist ihre Privatangelegenheit. Solange sie die Verantwortung dafür übernimmt, ordnungsgemäß verhütet und jeden Kerl zum Mond schießt, der auf ein Kondom verzichten will, spielt es keine Rolle. Für mich zählt nur, dass sie ein netter Mensch ist. Sie hilft immer, wenn wir sie um etwas bitten, sie ist eine klasse Cheerleaderin und hat noch nie ein Training verpasst. Das kann ich von dir nicht behaupten. Weißt du was? Leute wie du sind es, die unserem guten Ruf schaden. Das ist deine zweite Verwarnung. Bei der dritten fliegst du." „Das... das kannst du nicht machen!" „Doch. Ich muss nur mit dem Coach reden und ihr meine Gründe erklären." „Dieses grässliche Flittchen, das für jeden die Beine breitmacht, darf also in der Mannschaft bleiben, während ich, die ich die besten Sprünge draufhabe, einen Rauswurf riskiere!? Willst du mich verarschen, du Schickse!?!" „Sprich nicht in diesem Ton mit mir, Jessica. Ich bin dein Kapitän. Und als dein Kapitän sage ich dir, dass deine genialen Sprünge deinen schlechten Charakter nicht ausgleichen. Du hast eine deiner Kameradinnen tätlich angegriffen, sie beleidigt und gedemütigt. Ich erwarte, dass du dich bei ihr entschuldigst." „Und wenn ich nicht will!?" „...Wie alt bist du? Fünf? Im Ernst, das ist deine Reaktion? Das stärkt deine Position nicht besonders. Du beneidest mich um meine Stellung und hast doch nichts, um sie auszufüllen. Dein Trotz, dein Widerspruchsgeist, deine Arroganz, das Fehlen jeglicher Wertschätzung für jemand anderen als dich selbst... Du eignest dich nicht zum Kapitän. Dein Verhalten kommt dir vielleicht cool und großartig vor. Das ist es aber nicht. Entschuldige dich. Jetzt." Jessie wollte weiter protestieren, doch als sie sah, wie Bebe die Arme verschränkte und herausfordernd das Kinn reckte, überlegte sie es sich anders. Stotternd und stammelnd brachte sie eine wenig überzeugende Entschuldigung hervor, die Rebecca nach kurzem Zögern annahm. Jessie betrachtete sie mit unverhohlener Abscheu, warf ihr Haar in einer reichlich affektierten Geste nach hinten und stöckelte auf ihren High Heels von dannen. „Es... ist noch nicht vorbei, nicht wahr?" „Mach dir keine Sorgen, Becca", sagte Patty und strich ihr tröstend über den Kopf, „die kann dir gar nichts, ich werde ab heute auf sie aufpassen wie ein Bluthund. Es tut mir leid, dass ich nicht schon früher gemerkt habe, wie sie dich behandelt." „Sie war bisher immer subtil... oder jedenfalls subtiler als vorhin. Ich glaube, dass ich mit Dave zusammengekommen bin, hat ihr den Rest gegeben. Sie ist wohl einfach... ausgeflippt." „Das ist keine Rechtfertigung für ihr Verhalten", entgegnete Bebe, immer noch jeder Zoll eine Anführerin. „Wenn sie das unter ‚Teamwork‘ versteht... und hat sie tatsächlich einen Hairflip benutzt? Die einzige Person, bei der das nicht lächerlich aussieht, ist Butters. Glaubt sie, sie spielt hier eine Rolle in einem Film oder was soll dieser Blödsinn?" „Sie hält sich offensichtlich für die Queen Bee der Schule", meinte Wendy achselzuckend. „Wenn du mich fragst, ist sie eher die Alpha Bitch aus einem mittelmäßigen Hollywood-High-School-Movie. Denk nicht mehr an sie!" „Becca", wandte sich die Kapitänin an das Mädchen, „sie hat keine Kontrolle über dich, hörst du? Sie kann nicht einmal sich selbst überwinden... und deshalb bist du die Stärkere von euch beiden. Lass dir von niemandem etwas anderes erzählen. Du bist, wer du bist... und du bist super, so wie du bist. Die Mannschaft braucht dich. Die Schule braucht dich. Dein Freund braucht dich. Und vor allem braucht dich deine Familie. Du hast Menschen, die dich lieben. Vergiss das nicht. Und nun lass dir von Tammy dein Make-up auffrischen, sie ist eine absolute Expertin. Sie zaubert wieder eine wunderhübsche Fee aus dir, wetten?" Rebecca, in einer Hand das Flügelpaar, das Gesicht verquollen vom Weinen, mit laufender Nase und Mascarastreifen auf den Wangen, schlang ihre Arme um Bebe und schluchzte leise vor sich hin. Die Kapitänin tätschelte ihr den Rücken. „Ist ja gut, Süße... es ist nicht deine Schuld." Sie winkte Tammy heran, die ihr Schminktäschchen bereits gezückt hatte, löste sich behutsam aus der Umarmung und beobachtete mit Erleichterung, wie Rebecca, der zukünftigen Stylistin folgend, in Richtung Toilette verschwand, ein zaghaftes Lächeln auf den Lippen. Vom Rest ihres versammelten Teams, das Jessie ungehindert hatte agieren lassen, verabschiedete sie sich mit einem „Wir sprechen uns noch"; ein Satz, dessen Tonfall in Verbindung mit Bebes schaurig-schönem Kostüm für eine wirkungsvolle Drohung sorgte. Zusammen mit Wendy (alias Hermine Granger) kehrte sie an ihren Tisch zurück. Patty begleitete sie. Als die drei Mädchen sich setzten, sagte sie: „Du warst fantastisch, Captain! Soll ich dir ein Glas Bowle bringen, um den Mist runterzuspülen?" „Nein danke, ich habe noch." Die Blondine nahm Maleficents schwarze Hörnerhaube vom Kopf und versuchte, sich zu kratzen, scheiterte jedoch an den unzähligen Klammern, mit denen ihre Mutter ihrer Löwenmähne gebändigt hatte, um sie kostümtauglich zu machen. Geschickt entfernte sie alle Spangen und Nadeln und schüttelte schließlich zufrieden ihre Haarpracht. „Du weißt schon, dass du dich eigentlich erst um Mitternacht demaskieren darfst?" „Hast du eine Ahnung, wie warm es in diesem Ding ist, Wendy? Ich werde nicht warten, bis ich um Mitternacht ein einziger Schweißfleck bin! Und Jessica hat meine Temperatur zusätzlich hochgekurbelt! Ich hatte gedacht, nach meiner ersten Verwarnung würde sie sich wenigstens bemühen, etwas netter zu sein, aber nein...! Bei ihr ist Freundlichkeit wohl out!" „Ärgere dich nicht mehr, die ist es echt nicht wert. Sprich nächste Woche mit Coach Taylor, sie wird wissen, was zu tun ist." „Du hast recht." „He, Ladys... was ist das da?" „Was meinst du?" Patty deutete auf einen zusammengefalteten Zettel unter dem Kürbisteelicht, das als Dekoration diente. Bebe holte ihn hervor und begann zu lesen. „Oh!" „Oh? Was ist denn?" „Das ist eine Nachricht von meinem geheimnisvollen Verehrer! ‚Liebe Barbara‘, schreibt er, ‚ich hoffe, dass meine Gedichte dein Gefallen gefunden haben. Ich habe lange überlegt, ob ich dir meine Identität offenbaren soll und bin zu dem Schluss gekommen, dass du verdienst zu erfahren, wer ich wirklich bin. Ich habe nur Angst, die Lösung hinter dem Rätsel könnte dich enttäuschen. Wenn du bereit bist, dieses Risiko einzugehen, dann komm bitte nach Erhalt dieser Botschaft in den Musiksaal. Ich werde dort auf dich warten. Gezeichnet: Er.‘ Oh mein Gott, ich kann es nicht glauben...!" „Kinder, ist das aufregend! Hast du immer noch keinen Verdacht?" „Nein, nicht den geringsten! Er hat Angst, dass ich enttäuscht sein könnte... es muss also ein Junge sein, den ich bisher nicht beachtet habe. Vermutlich ist er nicht mein Typ. Andererseits platze ich fast vor Neugier! Was schlagt ihr vor?" Wendy zuckte die Achseln. „Nichts. Soll heißen: Das ist deine Entscheidung. Und vergiss nicht, du hast uns versprochen, ihn mit Respekt zu behandeln, selbst wenn er sich als Frosch herausstellen sollte. Er ist ganz klar verliebt in dich, sonst würde er sich nicht so anstrengen. Sei nett zu ihm, auch wenn du ihm einen Korb gibst, okay?" „Logisch! Erstens habe ich es euch versprochen und zweitens wäre alles andere ihm gegenüber unfair. Bis gleich!" Sie eilte in den Flur und schloss mit der Tür zur Aula auch die bunten Lichter und die laute Musik aus. Der Korridor lag dunkel und still vor ihr. Natürlich hatte man auch hier fleißig geschmückt; aber sie ahnte die Skelette, Mumien und Gespenster mehr, als dass sie sie sah. Sie freute sich über die Ruhe, die sie umgab... ihr normales Leben war immer so hektisch und aufreibend, dass sie sich Momente wie diese oft erkämpfen musste. Sie liebte es, Cheerleaderin zu sein und zu den angesagtesten Mädchen der Park High zu gehören, doch immer im Mittelpunkt zu stehen war eine kräftezehrende Angelegenheit. Als Kapitän musste sie ihr Team nicht nur bei Wettbewerben zum Sieg führen oder die Sportmannschaften unterstützen, jüngere Schülerinnen betrachteten sie als Vorbild und imitierten gern ihre Art, sich zu kleiden und zu frisieren. So schmeichelhaft das auch sein mochte, es verstärkte den enormen Erfolgsdruck, den ihr Umfeld auf sie ausübte. Da war ihre Mutter Bridget, stolze Boutiquebesitzerin und überzeugte Verfechterin all dessen, was sich mit Geld kaufen ließ, die von ihrer Tochter erwartete, jeden Tag als Trendsetterin aufzutreten. Nun war Bebe generell modebewusst, aber dass sie kaum je aus dem Haus gehen konnte, ohne sich von ihrer Mutter einen Rundumcheck gefallen lassen zu müssen...! Konnte sie die rote Bluse nicht einfach tragen, weil es ihre Lieblingsbluse war, unabhängig davon, ob Blau gerade die Fashionfarbe des Monats war? Dann gab es ihren Vater Frederick, der einzig für seine Aktiengesellschaft in der „City" (also Denver) zu existieren schien und dessen familiären Kontakt man als minimal bezeichnen musste. Siebzig Stunden Arbeit in der Woche sind nicht zu viel, um die Karriere voranzutreiben und in den Vorstand zu kommen. Welche Tochter? Er erinnerte sich meistens erst an sie, wenn sie ihm eine glänzende Note unter die Nase hielt, was ihr leider nicht in allen Fächern gelang. In diesem Fall hagelte es Vorwürfe. Sie war eine Stevens; nur Zweitbeste oder gar noch schlechter zu sein, das passierte nicht. Und wenn es doch passierte, war das Cheerleading schuld. Oder ihre „komischen Freundinnen". Oder irgendein Junge. Weshalb Sport, Freundinnen und Rendezvous verboten werden sollten. Schließlich ihr Team, von ihr liebevoll die „Pom-Pom-Truppe" genannt. Es machte unglaublich viel Spaß, mit ihnen zu trainieren, sich Choreographien auszudenken und das Publikum mit gewagten Stunts zu verblüffen. Weit weniger Spaß machten der ständige Zickenkrieg seitens Jessie und Konsorten, verlorene Turniere oder Spiele, und die Tatsache, dass sie in ihrer Funktion als Kapitän die Anlaufstelle für so ziemlich alle Probleme war, die die Mädchen umtrieben. Immer musste sie einen guten Rat, aufmunternde Worte, ein offenes Ohr oder ihre besten Mode- und Schminktipps parat haben. Die einzigen, bei denen das auch andersherum klappte, weil sie ihnen vollkommen vertraute, waren Patty und Rebecca (und natürlich Wendy, aber die war ja leider keine Cheerleaderin). Die meiste Zeit mochte sie ihre Mädels, doch das Lästern und die großen und kleinen Eifersüchteleien kosteten sie manchmal ihren letzten Nerv. Es gab Momente, in denen sie sich danach sehnte, einfach alles hinzuschmeißen... Kein anstrengendes Training mehr. Keine Sticheleien. Keine Vorwürfe. Keine Entscheidungen. Keine Verantwortung. Keine Erwartungen. Bebe straffte die Schultern. Was waren das für Gedanken?! Klar, es war nicht leicht, aber hatte sie nicht alles, was sie sich immer für ihre High-School-Zeit erträumt hatte? Und hatte sie nicht hart dafür gearbeitet? Sie würde bald aufs College gehen und dadurch Abstand zu ihren Eltern gewinnen können. Es konnte nur besser werden, nicht wahr? Sie erreichte den Musiksaal und trat ein. Es handelte sich um einen der ältesten Räume der Schule, wie die unmoderne Kreidetafel und das wacklige Pult verrieten. Neben dem Pult stand das Klavier, das schon Generationen von Schülern beim Singen begleitet hatte. Ein Junge, der als Werwolf verkleidet war, saß davor. Die Maskierung war ziemlich gut, sodass sie ihn nicht erkennen konnte. Auf einem Tisch etwa in der Mitte des Saales lag eine rote Rose, was sie sichtlich entzückte. Sie nahm an der so markierten Stelle Platz und wollte fragen, wer er sei, als die Klänge des Klaviers ertönten. „It‘s her hair and her eyes today That just simply take me away And the feeling that I‘m falling further in love Makes me shiver, but in a good way. All the times I have sat and stared As she thoughtfully thumbs through her hair And she purses her lips, bats her eyes And she plays with me sitting there, Slack-jawed and nothing to say! Cause I love her with all that I am And my voice shakes along with my hands Cause she‘s all that I see and she‘s all that I need And I‘m out of my league once again." Die Stimme wirkte vertraut auf sie, doch sie wusste nicht recht, weshalb. Sie weckte eine vage Erinnerung in ihr, nicht mehr. Es war seltsam... sie hatte etliche Verehrer gehabt, doch keiner von ihnen hatte sie auf dieselbe Art fasziniert wie ihr unbekannter Briefeschreiber. Wie er mit Worten umzugehen verstand... und nun konnte er auch noch singen und Klavier spielen? „I‘m out of my league" - warum glaubte er das? Was war der Grund für seine Zweifel? Warum sollte sie ihn nicht in Betracht ziehen? „It‘s a masterful melody When she calls out my name to me As the world spins around her She laughs, rolls her eyes And I feel like I‘m falling but it‘s no surprise! Cause I love her with all that I am And my voice shakes along with my hands Cause it‘s frightening to be swimming in this strange sea But I‘d rather be here than on land. Yes, she‘s all that I see and she‘s all that I need And I‘m out of my league once again." Bebe wusste, dass es mit ihr nicht immer einfach war. Zum Beispiel war ihr Tagesablauf sehr durchgeplant. Selbst an den Wochenenden mangelte es ihr an Freizeit, denn ihre Mutter spannte sie oft für die Boutique ein. Sie liebte es zwar, schicke Klamotten und Accessoires zu verkaufen, aber das machte Verabredungen gerade mit dem anderen Geschlecht umso schwieriger. Einen Jungen konnte sie schlecht für einen Nachmittag ins „Trés chic" einladen (Ausnahmen wie Butters zählten nicht)! Von den übersteigerten Ansprüchen ihrer Mutter gar nicht erst zu reden! Nach ihrer Meinung durfte sich Bebe nur mit zukünftigen Harvard/Yale/Stanford/Princeton-Absolventen (beliebige prestigeträchtige Uni einfügen) einlassen, die einen GPA von 4.0 und ein dickes Bankkonto vorzuweisen hatten. Was allerhöchstens auf Kyle, Token, Pip und Gregory zutraf, die wiederum dadurch disqualifiziert wurden, jüdisch, schwarz und britisch zu sein...! Wer fragt schon nach dem Charakter!? Sie seufzte. Ihre Finger spielten nachdenklich mit den Blütenblättern der Rose. Sie war manchmal genauso oberflächlich, doch ihre langjährige Freundschaft mit Wendy hatte das ziemlich gemildert. Zumindest hoffte sie das. „It‘s her hair and her eyes today That just simply take me away And the feeling that I‘m falling further in love Makes me shiver, but in a good way. All the times I have sat and stared As she thoughtfully thumbs through her hair And she purses her lips, bats her eyes And she plays with me sitting there, Slack-jawed and nothing to say! Cause I love her with all that I am And my voice shakes along with my hands Cause it‘s frightening to be swimming in this strange sea But I‘d rather be here than on land. Yes, she‘s all that I see and she‘s all that I need And I‘m out of my league once again." Ein weiteres Problem war ihr eigenes Misstrauen. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass es Kerle gab, die glaubten, sie schulde ihnen Sex, nur weil sie ein Mädchen war. Als ob sie allein diesem Zweck diente! Die Tatsache, dass es etlichen Jungs (und etliche erwachsene Männer, wenn man den Medienberichten so zuhörte) für selbstverständlich hielten, dass eine Frau in erster Linie zu ihrem Vergnügen existierte, erschreckte und erzürnte sie. War sie ein Spielzeug!? „Hey Schätzchen, geile Titten!" „Hallo, Süße! Bist echt sexy! Lass mich mal anfassen!" „Na, Baby? Willste einen, der‘s richtig bringt?" Wie sie es hasste. Sie war blond und hatte einen großen Busen. Na und? Deshalb war sie nicht automatisch leicht zu haben! Warum dachten das so viele von diesen Grenzdebilen!? Einer hatte ihr bei einem Date ins Gesicht gesagt, dass er überrascht gewesen sei, wie intelligent sie sich zu unterhalten wisse. Er habe sie nur für eine „blöde Cheerleader-Tussi" gehalten, die er ohne Probleme ins Bett kriegen könne. Bebe hatte ihm eine Ohrfeige verpasst und hinterher war sie bei seinen Kumpeln wochenlang als die „schlimmste Bitch der Schule" verschrien. Es war ja so erbaulich, im Korridor angepöbelt zu werden, nur weil sie das fragile Ego irgendeines Machos angekratzt hatte! Sie war dankbar für all die tollen Jungs in ihrem näheren Umfeld, denn sonst hätte sie Männer als solches wohl längst abgeschrieben. Token, höflich und vornehm. Kyle, ritterlich und respektvoll. Stan, romantisch und sensibel. Butters, aufgeschlossen und tolerant. Clyde, süß und freundlich. Tweek, schüchtern und liebenswert. Pip, taktvoll und zurückhaltend. Gregory, elegant und diszipliniert. Selbst Cartman, der ein guter Freund sein konnte, wenn man sich einmal seine Achtung erkämpft hatte (ja, Eric Cartmans Achtung musste erkämpft werden)! Sie hätte gern auch Kenny zu ihrer Liste hinzugefügt, selbstlos und tapfer... aber die verletzende Art, mit der er seine Eroberungen behandelte, wenn sie es wagten, Gefühle für ihn zu entwickeln, stieß sie ab. In diesem speziellen Bereich benahm er sich meist wie ein reinrassiges Arschloch. Und Craig? Es steckte eine Menge Gutes in ihm, doch leider legte er keinen Wert darauf. Er brauchte niemanden. Oder genauer: Er wollte niemanden brauchen. Schade. Die Melodie verklang. Bebe, etwas überrumpelt von der plötzlichen Stille, klatschte begeistert, um ihre Verlegenheit zu kaschieren. Niemand hatte ihr je ein Ständchen dargeboten! Was sollte sie jetzt tun? „Das... das war sehr schön. Vielen Dank. Ich... ich weiß gar nicht..." „...was du sagen sollst?", fragte er leise. „Ja. Es ist oft schwer, die richtigen Worte zu finden..." Er sprach langsam und bedacht, als müsse er sich auf jede Silbe einzeln konzentrieren. Auch das erinnerte sie an irgend jemanden, aber wieder konnte sie es nicht zuordnen. „Wer bist du?" Er zögerte. „Willst du es wirklich wissen?" „Sonst wäre ich nicht hier!" „...Du wirst enttäuscht sein." „Das wird sich zeigen." „Also gut. Komm bitte herüber zu mir." Sie strich sich ein paar Strähnen aus der Stirn, zupfte an ihrem Kostüm herum und verfluchte sich innerlich für ihre Nervosität. Die Rose vorsichtig in der Hand haltend, näherte sie sich ihm und stieg wie in Zeitlupe die drei Stufen zum Klavierpodium hinauf. Sie konnte sich nicht erklären, warum es ihr plötzlich den Magen umdrehte. Weil das hier endgültig war? Weil sie nicht mehr in ihre angenehme Ahnungslosigkeit flüchten konnte, wenn er ihr jetzt seine Identität offenbarte? Weil sie dann wissen würde, wen sie (vielleicht) zurückwies? „Du brauchst keine Angst zu haben. Wie auch immer deine Antwort ausfallen wird... ich werde sie akzeptieren und dich in Ruhe lassen. Gefühle kann man nicht erzwingen." Sie starrte ihn an. Trotz der wilden Perücke und der Schminke, die seine Züge stark veränderten, hätte sie diese warmen braunen Augen überall erkannt. Das einzige, bei dem keine Maskierung der Welt hätte Abhilfe schaffen können, waren seine Beine. „...Jimmy..." „Nun, Barbara?" Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Wie enttäuscht bist du, auf einer Skala von Eins bis Zehn?" „...James!! Das ist nicht der Zeitpunkt für dumme Witze! Du... du kannst nicht mein Briefeschreiber sein! Du bist zu... zu... Ich glaube es einfach nicht!" „Warum nicht? Ich habe in den letzten Jahren hart an meinem Stottern gearbeitet. Es gibt Kurse dafür. Und es ist ganz weg, wenn ich langsam genug spreche. Ich war so lange ein Gefangener meiner eingeschränkten Sprache, dass ich mich heute schriftlich besser ausdrücken kann als viele meiner Freunde. Ich bin ein guter Schüler und sehr beliebt, also sollte man meinen, ich habe alles, was ich will. Trotzdem würdest du nie mit mir ausgehen, nicht wahr? Haben... haben dir meine Gedichte wenigstens gefallen?" Sie wurde rot. „...Ja. Noch kein Junge hat so etwas für mich gemacht. Wie bist du nur auf diese Idee gekommen? All die Mühe, die du dir gegeben hast..." Jimmy betrachtete sie eindringlich. »Ihre Reaktion ist wie erwartet... und gleichzeitig auch unerwartet. Ich hatte Angst, sie würde weglaufen oder mich auslachen. Schließlich hat Bebe einen hinterhältigen Zug, das darf man nicht vergessen. Sie könnte genauso boshaft, ignorant und egoistisch sein wie Jessie... genausoleer. Aber sie ist es nicht. Sie ist klug, gerecht und entschieden. Ja, sicher... manchmal benimmt sie sich sehr oberflächlich und ja, sie ist eitel und ziemlich verwöhnt... Dennoch. Wer sie einmal bei einem Wettbewerb erlebt hat, wer sie für den Sieg hat kämpfen sehen, wer weiß, wie stolz sie darauf ist, eine Athletin zu sein... der muss doch erkennen, dass sie nicht nur ein ‚hirnloses Modepüppchen‘ ist! Ich schwöre, wenn Boyett sie noch einmal so nennt, ramme ich ihm meine Krücken in die Eier, nicht nur gegen das Schienbein! Und wenn ich an die miesen Gerüchte denke, die unter den Jungs der Park High über sie kursieren, nur weil sie von Mutter Natur mit grandiosen Kurven ausgestattet wurde, möchte ich mich am liebsten übergeben. Klar, sie hat garantiert mit jedem Kerl in der Footballmannschaft geschlafen, denn das ist genau das, was Cheerleader ‚normalerweise‘ tun, nicht wahr!? Ich bin wirklich froh, dass meine Clique so viel vernünftiger ist als diese Vollpfosten...!« Er griff nach den Krücken, die er unter den Stuhl geschoben hatte und stand auf. Ihr verzagter Blick folgte ihm. Mit einer gewissen Freude und Genugtuung stellte er fest, dass sie seine Augen fixierte und nichts sonst. Sie wartete auf eine Erklärung. „...Wie ich auf diese Idee gekommen bin? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht mehr genau. Du warst das erste Mädchen, für das ich ernsthaft geschwärmt habe. Du bist sehr talentiert und clever... und ein Arbeitstier, genau wie ich. Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, ziehst du es durch. Du hast Durchhaltevermögen. Das ist echt sexy." „Das findest du sexy?" „Na klar. Ich meine, ich finde dein Aussehen schon auch umwerfend, das habe ich ja in meinen Gedichten beschrieben. Aber das ist mir nicht so wichtig. Jessie zum Beispiel ist auch sehr hübsch, doch es ist nichts dahinter. Und ehrlich, die Hälfte der Menschheit läuft mit einem Busen herum; es gibt also eigentlich keinen Grund, sich besonders was darauf einzubilden. Du bist eine Kämpferin und eine gute Freundin. Das bedeutet viel mehr." „...Eine Kämpferin? Obwohl ich ein absolutes Girly Girl bin?" „Das eine schließt das andere nicht aus. Du kannst Glitzernägel lieben und trotzdem einen starken Willen haben. Hast du es nicht satt, immer in Schubladen gesteckt zu werden?" Sie biss sich auf die Lippen. Natürlich hatte sie es satt. Aber sie war zu sehr daran gewöhnt, sich den Erwartungen anderer anzupassen. Auch jetzt hatte sie seiner Aussage, dass sie eine Kämpferin sei, nicht einfach vollen Herzens zugestimmt, sondern ihre geradezu stereotype Weiblichkeit als Einwand vorgeschoben. Warum eigentlich? Es spielte schließlich keine Rolle, ob sie Mode und Cheerleading liebte und Make-up und tolle Schuhe. Klischee hin oder her, sie war trotzdem eine vollwertige Persönlichkeit, komplett mit den üblichen Widersprüchen und Macken, die so eine Persönlichkeit eben mit sich brachte. Dennoch verwirrte es sie, mit einem Jungen zu sprechen, der ihrem Inneren einen höheren Wert beimaß (ohne dabei das Äußere zu ignorieren, das ihm gefiel und auf das sie stolz war). Sie spürte, dass er sie ernst nahm, was ihn weitaus attraktiver machte als viele ihrer früheren Verehrer. Da sie stumm blieb, wandte sich Jimmy zum Gehen. „Barbara...ich verlange nichts von dir. Wenn du keine Annäherungsversuche von meiner Seite mehr möchtest, ist das in Ordnung. Im Grunde habe ich damit gerechnet. Es tut weh, aber ich kann nicht behaupten, überrascht zu sein. Danke, dass du gekommen bist und mir zugehört hast." „...James?" „Ja?" Er drehte sich um, ein hoffnungsvolles Lächeln auf den Lippen. „...Ich ...ich bin unsicher. Weißt du, ich könnte mir vorstellen, einmal mit dir auszugehen. Aber ich habe Angst, dass du das vielleicht als mitleidige Geste auffassen könntest. Und ich will dich auf keinen Fall beleidigen oder verärgern!" „Tue ich dir denn leid?" „Eh? Na ja, nein... ich glaube nicht..." „Was fällt dir als erstes ein, wenn du an mich denkst?" Sie schloss die Augen. „Hm... Jimmy Valmer... schlechte Witze, guter Sportler, groß, braune Augen, Timmys bester Freund, bekommt niedliche Grübchen, wenn er lacht..." „...Ich bekomme niedliche Grübchen?" Bebe blinzelte ihn verschmitzt an. „...Ja. Sie sind leicht zu bemerken. Du lachst oft." Er trat an sie heran, ergriff eine Strähne ihres langen blonden Haares und drückte einen Kuss darauf. Ihr Herz vollführte einen unfreiwilligen Sprung. „Wärst du wirklich bereit, einmal mit mir auszugehen? Mit Jimmy Valmer, der schlechte Witze reißt und gut im Sport ist? Mit Timmys großem besten Freund, der braune Augen und niedliche Grübchen hat? Mit dem Jungen, bei dem dir nicht als erstes ‚Krüppel‘ einfällt?" Sie zögerte. Ihre Mutter würde mit Entsetzen reagieren. Für sie wäre Jimmy wie das Kleid aus dem Second-Hand-Shop; eine Ungeheuerlichkeit, mit der sie nicht in Verbindung gebracht zu werden wünschte. Ihrem Vater wäre es vermutlich egal, solange ihre guten Noten nicht nachließen. Und ihre Pom-Pom-Truppe? Von den meisten hatte sie nichts zu befürchten, aber Jessie und ihre Mitläufer würden, sollte sie mit Jimmy ausgehen, nicht bloß über sie spotten, sondern vor allem über ihn. Sie würden unnötig grausam und verletzend sein, nur um zu demonstrieren, dass man als Cheerleader keine Dates mit einem Behinderten hatte. »Ah, verdammt noch mal! Seit wann gebe ich einen Scheißdreck auf das, was Jessie und Co. von mir denken!? Es ist allein meine Sache, ob ich es mit ihm versuchen will oder nicht!« Sie umfasste seine Hände und drückte sie fest. „Jimmy... es wird nicht einfach sein..." „Das weiß ich. Deinen Eltern wird es nicht gefallen, nicht wahr? Und einigen Mädchen in deinem Team auch nicht. Aber das war mir von vornherein klar. Ich bin bereit, das Risiko einzugehen. Lassen wir es auf den Versuch ankommen?" Bebe lächelte. „...Ja. Lassen wir es auf den Versuch ankommen." Die Party war in der Zwischenzeit ihrem normalen Gang gefolgt. Patty, Tammy und Rebecca tanzten zu dritt irgendeinen erfundenen Tanz, während Wendy an ihrem Tisch verblieben war und ihre Nase in ein Buch steckte. Ab und zu hob sie den Kopf, um das fröhliche Gewimmel zu beobachten oder einen Schluck Bowle zu trinken. Sie klinkte sich des öfteren auf diese Art aus. Nicht etwa, weil ihr das Fest keinen Spaß machte oder sie kein Interesse daran hatte, sondern weil sie einfach das stille Vergnügen bevorzugte. Lesen war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen und sie konnte es immer und überall tun, manchmal zum völligen Unverständnis ihrer Freunde. Aber für sie war ihr persönliches Kopfkino durch nichts zu überbieten. „Guten Abend, Wendy." Sie ignorierte die Stimme, gefesselt von ihrer Lektüre. „Guten Abend, Wendy", wiederholte die Stimme, diesmal mit mehr Nachdruck und nicht ganz frei von Gereiztheit. Sie senkte ihr Buch und schenkte dem Jungen, der sie angesprochen hatte, einen irritierten Seufzer. „Was willst du, Gregory? Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?" Gregory von Yardale, der sich als Phantom der Oper verkleidet hatte und schon den gesamten Abend über von einer Riege anhimmelnder Fangirls umschwärmt worden war, verbeugte sich lächelnd und zog es vor, auf ihre offensichtliche Ablehnung nicht einzugehen. Ein Minuspunkt. „Nun, in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Damenwelt bei meiner Aufmerksamkeit geschmeichelt zu fühlen pflegt, wirst du mir sicher verzeihen." Und noch ein Minuspunkt. „Wenn sich einige Mädchen von deiner Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlen, ist das ihre Sache und geht mich nichts an. Aber sei so freundlich und schere uns nicht alle über einen Kamm. Es gibt auch weibliche Wesen, die sich nicht geschmeichelt, sondern gestört fühlen. Ich zum Beispiel. Ich habe gelesen. Ist das neuerdings das Signal für ‚Bitte beachte mich!‘, oder warum hältst du es für nötig, mich einfach so aus der Geschichte herauszureißen? Ich war gerade an einer sehr spannenden Stelle!" Er schürzte die Lippen. „Willst du mir erzählen, dein Buch sei interessanter als ein Gespräch mit mir? Ich hatte auch daran gedacht, dich zu einem Tanz aufzufordern..." „Das ist nett von dir, Gregory, aber habe ich dir irgendwie zu verstehen gegeben, dass ich das möchte? Hat meine Mimik angedeutet, dass ich reden oder tanzen will?" „Na ja... nein." „Ach? Und warum kommst du dann her?" Sein hübsches Gesicht, zur Hälfte von der Maske des Phantoms verdeckt, färbte sich blassrosa. Er befingerte seine Manschetten, verhedderte sich in seinem Cape und stieß schließlich hervor: „Was ist los mit dir, Wendy!? Kannst du nicht einmal eine normale Reaktion zeigen!? Warum behandelst du mich so geringschätzig!? Ist dir nicht klar, wer ich bin?! Im Grunde brauche ich mich mit jemandem wie dir überhaupt nicht abzugeben, die meisten Mädchen liegen mir ohnehin zu Füßen! Aber du... du hast mich, den Erben des Hauses Yardale, fallengelassen und dich nicht mehr um mich gekümmert! Keine andere hätte je...!" Wendy schlug das Buch zu und warf es mit Schwung auf den Tisch. „Was soll denn das jetzt?! Das ist Jahre her! Es ist nicht zu glauben, dass du dermaßen nachtragend und kleinlich bist! Natürlich habe ich dich fallengelassen - du hast dich als mieser kleiner Snob entpuppt! Du bist ein gutaussehender und charmanter Typ, Gregory, aber du hältst dich leider für etwas Besseres und lässt auch jeden, der nicht in deine Weltsicht passt, sehr deutlich spüren, wie unterlegen sie dir sind! Ich weiß nicht, woher du diese Einstellung hast, doch beeindrucken kannst du mich damit nicht! Und es ist eine Unverschämtheit, dass du dich darüber aufregst, wie geringschätzig ich dich behandle, obwohl du mit mir genau das gleiche tust! Du hast selbst gesagt, dass du dich mit jemandem wie mir nicht abzugeben bräuchtest! Ist das nicht geringschätzig!? Und diese Idee, dass keine andere außer mir dich jemals abserviert hätte... was ist das für ein Unsinn?! Denkst du allen Ernstes, dass in den nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahren keine Frau genug von deinem hochtrabenden Getue haben könnte!?" „Widerworte, immer nur Widerworte! Ist das alles, was du kannst?! Warum ist es für dich so unmöglich, einfach nett und damenhaft zu sein?!" „Das fragt mich ein Kerl, der den Begriff ‚elitäres Arschloch‘ neu definiert?! Außerdem, was du unter ‚nett‘ und ‚damenhaft‘ verstehst, würde ich unter ‚kriecherisch‘ und ‚rückgratlos‘ einordnen! Wenn du jemanden willst, der dich über den grünen Klee lobt und ohne dich keine fünf Schritte alleine machen kann, dann bitte sehr, aber halt mich da raus!" „Ich will lediglich eine Freundin, die meine hohe Stellung unterstreicht und mich nicht der Lächerlichkeit preisgibt! Deshalb ist es so wichtig, dass sie sich zu benehmen weiß und mir in allen Belangen Folge leistet!" „Oh bitte!" Wendys braune Augen, deren Härte er fürchtete, blitzten kampflustig. „Du willst keine Freundin, Gregory! Du willst ein Accessoire, das an deinem Arm hängt und hübsch aussieht - du willst eine Handtasche ohne Inhalt! Da wirst du nur leider Pech haben, denn die meisten Handtaschen, die ich kenne, verfügen über eine Menge Inhalt! Woher hast du überhaupt diese spießigen Vorstellungen?! Haben dir das deine Eltern eingeimpft? Musst du deinen kostbaren Familiennamen schützen, oder was!?" Die Auseinandersetzung der beiden, die nach und nach lauter geworden war, hatte begonnen, einige Schaulustige anzuziehen, deren Anwesenheit dem jungen Engländer jetzt erst auffiel. Das ungenierte Anstarren, Flüstern und Kichern war äußerst unhöflich und beschämte ihn, denn er wurde sich klar darüber, dass er im Moment eine reichlich unvorteilhafte Figur abgab. Auch das war Wendys Schuld! Natürlich musste sie ihm entgegentreten! Natürlich musste sie ihre spitze Zunge an ihm wetzen! Natürlich musste sie ihn ständig an seine Herablassung erinnern! Wie sie da vor ihm stand, die Arme in die Hüften gestemmt, die funkelnden Augen unverwandt auf ihn gerichtet, den Kopf stolz erhoben, ihre zarte Gestalt von der schwarzen Robe ihres Kostüms umhüllt, hatte er das Gefühl, von dieser Kraft, die sie ausstrahlte, wie ein Stück Bimsstein zerdrückt zu werden. Er kam auf sie zu und nahm die Maske ab. Ihr schöner, stählerner Blick hielt den seinen gefangen wie eine Jagdschlinge das Kaninchen. „...Wie bist du zu zähmen, Wendy Testaburger? Was muss ein Mann tun, wie muss er sein, um deinen Respekt und deine Zuneigung zu gewinnen?" Sie musterte ihn argwöhnisch, von dem plötzlichen Themawechsel verwirrt. „Zunächst einmal sollte er sich nicht einbilden, man könne mich ‚zähmen‘. Ich bin kein Beutetier, sondern ein menschliches Wesen, danke sehr. Und ansonsten? Um Respekt und Zuneigung zu erhalten, muss man sie einfach nur selbst gewähren. Das ist die ganze Kunst." Er starrte sie an. Diese unerwartet simple und zugleich entschiedene Antwort führte ihm wieder einmal all das vor Augen, was ihn an ihr so reizte: Ihre Widerborstigkeit, ihre Besserwisserei, ihre Dreistigkeit, ihr Sturkopf, ja, und auch ihre Intelligenz, ihr Kampfgeist, ihre Art, die Dinge beim Namen zu nennen und sich nicht zugunsten irgendeiner Person zu verbiegen. Einfach... sie. Einfach sie! Einfach... ...sie...? Er trat einen Schritt zurück. Dann noch einen und einen weiteren. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt, sein Körper begann zu zittern. Wendy sagte seinen Namen. Er hörte Besorgnis in ihrer Stimme oder zumindest Betroffenheit über seine heftige Reaktion. Er sah ihre klaren Augen, die er verabscheute, weil sie durch ihn hindurchgingen wie ein Messer, sah fast wie in Trance die elegante Bewegung, mit der sie ihre Hand nach ihm ausstreckte... und ergriff die Flucht. Es war ihm plötzlich egal, wie erbärmlich das wirken musste, er wollte nur weg von dieser neugierigen Menge, weg von ihr. Er rannte durch den Korridor nach draußen, überquerte den Schulhof wie von Furien gehetzt und hielt erst an, als ihm die Seiten wehtaten. Schwer nach Atem ringend, lehnte er sich gegen einen Baum und erkannte, dass er den Garten der Natur-und Botanik-AG erreicht hatte, wo die Clubmitglieder Blumen, Obst und Gemüse anpflanzen durften. Unter dem Apfelbaum schräg gegenüber war eine Bank aufgestellt worden, auf die Gregory jetzt zusteuerte und sich setzte. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, während sein Herz schmerzhaft pochte. »Verdammt... verdammt! Warum...? Warum bloß? All die Mädchen, die ich haben könnte... und ich will nur sie! Wann ist das passiert...? Wieso? Ich verstehe überhaupt nichts mehr...!« „Du hast es also endlich kapiert? Wurde auch langsam Zeit." Er schrak hoch und beruhigte sich nur unwesentlich, als er seinen besten Freund entdeckte. In seiner Verkleidung als Kopfloser Reiter war er überraschend unheimlich, obwohl ihm sein Kopf durchaus nicht fehlte. Um trotzdem seiner Rolle gerecht zu werden, trug er ein hässliches Haupt aus Pappmache mit sich herum. Zusammen mit der Dunkelheit und Stille des Abends konnte einem Pip schon einen Schauer über den Rücken jagen. „Was tust du hier, Philip?" „Nun, als dein engster Freund ist es eindeutig meine Aufgabe, dir hinterherzulaufen, wenn du dich zum Affen gemacht hast. Solltest du es allerdings vorziehen, einsam und verlassen in deinem Gefühlschaos zu baden, kann ich natürlich wieder gehen..." „Setz dich neben mich und halt den Mund." „Wie Seine Majestät befehlen." Etwa fünf Minuten lang schwiegen die beiden, Gregory düster vor sich hin brütend, Pip mit einem geduldigen Lächeln auf den Lippen. Schließlich überwand sich der zukünftige Lord Yardale und flüsterte: „Du... du wusstest, dass ich in sie verliebt bin? Bevor ich es wusste? Wie ist das möglich? Ich... ich war mir so sicher, dass ich sie hasse... so sicher..." „Du bist ein Idiot, Greg." „He! Ich dachte, du bist gekommen, um mir zu helfen! Warum beleidigst du mich?!" „Weil - du - ein - Idiot - bist", skandierte Pip im sachlichen Ton eines unerschütterlichen britischen Gentlemans. „Du hast mir so oft die vielen verschiedenen Dinge aufgezählt, die du an Wendy nicht leiden kannst und dennoch habe ich dich ebenso oft dabei ertappt, wie du über ihre Klugheit, ihre Schönheit, ihre Entschlossenheit oder ihre Willenskraft philosophiert hast! Und du hast es wirklich nicht bemerkt, das war das schlimmste! Statt dessen hast du dich in diese... diese grundlose Verachtung hineingesteigert!" „Grundlos!? Du hast doch erlebt, wie sie mich behandelt!" „Ja, aber meistens verdienst du es nicht anders. Wendy geht dir unter die Haut, was bei deinem Panzer, der aus Arroganz und höflicher Gleichgültigkeit besteht, ziemlich beeindruckend ist - und genau deshalb hast du solche Angst vor ihr. Ihr mögen vielleicht dein Charme und deine exzellente Bildung gefallen, doch das genügt nicht, um sie zu gewinnen. Da es dich über zwei Jahre gekostet hat, die wahre Natur deiner Gefühle zu begreifen, hast du nur noch bis zum Sommer die Gelegenheit, etwas mit deiner Erkenntnis anzufangen." „Das... das ist wahr! Und nicht gerade aufbauend... was ist das mit dir und deiner zweifelhaften Art, Leute zu trösten!? Ich fühle mich noch keinen Deut besser!" „Ich tröste dich ja auch gar nicht. Ich versuche lediglich, einen Ausbruch von Selbstmitleid zu verhindern und dich davon abzuhalten, wie üblich Wendy die Schuld in die Schuhe zu schieben, wenn dir deine guten Manieren abhanden kommen. Sie ist nicht deine Feindin, sie ist das Mädchen, das dir den Kopf verdreht hat! Was genauso wenig ihre Schuld ist - sie ist nicht dafür verantwortlich, dass du sie anziehend findest, verdammt! Sie ist einfach, wer sie ist!" Gregory zuckte zusammen. Ah, Philip und seine verbalen Pfeile! Was täte er nur ohne sie? Sich an seiner eingebildeten Perfektion ergötzen, vermutlich, tatkräftig unterstützt von seinem Vater George, für den weniger als Perfektion nicht in Frage kam. Das Geschlecht der Lords of Yardale war nicht immer wohlhabend gewesen, dafür aber alt, ehrwürdig und traditionsbewusst. Alle paar Generationen pflegte sie einen aufmüpfigen Spross hervorzubringen, der mit den gängigen Konventionen brach und damit die Familiengeschichte aufpolierte. Da war zum Beispiel sein Urgroßvater John, der durch Fehlinvestitionen fast sein ganzes Vermögen in den Sand gesetzt hatte und kurzerhand entschied, nach Kanada auszuwandern. Das Geld dafür beschaffte er sich durch den Verkauf von Yardale Manor (womit er so ziemlich jede vorhandene Tradition mit Füßen trat); dann packte er Kind und Kegel ein und zog nach Ottawa, wo er sich seiner großen Leidenschaft widmete, dem Malen. Und tatsächlich hatte er mit seinen Bildern enormen Erfolg. So enormen Erfolg, dass er sich einen Sommersitz irgendwo in der kanadischen Wildnis leisten konnte, wo er als zweites Standbein eine Pferdezucht mit englischen Vollblütern aufzog. Von seinen insgesamt vier Erben übernahm der Älteste, George, das Gestüt, während Margaret und Andrew nach England zurückkehrten, um dort zu studieren. Sie blieben beide; er brachte es zum bekannten Journalisten und Kunstkritiker, sie wurde eine hervorragende Anwältin. Der jüngste Sohn schließlich, Arthur, absolvierte sein Literaturstudium in den USA/Colorado, lernte seine zukünftige Frau dort kennen und unterstützte später George bei seiner Arbeit. Als Letztgeborener hatte er nie irgendwelche Erwartungen, was den Titel betraf, doch dann kam alles ganz anders. George erkrankte an Krebs, sodass nach und nach Arthur die Geschäfte komplett übernehmen musste. Sein ältester Bruder war, obgleich verheiratet, kinderlos geblieben und Andrew wollte das Leben, das er sich in England aufgebaut hatte, nicht aufgeben und verzichtete deshalb auf seine Ansprüche. So stand Arthur von Yardale mit einem Mal vor jener Herausforderung, von der er geglaubt hatte, sich ihr nie stellen zu müssen. Drei Jahre nach Georges Tod wurde Arthurs Sohn geboren, den er in Erinnerung an seinen geliebten Bruder auf denselben Namen taufen ließ. Das war Gregorys Vater. »Was genau ist damals wohl passiert? Dad spricht nicht oft über seine Kindheit. Ich meine, ich weiß, dass es zwischen ihm und Grandpa irgendein Zerwürfnis gegeben hat, aber das ist alles. Jedenfalls ist Dad nach England abgewandert, meiner Mutter begegnet und hatte nie die Absicht, zurückzukehren. Das sagt Mum zumindest. Ich bin in London geboren und aufgewachsen, bevor wir plötzlich wieder nach Kanada gezogen sind. Und später nach Amerika. Nicht, dass Dad sich großartig erklärt hätte; was er anordnet, wird gemacht, aber ständig so entwurzelt zu werden... Kein Wunder, dass ich fast nie dauerhafte Freunde hatte, bis ich Pip traf. Gut, ich bin stolz darauf, ein Yardale zu sein, und wie Dad bin ich überzeugt davon, dass man nach Perfektion streben sollte, aber manchmal... manchmal...« Manchmal wünschte er, seine strenge Erziehung hätte ihm nicht so nachhaltig eingebläut, dass er als Adliger automatisch besser war als jemand aus den unteren Schichten der Gesellschaft. Sein Großvater war in dieser Hinsicht ganz anders - vielleicht war das einer der Gründe für den Bruch? Er war auch stets höflich, doch nie überheblich, nie kalt. Nicht so wie sein Vater, bei dem unter all der vornehmen Höflichkeit immer eine Spur Herablassung zu spüren war. »Dad wollte mich auf irgendeine sündteure Privatschule schicken, damit ich die ‚richtigen‘ Kontakte knüpfe, die ‚richtigen‘ Leute kennenlerne und auf die ‚richtige‘ Universität komme, was heißen soll: unter Harvard in den USA oder Oxford in England läuft gar nichts. Es war Grandpas Idee, dass ich auf eine normale High School vor Ort gehen sollte, damit ich meinen Horizont erweitere und mit Menschen aus anderen Verhältnissen zusammentreffe, um ein Gefühl für die Welt außerhalb meines gut situierten Kokons zu entwickeln. Ich scheine nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein... mein bester Freund stammt aus derselben Sphäre wie ich, ich beschäftige mich in meiner Freizeit mit Sportarten wie Reiten oder Fechten, die hier neben Football und Baseball überhaupt keine Rolle spielen, und ansonsten bleibe ich auf Distanz und bin... und bin ein ‚elitäres Arschloch‘, um Wendy zu zitieren. Oder wenigstens ein Snob. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich eines Tages so sein wie Dad...« Er warf einen Seitenblick auf Pip, der ihn nach wie vor mit diesen durchdringenden Augen musterte und korrigierte sich beschämt: »Oder... bin ich... schon wie er geworden...?« „Greg, hör zu: Wenn du sie liebst, musst du bereit sein, dich zu ändern. Wendy war nie dafür bekannt, wahllos herumzuflirten oder mit einem x-beliebigen Jungen auszugehen. Sie ist nicht flatterhaft oder wankelmütig. Wenn sie es ernst meint, meint sie es ernst. Ihr erster fester Freund war Stanley, und das fing in der dritten Klasse an und dauerte - mit einigen Unterbrechungen - bis in die achte. Auch jetzt noch ist er einer ihrer besten Freunde. Danach war sie mit Bridon Gueermo liiert, dem Vize-Kapitän des Basketballteams. Das hielt etwa bis zur elften Klasse, was bei der Kurzlebigkeit der meisten Teenagerromanzen ziemlich beachtlich ist. Sie würde sich nie mit jemandem einlassen, den sie nicht wirklich sehr gern hat - was bedeutet, dass du ein hartes Stück Arbeit vor dir hast." „...Macht es dir eigentlich Spaß, mich zu quälen?" Pip grinste. „Ein bisschen." Gregory erwiderte das Grinsen, schwieg eine Weile (wobei sein Grinsen langsam in ein sanftes, leicht melancholisches Lächeln überging) und sagte dann: „...Danke. Danke, dass du mein Freund bist. Und danke für deinen Rat." „Ich danke auch." „Eh? Wofür?" „Fürs Beherzigen." In der Aula hatte sich die Aufregung nach dem Abgang des Blonden rasch gelegt. Einige, allen voran Gregorys enttäuschte Fangirls, diskutierten noch über die Szene, aber die meisten tanzten schon wieder, schlugen sich den Bauch mit den Süßigkeiten voll, die zu vorgerückter Stunde das Buffet ergänzten oder begannen das große Rätselraten darüber, wer diesmal den Kostümwettbewerb gewinnen würde. Jeder durfte eine Stimme abgeben und in einen Kasten neben dem Getränketisch werfen; später würde ausgezählt und der König oder die Königin von Halloween gekürt werden. Patty hatte Wendy einen Zettel unter die Nase gehalten, auf der sie ihre Wahl notieren sollte und sie kannte ihren Kandidaten bereits, doch statt den Namen aufzuschreiben, kaute sie auf dem Bleistift herum und starrte ins Leere. „Süße, bist du irgendwie in Trance? Du ziehst dieses Gesicht, seit Yardale hinausgestürmt ist!" „Ach, ich weiß auch nicht, Patty. Er sah so... furchtbar erschrocken aus. War das, was ich gesagt habe, dermaßen schlimm oder ungewöhnlich?" „Nein. Außerdem hat er gefragt. Hätte er deine Antwort nicht hören wollen, hätte er dich nicht fragen dürfen, so einfach ist das. Keine Ahnung, was mit ihm los ist... Was genau hast du getan, dass er dich so auf dem Kieker hat? Bist du zum falschen Zeitpunkt an ihm vorbeigegangen und hast sein inneres Feng Shui durcheinandergebracht, oder was?" Wendy konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Etwas in der Art. Erinnerst du dich an die Kanadasache? Urheber Mrs. Broflovski? Gregory und ich waren damals kurz zusammen. Als ich merkte, was er für ein eingebildeter Mistkerl ist, habe ich ihm den Laufpass gegeben. Ich habe ihn schwer gekränkt und scheine seither eine persona non grata für ihn zu sein. Jedenfalls solange, bis Seine Majestät von sich aus das Wort an mich zu richten geruht, wie vorhin. Und nein, ich verstehe nicht, was sein Problem ist!" Pattys verächtliche Miene verriet, dass Mr. Yardale in ihren Augen offiziell in der Schublade mit der Aufschrift „Douchebag" gelandet war. Es wäre allerdings untypisch für sie gewesen, es dabei zu belassen. „...Aber er interessiert dich?" „...Nein! ...Ja! Nein...! Ich meine..." „Du meinst?" „...Er hat Charme, wenn er will. Und er ist sehr belesen, strebsam, ehrgeizig. Ich habe nun mal eine Schwäche dafür. Ich suche immer nach jemandem, der mir intellektuell ebenbürtig ist oder zumindest ein paar kluge, tiefsinnige Gedanken vorzuweisen hat. Auf der anderen Seite regt mich seine Einstellung enorm auf und er ist maßlos nachtragend. Er besitzt diese aristokratische Ausstrahlung, diese vollendeten Manieren, den guten Geschmack, die feinen Gesten... aber wenn du nur ein bisschen von diesem Zuckerguss wieder abkratzt, siehst du die ganze unschöne Bescherung darunter. Verdammt... er ist so... frustrierend!" „Ich glaube, frustrierend ist jeder mal irgendwann. Leider macht er einen Dauerzustand daraus. Was wirst du jetzt tun?" „Wenn ich das wüsste...!" Im Hell‘s Pass hatte man Kyles Blut abgezapft. Nun saß er mit einem Pflaster auf dem Unterarm im Wartesaal und erzählte seinem Vater, was sich zugetragen hatte (den Teil mit Kennys Verwandlung in einen Engel ließ er wohlweislich aus). Gerald hörte ernsthaft zu und stieß am Ende der Geschichte einen langen Seufzer aus. „Großer Gott, Junge... ich weiß nicht, ob ich dich schimpfen oder dankbar dafür sein soll, dass du da wieder lebend herausgekommen bist! Und ihr beide auch! Was für ein Wahnsinn, es mit einem geistesgestörten Mörder aufnehmen zu wollen! Unsere hiesige Polizei ist vielleicht inkompetent, aber sie ist wenigstens bewaffnet! Ich muss das alles deiner Mutter beichten, das ist dir doch klar? Du wirst Hausarrest bekommen, soviel ist sicher!" „Aber wir haben Cartman gerettet!" „Ja, natürlich. Trotzdem habt ihr euch auf höchst unverantwortliche Weise in Gefahr begeben, eure Eltern über euren Aufenthaltsort belogen und eure Informationen nicht an die Polizei weitergeleitet. Ich wünschte, ich könnte euch zu eurem Mut in dieser Sache mehr gratulieren, aber ihr seid ein enormes Risiko eingegangen! Ihr hattet Glück, dass euch der Kerl nicht einfach über den Haufen geschossen hat! So sehr ich Erics Befreiung begrüße, ich kann mich nicht vor euch aufbauen und sagen: Das wird keine Konsequenzen haben, macht euch keine Sorgen. Nur weil wir daran gewöhnt sind, dass ihr verrückte Dinge anstellt, heißt das nicht, dass ihr einen Freibrief für diese verrückten Dinge habt. Randy und Sharon werden vermutlich in Ohnmacht fallen..." Mr. Broflovskis vorwurfsvoller Blick ließ Stan den Kopf senken. „...und was Stuart und Carol betrifft..." Er linste zu Kenny, der nicht besonders schuldbewusst wirkte. „...Na ja, die beiden dürfte es nicht so sehr kümmern...dafür deine Geschwister." Der Blondschopf biss sich auf die Lippen, verblüfft, dass Mr. Broflovski im Bilde darüber war, welche Mitglieder seiner Familie ihm wirklich etwas bedeuteten. Kyle war ebenfalls ein wenig überrascht. Er vergaß gern, dass sein Vater, mochte er auch unter der Knute seiner Frau stehen, ein fähiger Anwalt mit viel Erfahrung und Menschenkenntnis war. „...Genug der Ermahnungen. Ich bringe euch jetzt nach Hause." „Warte, Dad! Was ist mit Cartman?" Gerald runzelte die Stirn und betrachtete das unglückliche Gesicht seines Sohnes. „Kyle. Wir können im Moment nichts für ihn tun. Du hast Blut gespendet; das muss genügen. Eric wird wahrscheinlich gerade operiert, der Arzt ist also bei ihm. Später, wenn es ihm wieder besser geht, kannst du ihn bestimmt besuchen." „Aber... aber...!" Stan legte den Arm um seinen besten Freund. „Beruhige dich, Kumpel. Dein Dad hat recht. Wir können Cartman jetzt nicht helfen. Wir haben ihn gerettet, das ist schon viel wert. Hey, er ist ein zäher Brocken... er lässt sich von sowas nicht unterkriegen. Außerdem schuldest du ihm eine Entschuldigung. Allein dafür wird er gesund werden. Und dann ist da noch seine Mutter... glaubst du nicht, dass sie wissen möchte, was mit ihm passiert ist?" „Schwester Morris hat versucht, sie anzurufen, nachdem sie Dad benachrichtigt hatte, aber Mrs. Cartman ist nicht ans Telefon gegangen. Vielleicht ist sie beim... beim Arbeiten." „Ich werde bei Liane vorbeischauen, sobald ich jeden von euch daheim abgeliefert habe. Los jetzt, ab ins Auto. Es bringt absolut nichts, nutzlos hier herumzusitzen!" „Ins Auto...? Ah, ja! Äh, Dad...?" „Was denn noch?" „Wir haben mein Auto benutzt, als wir zum Versteck des Killers gefahren sind und ich habe es ein paar Straßen von dort entfernt geparkt. Dann hat uns der Krankenwagen mit hierher gebracht und deshalb... steht mein Auto jetzt noch genau da, wo ich es abgestellt habe..." Gerald seufzte erneut und die Falte auf seiner Nasenwurzel vertiefte sich. „Du bist manchmal sehr anstrengend, Sohnemann." Sie erreichten die Broflovski-Familienkutsche. Der Sohnemann, verlegen und wortlos, stieg auf der Beifahrerseite ein, während Stan hinten Platz nahm. Kenny, der gerade die Tür öffnete, hielt plötzlich mitten in seiner Bewegung inne, drehte sich um und starrte in die Dunkelheit. ...Nichts. Was... was hatte er da gespürt? Es hatte sich irgendwie vertraut angefühlt... Konnte das dieselbe unheimliche Präsenz gewesen sein wie damals auf Butters‘ Geburtstagsparty...? Sie war nicht dämonisch, aber etwas an ihr verstörte den Engelwächter. „...Steig endlich ein, Junge!", weckte ihn Mr. Broflovskis Stimme aus seiner Versunkenheit. Er kletterte hastig zu Stanley auf den Rücksitz und schnallte sich an. Die seltsame Aura schwächte sich langsam ab, dennoch empfand er die Bösartigkeit in ihr sehr viel klarer als jemals zuvor. „Ist... ist alles in Ordnung, Ken?" „...Ich... ich weiß es nicht..." Der Motor wurde angelassen und der Wagen fuhr davon. Keiner der Insassen bemerkte die schwarzgekleidete Gestalt, die aus dem Schatten eines Hauses hervortrat und ihnen mit dem Blick folgte, ein grausames Lächeln auf den Lippen. »Es wird nicht mehr lange dauern, Auserwählte. Ich warte voller Ungeduld auf unsere erste Konfrontation. Die Tage eurer Welt sind gezählt.« *duckt sich vor den Tomaten* Ja, ich bin gemein. Tja, also das war Kapitel 11, der Song darin stammt von Stephen Speaks. Ich würde vorschlagen, ihn beim Lesen anzuhören - und ich bin neugierig, was Ihr von der Enthüllung bezüglich der Identität von Bebes Verehrer haltet. Wart Ihr überrascht? Das ist ein echtes Crack-Pairing, aber die Kombination ist so interessant. Ich habe das noch nirgendwo gesehen, ganz ehrlich! Und ich bin fast verzweifelt mit Gregorys Familiengeschichte, weil man in Canon absolut nichts über seinen Hintergrund erfährt. Für diejenigen, die sich nicht mehr an die unheimliche Präsenz vom Schluss erinnern, möchte ich empfehlen, noch einmal das Ende von Kapitel 4 und den Anfang von Kapitel 7 zu lesen. Soviel also für diesmal. Ich hoffe wirklich, dass das nächste Kapitel nicht so furchtbar lange braucht. Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit! *verbeugt sich* Kapitel 12: Wechselnde Gezeiten ------------------------------- Hallo, liebe Leser! Ja, wahrhaftig, ein neues Kapitel. Es tut mir sehr leid, dass es so lange gedauert hat und ich wollte diese FF eigentlich auch schon aufgeben und abbrechen, aber dann habe ich mich dagegen entschieden. Das letzte Jahr war ziemlich bescheiden, insbesondere in privater Hinsicht und ich hatte weder Lust noch Inspiration zum Schreiben. Ich hoffe, dass dieses Kapitel, das bisher längste dieser Story, ein bisschen für die lange Wartezeit entschädigt. Ich weiß nicht, wann ich den nächsten Teil fertig haben werde, aber ich habe wieder den festen Entschluss, diese FF zu vollenden. Ich möchte mich bei allen bedanken, die Favos und Kommentare hinterlassen haben und ich würde mich sehr über etwas mehr Feedback freuen. Und nun wünsche ich Euch viel Spaß beim Lesen! Kapitel 12: Wechselnde Gezeiten Freunde sind unsere Schutzzäune. Wir bemerken oft erst, dass sie nicht mehr da sind, wenn wir ins Leere greifen und abstürzen. - Peter Sereinigg Clyde Donovan rieb sich die schmerzenden Augen, blinzelte mehrmals und erkannte schließlich die Person, die vor ihm saß: Mrs. Jenkins, die ein strenges schwarzes Kostüm trug und hinter ihrem massiven Schreibtisch thronte wie ein Hoher Gerichtshof. Was machte er hier? Hatte er was angestellt? Warum hatte man ihn dann nicht zu Principal Sinclair geschickt? Und wieso sah dieses Büro genauso aus wie eine Gefängniszelle? „Also, Mr. Donovan", begann Mrs. Jenkins in einem Ton, der ihm den Schweiß ausbrechen ließ, „ich gehe davon aus, dass Sie eine engere Auswahl von drei Colleges getroffen haben...?" „...Hä?! Colleges!? Auswahl!? ...Na ja, äh...öh...drei...?" „Haben Sie bereits einen Termin für die Aufnahmeprüfung festgelegt?" „...Nicht...nicht so richtig...?" „Haben Sie wenigstens einen Aufsatz für die Anmeldung verfasst? Oder auch zwei?" „Ich...ich habe noch gar keinen Aufsatz...!" „Was ist mit Empfehlungsschreiben Ihrer Lehrer?" „...Nö....?" Es gab ein fürchterliches Getöse, Donner grollte, Blitze zuckten, der Schreibtisch wuchs zu gigantischen Ausmaßen an und Mrs. Jenkins mit ihm. Ihre Stimme hallte schaurig von den kahlen Wänden wider, als sie den entsetzten Clyde anbrüllte: „DANN HABE ICH MICH WOHL GETÄUSCHT, MR. DONOVAN!! ICH DACHTE, SIE WOLLTEN AUFS COLLEGE GEHEN UND ETWAS MIT IHREM LEBEN ANFANGEN!!" Ein Strudel tat sich unter ihm auf und zog ihn unbarmherzig in die dunkle Tiefe. Er konnte nicht einmal schreien; nur ein hilfloses Krächzen kam aus seinem Mund, ehe der Sog ihn verschluckte und er in unergründlicher Finsternis versank... ~~ 6 Uhr 10 ~~ „Nein, nein, nein!!" Er strampelte wild mit den Beinen, seine Bettdecke flog zur Seite und er riss die Augen auf, schwer atmend und desorientiert. War das... sein Zimmer? Da war seine Spielekonsole... der Porno, den er gestern abend angeschaut hatte (Basketball Boys XXX)... sein Hefter, in dem er Back- und Kochrezepte aus dem Internet sammelte... sein Laptop... das Poster seiner Lieblingsbaseballmannschaft links neben dem Bücherregal... doch, das sah alles sehr vertraut aus... Ein Traum. Besser gesagt ein Alptraum. Clyde packte sein Kissen und vergrub sein Gesicht darin, um ein bisschen zu heulen, ganz leise. Seit Tagen kannte sein Vater kein anderes Gesprächsthema mehr, immer wieder erklärte er voller Stolz wie „sein Kleiner" auf ein gutes College gehen würde, um Betriebswirtschaft zu studieren und danach das Familiengeschäft zu übernehmen. Kein Wort darüber, ob Clyde das auch wollte. Kein Wort darüber, ob es das war, was sich Clyde für seine Zukunft wünschte. Kein Wort. Kein einziges verdammtes Wort...!! »Ich brauche mich echt nicht zu wundern, dass mich diese Collegescheiße sogar bis in meine Träume verfolgt! Meine Interessen spielen gar keine Rolle, Dad starrt nur auf seinen eigenen Bauchnabel! Ich meine, klar, es ist nicht so, dass ich ihn enttäuschen will, aber dass er nicht einmal fragt, dass er meine Begeisterung fürs Kochen nicht ernst nimmt...!« Er fühlte sich wie ausgekotzt. Konnte er keine Erkältung vorschützen und sich für den Rest des Tages in seinem Bett verkriechen? Aber nein, seine Mutter würde ihm höchstens ein ekelhaftes Hausmittel verabreichen oder ihre übliche Diagnose stellen: „Mein Sohn, du leidest wie gewöhnlich an Einbildung!" Zum Teufel. Er wollte nicht in die Schule, denn jetzt fing das Abschlussjahr an, so richtig...na ja, das Abschlussjahr zu sein. Die meisten seiner Freunde und Mitschüler diskutierten fast nur noch über Universitäten und Colleges; welcher Studiengang zu ihnen passte, welche Aufnahmekriterien man zu erfüllen hatte, wie viel es kosten würde (zu viel, das war so sicher wie das Amen in der Kirche), ob Stipendien verfügbar waren... lauter solches Zeug, über das Clyde nicht nachdenken mochte. Nicht allein deshalb, weil ihn sein Vater in ein Korsett aus Erwartungen einzwängen wollte, sondern weil College gleichbedeutend war mit Lebewohl. Junge Amerikaner zogen in der Regel von zu Hause aus, wenn das Studium begann. Viele von ihnen wählten Unis in einem anderen Bundesstaat (Stans Schwester zum Beispiel, die in New York war), und die jeweiligen Institute besaßen oft eigene Apartmentkomplexe oder sonstige Unterbringungsmöglichkeiten für ihre Studenten. Große Entfernung, neue Erfahrungen, neue soziale Zirkel und neue Freunde versetzten alten Freundschaften häufig den Todesstoß. Was würde von Craig, Tweek, Token und ihm bleiben, wenn sich ihre Wege trennten? Craig hatte sich schon seit der Junior High von ihrer Gruppe entfernt, Tweek hatte die Kameraden in seiner Schwimmmannschaft, mit denen er abhing, Token hatte die Jungs vom Basketball und Clyde sein Baseballteam... Natürlich, Token und er trafen sich regelmäßig, sie waren beste Freunde, aber... wie lange noch? Wann genau hatte ihr Quartett angefangen, auseinanderzubrechen? Hätten sie es verhindern können? Und dann Stan, Kyle, Kenny und Cartman... warum waren ausgerechnet sie immer noch so... so eingeschworen, während sich andere Freundschaften um sie herum auflösten? »Was haben wir falsch gemacht? Hätte ich mehr mit Craig reden sollen? Er ist so auf sein Image als cooler und harter Kerl fixiert, dass ich vermutlich gar nichts erreicht hätte... Ich könnte bessere Gespräche mit seinem Meerschweinchen führen! Okay, ich verstehe, dass ihm das alles sein Alter eingetrichtert hat... ein Mann zeigt keine Gefühle und ist ein Schlappschwanz, wenn er es doch tut...wie ich, zum Beispiel... Ist das der Grund, warum sich Craig von mir zurückgezogen hat? Weil ich ihm nicht Manns genug bin? Shit! Wenn das stimmt, ist er ein noch viel größerer Trottel als ich dachte!« Er fuhr sich durchs Haar und seufzte. Wieder dachte er an Token, mit dem zu reden so viel einfacher war. Ihm konnte er immer sein Herz ausschütten und er nannte ihn auch nie ein Weichei, wenn er emotional wurde, ganz im Gegensatz zu Craig. Sein Blick fiel erneut auf den Porno, sein Gesicht lief knallrot an und er tauchte zurück ins Kissen. Bisher hatte er sich nichts dabei gedacht, aber ja, er hatte eine Schwäche für schmutzige Filmchen, die im Sportmilieu spielten. Basketball Boys XXX war, wie der Titel verriet, ein Schwulenporno, der sogar mit ein bisschen Handlung aufwarten konnte und Clyde fand den Hauptdarsteller irre sexy. Er hatte es sich also gestern Abend gemütlich gemacht, die Kleenexpackung neben sich, und hatte eine ziemlich gute Zeit, bis... bis...bis sein dummes, viel zu aktives Hirn mitten in einer Sexszene den Protagonisten in seinem Kopf gegen Token austauschte! Dabei war er gerade so schön aktiv, und dann erschien Token vor seinem inneren Auge, nackt, hart, und Clyde... »...Fuck, fuck, fuck, warum bin ich gekommen, verdammte Scheiße?! Ich meine, ich war ohnehin kurz davor, aber an Token zu denken, während ich...! Er ist mein bester Freund! Ich kann doch nicht...! Ich kann nicht...!« Okay, gut. Token war attraktiv. Und athletisch gebaut. Und er hatte diese herrlichen schwarzen Haare. Und diese supersamtigen Augen. Und diese unglaublich wohlgeformten Hände. Und diese langen Beine...oh, und diese wirklich, wirklich tollen Hüften... »Nein, was ist denn in mich gefahren!? Ich stehe auf Butters, oder nicht?! Den gibt‘s oft genug in meinen Fantasien, Token hat da rein gar nichts zu suchen! Ah, mein armer Kopf...!« Der Wecker auf seinem Nachtkästchen begann zu klingeln. Er zuckte zusammen und schaltete das Ding missmutig aus. Zeit zum Backen blieb damit nicht mehr, schade. Dafür waren da noch seine selbstgemachten Pop-Tarts vom Sonntag! Er würde eine Schachtel voll mitnehmen und an seine Mitschüler verteilen, um die allgemeine Laune etwas zu verbessern. Er stand auf. Zwanzig Minuten später trudelte Clyde in der Küche ein, wo ihn seine Mutter mit einem Kuss begrüßte und einen Teller mit Pfannkuchen auf seinem Platz abstellte, dazu eine Flasche Ahornsirup. Betsy Donovan war genauso ein Süßschnabel wie ihr Sprössling. „Wo ist Dad?" „Der ist schon im Laden." „Um halb sieben?" „Er bekommt heute eine größere Lieferung Winterstiefel und eine Reihe exklusiver Turnschuhe. Magst du ein paar von deinen Pop-Tarts zum Frühstück? Wenn nicht, werde ich mir den einen oder anderen genehmigen, sie sind köstlich." „...Findest du? Ehrlich?" Betsy betrachtete ihn eindringlich. „Weißt du, ich glaube, dein Vater wäre von deinem Talent sehr viel leichter zu überzeugen, wenn du davon überzeugt wärst." Er hielt im Sirupgießen inne und runzelte die Stirn. „Was... was meinst du damit?" „Du bist eitel, was dein Aussehen betrifft..." „...Bin ich nicht...!" „Sag das deinem Pflegemittelarsenal im Badezimmer. Wo war ich? Ach ja! Aber aus irgend-einem Grund bist du nicht eitel, was deine Fähigkeiten angeht. Ich kann noch so oft deine Koch- und Backkünste loben, oder dein gutes Baseballspiel oder dein ausgeprägtes Zahlenverständnis; Mathematik liegt dir, was du definitiv nicht von mir hast..." „Mom, bitte!" „...Und schon ziehst du diese abwehrende Miene und tust, als wäre das alles überhaupt nicht wahr. Clyde, wenn du nicht hinter dem stehen kannst, was dir Freude macht, wenn du dein Licht immer unter den Scheffel stellst, anstatt selbstbewusst zu sagen: Ja, in dieser Sache bin ich echt spitze, wie soll dich dann jemand ernstnehmen? Ich kenne die Argumente deines Vaters. Kochen ist nur dein Hobby, würdest du es professionell betreiben, würdest du schnell die Lust daran verlieren; du brauchst Kenntnisse über die Lagerung von Lebensmitteln, über Inhaltsstoffe, Bakterien, verschiedene Garmethoden und französische Fachbegriffe; du wirst nicht nur kochen, sondern auch für die Verwaltung von Lagerbeständen verantwortlich sein, für den Einkauf, die Menüplanung, die Preiskalkulation... Das Kochen allein genügt nicht, weil dein Traumberuf weit mehr enthält als nur das. Und da hat er recht, mein Sohn. Hast du auch nur einmal über die Nachteile des Jobs nachgedacht? Die langen Arbeitszeiten, beispielsweise? Und die damit verbundene Schwierigkeit, eine Beziehung zu führen? In der Gastronomie hast du am Wochenende nicht frei, im Gegenteil; und an Feiertagen wie Weihnachten oder Silvester musst du ebenfalls arbeiten. Überstunden sind an der Tagesordnung und werden häufig nicht vergütet, was mich zum nächsten Nachteil bringt: Stress. Was ist, wenn Dutzende von Leuten gleichzeitig bestellen und natürlich möglichst schnell bedient werden wollen? Was ist, wenn ein Kellner eine falsche Bestellung aufgibt und der Koch den Fehler ausbügeln muss? Ewig am heißen Herd stehen, in Stoßzeiten dreizehn bis vierzehn Stunden durchackern... Ist es das, was du willst?" Trotzig schaufelte Clyde einen großen Bissen Pfannkuchen in sich hinein. Sein Schweigen sprach Bände. „Mein Schatz... wenn du einen Traum hast, musst du ihn gegen Skeptiker verteidigen können, besonders, wenn ein Elternteil unter ihnen ist. Koch ist einer dieser Berufe, für die du dich auch tatsächlich berufen fühlen musst, weil er echte Leidenschaft und echte Hingabe verlangt. Überzeuge deinen Vater von deinen Absichten! Beweise ihm, dass du genug Leidenschaft und Hingabe für diesen Job mitbringst! Sonst wird er nicht aufhören, daran zu zweifeln - und bis jetzt warst du nicht sehr überzeugend." Er ließ hilflos die Gabel sinken. „Ich weiß nicht, wie... Ich wollte Dad den Schwarzen Peter zuschieben und es dabei belassen... aber das wäre zu einfach, was?" Betsy nickte. „Ich will ihn nicht enttäuschen, Mom. Andererseits... vielleicht stimmt es, was du sagst. Vielleicht muss ich ihn erst überzeugen... und mehr noch, vielleicht muss ich mich selbst davon überzeugen, mein Hobby zum Beruf zu machen. Du hast den Finger nämlich auf die Wunde gelegt: Ich habe Angst, dass ich meine Begeisterung einbüßen werde, wenn ich mich für die professionelle Schiene entscheide. Wie soll ich...?" „Nun, du könntest probeweise in einem der Restaurants in South Park arbeiten. Wir haben das Denny‘s, das Red Robin, City Sushi, City Wok, Ronny‘s Diner, Bennigan‘s, Whistlin‘ Willy‘s, Taco Bell, IHOP und sicher noch andere, die mir gerade nicht einfallen. Und in Tokens Viertel gibt es diesen teuren Nobelschuppen, Le Château, wo ich nicht mal die Speisekarte verstehe. Für deine angestrebte Karriere wäre das eigentlich ideal." „Was? Die Speisekarte nicht zu verstehen?" „Quatsch! Ein Praktikum in dem Nobelschuppen! Token und seine Familie sind Stammgäste, oder? Könnten sie nicht ein gutes Wort für dich einlegen?" „Mom!!" „Was denn?! Fragen kostet nichts!" Clyde rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. „Aber wenn das so ein total schickes Restaurant ist, passe ich da mit meinen mittelmäßigen Manieren garantiert nicht hin..." Betsy holte ein paar der selbstgemachten Pop-Tarts aus dem Kühlschrank und schob sie kurz in die Mikrowelle, um sie aufzuwärmen. Als das vertraute „Ping" ertönte, drapierte sie die Gebäckstücke dekorativ auf einem Teller und stellte ihn zwischen sich und ihrem Sohn ab. „Du wirst es nie herausfinden, wenn du es nicht wenigstens versuchst, mein Schatz. Ist Token nicht dein bester Freund? Ich bin sicher, wenn du ihn darum bittest, wird er sich im Le Château erkundigen. Was hältst du davon?" „Und das College?" „Es gibt welche, die eine Kochausbildung anbieten. Oder du gehst direkt auf eine Schule für Kulinarische Künste. Wenn du deinem Vater zeigst, dass du es schaffen kannst, wird er nichts dagegen haben. Also hör auf, ihn in die Schublade des verständnislosen Erwachsenen zu stecken, um deine eigenen Zweifel zu rechtfertigen! Natürlich nimmt er deinen Berufswunsch nicht ernst - du hast ihm keinen Grund dazu gegeben. Was mich betrifft... ich glaube nicht, dass ein Leben inmitten von Schuhen das Richtige für dich ist." „...Tse! Für wen ist das schon was!" „Clyde. Das will ich nicht gehört haben. Dein Vater ist gelernter Schuhmacher. Er ist ein Handwerker, der es durch harte Arbeit zu etwas gebracht hat. Nur weil in deinen Träumen keine Fußbekleidung vorkommt, heißt das nicht, dass du das Recht hast, die Leidenschaft und Hingabe eines anderen geringzuschätzen!" „..." Er sah seine Mutter bewundernd an. Feingezeichnete Brauen, eine etwas schiefe Nase, tiefe Grübchen in den Wangen und ein Schmollmund, der in diesem Moment einen sehr energischen Zug trug. Von ihr hatte er seine braunen Haare und seine haselnussbraunen Augen geerbt. Langsam stand er auf und umarmte sie. „Du bist super, Mom. Danke. Ich rede heute mit Dad." „Das wirst du, mein Schatz. Und jetzt... welchen Pop-Tart willst du?" ~~ 7 Uhr 30 ~~ Unterrichtsbeginn. Token Black saß mit gedrückter Laune in Fremdsprachiger Literatur und dachte wütend und traurig zugleich an den Anruf seiner Großmutter Cora. Er hatte gehofft, sie würde nur anrufen, um nach der Familie zu fragen... wie es allen ging, ob Dads Auto endlich repariert worden war, welche Zukunftspläne ihr Enkel schmiedete... derlei Dinge. Aber nein...! „Ich rufe an, um euch mitzuteilen, dass ich Weihnachten nicht zu euch kommen werde. Ich habe diese Stadt sowieso nie gemocht und es immer für eine Fehlentscheidung deines Vaters gehalten, dorthin zu ziehen. Unseresgleichen kann unter Weißen nicht leben, Token! Deine angeblichen Freunde werden dich früher oder später fallenlassen. Es wird Zeit, dass du sie vergisst und nach New York zurückkehrst. Du bist intelligent und ehrgeizig, anders als diese Hinterwäldler, deren Gegenwart du ertragen musst! Ich nehme an, Bob und Linda haben dir den Umgang mit diesem Pack verboten? Besonders mit dem, den du mir bei meinem letzten Besuch vorgestellt hast; wie hieß er nochmal? Cliff? Clive? Kann nur stammeln und mich dumm anglotzen! Du bist diesen geistig Minderbemittelten haushoch überlegen, Token! Ich verstehe nicht, warum du darauf bestehst, mit ihnen umzugehen!" Und er, er, der stolz war auf seine Selbstbeherrschung, auf seine Disziplin, darauf, dass er sogar in verrückten Situationen seine Fassung zu wahren verstand... war explodiert. Er hatte ihr all das entgegengeschleudert, was er sonst immer herunterschluckte, all das, was er zur Erhaltung des Familienfriedens nie laut ausgesprochen hatte. „Verdammt, Grandma! Glaubst du wirklich, ich begreife deinen Zorn nicht, oder deine Verzweiflung?! Aber dieser sinnlose Hass... Grandpa hätte das nicht gewollt! Was mit ihm passiert ist, war schrecklich, doch deswegen alle Weißen zu verteufeln, ändert genauso wenig! Wird die Lage der Schwarzen in diesem Land dadurch besser? Macht das Grandpa wieder lebendig? Und wage es nicht, meine Freunde als Hinterwäldler und Pack zu bezeichnen, nur weil sie nicht so viel Geld haben wie wir! Oder hat das auch etwas mit ihrer Hautfarbe zu tun!? Und sein Name ist Clyde, Grandma! Clyde Donovan! Du kennst ihn überhaupt nicht, also steht dir kein Urteil zu! Aber natürlich, seine Gefühle können unmöglich aufrichtig sein, unsere jahrelange Freundschaft ist für dich nur ein Irrtum, der korrigiert werden muss! Das ist alles, was du siehst! Was weißt du schon?! Hast du Basketball mit ihm gespielt, mit ihm gelernt, ihm zu einer guten Note gratuliert, ihn beim Baseball angefeuert?! Hast du je seine Tränen getrocknet, seine Blessuren versorgt, seine Hand gehalten, sein Lächeln erlebt?! Hast du ihn umarmt, mit ihm herumgealbert, mit ihm über Gott und die Welt geredet?! Nein, hast du nicht!! Du hast keine Ahnung!! Es ist mir ganz egal, ob du Weihnachten zu uns kommst oder nicht! Bleib von mir aus in New York! Wir brauchen dich nicht! ICH brauche dich nicht!" Damit hatte er aufgelegt. »Oh Gott, was habe ich da nur gesagt! Klar war ich wütend, aber mein Ausbruch hat Grandma sicher nicht zum Einlenken bekehrt! Warum bin ich so... so unfähig, ihr zu helfen? Sie war früher ein fröhlicher, offener Mensch... sie anzubrüllen wird die Mauer, hinter der sie sich verbarrikadiert hat, kaum einreißen. Aber Clyde zu beleidigen... musste das unbedingt sein?!« Zugegeben... er war ziemlich empfindlich, wenn es um seinen besten Freund ging. Zu hören, dass jemand so über ihn sprach...! Er blickte zu dem hinreißenden Jungen hinüber, der neben ihm saß und sich nach Kräften bemühte, ihn zu ignorieren. Was war bloß los mit ihm? Während ihnen Mrs. Jenkins verschiedene neue Bücher präsentierte, aus denen sie ihre nächste Lektüre auswählen sollten, schrieb Token eine Nachricht, faltete das Papier zusammen und warf es geschickt auf das Pult des Braunhaarigen. Clyde erlitt fast einen Herzschlag. Nervös musterte er den anderen, ein zartes Rosa kroch in seine Wangen und er las die Botschaft: Ist alles in Ordnung, Kumpel? Ich habe den Eindruck, dass du mir ausweichst. Habe ich etwas falsch gemacht? Fühlst du dich nicht wohl? Ach Token...! Was konnte er darauf antworten? „Ich habe an dich gedacht, als ich mir einen runtergeholt habe und bin jetzt schwer verunsichert in deiner Gegenwart"?! Warum nur hatte das passieren müssen?! Und warum war er so lieb und besorgt? Warum war er so süß und so sexy? »Das ist nicht fair! Meine beschissenen Hormone werden noch unsere Freundschaft zerstören! Ich meine... es sind nur meine Hormone, nicht wahr? Da ist nicht mehr dahinter... richtig? Ich mag ihn nicht auf diese Art. Butters ist mein Schwarm! Und er - ist - nicht - Butters!« Der Märchenprinz schien sich indessen eher für diesen Bradley zu interessieren. Der Typ war sehr nett und mochte Butters ganz offensichtlich, weshalb Clyde nicht annähernd so eifersüchtig war, wie er erwartet hatte. Es störte ihn schon, dass sich der blonde Schönling hauptsächlich dem Neuen widmete, doch er konnte es ihm auch nicht ernsthaft übelnehmen. Die beiden hatten sich einfach gern. Und er hatte Token gern. »NEIN!! Fuck, sei nicht so dämlich, Hirn! Das war das erste und einzige Mal, dass mir bei ihm einer abgegangen ist, weil... weil... weil Basketball und so! Basketball bedeutet Token, er ist schließlich der Kapitän, deshalb habe ich plötzlich an ihn denken müssen! Genau! Ich denke bei Heteropornos ja auch oft an Bebe, also ist das alles... normal! Ja, normal! Es heißt nicht, dass ich Tokens nackten Körper an meinen gepresst haben will! Oder seine Hand an meinem... stop, stop, stop!!! Schluss, aus!! Ich will das nicht!!« „Mr. Donovan? Ist Ihnen schlecht?" Clyde erstarrte. Mrs. Jenkins, die ihm aus seinem Alptraum noch in lebhafter Erinnerung war, stolzierte auf ihn zu und befühlte seine Stirn. „Fieber haben Sie nicht, aber Sie sehen erhitzt aus. Überhaupt wirken Sie sehr verkrampft und Ihre Bewegungen sind fahrig... das gefällt mir nicht. Mr. Black, bringen Sie Mr. Donovan auf die Krankenstation, damit die Schulschwester ihn durchcheckt!" „Das ist nicht nötig!" „Was nötig ist, entscheide ich, Mr. Donovan - und Sie sehen nicht gut aus." „...Tu ich nicht!?" „Du lieber Himmel, Sie wissen, was ich meine. Wenn die Schwester nichts findet, umso besser. Ich möchte nur kein Risiko eingehen, falls einer meiner Schüler krank sein sollte. Darf ich bitten, Mr. Black?" Token erhob sich zögernd und führte Clyde nach draußen. Sie sprachen kein Wort, bis sie die Krankenstation erreicht hatten, wo ein Schild verkündete, dass Schwester Goodwin gerade im Sekretariat sei und gleich zurück sein würde. „...Na toll. Warum bin ich nicht überrascht? Und abgeschlossen ist auch! Fuck!" Er trat gegen die Tür, die sich jedoch völlig unbeeindruckt zeigte. Token packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. „Clyde... was ist los? Du bist normalerweise nicht so aggressiv. Ich kann keine Gedanken lesen, okay? Wenn du nicht mit mir redest, kann ich dir nicht helfen. Was bedrückt dich?" „...Token...!" Uh oh. Er kannte diesen aufgewühlten Blick. Jede Sekunde würde er losheulen. Auf diese Weise konnte Clyde all seine aufgestauten Emotionen loswerden und sich seinen Frust von der Seele waschen. Und er würde ihn festhalten. Wie immer. Fast automatisch schlang er seine Arme um die bebende Gestalt des Kleineren, der seinerseits die Arme um Tokens Nacken legte und sich fest an ihn schmiegte. Leises Schluchzen folgte. „Es tut mir leid...! Es tut mir so leid! Ich bin furchtbar... bitte verzeih mir! Sorry, sorry, sorry!" „...Wofür entschuldigst du dich?" „..." „Ist es so schlimm?" „...Ich habe was Perverses gemacht..." Der Schwarzhaarige hätte ihn beinahe losgelassen. „Clyde!! Wenn das wieder eine deiner peinlichen Masturbationsfantasien ist, will ich nichts davon hören!! Ich begreife sowieso nicht, warum du dich genötigt fühlst, sie zu beichten! Du hast doch sonst keine Skrupel!" „...Ich... ich hab‘ an dich gedacht!!", brach es aus Clyde hervor, der sein vor Scham dunkelrotes Gesicht in Tokens Brust verbarg und feuchte Flecken auf sein Hemd weinte. „...Pardon...?" „...Beim Wichsen...ich ...ich... habe... dabei an dich gedacht...an dich...!" „...Du... hast... du hast... was?" Clyde. Auf seinem Bett. Vermutlich von der Taille abwärts entblößt, die Beine gespreizt, die schönen Augen in Verzückung geschlossen, während seine Hand sein steifes Glied streichelte... bis sein Orgasmus ihn mit sich riss, Tokens Name auf seinen Lippen... „Nein!!" Diesmal stieß er ihn von sich, entsetzt über das Bild, das sich in seinem Kopf geformt hatte. Er atmete schwer. Nein. Nein! Das war unmöglich! Er konnte nicht dermaßen heftig nur auf die Vorstellung reagieren...?! Im gleichen Moment bemerkte er die Tränen und der Schmerz und die Angst in Clydes Antlitz schlitzten sein Herz auf wie ein scharfes Messer. „...Ich wusste, du würdest mich widerlich finden...! Na, von mir aus, tu dir keinen Zwang an! Ich finde mich ja selbst widerlich deswegen! Mein bester Freund sollte sowas nicht in mir auslösen! Und trotzdem kriege ich es nicht aus dem Kopf! Was läuft da plötzlich falsch mit mir!?" „Clyde! Da läuft gar nichts falsch...!" „DOCH!!! Dass mein Körper deinetwegen abgeht, ist verdammt falsch!! Eigentlich ist alles falsch!! Craig mutiert zum einsamen Wolf, der South Park bei der erstbesten Gelegenheit verlassen wird, weil ihm außer an seiner Schwester an niemandem sonst was liegt... Tweek kümmert sich praktisch ausschließlich ums Familiengeschäft und sein Schwimmteam und wird nach seinem Studium irgendwo anders eine Zweigstelle eröffnen... und du? Du wirst auf irgendeine berühmte, schweineteure Uni abzischen und eine steile Karriere ansteuern... als Geschäftsmann oder als Arzt oder als Anwalt oder als Basketballstar, was weiß denn ich... Jedenfalls wirst du fortgehen! Und während Craig und Tweek vielleicht wieder kommen, werden dich keine zehn Elefanten in diese Stadt zurückbringen! Du bist zu ehrgeizig, zu klug, zu begabt, um hier zu versauern! Auch zu reich, du kannst dir das College locker leisten! Aber ich? Ich werde den Laden meines Vaters übernehmen und mein Dasein zwischen Schuhcreme und Schnürsenkeln fristen, ohne euch! Ohne euch... ohne dich!" Token blinzelte und spürte eine unglaubliche Erleichterung in sich aufwallen. Das also war der tiefere Grund für Clydes abweisende Haltung. Er fürchtete, seine Freunde zu verlieren... und mit einer gewissen Bestürzung wurde ihm bewusst, dass dies durchaus nicht weithergeholt war. Ihre Clique hatte den Test der Zeit nicht bestanden. Craig hatte sich eingemauert wie seine Großmutter; Tweek war ohne das Zutun seiner Freunde aufgeblüht, nämlich durch seine Arbeit und die Verantwortung für seine Mannschaft; in die Beziehung zwischen Clyde und ihm hatte sich eine ungewollte sexuelle Komponente eingeschlichen... und das nicht erst seit heute, wenn er ehrlich war. Er dachte an jenen Basketball-Samstag, an dem der Wunsch in ihm aufgekeimt war, den anderen zu küssen. Überhaupt, er mochte es, Clyde zu berühren. Sein weiches Haar, seine sanften Hände, sein süßer Mund... ... ... ... Oh. Oh. Er brauchte eine volle Minute, um zu begreifen, dass sich der Brünette zurück in seine Arme geworfen hatte. „Warum müssen wir erwachsen werden?", flüsterte er. „Warum müssen wir uns trennen, nur um eine dumme Ausbildung zu machen? Ich hasse das!" „...Veränderungen gehören zum Leben. Und kannst du dich nicht glücklich schätzen, ein Talent zu haben, das dir das Planen deiner Zukunft erleichtert? Du glaubst, ich würde auf eine ‚berühmte schweineteure Uni abzischen‘? Wenn du mir vorher sagst, was ich dort soll? Ich weiß nicht, was ich studieren möchte. Meine Eltern haben klare Vorstellungen, genau wie du. Jura, Medizin, Betriebswirtschaft, Finanzwesen, Physik oder Chemie... diese Fächer wurden mir schon vorgeschlagen... und ich zucke nur mit den Schultern und verspreche, darüber nachzudenken. Immer ohne Ergebnis. Ich habe keinen speziellen Traum, kein konkretes Ziel. Für meine Eltern ist das eine Enttäuschung. Soviel zu meiner Begabung und meinem Ehrgeiz." Er klang bitter. Clyde wischte sich die Tränen ab und sah hoch. Sein Atem stockte, als Tokens dunkle Augen die seinen trafen und das gesamte Verlangen des gestrigen Abends überflutete ihn von neuem. Sein Körper spannte sich an und unter einer gewaltigen Anstrengung löste er sich aus der Umklammerung. Die zwei jungen Männer standen sich gebannt gegenüber, ihre Blicke ineinander versunken, und beide schienen nicht recht zu wissen, ob sie nun weglaufen sollten oder... oder was? „Guten Morgen, Jungs! Was kann ich für euch tun?" „Woah!! Ach, Sie sind‘s...!" Schwester Goodwin war Anfang vierzig, rundlich, vergnügt, mit großen blauen Augen und rotblonden Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Rasch sperrte sie die Tür zur Krankenstation auf und verstaute den Karton, den sie bei sich hatte, in einem der Schränke. „So, die Lieferung der Medikamente wäre damit erledigt. Nun zu euch. Was gibt‘s?" „Ich...ich fühle mich nicht besonders", begann Clyde, kam aber nicht dazu, seine Symptome näher zu erklären, da Schwester Goodwin ohne langes Federlesen ein Fieberthermometer in seine Achselhöhle steckte und ihm gebot, still zu sein. „Hm...99.68 °F (= 37,6 °C). Sie haben leicht erhöhte Temperatur, Mr. Donovan. Ich möchte Sie vorsichtshalber bis zur dritte Stunde hier behalten, um sicherzugehen, dass Sie nichts ausbrüten. Legen Sie sich hin und ruhen Sie sich aus, ich gebe Ihnen noch ein fiebersenkendes Mittel. Und Sie, Mr. Black, seien bitte so freundlich und informieren die Lehrkraft der zweiten Stunde über Mr. Donovans Abwesenheit. Er soll schließlich keinen Ärger kriegen." „Klar. Was hast du gleich nochmal in der zweiten?" „Astronomie, bei Mr. Dean. Tja...wir... wir sehen uns dann in der Mittagspause?" Token erwiderte das schüchterne Lächeln. Das Chaos in seinem Inneren konnte es nicht beseitigen, doch es wirkte wie ein Balsam auf seine strapazierten Nerven. »Wir sind Freunde. Ich darf das nicht mehr vergessen. Was auch immer ich für ihn empfinde, er ist zuallererst mein Freund. Derjenige, dem ich am meisten vertraue. Derjenige, der mir am meisten vertraut. Diese unsichtbare Grenze, die ich vorhin gespürt habe...als er ...als er mich mit diesem brennenden Ausdruck in den Augen anstarrte...mich! ...Werden wir sie überschreiten? Will ich sie überschreiten?« „...Ja, Clyde. Wir sehen uns in der Mittagspause." ~~ 9 Uhr 45 ~~ Kenny McCormick gähnte hinter vorgehaltener Hand und krakelte Strichmännchen mit riesigen Brüsten in sein Heft. Und ab und zu mal einen Penis, wenn ihm danach war. Mr. Elliot laberte gerade irgendetwas über die erzählerische Raffinesse von „The Great Gatsby", aber es interessierte ihn herzlich wenig. Heute war der 4. November, der erste Besuchstag. Doktor Bradford hatte gestern bei Liane angerufen, um ihr mitzuteilen, dass ihr Sohn aus dem Gröbsten heraus war und jetzt Besuch empfangen durfte. Mrs. Cartman hatte das sofort weitergemeldet. Sie war offensichtlich nüchtern genug gewesen, um die Nachricht zu erfassen und im Anschluss den Eltern Bescheid zu sagen, deren Kinder es anging. Er war rangegangen, als das Telefon geklingelt hatte (es funktionierte wieder, seit er im Cream‘N‘Fruit arbeitete und die Rechnung bezahlte), und ihre Stimme war bemerkenswert ruhig und deutlich gewesen. „Bist du das, Kenny? Wie schön, dich wollte ich sprechen! Stell dir vor, mein Eric ist auf dem Weg der Besserung! Man darf ihn besuchen! Ist das nicht wundervoll?" Wie glücklich sie geklungen hatte. Sie liebte ihren Sohn, daran gab es keinen Zweifel. Wenn er doch bei seiner eigenen Mutter auch so sicher hätte sein können...! Carol und Liane waren beide unzuverlässig, verantwortungslos und in ihren jeweiligen Süchten gefangen, aber Mrs. Cartman zeigte wenigstens hin und wieder, dass Eric ihr wichtig war. Von Carol konnte er das nicht behaupten. Nicht mehr. »Man könnte neidisch werden... Is‘ es wirklich zu viel verlangt, dass sich jemand mal um mich kümmert, anstatt andersrum? Stan und Kyle haben es gut, die wissen immerhin, dass ihre Eltern sie lieben... warum haben Stuart und Carol meine Geschwister und mich in die Welt gesetzt? Waren Karen und ich bloß ‚Ausrutscher‘, so wie Kevin?« Er hielt inne, warf ärgerlich den Bleistift auf sein Pult und radierte den Penis weg, den er soeben gezeichnet hatte. Was zum Teufel?! Wie konnte er hier herumhocken und jammern, wenn Eric endlich genug genesen war, um seine Freunde zu sehen? Er war echt ein toller Astralwirt! Er konnte fliegen und in Seelen hineinschauen und Gottes Urteil über Sünder vollstrecken, aber anstatt stolz darauf zu sein, badete er lieber in Selbstmitleid! »Ehrlich, Alter, was bin ich!? ‘N verfickter Feigling?! Gott hat gesagt, dass nur jene als Astralwirte ausgewählt werden, die dessen würdig sind: Selbstlose, tapfere Menschen von großer Leidensfähigkeit, die unbeirrt ihrer Aufgabe folgen und dem Druck standhalten. Hört sich verdammt kitschig an, is‘ aber eigentlich ‘n Megakompliment, weil... na ja, das is‘ so ungefähr die Charakterbeschreibung von Jesus? Und hey, ich hab‘ ‘nen coolen Bruder und ‘ne noch coolere Schwester, drei spitzenmäßige Freunde, ‘nen prima Job, ich darf zur Schule gehen und hab‘ ein Dach überm Kopf... Sehr viele Menschen haben nichts von all dem. Ich...« »Guten Morgen, Kenneth.« »...?! Gott? Yo, was geht ab, Kumpel? Wie komm‘ ich zu der Ehre?« »Ich habe vernommen, dass nun die Gespräche mit euren Collegeberatern anstehen. Hast du bereits einen Termin?« »...Ist das ‘ne ernstgemeinte Frage?« »Natürlich. Deine Eltern ignorieren es, daher versuche ich mich in ihrer Rolle.« »...Wow. Das is‘ irgendwie voll nett...nutzlos, aber nett.« »Nutzlos? Kenneth. Ich dulde es nicht, wenn meine Krieger auf Erden ihr eigenes Potential außer Acht lassen. Wie stellst du dir denn deine berufliche Zukunft vor? Was ist mit deinem großen Traum? Du musst anfangen, über diese Dinge nachzudenken, du machst nächstes Jahr deinen Abschluss!« Kenny rieb sich die Schläfe. College. Tse. Als ob. Er wusste zwar, dass es Studienkredite gab, von denen ein paar nicht zurückgezahlt werden mussten, aber selbst bei Universitäten ohne Elitestatus musste man mit Gebühren ab 15 000 Dollar pro Jahr (oder Semester!!) rechnen. Normalerweise sogar mehr als das. Außerdem waren Studienkredite oft auf bestimmte Beträge begrenzt, man war also meist gezwungen, mehrere auf einmal zu nehmen. Beendete man dann das Studium, hatte man eine Urkunde in der Hand und einen Berg Schulden am Hals. Es lebe Amerika. »...Ach so. Das leidige Geld.« »Ja, du Nullchecker! Das leidige Geld!!! Wenn du ‘nen Kredit für mich hast, der mir ein vierjähriges Studium an einer halbwegs guten Uni berappt, ohne dass ich was zurückzahlen muss, dann her damit! Ansonsten: Verpiss dich!« »Na, na, na, Kenneth... noch einmal: Was ist mit deinem großen Traum?« »...« »Nun?« »...Es ist ein Traum. Ein kindischer, naiver, unerfüllbarer Traum. Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört, ihn zu träumen. Ich bin nicht blöd genug, um an den ‚American Dream‘ zu glauben. Ich glaube nur an die Macht des Geldes.« »Geld allein macht nicht glücklich, mein Krieger auf Erden.« »Ach nein? Einen trockenen Platz zum Schlafen, Nahrung, Getränke, Kleidung, all das kann ich nur mit Geld kaufen. Von Luxusartikeln wie Elektrogeräten, Autos oder Computern gar nicht erst zu reden! Oder Spielzeug, Bücher, Videospiele... was ist damit? Oder Medikamente, Untersuchungen, Operationen? Selbst Bildung und Kultur kosten Eintritt! Vielleicht würde ich gern mal ins Theater gehen? Aber es ist zu teuer und ich brauche stattdessen was Wichtigeres: Neue Schuhe oder eine warme Jacke; oder ich muss die Miete bezahlen... und den Strom, und das Wasser, und die Heizung, und das Telefon! Okay, wenn ich nur Geld hätte und keine Menschen um mich herum, die ich liebe und mit denen ich es teilen kann...ja, das wäre beschissen. In dem Fall macht Geld allein nicht glücklich. Aber kein Geld, das macht definitiv unglücklich! Und jetzt hau ab!« »Du bist erschütternd charmant heute... Hat deine generell unerfreuliche Laune etwas mit Gary Harrison zu tun und der Tatsache, dass er mit Stanley an seinem Spind stand und ihn auf die Wange geküsst hat? Ich meine, eure Spinde sind alphabetisch geordnet, und ‚Marsh‘ und ‚McCormick‘ liegen direkt nebeneinander...« Der Engelwächter verspürte den spontanen Drang, Gott zu erwürgen. Leider war das Erwürgen einer telepathischen Entität, deren Körper irgendwo im Höchsten Himmel residierte, nicht so einfach zu bewerkstelligen. Davon abgesehen wechselte Gott alle paar Tage die Gestalt, weil er den Formenreichtum der ganzen Schöpfung zur Auswahl hatte und es viel amüsanter fand, zu experimentieren, als sich auf das Klischee des alten Mannes mit Rauschebart reduzieren zu lassen. Er war auch des öfteren weiblich oder komplett geschlechtslos. Was zum Henker es ihn anging, dass der Mormonen-Bengel versucht hatte, Stans Gesicht einzusaugen, war ihm allerdings schleierhaft. »Oho...! Es war ein Küsschen auf die Wange, Kenneth. Kein Versuch, Stanleys Gesicht ‚einzusaugen‘, wie du das so hübsch nennst. Eifersüchtig?« Ach du heilige Scheiße! Erst kam Kevin mit dieser bescheuerten Idee um die Ecke, und jetzt auch noch Gott?! Seine mangelnde Sympathie für Harrison hatte absolut nichts damit zu tun, dass er einen seiner besten Freunde anschmachtete. Der Typ war bloß lästig. Er war ein bisschen zu spät dran. Wenn Karen ihn nicht aufgescheucht hätte, würde er wohl immer noch in seinen geflickten Kissenbezug schnarchen. Dass die Batterien des Weckers unbedingt heute ihren Geist aufgeben mussten! Er schlüpfte durchs Tor, bog in den Seniorkorridor ein und lief zu seinem Spind. Aus den Augenwinkeln registrierte er, dass Stan noch da war...oh. Und Harrison. Der hatte doch gar nicht die erste Stunde mit ihm zusammen!? „Hey, hallo, Ken! Wie geht‘s?" „Morgen, Stan! Alles klar, nur etwas aus der Puste." Die Schulglocke schrillte. Kenny beeilte sich, seine Bücher einzupacken... und da passierte es. Harrison lehnte sich vor und küsste den verblüfften Schwarzhaarigen. „...Gary! Wofür war das?" „Nur so. Du sahst gerade so... ich weiß nicht... küssenswert aus." „Dummkopf." Stan knuffte ihn sanft in den Arm, lächelte strahlend (Wow, was? Dieses Lächeln war ja... der reine Wahnsinn...) und zog den Mormonen mit sich fort. Fuck you, Harrison. Na fein, er hatte vielleicht ein wenig überreagiert. Es gefiel ihm halt nicht, dass dieser auf Künstlichkeit getrimmte, ekelhaft geschniegelte Idiot mit Stan rumhing! Er war zu... zu perfekt. Zu nett, zu attraktiv, zu höflich, zu talentiert, zu... zu...alles! Neben so einem musste Stanley ja zwangsläufig jeden anderen übersehen...! »Aber es ist eine bescheuerte Idee, sagt er!« »...Schnauze!« „Kenny? Was hast du? Du guckst so komisch." Whoops. Stimmt ja. Man sollte sich angelegentlich daran erinnern, dass Stan Marsh in Englisch neben einem saß. Fuck again. „Ich bin okay, Alter. Kein Grund, so besorgt aus der Wäsche zu schauen!" „Bist du sicher?" „Was kümmert‘s dich? Is‘ Harrison nich‘ wichtiger?" „...Was hat Gary damit zu tun? Er hat AP Englisch. Außerdem ist er nur ein Kumpel. Du bist einer meiner besten Freunde, da ist es doch logisch, dass ich mir Sorgen mache." Der Blondschopf rümpfte die Nase und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Wirklich! Nur ein Kumpel, hä? Wusste gar nich‘, dass man sich von Kumpeln abknutschen lässt!" Das betroffene Schweigen des Älteren nahm Kenny nicht zur Kenntnis. Er wusste ja selbst nicht, was plötzlich in ihn gefahren war; die Galle sprudelte einfach aus ihm heraus. Mit einer seltsamen Mischung aus Trotz und Vorfreude beobachtete er, wie Stans Züge diesen bedrohlichen „I‘m-not-gonna-take-your-bullshit"-Ausdruck bekamen, den er so sexy fand. „Was zur Hölle ist dein Problem?!" Ein lautes Räuspern ertönte. Ein Räuspern, auf das hin den beiden einfiel, dass Mr. Elliot anwesend war und unterrichtete. Und Mr. Elliot war nicht entzückt. „Mr. Marsh, Mr. McCormick, Sie stören seit drei Minuten meinen Vortrag, und da Sie offenbar nichts Konstruktives beizusteuern haben, gebe ich Ihnen sechzig Sekunden Zeit, meinen Klassenraum zu verlassen und vor der Tür auf das Ende der Stunde zu warten. Sie können aber auch zwei Nachmittage nachsitzen, wenn Sie das bevorzugen." „J-Jawohl!" „Is‘ gebongt, Sir!" Sie griffen nach ihren Rucksäcken und flohen nach draußen. Leider beruhigten sich die Gemüter vor der Tür nur unwesentlich. „Was ist denn los mit dir, Ken!? Ob du‘s glaubst oder nicht, Gary ist für mich nicht mehr als ein Kumpel!" „Er hat dich geküsst!" „...Das war doch nur eine nette Geste." „Harrison ist verknallt in dich, verdammt nochmal! Und du weißt das! Ich dachte, du gehst bloß mit ihm aus, um ihm einen Gefallen zu tun!?" „Das ist richtig. Er hat mich noch nicht ‚erobert‘, falls du das meinst. Und er wird auch nicht. Nächsten Samstag haben wir unser letztes Date. Wenn ich mich bis dahin nicht hoffnungslos in ihn verliebe, werde ich ihm sagen, dass der Versuch nicht geklappt hat und ich aufhören möchte. Ich schaffe es nicht, in Gary etwas anderes zu sehen als einen Freund. Gesten wie den Kuss oder mal Händchenhalten, das habe ich durchgehen lassen, weil ich darauf gewartet habe, dass sich meine Gefühle irgendwie verändern. Aber... aber es ist nichts passiert. Ich... ich... ah, fuck! Ich werde ihm das Herz brechen müssen..." „Wie tragisch!" Stanleys dunkelblaue Augen verengten sich zu Schlitzen und seine Stimme glitt zu dieser speziellen Tonlage herab, die merkwürdige Reaktionen in Kennys Magengegend hervorrief. Fehlte nur noch, dass er seinen vollen Namen damit aussprach... „Kenneth." Shit. Treffer, versenkt. „Ich verstehe dich nicht. Gary hat mich damals im Soccercamp auf den Mund geküsst. Ich habe euch davon erzählt. Da bist du nicht halb so ausgerastet wie jetzt. Was. Ist. Dein. Problem?" Gute Frage. Warum hatte er keine Antwort? »...Nun, ich könnte eine ziemlich zutreffende Vermutung äußern...!« »RAUS AUS MEINEM KOPF, DU ARSCH!!!« ~~ 11 Uhr 50, Mittagspause ~~ Tweek Tweak presste die Lippen fest zusammen und konzentrierte sich darauf, das Glas Saft, das er bestellt hatte, hochzuheben, ohne dass seine Hände zitterten. Er hatte sich dafür entschieden, seinen Koffeinkonsum noch weiter einzuschränken, um seine nervösen Attacken in den Griff zu bekommen. Ein Mannschaftskapitän, der erst einmal seine Panik bekämpfen musste, bevor er auf den Startsockel stieg, konnte man auf Dauer niemandem zumuten. Sein Team und auch der Coach waren sowieso unglaublich geduldig mit ihm. Sie alle respektierten sein Talent und seine Schnelligkeit, behandelten ihn aber nicht wie ein rohes Ei. Sie wussten, was er drauf hatte, und wenn ihm der Erfolgsdruck zu viel wurde oder sein Lampenfieber Überhand nahm, fanden sie immer Zeit, ihm Mut zuzusprechen. Er musste lernen, seine Anfälle zu unterdrücken. Das würde sein Durchhaltevermögen stärken und vielleicht seine athletische Leistung verbessern. Das Zittern ließ nach. Na also. Statt Kaffee trank er seit einer Woche nur noch heiße Zitrone, Wasser, Limonade oder Apfelsaft. Wurden die Entzugserscheinungen zu heftig, wich er auf Cola aus wie ein Raucher auf ein Nikotinpflaster. Die Schwimmsaison für die Jungs war zwar erst im Frühling, aber das hieß nicht, dass er seine Disziplin schleifen lassen konnte. Er hatte schon voriges Jahr geplant, seinen Konsum zurückzuschrauben, doch er war immer wieder schwach geworden. Diesmal nicht! Das hier war seine letzte Saison vor dem College, und er wollte sein Bestes geben! ... ... ... Ein bisschen einfacher wäre das alles natürlich, wenn seine Freunde ihm beistehen würden. Obwohl er sich inzwischen nicht mehr so sicher war, was genau ihn eigentlich noch mit Token, Clyde und Craig verband. Er schwärmte für Craig, weil er sein Selbstbewusstsein und seine Gelassenheit bewunderte, aber seine Gleichgültigkeit und seine kaltschnäuzige Art stießen ihn ab. Und während Token und Clyde fast immer zu seinen Wettkämpfen gekommen waren, war Craig das nie eingefallen. Warum saßen sie überhaupt an einem Tisch? Warum hatten sie einen Punkt erreicht, an dem er sich das fragen musste? Was war passiert? Wann war es passiert? Und warum hatte keiner von ihnen es bemerkt, bevor sie damit begonnen hatten, sich gegenseitig anzuschweigen? Sein Blick schweifte einmal durch die Runde. Craig, der stumpf und gelangweilt seine Suppe löffelte und jeden in seinem näheren Umkreis mit Nichtachtung strafte. Clyde, der es tunlichst vermied, Token anzusehen und seinen Taco mit einer Lustlosigkeit verspeiste, die beunruhigend war. Token, der sich genauso weigerte, Clyde anzusehen, hatte die Hälfte seiner Pizza nicht auf-gegessen und starrte abweisend aus dem Fenster. Wie konnte man mit drei anderen Personen zusammensitzen und sich trotzdem so völlig isoliert fühlen? Als Kinder waren sie gute Freunde gewesen; sie hatten miteinander gespielt, einen Haufen Unsinn angestellt, Abenteuer erlebt, Schwierigkeiten überwunden... ...Wo war das alles hin? Tweek ließ sein Besteck sinken. Jetzt war auch ihm der Appetit vergangen. Am Tisch gegenüber war die Stimmung weitaus positiver. Bradley Stokes, in hellgrünem Pullover mit Kürbismotiv, das lächelnde Antlitz von seiner goldbraunen Lockenpracht umrahmt, berichtete gerade aufgeregt davon, wie es ihm gelungen war, ein besonders kompliziertes Stück auf der Geige auswendig zu lernen. Butters war bezaubert. Das Leuchten seiner Augen, die lebhaften Gesten, mit denen Bradley seine Worte unterstrich und denen eine natürliche Anmut innewohnte, die klare, warme Stimme, seine Begeisterung und Ungezwungenheit... Es erinnerte ihn an jenen Moment, da Bradley ihm anlässlich seines Geburtstages ein Ständchen gebracht hatte. Wenn dieser hinreißende Junge Geige spielte, fiel jede Unsicherheit, jede Verkrampfung, jede Scheu von ihm ab. Er verwandelte sich in einen Magier, der von seiner persönlichen Bühne herunterregierte und seine Zuhörer in Bann schlug, ob sie wollten oder nicht. Er strahlte eine solche Energie aus, wenn er das Instrument in seinen schönen Händen hielt (oh, Bradleys Hände, diese eleganten, perfekten Künstlerhände...!), dass man gar nicht umhin konnte, fasziniert zu sein. Es ließ sich der Mann erahnen, der er eines Tages sein würde... und Butters ertappte sich bei dem Gedanken, dass er gerne an der Seite dieses Mannes durchs Leben gehen würde. „Ich war so glücklich, als ich es geschafft hatte, das Lied zum ersten Mal zu Ende zu spielen, ohne in die Noten zu schauen! Sogar Mom hat mich gelobt und sie ist fast nie zufrieden! Und Dad hat gesagt, weil ich mir so viel Mühe gegeben habe, darf ich einen Freund einladen! Ist das nicht toll? Wenn Eric zurückkommt, können wir mal ein Duett versuchen, dann wird es noch netter! Ich freue mich schon!" Die Brauen von Prince Charming wanderten überrascht in die Höhe. „Ich möchte nicht unhöflich wirken, aber... was hat Eric damit zu tun? Und seit wann nennst du ihn Eric?" „Na ja... ich nehme Geigenstunden bei Mrs. King." „Bei Mrs. King? Lily King, die den Karaokeladen in der Nähe vom Altersheim betreibt?" „Genau die. Sie geht selbst bald in Pension. Aber worauf ich hinauswollte: In einer Ecke ihres Wohnzimmers hat sie Fotos von ihren Schülern aufgehängt und dort habe ich eins mit unserem Quarterback entdeckt. Er war darauf noch jünger. Ich habe mich sofort nach ihm erkundigt und sie erklärte mir, dass Eric bei ihr Unterricht gehabt hätte. Unregelmäßig zwar, aber doch jahrelang. Seit ich das weiß, möchte ich gerne einmal mit ihm spielen." „Nein, sowas! Ich hatte wirklich keine Ahnung! Das ist so typisch für ihn! Wenn er glaubt, dass etwas seinem Image schaden könnte, verheimlicht er es! Nun, ich werde ihn heute besuchen, da werde ich ihm ein bisschen auf den Zahn fühlen. Vielleicht kann ich ihn dazu überreden, ein Duett mit dir zu wagen." „Das würdest du tun? Das wäre echt nett von dir! Eric... weißt du, Eric schüchtert mich immer noch ein. Es ist nicht nur seine Statur, auch seine ganze Art ist irgendwie..." „...‘schwierig‘, um es vorsichtig zu formulieren? Ja. Wer pausenlos Sonnenschein und Gänseblümchen braucht, sollte sich nicht mit ihm anfreunden. Aber vielleicht könntest du über die Musik einen Zugang zu ihm finden? Eric ist ein guter Kerl, sehr, sehr tief drin. Seit er sich über seine Gefühle für Kyle klargeworden ist, hat er sich als Mensch weiterentwickelt. Das ist nur gut für ihn, so schmerzhaft es auch sein mag." Bradley betrachtete Butters eindringlich. Er liebte seine Offenheit, seinen Mut, seine Lebenslust, seine Gabe, bis in die Herzen der Menschen zu blicken und zu akzeptieren, was er vorfand. Es tat manchmal sogar weh, ihn in all seinem Glanz und seiner Schönheit um sich zu haben, während man selbst so unscheinbar war. „...Wann soll ich kommen?" „...Wie... wie bitte? Wann du...? Was?" Butters lächelte überwältigend (wie immer. Etwas anderes als ein überwältigendes Lächeln hatte er nicht anzubieten, jedenfalls nicht aus Bradleys Sicht). „Na ja, du hast erwähnt, dass dein Dad dir erlaubt hätte, einen Freund einzuladen. Warum du mit siebzehn Jahren eine Erlaubnis dafür benötigst, lasse ich mal außen vor. Oder... war ich zu voreilig? Vielleicht möchtest du nicht, dass deine Eltern mich kennenlernen? Ich meine, ich passe bestimmt nicht in ihr Weltbild..." Ein schwuler Tänzer mit extravagantem Modegeschmack, der gern flirtete? Der erstaunlich reif und sexy wirkte, trotz seines jugendlichen Alters? Der unter dem Alias „Mustang" in einem Laden wie dem Raisins jobbte und der Präsident der Musical-AG war? „Für sie wärst du der Anti-Christ." „Oh je...so schlimm?" „Du bist offen homosexuell. Das allein wäre Grund genug, dich einzusperren! Oder dich zurück ins Camp zu schicken, damit man dich ‚umpolt‘! Du bist schwer krank, weißt du das nicht?" „...Schade. Also kann ich dich nicht besuchen?" Die Enttäuschung in seiner Stimme ließ den Violinisten aufhorchen. Er war es gewohnt, nicht für voll genommen zu werden, sodass Butters‘ ehrliches Interesse an ihm ihn stets aufs Neue verblüffte. Schließlich war er nichts Besonderes - durchschnittlich intelligent, durchschnittlich sportlich, durchschnittlich begabt... selbst sein Aussehen war durchschnittlich (weshalb er echt nicht kapierte, warum ihn das Beliebtheitsgremium der Schülerzeitung als eine 7, sehr attraktiv, eingestuft hatte)! Dass er überhaupt vom Star der Park High beachtet wurde...! „Es...es ist wohl besser, wenn du nicht kommst. Nicht unbedingt, weil ich meine Eltern schonen will, sondern weil ich Angst habe, dass sie dich beleidigen oder beschimpfen könnten. Gute Manieren sind nur gegenüber ‚normalen‘ Leuten zu erwarten." „Normal, he? Wie genau definiert man ‚normal‘? Wenn du mich fragst, jeder spinnt anders." Er zwinkerte Bradley zu, der das spitzbübische Grinsen erwiderte. »...Ja. Jeder spinnt anders. Ich wünschte, meine Eltern würden das endlich verstehen. Warum sind sie so verbohrt und engstirnig? Besonders zufrieden scheinen sie mit ihrem Leben nicht zu sein... oder liegt das an mir, ihrem ‚missratenen Sohn‘? Ich würde ihnen gerne helfen, die Welt mit anderen, freundlicheren Augen zu sehen... aber wie?« Zwei Tische weiter links saßen Kyle, Kenny und Stanley zusammen und beratschlagten sich. Kenny und Stan hatten sich darauf geeinigt, das Thema Harrison vorläufig zu ignorieren, da Eric Cartmans Genesung und die Besuchserlaubnis von größerer Bedeutung für sie waren. Nur Kyle konnte sich nicht recht entschließen, ob er erleichtert, glücklich oder verängstigt sein sollte. Cartman hatte sein Leben riskiert, um ihn zu schützen! Und er...? Er hatte ihn vorgeführt, ihn verletzt, und dennoch hatte Cartman...! Sein verzerrtes, leichenblasses Gesicht... das Blut überall... die Schmerzen, die er erduldet hatte... und seine Worte... „Ich hab‘s dir doch gesagt... Für einen Menschen, den ich liebe, würde ich alles tun. Sogar für ihn sterben, wenn es sein muss. Und ich liebe...!" »...‘Und ich liebe dich.‘ Das wolltest du doch sagen, nicht wahr, Cartman? Du verdammter Idiot! Für mich zu sterben, mich, den Typen, der dich nicht leiden kann...! Du bist ja verrückt! Verrückt und stur und egoistisch...und ...und tapfer... und stolz... und zäh...!« „Kyle, alles in Ordnung?" „Hey Kumpel, was is‘ los?" Der Rotschopf schreckte auf und wurde sich der Anwesenheit seiner beiden Freunde bewusst. „Es... es ist alles okay, Jungs. Echt. Ich... ich habe nur ein bisschen Schiss, Cartman wiederzusehen, nachdem ich... nachdem ich so ein Arsch war." „Sperr die Lauscher auf, mein Alter: Eric hat dir freiwillig das Leben gerettet. Niemand hat ihn dazu aufgefordert oder ihn dazu gezwungen. Es war seine Entscheidung, so zu handeln. Du brauchst dich nicht dafür zu schämen, dass er dich beschützt hat. Und was deine miese kleine Nummer auf Stans Geburtstagsparty angeht... er wird dir verzeihen, wenn du dich entschuldigst. Mach kein Drama daraus!" „Aber... aber...!" „Kein aber. Eric hat etwas Selbstloses getan. Das ist nicht einfach. Kaum ein Mensch ist je wirklich uneigennützig. Die Gier regiert die Welt, die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer. Deshalb heißt die Devise: Jeder für sich allein, nach mir die Sintflut. Im Ernst, Kyle - sei froh und dankbar, dass du jetzt nicht im Krankenhaus liegen musst und hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Rede mit Eric und gut is‘." „...Du hast recht..." „Natürlich habe ich recht! Eric ist mein bester Freund, ich kenne ihn. Und er liebt dich. Das ist eure Chance, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und nochmal neu anzufangen... nicht länger als Rivalen, sondern als Kameraden. So übel die ganze Geschichte mit Everett auch war, wenn sie euch hilft, eine richtige Freundschaft aufzubauen, war es das wert!" Kyle lächelte, sichtbar getröstet. Stan zeigte ein „Daumen hoch" und warf Kenny einen bewundernden, fast zärtlichen Blick zu. Momente wie diese erinnerten ihn geradezu schmerzlich daran, wie treu und hilfsbereit der Blonde sein konnte, und wie zynisch und rücksichtslos, wenn es ihm in den Kram passte. Sexbesessen. Mutig. Hedonistisch. Aufopferungsvoll. Gleichgültig. Entschlossen. Feige. Unbezähmbar. All das war er, eine widersprüchliche, anziehende, provokante Mischung, die mit herrlichen blauen Augen und einem unverschämt charmanten Grinsen gesegnet war. Kennys gefühlloses Verhalten gegenüber den Mädchen und Jungen, die er im Bett hatte und die ihm aufrichtige Zuneigung entgegenbrachten, missbilligte er sehr, aber er konnte auch verstehen, warum er trotz seines schlechten Rufs ein so erfolgreicher Playboy war. Abgesehen von seinem gewinnenden Äußeren besaß er eine... ja, eine verführerische Ausstrahlung. Nicht dieselbe Art von Ausstrahlung wie Butters, die verfeinerter, vornehmer, eleganter war; die seine hatte etwas Wilderes, Primitiveres an sich. Butters war wie das warme Leuchten eines glitzernden Kristallkronleuchters, während Kenny die lodernden Flammen eines großen Feuers verkörperte. Sogar sein Name passte dazu, denn „Kenneth" leitete sich von dem gälischen Namen „Cináed" ab, was „aus Feuer geboren" bedeutete (das wusste er von Ike, der mit seinem enorm hohen IQ über eine ebenso enorme Sammlung an Interessen und Wissensgebieten verfügte; eines davon war die Etymologie von Namen. „Stanley" zum Beispiel war altenglischen Ursprungs und bedeutete „Steinlichtung"). Aus Feuer geboren... wie der unsterbliche Phönix. Es ließ sich nicht leugnen, er zog andere Menschen an wie das Licht die Motten. Und sie verbrannten sich an ihm. ... ... ...Und manchmal... manchmal...fühlte sich auch Stanley wie eine dieser Motten. ...Fuck. „Wann wollen wir uns treffen, um Cartman zu besuchen?", unterbrach Kyle seinen Gedankengang und er schüttelte die irritierende Idee unwillig ab. Die Freunde diskutierten noch eine Weile und einigten sich schließlich auf halb acht. ~~ 14 Uhr, Sportunterricht der Neuntklässler ~~ Karen McCormick wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mrs. Taylor, ihres Zeichens Sportlehrerin und Coach des Cheerleaderteams, hatte die Freshmen mal wieder ordentlich auf Trab gehalten. Fünf-Minuten-Lauf, Klimmzüge, Liegestütze, Sprung übers Pferd, Handstand mit und ohne Hilfestellung, Radschlagen... sie schien den Unterricht des öfteren mit dem Cheerleadertraining zu verwechseln. Nicht, dass Karen per se etwas dagegen hatte - hier fühlte sie sich wenigstens gefordert und ernstgenommen und konnte mit ihren besser situierten und besser gebildeten Klassenkameraden mithalten -, aber sie hatte nachher noch eine Stunde Chemie! »Scheiße, ich werde sowas von einpennen! Dann kriege ich garantiert ein saftiges Nachsitzen aufgebrummt... und ich hasse Nachsitzen! Es sei denn, wir machen Experimente, das finde ich cool. Da schlafe ich vielleicht nicht ein, egal, wie fertig ich bin...! Wer war eigentlich so blöd, ausgerechnet Chemie auf den Nachmittag zu legen...!?« „McCormick!" Karen drehte sich um und ging zu der Lehrerin hinüber. Mrs. Taylor war eine attraktive Frau Mitte Dreißig, mit hohen Wangenknochen, einer kleinen Nase, vollen Lippen, dunkelbraunen Augen und glänzenden schwarzen Haaren, die zu einem unordentlichen Dutt gesteckt waren. Karen hätte zu gern gewusst, wie sie ihre Haare immer so toll hinbekam (das mit dem Glanz, nicht den Dutt), aber sie traute sich nicht, zu fragen, zumal Mrs. Taylor sie gerade sehr genau musterte. Hatte sie einen Fleck im Gesicht? Oder Ihr Oberteil verkehrtherum an? Warum wurde sie plötzlich begutachtet wie ein Pferd, das verkauft werden soll? „Ich habe dich beobachtet, McCormick. Du bist schnell, flink, hast eine ausgezeichnete Sprungkraft und eine hervorragende Körperspannung. Handstand ohne Hilfestellung ist für dich kein Problem und beim Radschlagen zeigst du eine gute Balance und Geschwindigkeit. Hast du schon mal daran gedacht, Cheerleaderin zu werden?" Das junge Mädchen riss die Augen auf und gab einen unartikulierten Laut von sich. „...Cheer... Cheerleader...?" „An deiner Kondition musst du noch arbeiten, und du bist etwas dünn, weshalb du mehr essen solltest, um Muskelmasse aufzubauen. Ansonsten hast du keine nennenswerten Defizite und mit dem nötigen Training und dem richtigen Ernährungsplan könnte aus dir ein Top-Cheerleader werden. Hättest du Interesse?" „Aber die Mannschaft ist doch voll besetzt!" „Ja, jetzt noch. Aber über die Hälfte des Teams besteht aus Seniors, die nächstes Jahr abgehen. Es ist Zeit für den Nachwuchs. Die Try Outs werden voraussichtlich im Mai stattfinden, möglicherweise auch im Juni. Also, was sagst du?" „Ich... ich weiß gar nicht... ich... Kann ich da ein paar Tage drüber nachdenken?" „Natürlich. Komm einfach in den nächsten Wochen beim Training vorbei und schau dir an, was wir machen. Wenn es dir gefällt, sprich mit Bebe. Sie kann dir die besten Ratschläge geben und weiß, wie man sich optimal auf die Try Outs vorbereitet." Bei der Erwähnung von Bebe verzehnfachte sich Karens Unsicherheit. Bebe Stevens, der Cheer Captain, die offizielle Schönheitskönigin der Schule, mit der sollte sie reden!? Bebe war beliebt, sexy, schick und eine super Athletin, kurz: Das totale Gegenteil von ihr. Sicher, sie war einigermaßen beweglich, aber sie konnte es doch niemals mit den Cheerleadern aufnehmen! „He, McCormick", durchdrang Mrs. Taylors ruhige Stimme ihren Anflug von Selbstzweifel, „alle Cheerleader haben mal klein angefangen. Noch ist kein Meister vom Himmel gefallen. Aber ich erkenne Potential, wenn ich es sehe. Es wäre schade, wenn du es nicht nutzen würdest. Sollte Cheerleading nicht dein Ding sein, suchst du dir eben einen anderen Sport aus. Du wärst zum Beispiel auch prima geeignet für Volleyball." Karen nickte und begann langsam zu begreifen, dass die Lehrerin ihr Angebot ernst meinte. Am liebsten hätte sie einen Luftsprung gemacht und Mrs. Taylor umarmt, doch sie besann sich rechtzeitig darauf, dass man die Pädagogenschaft nicht wie seinesgleichen behandelte. Daher bedankte sie sich höflich, ihr (vielleicht) zukünftiger Coach pfiff die Stunde ab und die Meute verteilte sich auf die Umkleidekabinen. »...Cheerleader! Cheerleader!!! Das ist der Wahnsinn! Ich kann‘s kaum erwarten, Kenny und Kevin davon zu erzählen!« ~~ 18 Uhr 15, South Park Erlebnisbad „Splash Lagoon"~~ „Warum sind wir gleich nochmal hier?", fragte Craig in einem Ton, der sich für seine Schwester Terry wie ein monotones Hypnosemantra anhörte. Dass er es fertigbrachte, bei einem derart normalen Satz so unglaublich lustlos und angeödet zu klingen, war nicht zu fassen. Er schien sich gefühlsmäßig immer mehr von seiner Umwelt abzukapseln... und obwohl sie seine Gründe nachvollziehen konnte, machte ihr das allmählich Angst. „Mensch, großer Bruder, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Ich meine, abgesehen von den üblichen Verdächtigen wie Dad oder dem Direktor und denjenigen, die es wagen, dich zu stören, indem sie existieren?" Craig stieß ein Grunzen aus und wiederholte seine Frage. Terry verdrehte die Augen, sah an der bunten Fassade des Erlebnisbades hinauf und erklärte obenhin: „Die Schwimmsaison für die Mädchen der Junior- und Senior High fängt bald an. Ein paar sind in meiner Klasse und wollen heute schon trainieren. Ich will zuschauen." „Wieso?" „Weil ich neugierig bin! Und weil ich auch mal in einer Schulmannschaft dabei sein will! Du hast keinen Bock auf gar nichts, von mir aus, aber ich möchte mich ausprobieren! Oder wenigstens zusehen, wenn ich darf! Jetzt sein kein Arschloch!" „Tse...!" »Warum muss Terry ständig an mir herumnörgeln? Ich weiß, dass sie es gut meint, aber ihre Ermahnungen nerven total. Nicht jeder ist ehrgeizig, also was soll‘s? Dad hat sich auch nie sehr angestrengt, echte Kerle haben das schließlich nicht nötig. Ich brauche keine Gefühlsduselei und nutzlose Träume... ich brauche nur mich selbst!« Das „Splash Lagoon" war, wie der Name verriet, das Badeparadies schlechthin in South Park. Neben einer imposanten Rutsche, die in ein riesiges Freibecken hinunterführte, gab es ein großes Innenbecken, zwei Saunen, eine Wellnessoase, ein Bistro, ein Café, diverse andere Rutschen, die mit Schlauchbooten oder Reifen zu befahren waren und ein etwas kleineres Trainingsbecken, das mit farbigen Bojen in Bahnen eingeteilt worden war. Dort hatten sich einige Mitglieder des Park-High-Schwimmteams versammelt. Obgleich die Wintersaison den Mädchen vorbehalten war, waren auch ein paar Jungen darunter, die den Auftakt mit ihren Kameradinnen begehen wollten. Terry nahm auf der Zuschauertribüne Platz und winkte einer Gruppe von vier Mädchen zu, die in schwarzen Badeanzügen steckten, die auf Hüfthöhe mit rot-weißen Streifen verziert waren. Alle vier winkten zurück; eine von ihnen ließ dem noch ein hingerissenes Augenrollen folgen, was Terry zunächst verwunderte, bis sie den Auslöser der schwärmerischen Reaktion entdeckt hatte: Den hübschen blonden Kapitän der Jungenmannschaft, Tristan William Edward Ernest Kendrick, kurz Tweek. Craig schien zu ersticken; jedenfalls machte er ein eigenartiges Geräusch, das sich anhörte, als hätte er irgendetwas in den falschen Hals bekommen. Seine Schwester runzelte die Stirn, und dann erinnerte sie sich daran, dass er Tweeks Wettbewerbe nie aktiv verfolgt hatte. Er hatte ihn also noch nie aus der Nähe in seinem „Schwimmermodus" gesehen und das war offensichtlich das Problem, denn... nun ja, Tweek war sexy. Zugegeben, sie verstand nicht wirklich viel davon, aber der durch das regelmäßige Schwimmen gestählte, geschmeidige Körper mit den feingemeißelten Muskeln war sehr... angenehm für die Augen und die Badehose überließ fast nichts mehr der Fantasie (er trug einen klassischen Jammer in denselben Farben wie die Mädchen, schwarz mit rot-weißen Seitenstreifen. Ein Jammer beginnt unter dem Nabel und endet über dem Knie). Die sanften braunen Augen und das strahlende Lächeln taten das übrige... oder gaben Craig den Rest, Terry war nicht sicher. Er wirkte außerordentlich... schockiert? „Liebes Schwimmteam", erklang Tweeks Stimme und ohne seine übliche Nervosität besaß sie einen unerwarteten Charme, „ich freue mich sehr, dass die neue Saison für die Mädchen begonnen hat." Allgemeiner Jubel, die Jungen klatschten dazu. „Leider hat eure Kapitänin eine schwere Erkältung und kann deshalb nicht hier sein. Sie hat mich gebeten, sie zu vertreten und sie hofft, dass sie beim nächsten Training wieder dabei sein kann. Hat noch jemand Fragen? Nein? Gut. Dann fangen wir an mit der Anwesenheitskontrolle..." Souverän? Check. Selbstbewusst? Check. Attraktiv? Check. Kein Wunder, dass Craig Zustände kriegte, er hatte ja generell Schwierigkeiten damit, Tweek als etwas anderes als eine Nervensäge wahrzunehmen. Jetzt lief er rot an. Vor Ärger? Verlegenheit? Scham? Terry war so an sein ausdrucksloses Gesicht gewöhnt, dass sie Mühe hatte, diese plötzliche und sichtbare Mimik einzuordnen. Was war in ihn gefahren, du heilige Scheiße?! „Tweek!!" Craig scherte sich nicht um die Fassungslosigkeit seiner Schwester, er hatte die Zuschauertribüne verlassen und stand nun wie eine Verkörperung ohnmächtiger Wut vor dem verblüfften Blondschopf, dessen Lächeln schlagartig erlosch. „...C-C-Craig!? Was tust du denn hier?! Warum siehst du so... angefressen aus?" „Was soll dieser Blödsinn, hä!? Und diese schwule Aufmachung!? Was kümmerst du dich überhaupt um diese Idioten, die ihre Zeit mit Wassertreten verplempern wollen?! Sollte ein Loser wie du sich nicht lieber in seinem Zimmer verkriechen und heulen wie jedes andere verdammte Weichei!? Du und dieser Sauhaufen, was habt ihr schon vorzuweisen!?" „...Großer Bruder! Was... was ist denn los mit dir?!" Das wusste er nicht. Er hätte es ihr gerne erklärt, und fand doch selbst keine Erklärung. Aus irgendeinem Grund brachte ihn diese ganze Situation fürchterlich auf; besonders Tweek, der ihn anglotzte als wäre er ein Nazi-Zombie aus dem Weltraum. Gleich würde er in sich zusammensinken und zittern, so wie es sich für ihn gehörte. Er hatte kein Recht, den Beifall einer Menge zu ernten. Er hatte kein Recht, so ruhig zu sprechen. Er hatte kein Recht, so gelöst und entspannt zu sein. Er hatte kein Recht... auf diese schönen Augen... Kein Recht auf dieses hellgoldene Haar... Kein Recht... auf diesen... diesen makellosen, kraftvollen Körper, der einen beinahe trotzig dazu aufforderte, ihn zu berühren... Er hatte nicht einmal geahnt... er... er... Er schluckte schwer, ballte die Fäuste. Seine Gedanken verlangsamten sich bis zum Stau. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Hier... Hier lief doch was falsch! Ein männlicher Körper interessierte ihn nicht! Männer allgemein waren nicht sein Ding! Sein Mund wurde trocken. Er registrierte undeutlich empörtes Geflüster, ein paar Buh-Rufe, und irgend jemand sagte „Verpiss dich, Arschloch! Lass den Captain zufrieden!" Sie... verteidigten Tweek? Natürlich... Tweek würde immer andere Leute brauchen, um im Leben zurechtzukommen. Er war schwach und hilflos. Er war... er war... „Was ist dein Problem, Tucker!?" ...Was war das? Tweek hatte ihn noch nie mit dem Nachnamen angesprochen... Ein zornig funkelnder Blick begegnete dem seinen, nicht mal die Spur eines Zitterns war zu sehen. „Was fällt dir ein, hier aufzukreuzen, unser Training zu stören und mich zu beleidigen?! Dieses Team hat hart für seine Erfolge gearbeitet, während du kaum deinen faulen Arsch hochbringst, um morgens aus dem Haus zu gehen! Schwimmen macht uns Spaß, egal, ob wir uns mit anderen messen oder nicht! Wir bestreiten Wettkämpfe, damit unsere Familien, unsere Freunde, unsere Schule, unsere Stadt stolz auf uns sein zu können! Während dein höchster Ehrgeiz nur darin besteht, fünf verschiedene Nuancen von Langeweile zu kultivieren! Der Unterricht ist dir gleichgültig, Sport ist dir gleichgültig, Clyde, Token und ich sind dir gleichgültig; ich glaube sogar, deine Zukunft ist dir gleichgültig!! Wenn überhaupt, interessierst du dich nur für dein Macho-Image und deine Schwester, und das ist verdammt wenig... und verdammt traurig! Was ist mit deinen Hobbys, deinen Wünschen, deinen Zielen!? Willst du bloß herumhängen, andere Leute fies anstarren und in deiner eingebildeten Überlegenheit baden!? Hast du gar keine Erwartungen an dein Leben?! Spitz die Ohren, Tucker: Du bist längst nicht so cool wie du denkst, und deine Null-Bock-Attitüde geht mir allmählich extrem auf die Nerven!! Warst du heute in der Cafeteria nicht da, als wir uns alle angeschwiegen haben?! Wir sind in unserem letzten Jahr an der High School, wir werden South Park in ein paar Monaten verlassen, die Freundschaft unserer Gruppe ist am Zerbrechen und es kümmert dich nicht!! Was zum Teufel läuft falsch bei dir?!" Craig öffnete den Mund, aber Worte kamen keine heraus. Tweek war wütend. Er hatte nicht gewusst, dass Tweek wütend werden konnte. »Wer... wer ist dieser Typ da vor mir? Er scheint nichts mit dem Jungen gemein zu haben, den ich kenne... oder von dem ich dachte, dass ich ihn kenne. Panikattacken, nervöse Anfälle, hastige Gesten, krasse Unsicherheit, das ist sein Ding. Er hatte Angst vor seinem eigenen Schatten, verfickt noch eins! Irgendwie kann ich mit dieser Version von Tweek nicht umgehen... diese Seite an ihm ist zu... zu... zu attraktiv...HÄ?! Nein, halt, falsch, falsch, falsch!! Ich stehe nicht auf Kerle, und besonders nicht auf paranoide Trottel!!« Wie sollte er reagieren? Seine „Coolness" half Craig nicht. Nicht mal ein bisschen. Es gab keine Vorlagen für eine solche Situation, kein Bad-Boy-Klischee, an dem er sich hätte orientieren können, um seine Richtung wiederzufinden. Noch immer sagte er nichts, stattdessen hängte sich sein vernageltes Gehirn an den schöngeschwungenen Lippen des Blonden auf und stellte auf Durchzug. Sie sahen weich und verführerisch aus... ... ... Oh, fick dich, Hirn!! Plötzlich spürte er eine kleine warme Hand, die sich in die seine schob und hörte ein leise gemurmeltes „Du bist ein Riesenidiot, Bruderherz!" Terry hielt ihn fest (und das war nötig, denn seine Beine fühlten sich an wie Götterspeise) und zog ihn energisch mit sich fort. „Entschuldige bitte, Tweek! Er ist... nicht ganz bei sich!" Damit verfrachtete sie das wandelnde Desaster zurück zum Eingang. Craig protestierte nicht. Es war, als wäre er in Ratlosigkeit und Verwirrung erstarrt. „So", meinte sie nach etwa fünf Minuten peinlichen Schweigens, die ihr Gegenüber wie hundert Stunden empfand, „du hast also was für ihn übrig, he?" „Was... was für ihn übrig? Spinnst du!? Ich hatte bloß... einen Aussetzer, das ist alles! So ein Weichei lässt mich völlig kalt!! Ich - stehe - nicht - auf - Jungs!!" Terry hätte ihn gerne gecraigt (zwei Finger, volle Breitseite), entschied sich aber dann doch lieber für einen verbalen Angriff. „Im Ernst, Bruderherz, so kann das nicht weitergehen! Du steckst so tief drin im Wandschrank, du bist fast in Narnia!" Er beantwortete ihre Feststellung mit einem erhobenen Mittelfinger. „Halt die Klappe." „...Das wäre überzeugender, wenn du weniger Ähnlichkeit mit ‘nem Radieschen hättest..." „...Halt die Klappe, Teresa, ich flehe dich an...!" „Ist ja gut..." ~~ 19 Uhr 30, Hell‘s Pass Hospital ~~ Kyle, Stan und Kenny standen vor dem Krankenhaus und blickten etwas unschlüssig an dessen grauer Fassade empor. Die Luft war kalt, aber nicht unangenehm schneidend, und es lag eine ruhige, friedliche Atmosphäre über allem, dekoriert mit Sternen und silbernem Mondlicht. „Los, Leute... rein mit uns." Am Empfang erfuhr die Gruppe, dass immer nur zwei Besucher pro Patient erlaubt waren, was zunächst Missstimmung auslöste. „Ich bedaure das", erklärte die diensttuende Schwester, „aber so lauten nun einmal unsere Vorschriften. Sie möchten Eric Cartman sehen, richtig? Zimmer 316, dritter Stock, linker Flügel. Es ist ausgeschildert. Bitte desinfizieren Sie Ihre Hände an dem Apparat dort drüben, bevor Sie sich zu ihm begeben." Wenig später standen die Freunde vor einer großen weißen Tür, auf der in schwarzer Blockschrift die Zimmernummer prangte und Kenny klopfte an. „Herein." „Stan und ich gehen zuerst rein, Kyle. Ist das okay?" „Klar ist das okay. Es dürfen ja eh nur zwei Personen sein. Sagt ihm aber, dass ich auch da bin." „Logisch." Sie öffneten die Tür. Kyle blieb allein im sterilen Flur zurück und hörte Cartmans Stimme, die glücklich seine beiden Kameraden begrüßte. Bei dem vertrauten Klang sprang sein Herz fast in seine Kehle, und er wich zurück, von seiner Erleichterung überwältigt. »Es... es geht ihm gut...! Er hat sich erholt... oder wird sich noch besser erholen...Oh, du... du... Was soll man nur mit dir machen...!? Den Kerl zu retten, der dich hasst...!« ... ... ... Hasste er ihn? Er war sich nicht mehr so sicher wie zu Beginn des Schuljahres. Jetzt war November. Konnten wirklich erst zwei Monate vergangen sein, seit Cartman ihm seine Liebe gestanden und seine Gefühlswelt ins Wanken gebracht hatte? Heute konnte er zugeben, dass er ihn attraktiv fand, ohne angewidert von sich selbst zu sein. Wenn er ehrlich war, er mochte keine spindeldürren Striche in der Landschaft. Er hatte immer für große Männer geschwärmt, welche mit Muskeln, mit breiten Schultern und Hüften, welche, die tatsächlich stark waren. Nicht wie die klassischen Bodybuilder, deren Körper nicht für Kraft gebaut waren, sondern für Aussehen. Nein, im Ernst, das hatte er in einem Medizinbuch gelesen, im Kapitel Anatomie. Männer, die bei Wahlen wie Mr. Universe auftraten, waren im Vergleich zu Männern in Strongman-Wettbewerben ziemlich schwach, weil fundamental verschieden gebaut. Der Mr-Universe-Look betonte Oberkörpermasse und eine schlanke Taille; sie waren auf Show ausgerichtet, nicht Stärke. Starke Männer besaßen beeindruckende Schultern und breite Hüften, weil sie bei ihrem Training die sogenannten Kernmuskeln des gesamten Torsos entwickelten, um Schädigungen der Wirbelsäule und der inneren Organe vorzubeugen, wenn sie Gewichte stemmten. Sie waren „big", wie Cartman... mit einem stabilen Brustkasten, kräftigen Armen und Beinen... und Kyle? Kyle gefielen die großen Jungs. »Hm...ich habe offensichtlich einen Typ...« Er seufzte. Heute konnte er außerdem zugeben, dass er seine persönliche Nemesis vielleicht doch gern hatte, jedenfalls irgendwie. In seinem Leben fehlte etwas, wenn er seine Krallen nicht an jemandem wetzen konnte, wenn niemand seine Meinungen oder Ideen hinterfragte, wenn niemand seine Intelligenz oder seinen Willen herausforderte. Er brauchte das, weil es ihn anspornte und dieses Feuer in seinem Inneren nährte, das sich seine Mutter weit weniger ausgeprägt wünschte. Er hatte sein Temperament und seinen Stolz von ihr geerbt, aber sie schien diese Eigenschaften an sich selbst nicht sehr zu schätzen. Das hing ohne Zweifel mit ihrem Leben in New Jersey zusammen, dessen sie sich schämte. Als sie seinen Vater kennenlernte, wollte sie nicht länger „S-Woww Titty Bang" sein (was er durchaus nachvollziehen konnte), aber deshalb von ihm zu verlangen, alles an sich zu verleugnen, das nicht ins Guter-Junge-von-nebenan-Schema passte? Er war dickköpfig und jähzornig und konnte gnadenlos und hinterhältig sein... doch der einzige, der ihn je bewusst damit konfrontiert hatte, war Cartman. »Du hast es mir immer ins Gesicht gesagt, wenn ich Scheiße gebaut habe... und weißt du was? Mit dir zu streiten macht Spaß. Du bist clever und schlagfertig, hast mehr Charisma als dir gut tut und du kannst so...so leidenschaftlich sein, wenn dir etwas wirklich wichtig ist. Du hast mich nicht unterkriegen können... und ich, ich habe dich nicht untergekriegt. Nach jedem Fall, den ich dir beigebracht habe, bist du wieder aufgestanden, beharrlich und entschlossen! Ich... ich will nicht mehr nur dein Gegner sein... ich will... Ich will dein Freund sein...« Ungefähr zwanzig Minuten später ging die Tür, Stan und Kenny kamen heraus und schoben den Rotschopf in den Raum, bevor er sie nach ihrem Gespräch fragen oder gar zögern konnte. Das Zimmer war hell und freundlich, und auf dem Beistelltisch neben dem Bett standen ein hübscher Blumenstrauß (von Mrs. Cartman?), eine Hello-Kitty-Plüschfigur (definitiv Butters), eine kleine zuckergussrosa Pralinenbox mit dem Logo des „Weberstübchens" (wie nett von Petra), eine Packung doppelt gefüllter Oreo-Kekse (...Wendy?), ein paar Karten mit Genesungswünschen, Clyde Frog...Moment, Clyde Frog!? Der konnte ja nur von seiner Mutter sein, also musste jemand anderes den Blumenstrauß mitgebracht haben... aber wer? „Na, Kyle? Bewunderst du meine Trophäen?" Fast hatte er es vermisst, Cartmans Grinsen. Er war immer noch schrecklich blass, wirkte jedoch munter und aufmerksam. In der Hand hielt er einen niedlichen Stier aus Plüsch mit einem Football in den Hufen (eine Hommage an die Park High Bulls und das Schulmaskottchen), das Geschenk, das seine drei besten Freunde für ihn ausgesucht hatten. (Die Diskussion in der Shopping Mall erwies sich allerdings als... ein bisschen seltsam. Kyle: Wir kaufen den da, der wird Cartman gefallen. Kenny: Den Möchtegernstier? Der ist viel zu putzig, der geht höchstens als Kälbchen durch! Stan: Ja, er ist richtig zum Knuddeln... was er ja auch sein soll, er ist ein Plüschtier! Kenny: Du findest alles zum Knuddeln, was? Stiere, Eisbären, Wale... Mormonen... Kyle: ...Mormonen?!? Stan: ...Kenneth...! Kenny: ...Ist ja gut, schau nicht so! Gib her das Teil! Stan: *sehr genervter Seufzer* Kyle: ????? Er war davon überzeugt, dass er irgendetwas Bedeutsames verpasst oder übersehen hatte, aber die beiden weihten ihn leider nicht ein.) „Deine Trophäen, Blödarsch? Sonst noch was?" „Ah, ich stelle fest, dass du deine schlechten Manieren nicht verloren hast." „Nein, natürlich nicht. Das wäre langweilig." Nach dieser protokollgemäßen Eröffnung lächelten sie sich schüchtern an und Kyle nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Um seine Verlegenheit zu kaschieren, griff er nach einer der Karten und klappte sie auf. Ein Foto des Footballteams war darin und alle Mitglieder der Mannschaft hatten in unterschiedlichen Farben unterschrieben, auch Coach Lanigan (in Pink). „Wie schön. ‚Komm bald zurück, Captain!‘ Sie setzen ihre Hoffnungen in dich." Er schüttelte den Kopf. „Ich wünschte, sie würden das nicht tun. Ich werde... ich werde ihnen nicht helfen können. Die Playoffs beginnen morgen, bis dahin bin ich garantiert nicht fit genug, um anzutreten. Das letzte Match ist am 28. November und ich weiß nicht, wie footballtauglich ich dann sein werde. Sieht so aus, als gäbe es für mich keine Postseason im Abschlussjahr. Schade. Ich hätte den Pokal gern ein viertes Mal geholt." „Das wirst du. Mit deiner Pferdenatur erholst du dich bestimmt schnell, du kannst sicher noch teilnehmen. Die erste Runde gewinnt das Team auch ohne dich." „Wegen der ersten Runde mache ich mir keine Sorgen. Von den 42 Mannschaften in unserer Footballkonferenz können sich nur sechzehn für die Playoffs qualifizieren, und die spielen nach Rangliste, Nr. 1 gegen Nr. 16, Nr. 2 gegen Nr. 15, und so weiter. Klar, man muss schon gut sein, um überhaupt die Playoffs zu erreichen, aber unser Gegner morgen ist Ridge View. Die waren noch nie vorher dabei und sind schwer am Durchdrehen weil sie gegen uns spielen sollen. South Park ist dreifacher State Champion in Folge, meine Jungs werden diese Anfänger wegputzen wie nichts. Sorgen bereitet mir nur einer: North Park. Da bricht man die Siegesserie einer Schule kaum dass man Quarterback ist, und schon werden die Leute empfindlich." „Nicht zu ändern." Sie schwiegen. Cartman streichelte nachdenklich den Plüschstier, während Kyle nervös auf dem Stuhl herumrutschte und sich den Kopf zerbrach, wie er am besten zu seiner Entschuldigung überleiten könnte. Einfach so damit herausplatzen wollte er nicht, aber... „...Es tut mir leid, Kyle." Huh? „...Äh... wie bitte? Hast du was gesagt, Cartman?" „Ich sagte: Es tut mir leid." „Warte... was tut dir leid? Wofür entschuldigst du dich?" „Das fragst ausgerechnet du? Ich entschuldige mich... für alles. Dafür, dass ich dich gegen deinen Willen geküsst habe. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich habe ungebeten deine persönlichen Grenzen überschritten und das ist nicht okay. Verzeih mir. Das wird nie wieder passieren." Kyle nickte stumm, völlig überrumpelt. »Musste er gerade die Küsse erwähnen? Ich stimme im Prinzip mit ihm überein, er hätte das nicht tun dürfen, aber... aber... Aber ich kann es nicht vergessen! Seinen Geschmack, seinen Duft, die Kraft seiner Arme, die Wärme seiner Lippen...!« „Ich möchte mich entschuldigen für meine Beleidigungen, für das Herabsetzen deiner Religion, dafür, dass ich... dass ich dir dein Leben zur Hölle gemacht habe. Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen, aber ich werde versuchen, ein besserer Mensch zu sein als früher. Das heißt, ich werde dich auch endlich so behandeln, wie es meinen wahren Gefühlen entspricht. Ich habe es satt, mich hinter meinem kindischen Hass zu verstecken, und ich bin es leid, dich ständig zu verletzen... das entfernt dich nur von mir. Ich weiß, dass du mich nie lieben wirst, aber ich wünschte, ich könnte wenigstens dein Freund werden, jemand, dem du vertraust..." „...Bitte, Cartman... sprich nicht weiter. Auch ich muss mich entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich dich auf der Party vorgeführt und gedemütigt habe. Ich hatte vielleicht guten Grund, nicht an deine Gefühle zu glauben, doch ich hätte das nicht gegen dich verwenden dürfen! Und ich... ich will nicht mehr dein Rivale sein! Ich meine, versteh mich nicht falsch, ich... streite gern mit dir, du bist eine Herausforderung, die mich zwingt, meine eigene Sichtweise zu überprüfen, und ich mag das...!" Er unterbrach sich, schöpfte nach Atem. Cartmans Augen waren groß vor Staunen, als könne er nicht fassen, was er da hörte. Kyle bemerkte es nicht, er war eher peinlich berührt von seinem hastigen Redeschwall, der so gar nichts gemein hatte mit den ruhigen Worten des Quarterbacks. Er fuhr fort: „Worauf ich hinaus will... wenn wir etwas an unserer Situation ändern wollen, müssen wir beide daran arbeiten. Kenny meinte heute zu mir, dass wir einen Schlussstrich unter unsere Vergangenheit ziehen sollten. Wir brauchen einen Neuanfang." „...Ja. Ja, das würde mir gefallen." Er schwieg eine Weile, lächelte schließlich. „Ich habe eine Idee. Ziehen wir unseren Schlussstrich." Er streckte dem Rothaarigen die Hand hin. „Mein Name ist Eric Cartman. Freut mich, dich kennen zu lernen. Wer bist du?" Kyle ergriff die dargebotene Hand und drückte sie fest. „Ich bin Kyle Broflovski. Es freut mich auch, dich kennen zu lernen." ~~ 21 Uhr 05, Marsh Residence ~~ Stan saß vor seinem Laptop und surfte im Internet. Offiziell hatte er immer noch Hausarrest (genau wie seine Freunde, eine Ausnahme gab‘s nur für die Schule und den Besuch im Krankenhaus), und er konnte es seinen Eltern nicht einmal verübeln, dass sie ihm welchen aufgebrummt hatten. Wer war schon begeistert, wenn der eigene Nachwuchs einen verrückten Mörder jagte!? Ohne Kennys fantastischen Einsatz hätten sie es sowieso nicht geschafft... »Er ist wirklich sehr tapfer... und ja, ich bin froh, dass wir Cartman gerettet haben. Er gehört nun mal zu uns. Hm... Kyle war ziemlich aufgeregt, als er aus dem Zimmer gekommen ist. Ich bin sicher, er wird mir bald erzählen, worüber er mit Cartman gesprochen hat. Es scheint jedenfalls gut gelaufen zu sein...« Er dachte daran, seine E-Mails zu checken, erwartete aber eigentlich nichts außer Spam, und war daher umso überraschter, als er eine Nachricht von seiner geheimnisvollen Bekanntschaft aus der Karaokebar entdeckte, der „Goldenen Stimme" von South Park. Cinder. Mehr als diesen Decknamen hatte er nicht, und das ganze Drama um den Serienkiller und die Entführung seines Kumpels hatte ihn davon abgehalten, sich näher mit dem Sänger zu beschäftigen. Er hatte ihm zwar seine Handynummer und seine Mailadresse gegeben, war aber nicht davon ausgegangen, tatsächlich etwas von ihm zu hören. Cinder, der sein Gesicht und seine Gestalt unter schwarzen Brillengläsern und übergroßen Klamotten verbarg und nur im Flüsterton redete, wirkte nicht wie jemand, der unbedingt Kontakt suchte. Er schien sich seines Talentes bewusst, jedoch nicht stolz darauf zu sein, was Stanley absolut nicht nachvollziehen konnte. »Ich erinnere mich noch genau an seinen Auftritt... eine Stimme, die einem durch und durch geht, einen auf Flügeln davonträgt, bis man meint, den Himmel berühren zu können... Warum sollte er sich versteckten? Wovor hat er Angst? So eine Stimme ist ein Geschenk... es wäre sehr schade, wenn er nichts damit anfangen würde. Mal sehen, was er schreibt...« Hallo Stan. Weißt du, eigentlich wollte ich dir gar nicht schreiben. Aber unser gemeinsamer Abend hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich mich entschieden habe, es doch zu tun. Ich habe nicht oft Gelegenheit, mich mit jemandem über Musik auszutauschen. Aktuelle Stars und Songs und so, das schon, aber die meisten Leute, zumindest in meinem Alter, haben nicht dieses Interesse an Musik als Kunstform. Ich liebe Oper und klassische Melodien genauso wie moderne Sachen, aber das versteht niemand in meiner Familie. Deshalb war es so schön, mit dir über all diese Dinge zu diskutieren. Europäische Folklore? Kein Problem für dich, ich musste dir nicht mal erklären, was „Fado" ist, das kanntest du schon. Die Vielfalt peruanischer Musik? Oder koreanischer Pop? ABBA? Sylwia Grzeszczak? Vivaldis „Vier Jahreszeiten"? Die fürchterliche Fortsetzung vom Phantom der Oper? Kannst du dir vorstellen, wie großartig es für mich war, jemanden zu finden, der versuchen möchte, die ganze Bandbreite dieses Wunders namens Musik zu erfahren, nicht nur die neuesten Charts? Jemanden zu finden, der sich für obskure Stile oder Künstler begeistern kann? Oder für ausländische Sänger und fremdsprachige Musicals? Mit dir darüber reden zu können, nicht befürchten zu müssen, dass du mich auslachst, weil ich etwas „Komisches" mag...Ich würde diesen Abend gern wiederholen. Entweder im Lily‘s oder im Funky Town, das überlasse ich dir. Bitte melde dich. Cinder »Ja... ich würde diesen Abend auch gern wiederholen...« Cinder war ein interessanter Typ. Seine Liebe zur Musik ließ sich in jeder Zeile spüren und Stan fühlte sich davon angezogen. Wer war er wohl in Wirklichkeit? Warum wollte er nicht, dass er ihn erkannte? Und wenn sie sich trafen, würde Cinder ein zweites Mal singen? Erneut in dieser Stimme zu ertrinken... das wäre herrlich... Während er seine Antwort verfasste, summte er leise vor sich hin. Er schlug den nächsten Samstag als Termin vor, und war so erfüllt von seiner Neugier, um nicht zu sagen Faszination für Cinder, dass er seine Verabredung mit Gary am selben Tag ganz vergaß... ~~ 23 Uhr, Stotch Residence ~~ Butters lag in seinem Bett und las eines seiner Lieblingsbücher. Er war glücklich, dass es Eric so viel besser ging und er hoffte, ihn bald wieder in der Schule zu sehen. Seine Frage nach dem Geigespielen hatte er stur ignoriert, aber irgendwann würde Eric auch diese Seite an sich zeigen. Vielleicht nicht ihm, doch das störte ihn nicht. „Auserwählter!" Er zuckte zusammen. Hatte ihn da gerade jemand gerufen? Leicht beunruhigt lauschte er in die Nacht hinaus, kam aber zu dem Schluss, sich geirrt zu haben. Er legte das Buch beiseite, löschte das Licht seiner Leselampe und kuschelte sich in seine gemütlichen Laken. „Auserwählter!" Licht an. „Wer ist da?!" Nichts. Es blieb alles still. Butters machte das Licht wieder aus und drehte sich auf die Seite. „Auserwählter!" „Verdammt, wer - ist - da!?" Er sprang aus dem Bett, eilte auf Zehenspitzen zum Schalter und das Licht im gesamten Zimmer flackerte auf. Diesmal war jemand da. „...Was zum...?! Wer sind Sie?! Wie kommen Sie hier rein?! Ich schwöre, wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei!!" Bei dem Eindringling handelte es sich um eine Dame. Sie hatte schwarzes Haar, das kunstvoll um ihren Kopf geschlungen war, und trug... eine römische Tunika mit purpurfarbener Toga!? In der linken Hand hielt sie einen trichterförmigen Flechtkorb, der mit Blumen und Früchten gefüllt war. Ein... ein echtes Füllhorn!? Was, was, was!?! „Ich erbitte Eure Verzeihung, Auserwählter." Sie verneigte sich. „Es war nicht meine Absicht, Euch zu erschrecken. Zürnt mir nicht, ich ersuche Euch!" Butters war ziemlich sicher, dass er träumte. Fremde Frauen pflegten sich nicht wie aus dem Boden gewachsen in seinen heimatlichen vier Wänden aufzupflanzen, schon gar nicht zu so vorgerückter Stunde. Und warum war sie antik gekleidet? „Hört mich an, Auserwählter! Wir bedürfen dringend Eurer Hilfe und Kraft! Ohne Euch und Euer Gefolge sind wir und Euer Planet dem Untergang geweiht!" „...Halt, halt, halt. Wer sind Sie und warum sollte ich Ihnen auch nur ein Wort glauben!?" „Oh, natürlich. Wie unangemessen von mir! Mein Name ist Fortuna und ich bin die Göttin des Glücks und des Schicksals. Der Rat der Neun hat mich geschickt. Und ich bin gekommen, Euch mitzuteilen, dass großes Unheil über Imaginationland hereingebrochen ist." Butters schnappte nach Luft. „...Imaginationland?! Das heißt, das hier ist kein Traum...!? Von... von was für einem Unheil sprechen Sie? Wer ist diesmal der Feind?" Fortuna blickte ihn fest an. „Ich bedaure zutiefst, Euch sagen zu müssen, dass Ihr selbst jene Gefahr geschaffen habt, die uns nun bedroht." „...I-Ich...? Ich soll...?" „Auserwählter... habt Ihr Euch nie gefragt, wo die Fantasiefreunde Eurer Kindheit hingehen?" „...Nein? Bleiben sie denn nicht einfach in unserer Erinnerung, bis sie verblasst sind?" „Normalerweise schon. Aber manchmal... manchmal entwickeln diese Fantasien ein so starkes eigenes Bewusstsein, dass sie in Imaginationland gewissermaßen wiedergeboren werden. Die klassischen unsichtbaren Freunde sind dabei meist harmlos. Wenn sich ein Kind jedoch mehr ausdenkt als das... wenn es ein komplett anderes Ich kreiert, das es in vollen Zügen auslebt..." Er starrte sie an. Langsam begann er zu begreifen, wen sie meinte. Sie beobachtete, wie sich das Entsetzen in seinem Gesicht ausbreitete und nickte traurig. „Ja, Auserwählter. Er ist unser Feind. Euer mächtigstes Alter Ego. Professor Chaos." Ja, die nächsten drei Kapitel werden wieder eine Trilogie bilden, diesmal mit Imaginationland. Sie werden deshalb vermutlich auch verhältnismäßig lang werden... ich hoffe wirklich, dass ich das nächste Kapitel schneller schreibe als das hier. Wenn es Euch gefallen hat, sagt mir Bescheid, und wir sehen uns beim Auftakt zu "Imaginationland Episode IV" wieder. Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit!^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)