Denn das bin ich dir schuldig von Cersey ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Es ist nicht das erste Klassentreffen, das ich besuche, doch es ist das Erste, bei dem ich auf dich treffen werde. Einmal im Jahr veranstaltet unsere Schule eine große Ehemaligenfeier. Und jedes Jahr erhalte ich von unserer damaligen Klassensprecherin eine Einladung. Alle fünf Jahre sage ich zu. Bei den ersten beiden warst du nicht anwesend. Du hattest dafür gesorgt, dass niemand deine Adresse kannte, als du vor 15 Jahren klammheimlich aus der Stadt verschwunden bist. Wegen mir. Erst durch Sabines E-Mail habe ich erfahren, dass du für dieses Mal überraschend zugesagt hast. Jetzt bin ich aufgeregt und ich muss zugeben, dass ich heute ein wenig länger vor meinem Kleiderschrank gestanden habe, als es für mich üblich ist. Ich weiß, es ist lächerlich, doch ich möchte gut aussehen, wenn ich dich heute auf diesem Klassentreffen sehe. Ich treffe zum ersten Mal seit Jahren meinen besten Freund aus der Schulzeit wieder. Ja, du warst mein bester Freund, bis ich mich in dich verliebte. Die letzten zweieinhalb Jahre unserer Schulzeit waren wir ein Paar und unsere Freunde und Mitschüler waren völlig ahnungslos. Ich weiß, dass das meine Schuld war. Du hattest nie einen Grund, es zu verheimlichen, denn du hast längst den Mut gehabt, dich vor allen zu outen. Lehrer, Mitschüler, Freunde, Familie… sie alle wussten Bescheid, seit du dir sicher gewesen bist, dass Mädchen dich absolut nicht interessieren. Du warst damals so unendlich mutig und ich weiß das, denn noch vor deinen Eltern, hast du es deinem besten Freund anvertraut. Mir. Wir waren gerade 15, als du mit mir darüber gesprochen hast. Ich kann nicht bestreiten, dass du mich damals ehrlich überrascht hast, doch eigentlich war es mir egal. Mir war völlig gleichgültig, ob du dich in einen Jungen aus der Parallelklasse verliebst, oder in das hübscheste Mädchen unserer Klasse. Es hat für mich keinen Unterschied gemacht. Die Beichte bei deinen Eltern verlief nicht so reibungslos, doch das konnte dich nicht davon abhalten, auch vor unseren Mitschülern zu deiner Homosexualität zu stehen. Heute kann ich nicht mehr fassen, dass ich dir damals davon abgeraten habe. Du warst immer beliebt in unserer Klasse und ich befürchtete, dass dir dieses Geständnis schaden würde. Und ja, ich befürchtete auch, dass mir dieses Outing Probleme bereiten würde. Gleichzeitig bewunderte ich deine Stärke, mit der du mitten im pubertären Macho-Gespräch unserer Klassenkameraden offen zugegeben hast, keinerlei Interesse an Mädchen zu haben. Nicht alle unserer Freunde sind anschließend mit uns befreundet geblieben. Manche wandten sich von dir ab. Vereinzelt wurden sogar Gerüchte laut, wir beide hätten etwas miteinander. Unsere verbliebenen Freunde wussten, dass dem nicht so war und die Stimmen der anderen verstummten langsam, als du tatsächlich mit diesem Jungen aus der Parallelklasse zusammen gekommen bist. Das schönste Mädchen unserer Klasse wurde meine Freundin. Beide Beziehungen blieben harmlose Jugendliebeleien mit Händchenhalten und Geknutsche hinter der Turnhalle. Nach wenigen Wochen waren sie beide wieder vorbei. Dem Jungen aus der Parallelklasse folgte Niels aus unserer Nachbarschule. Niels und ich konnten uns nicht riechen. Wir schafften es auch nicht, uns dir zuliebe zusammenzureißen. Sobald wir uns sahen, wurde gestichelt und gestritten. Ich kann mich so deutlich an den Tag erinnern, als wärst du erst gestern wutschnaubend in mein Zimmer gestürmt, um mir zu erzählen, dass Niels sich nie wieder bei dir zu melden brauchte. Und anscheinend hattest du ihm das auch genau so gesagt. Das Ultimatum, das er dir nach kurzer Zeit gestellt hatte, schockierte dich. Und mich schockierte das Ausmaß an Erleichterung, die ich empfand, als du dich von Niels getrennt hast. Spätestens, als ich angefangen habe, von dir zu träumen, wurde mir klar, dass sich für mich etwas geändert hatte. Aus Angst vor deiner Reaktion, behielt ich es über Monate hinweg für mich. Ich blieb dein bester Freund und fürchtete den Tag, an dem du mir einen neuen Partner vorstellen würdest. Einen, der dich nicht durch Eifersucht auf mich in die Flucht treiben würde. Doch dazu kam es gar nicht. An einem Abend, kurz vor Weihnachten, saßest du auf meinem Bett. Es war wieder einmal zu einem Streit zwischen dir und deinen Eltern gekommen. Seit du ihnen gebeichtet hattest, schwul zu sein, gab es sehr häufig Streit. Du musstest für jede Kleinigkeit kämpfen und dich rechtfertigen. Wenn ich jetzt an diese Zeit zurückdenke, würde ich am liebsten in lautes Gelächter ausbrechen, denn ausgerechnet die Freundschaft zu mir haben sie unterstützt. Selbst wenn deine Eltern dir für einen vergessenen Abwasch Hausarrest und Besuchsverbot verhängt haben, schloss das mich nie mit ein. Ich durfte dennoch zum Lernen zu dir kommen. Und wir lernten in dieser Zeit beinahe täglich zusammen. Ich weiß nicht, warum ich für deine Eltern keine Gefahr darstellte. War es, weil ich dich in der fünften Klasse für Fußball begeistert hatte, oder weil sich deine Mathezensuren deutlich verbessert hatten, seitdem wir gemeinsam für die Klassenarbeiten lernten? Sie waren ja so blind. An diesem Abend hattest du ausnahmsweise mal keinen Hausarrest, also arbeiteten wir bei mir für die Schule. Doch du warst frustriert, wegen des schlechten Verhältnisses zu deinen Eltern. Ich weiß nicht mehr, worüber ihr euch dieses Mal gestritten hattet, doch ich erinnere mich daran, was es in mir ausgelöst hat, dich so niedergeschlagen und zusammengekauert auf meinem Bett sitzen zu sehen. Die offene Ablehnung deiner Eltern hat dir sehr zu schaffen gemacht. Schnell waren die Hausaufgaben vergessen und ich setzte mich neben dich. Ich hatte es wirklich nicht geplant. Ich habe meinen Arm um dich gelegt und wollte dir einfach nur Trost spenden, dir zeigen, dass dir wenigstens meine Unterstützung sicher war. Es sollte einfacher Trost sein, den sich beste Freunde untereinander spendeten, wenn es dem anderen schlecht ging. Diese Minuten haben sich fest in mein Gedächtnis eingebrannt, doch ich weiß bis heute nicht, wann die Stimmung genau umgeschlagen war. Du hast dich an mich gelehnt und schweigend sind wir minutenlang einfach nur da gesessen. Das kam zwar nicht oft vor, doch es stellte noch lange keine Grenzüberschreitung meinerseits dar. Auch, als ich dir beruhigend den Arm entlang gestrichen habe, war noch alles wie immer. Diese Schwelle übertrat ich erst, als meine Finger zittrig über deinen Hals fuhren und auch du hast es spüren können. Mein Herz schlug hart und schnell, doch ich hinderte meine Hand nicht daran, durch deine Haare zu fahren. Dafür war es bereits zu spät, denn dir war schon klar, dass dort etwas passierte, was in unserer Freundschaft bisher keinen Platz gehabt hatte. Natürlich konnte ich spüren, wie sich deine Körperhaltung veränderte. Sofort wirktest du angespannt, doch dein Kopf blieb auf meiner Schulter liegen. Längst hatte ich beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen. Ich wollte nur dieses eine Mal den selben Mut beweisen, den ich an dir stets so bewundert habe. Ich habe fürchterliche Angst davor gehabt, dass ich mit diesem Handeln alles kaputt machen könnte, was jemals zwischen uns gewesen war. Doch selbst, wenn ich es gewollt hätte, ich hätte es nicht mehr stoppen können. Wie von selbst fuhren meine Finger wieder und wieder zärtlich durch deine so unendlich weichen, hellbraunen Haare. Ob du meine Aufregung damals gespürt hast? Ich habe dich das niemals gefragt. Doch so, wie er damals gehämmert hat, müsste mein Herzschlag dich richtig durchgeschüttelt haben. Schließlich hast du dich von mir entfernt und als ich mich zwang, dich anzusehen, blickte ich geradewegs in deine weit geöffneten Augen. Überraschung, Verwirrung und purer Unglaube kämpften dort um die Oberhand. Deine grünen Augen lagen schon so häufig auf mir, doch bereits in diesem Moment sahst du mich völlig anders an, als jemals zuvor. Dies hier war kein Spiel, bei dem derjenige verlor, der als erstes blinzelte, wie wir es früher in der Schule gespielt hatten. Dieses Mal fochten wir einen ernsteren Kampf aus. Augen versuchten zu sehen, was ihnen zuvor verborgen geblieben war. Ich versuchte erst gar nicht, meine Gefühle aus meinem Blick zu verdammen, wie in den Monaten davor. Im Gegenteil: ich ließ bewusst zu, dass du eben diese Gefühle endlich sehen konntest. Dies war der Moment, der alles entschied und besiegelte, dessen war ich mir mehr als bewusst, als ich mich zu dir beugte und meine Lippen das erste Mal auf deine trafen. Die Würfel waren gefallen und alles änderte sich. Wir hielten unsere Beziehung geheim. Anfangs war dir das sogar ganz recht, denn du hattest Angst, deine Eltern würden dich von mir fernhalten, wenn sie es herausfänden. Auch, dass ich es meinen Eltern nicht sagen wollte, hast du verstanden. Wir wussten ja beide, wie deine Eltern reagiert hatten. Zu groß war die Angst, dass auch meine Eltern uns das Leben schwer machen würden. Doch mit der Zeit schwand dein Verständnis dafür. Immer wieder stritten wir, weil ich nie so mutig und stark war, wie du. Auch unsere verbliebenen Freunde haben niemals erfahren, was damals zwischen uns war. Wir küssten uns niemals in der Öffentlichkeit. Wir versteckten uns und unsere Gefühle und rasselten deswegen häufig aneinander. Ich war immer so stolz auf dich, weil du so offen zu dem standest, was du warst. Meine Unsicherheit zwang dich dazu, diesen Teil wieder zu verbergen und mit einem riesigen Vorhängeschloss in einen Schrank zu sperren. Wie dumm ich doch damals gewesen bin. Dumm und feige. In Momenten wie diesen, in denen ich über die Vergangenheit nachdenke, erwische ich mich bei der Überlegung, wie unser Leben heute aussehen würde, wenn ich damals einfach zu dir gestanden hätte. Würden wir heute gemeinsam in dieser kleinen Stadt leben, ohne uns darüber Gedanken zu machen, was andere von uns hielten? Wer weiß das schon? Und es bringt eigentlich nichts, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, denn wir leben nicht gemeinsam in dieser Stadt. Stattdessen bist du nach dem Abitur in eine Großstadt gezogen, in der du sein konntest, wer du warst. Ich habe dich aus unserer Heimatstadt vertrieben. Ich komme noch oft hier her. Nicht so häufig, wie ich es gern würde, denn dazu fehlt mir die Zeit, doch ich gebe mir Mühe, meine Eltern regelmäßig zu besuchen. Auch ich bin nicht hier geblieben. Ich zog nach Berlin, um dort zu studieren, dort zu leben und mich selbst zu finden. Heute jedoch ist es ein seltsames Gefühl, durch diese Straßen zu fahren, denn ich weiß, dass du ebenfalls irgendwo hier stecken musst. Vielleicht bist du schon in der Schule, in der die Feier stattfindet. Vielleicht bist du noch auf dem Weg hierher. Vielleicht hast du es dir aber auch anders überlegt. Ich suche mir einen Parkplatz in der Nähe der Schule und mustere die Nummernschilder auf dem Weg. Ein Großteil trägt die Buchstaben dieses Landkreises. Viele sind natürlich hier geblieben, haben einen Partner gefunden und eine Familie gegründet. Die Großeltern freuen sich, dass ihre Kinder und Enkelkinder nicht fortgegangen sind. Die einen sind zufrieden mit dieser Entscheidung, andere sehnen sich vielleicht danach, etwas anderes zu sehen und aus dieser kleinen Stadt zu entkommen. Doch den Nummernschildern kann ich diese Gefühle nicht entnehmen. Es sind aber auch fremde Kennzeichen hier zu finden. Aus ganz Deutschland sind welche dabei. Sehr häufig natürlich entdecke ich Hamburger Kennzeichen, denn das ist die erste Adresse, wenn es einen hier in die Großstadt zieht. Doch auch Münchner sind vertreten. Köln und Berlin scheinen ebenfalls ein paar unserer ehemaligen Schüler angezogen zu haben. Die umliegenden Landkreise sind auch häufig zu finden. Einige Kürzel sind mir nicht bekannt. Ich achte normalerweise nicht sonderlich auf die Herkunft irgendwelcher Autofahrer. Es stehen viele Autos vor der Schule und in den angrenzenden Straßen. Mit jedem Schritt werde ich nervöser und mein Herz klopft beinahe so heftig, wie in dem Moment, in dem ich dich das erste Mal küsste. 18 Jahre war das her. So lange Zeit. Vor der Tür stehen Menschengruppen, die sich bei einer Zigarette erzählen, was sie aus ihrem Leben gemacht haben. Sicherlich werden unangenehme Dinge ausgelassen, oder mittelmäßige Geschichten beschönigt. Wieder andere Personen stehen sich gegenüber und reden eifrig aufeinander ein, obwohl sie bei ihrem Wocheneinkauf vermutlich nur ein erkennendes Nicken füreinander übrig haben. Jedes Jahr treffen sich hier die ehemaligen Schüler. Ich habe mir jedoch vorgenommen, nur zu fünf-jährigen Jubiläen zu den Ehemaligenfeiern zu erscheinen. Man muss es ja nicht übertreiben. Zumal mir jeder Besuch zwar gefiel und ich mich freute manche meiner alten Mitschüler wiederzutreffen, doch die beiden vergangenen Besuche hatten mir wieder gezeigt, was für ein Feigling ich doch bin. Auch ich ließ Teile meines Lebens aus. Nach wie vor weiß niemand hier, dass ich schwul bin und dass ich seit Jahren in einer Beziehung mit einem Mann lebe. Am Eingang erhalte ich ein Namensschildchen und ich komme mir vor, wie bei meiner Einschulung. Die Blicke, die mich treffen, landen erst auf dem Schild, das ich mir an die Brust gesteckt habe und erst dann wandern sie in mein Gesicht. Viele Jahrgänge sind hier vertreten. Junge Leute, die vermutlich erst letztes Jahr ihren Abschluss gemacht haben, alte Leute, die die Schule bereits lange vor mir abgeschlossen haben und dann die, die irgendwo dazwischen liegen. Wie du und ich. Eilig durchquere ich die Schule, die mir von Jahr zu Jahr kleiner vorkommt. Ich kann mich beim besten Willen nicht lange hier drinnen aufhalten und mich auf die Suche nach bekannten Gesichtern oder Namen zu begeben. Nicht, so lange ich spüre, dass du hier bist, und vielleicht genau so ungeduldig darauf wartest, mich zu sehen, wie ich es tue. Durch die Tür zum Schulhof verlasse ich das Gebäude wieder. Unsere Klasse hat sich auf dem Hof verabredet. Aufgeregt nähere ich mich der Gruppe, die am ausgemachten Treffpunkt an der Eiche steht. Es sind nicht alle gekommen. Doch du stehst da. Du stehst dort und siehst mich an. Hast du auf mich gewartet? Bist du genauso gespannt auf dieses Treffen wie ich? Sabine, die ehemalige Klassensprecherin kommt strahlend auf mich zu. Sie nimmt mich in den Arm und freut sich mich zu sehen. Wir waren in der Schule gut befreundet und auch auf den Klassentreffen, die ich bisher besucht habe, war sie natürlich da. Es sind fünf Jahre vergangen, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, doch natürlich habe ich sie sofort erkannt. „Martin! Schön, dass du es geschafft hast! Es ist wieder viel zu lange her! Erzähl, wie geht es dir?“ Ich lächele, doch mein Blick wandert zu dir. Sabine bleibt das nicht verborgen. Sie erkennt, wem mein erstes Interesse gilt und lacht. „Ich sehe schon, da habe ich natürlich keine Chance, ihr habt euch sicherlich einiges zu erzählen.“ Dann greift sie meinen Arm und zieht mich zu dir. Tief bohrt sich dein Blick in meinen und lässt mich nicht mehr los. Auch nach all den Jahren, schaffst du es noch immer, mein Herz zum Rasen zu bringen. Schließlich stehe ich vor dir und kann nicht anders, als zu lächeln. Nachdem wir uns einige Sekunden lang angesehen haben schließen wir uns in die Arme. „Schön, dass du da bist, Tom“, flüstere ich leise. Du löst dich wieder von mir und bist sofort in deiner Rolle, als wären wir während unserer Schulzeit wirklich nur Freunde gewesen. Doch deine Augen verraten mir, dass auch dir dieses Treffen viel bedeutet. „Martin, lass dich ansehen. Du hast dich absolut nicht verändert“, sagst du nun und bringst mich damit zu einem nervösen Lachen, für das ich mich selbst verfluche. Unsere alten Freunde beobachten uns, ohne eine Ahnung davon zu haben, welche Vergangenheit uns verbindet. Ich will dir in diesem Augenblick so vieles sagen, mich bei dir entschuldigen. In den letzten Tagen habe ich mir so viele Sätze zurecht gelegt und nun bringe ich kein Wort über die Lippen. Doch das brauche ich auch nicht, denn ich sehe, dass du ahnst, welche Gefühle in mir toben. Du machst es mir leicht, so wie du es damals schon getan hast. Aber du hast Unrecht. Ich habe mich verändert, und ich will dir beweisen, wie sehr. Natürlich habe ich mich auch äußerlich verändert. Ich bin schließlich keine 19 mehr. Wir sind älter geworden. Und 15 Jahre verändern einen Menschen. Jeden Tag kann ich das sehen. Meine Locken sind noch immer etwas widerspenstig, doch die Haare werden langsam etwas dünner. Es bringt nichts das abzustreiten. Und einzelne Härchen verlieren ihre Farbe und stechen auf fürchterliche Art und Weise hervor. Bisher zupfe ich sie noch eilig heraus, bevor sie jemand anderes außer mir entdeckt. Ich habe keinen Bauch angesetzt, so flach wie früher ist er dennoch nicht mehr. Auch du hast dich verändert. Lachfältchen umgeben deine Augen. Dein Haar ist heller geworden. Schlank bist du noch immer. Wirklich große Veränderungen kann ich gar nicht feststellen. Du bist einfach älter geworden. Und trotzdem bist du noch genauso schön, wie damals. Mindestens. Warm lächelst du mich an. „Was machst du jetzt? Bis du Tierarzt geworden, wie du es immer wolltest?“ Verwirrt nicke ich, lasse mich aber auf diesen Smalltalk ein. „Ja, ich habe eine kleine Praxis in Berlin. Und du? Ich meine, mich daran erinnern zu können, dass du es dir in den Kopf gesetzt hast, Architekt zu werden“, erwidere ich grinsend. Lachend schüttelst du den Kopf. Wie sehr ich dein Lachen noch immer liebe… „Ich weiß nicht, was mich da geritten hat. Ich bin irgendwie in einer Bank gelandet.“ Nicht nur ich erinnere mich an deine Probleme mit Zahlen umzugehen. Die ganze Gruppe von ehemaligen Klassenkameraden, die gespannt um uns herumstehen lacht. Und auch du erinnerst dich an die vielen Stunden, die wir tatsächlich mit Lernen verbracht haben. „Ja, ohne dich hätte ich das nie geschafft. Aber für Architektur hat deine Nachhilfe nicht ausgereicht.“ Eigentlich will ich mich mit dir nicht über Mathematik oder unsere Berufe unterhalten. Ich will dich küssen. Ich will dich noch mal in meine Arme schließen und dich nicht wieder loslassen. Du fährst dir mit der Hand durch die Haare und mein Blick fällt auf den unauffälligen Ring, der deine Hand schmückt. Ich muss schlucken. Die Zeit ist nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Auch ich trage einen Ring. Ein schmaler Ring, der in diesen Sekunden mehrere Kilos an Gewicht gewonnen zu haben scheint. Du bemerkst meinen Blick und siehst mich seltsam an. Auch deine Augen tasten meine Hand ab und liegen nun auf dem Goldring an meinem Finger. Du räusperst dich, scheinst genau wie ich nicht zu wissen, was du sagen sollst. „Und privat?“, fragst du nun vorsichtig, als hättest du Angst, mit dieser Frage zu weit zu gehen. „Privat läuft alles bestens“, antworte ich, „Ich bin seit 4 Jahren verheiratet.“ Du nickst nur, zeigst keine weitere Reaktion, bleibst völlig in deiner Rolle. „Ich habe auch vor ein paar Jahren geheiratet.“ Dann legst du deinen Kopf schief und fragst: „Wieso hast du sie nicht mitgebracht?“ Alle hören uns aufmerksam zu. Auch sie sind neugierig, wollen wissen, was sich in unserem Leben so getan hat. Mir ist sehr bewusst, dass sie alle an unseren Lippen hängen. Fest sehe ich dir in die Augen, als ich deine Frage beantworte. „Ihn. Ich habe vor 4 Jahren einen Mann geheiratet.“ Die plötzliche Stille um uns herum erschlägt mich beinahe. Ich habe mich soeben geoutet. Nun sind alle Augen auf mich gerichtet. Ich kann es spüren, doch konzentriere ich mich nur auf deine. Sie beginnen zu glänzen und es liegen so fürchterlich viele Emotionen darin, dass mir schwindlig wird und mein Herz zu flattern beginnt. Damals hast du genauso ausgesehen, bevor ich dich das erste Mal geküsst habe. Verwirrt, ungläubig und überrascht. Doch dieses Mal erkenne ich außerdem Stolz. Du bist stolz auf mich. Stolz darauf, dass ich endlich einen winzigen Funken Mut bewiesen habe. Einerseits macht mich das glücklich, andererseits habe ich ein schlechtes Gewissen. Denn dieser Mut kommt beinahe zwei Jahrzehnte zu spät. Damals hätte ich deine Anerkennung vielleicht verdient. Doch hier und jetzt, ist es nur ein kleiner hilfloser Versuch, wieder gutzumachen, dass ich dich dazu gebracht habe, dich und deine Gefühle wieder vor der Welt zu verstecken. „Warum bist du dann nicht mit ihm zusammen hier?“, korrigierst du deine Frage. Ist es möglich, dass ich rot anlaufe? Ja, ich spüre die Hitze in meinen Wangen. „Ich habe ihn nicht gefragt“, gebe ich leise zu und blinzele zu dir hinauf. „Sabine hat mir geschrieben, dass du heute ebenfalls hier sein würdest, und ich habe ihn einfach nicht gefragt.“ Nun beginnt Sabine leise zu lachen. „Wir haben euch damals wirklich geglaubt! Das ist ja nicht zu fassen!“ Amüsierte Entrüstung schwingt in ihrer Stimme mit, und ich verziehe schuldbewusst mein Gesicht. Noch immer bin ich unfähig, meine Augen von dir zu lösen und mühsam unterdrücke ich den Wunsch dich zu küssen. Das selbe Verlangen auch in deinem Blick zu erkennen, macht es mir wahnsinnig schwer, dem Drang zu widerstehen. „Martin… das alles ist ewig her… es ist gut…“, sagst du mit belegter Stimme und deine Hand, die mein Gesicht kurz berührt, während du mit deinem Daumen einmal über meine Wange streichst, gibt mir den Rest. „Das macht es nicht besser“, widerspreche ich und küsse dich doch. Ich kann nicht anders. Alles in mir weiß, dass es ein Fehler wäre, dich jetzt nicht zu küssen. Du stößt mich auch nicht von dir. Nein, du erwiderst diesen Kuss, auf den wir so viele Jahre gewartet haben und den ich dir damals vorenthalten habe. Unsere alten Schulfreunde sehen unsere Ehen vermutlich gerade den Bach runtergehen, doch das ist mir in diesem Augenblick herzlich egal. Dieser Kuss ist so ehrlich und richtig, wie es ein Kuss nur sein kann. Eine weitere Erinnerung blitzt auf. Ausgerechnet meine Mutter schiebt sich während dieses Kusses in mein Gedächtnis. Dieses nachsichtige Lächeln auf ihrem sich schüttelnden Gesicht, als ich ihr zwei Jahre nach meinem Umzug nach Berlin endlich sagte, dass ich schwul bin. „Mein Lieber, für wie blöd hältst du deine Mutter? Denkst du wirklich, ich habe dir auch nur einen Moment lang geglaubt, als du versucht hast, mir weiszumachen, du würdest mit Tom in Berlin eine WG gründen?“ Ihr leises Lachen liegt mir heute noch in den Ohren. Lächelnd unterbreche ich unseren Kuss und sehe dich an. „Wenn du das nächste Mal auf ein Klassentreffen gehen willst, sagst du mir gefälligst Bescheid, denn es ist absolut unnötig, dass wir mit beiden Autos fahren, mein Schatz.“ Ich kann dein schelmisches Grinsen spüren, als ich dich erneut küsse. Wer weiß, vielleicht komme ich bereits nächstes Jahr wieder her. Gemeinsam mit meinem Ehemann, den ich seit 18 Jahren so abgöttisch, und jeden einzelnen Tag noch ein wenig mehr liebe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)