Krähen von lady_j (Bryan/BorisxBrooklyn?) ================================================================================ Kapitel 1: Montag ----------------- Inzwischen konnte Boris im Dunkeln sehr gut sehen. So musste er nicht mehr das Licht anschalten und womöglich wieder einen bissigen Kommentar Ivans über sich ergehen lassen, wenn er nachts aus der Wohnung schlich. Es war drei Uhr morgens, von den Fenstern her war leises Klopfen zu hören, es regnete seit dem vorigen Abend. Die Tür zu Yuriys Zimmer stand offen. Er lugte hinein und sah den Freund vor seinem Computer sitzen, der ihn seltsam ausleuchtete: blau-sepia mit scharfen Schatten, das wirkte irgendwie krank. Yuriy hatte die großen Kopfhörer über die Ohren geschoben und blickte konzentriert auf den Bildschirm, wo sich etwas bewegte, das von Boris‘ Standpunkt aus nur verzerrt zu erkennen war. Dann lehnte er sich zurück, klickte auf das Videofenster und streifte die Kopfhörer ab. „Noch wach?“, fragte Boris, woraufhin Yuriy ihn müde ansah. „Verdammt“, sagte er, „Schon wieder so spät? Hm. Hab dir Kaffee übrig gelassen, ist in der Thermoskanne.“ „Danke“, entgegnete Boris und nickte ihm noch mal kurz zum Abschied zu. „Viel Spaß bei den Fischen“, wurde ihm leise hinterhergerufen. Er verdrehte die Augen, kehrte noch einmal um und sagte: „Viel Spaß mit den Tentakel-Pornos.“ Yuriy zeigte ihm den Finger. Selbstgefällig grinsend winkte Boris ab und ging in die Küche, wo er sich noch eine Tasse Kaffee genehmigte. Immer noch im Dunkeln saß er am Tisch und nahm langsam Schluck um Schluck, während er von nebenan das Klappern der Computertastatur hörte. Yuriy hatte dieses Semester irgendein krasses Hausarbeitsthema ergattert, bei dem es um Sex in Horrorfilmen oder so etwas in der Art ging. Weiß der Teufel, wie das Seminar dazu hieß. So genau wollte Boris es gar nicht wissen; obwohl es schon angenehm war, wenn er noch kurz mit jemandem reden konnte, bevor er aus dem Haus ging, denn Yuriy saß inzwischen regelmäßig bis spät in die Nacht an dieser Arbeit und sah sich dutzende Filme an. Schließlich zog er sich seine Öljacke über und ging hinaus. Der Regen war erträglich und sein Weg beleuchtet, alles in allem hatte es schon weitaus miesere Morgen gegeben. Er brauchte zwanzig Minuten bis zum Hafen; für die Strecke nahm er absichtlich keinen Bus, denn der Gang machte ihn wach, und in dieser Zeit fing auch der Kaffee an zu wirken. Die Hände in den Taschen vergraben senkte er den Blick stoisch auf den Weg zu seinen Füßen und schritt weit aus. In den Bäumen raschelte und krächzte es leise. Krähen. Nirgendwo hatte er so viele Krähen gesehen, wie hier. Sie waren ein untrügliches Indiz für Stürme, denn kurz, bevor ein Unwetter losbrach, suchten sie sich ein sicheres Versteck; dann war der Himmel plötzlich minutenlang erfüllt von ihren schwarzen Leibern. Sie waren fett, diese Stadtkrähen, denn es gab immer irgendwo einen Abfalleimer oder Aas, von dem sie sich ernähren konnten. Sie flogen nicht einmal auf, wenn man sich ihnen näherte, hüpften nur linkisch zur Seite und betrachteten einen mit ihren schwarzen Augen. Boris fühlte sich dann immer ausgeleuchtet, er war sich sicher, dass die Vögel um einiges klüger waren, als allgemein angenommen wurde. Heute waren sie ungewöhnlich unruhig. Normalerweise stürzten sie sich immer erst auf dem Rückweg auf ihn, am Tage, wenn er nach Fisch roch. Dann kamen sie so dicht heran, dass er beinahe auf sie treten konnte, trauten sich jedoch nicht, ihn anzurühren, denn für ein Aas bewegte er sich nun einmal zu schnell. Er fühlte sich seltsam beobachtet, spürte das sprichwörtliche Kribbeln im Nacken, während er unter den halbkahlen Bäumen daherging, doch er gab sich nicht die Blöße und sah nach oben. Sobald er aus dem Park getreten war, wurden alle Geräusche, die die Krähen heute ungewöhnlicher weise machten, jäh vom steten Rauschen des Meeres verschluckt. Ein kalter Wind trieb ihm die Tropfen ins Gesicht. Ein großer Dieseltanker musste irgendwo da draußen im Hafenbecken gerade an ihm vorbeiziehen; er sah nicht hin, aber das rhythmische Tuckern des Motors war ob seiner tiefen Tonlage weniger zu hören denn beinahe körperlich spürbar. Weitere zehn Minuten später stand er im ungesund gefärbten Neonlicht einer Lagerhalle und kutschierte Kistenweise toten Fisch auf einer Sackkarre hin und her. Von den Fischerbooten, wo die Heringe und Sprotten zum Teil schon ausgenommen wurden, ging es beinahe quer durch die Halle zu einer Kühltheke, wo er die Ware lieblos platzierte. Diese Winzviecher brachten kaum was ein, vor allem die Sprotten nicht, aber ein Teil wurde garantiert von den hiesigen Restaurants abgekauft, die auf ihren Speisekarten stolz den frischen Fisch anpriesen, der vor wenigen Stunden noch im Meer geschwommen war. Schon wurden die großen Stahltore aufgeschoben und der heutige Fischmarkt eröffnet. Die Einkäufer und Köche der Gastronomien waren die ersten, wie immer. Zwei Stunden lang würde jetzt relativ lebhaft gefeilscht werden, der Rest der Verkaufszeit war dann ein einziges Pokerspiel. Boris kippte den letzten Eimer Eis über den Fisch, drehte das Gefäß um und setzte sich darauf. Die Fischer, die ebenfalls verladen hatten, gingen zurück, um das Boot wieder klarzumachen, nur der Kapitän blieb zum Verkauf bei ihm. „Ganz guter Fang heute“, brummte er, „Haben Glück gehabt, mit dem Gebiet. Wenn wir das alles loswerden, können wir uns heute Abend ein Gläschen genehmigen. Muss dein tovarishch immer noch diese seltsamen Filme gucken?“ Boris schmunzelte ungewollt über diese Wortwahl, nickte aber. „Ich glaube, inzwischen hat er selber genug davon.“ Ein paar potenzielle Kunden beugten sich über die Theke und gingen suchenden Blickes weiter. Angebote vergleichen. Manchmal war es gut, gleich am Eingang zu stehen, manchmal eben nicht. „Musst du heute wieder in die Anstalt?“, fragte der Kapitän, als die wieder für einige Minuten allein waren. Damit meinte er die Universität. Er hielt nicht viel davon, war noch immer der Meinung, man müsse so früh wie möglich eine harte, gute Arbeit anfangen und nicht erst lange Jahre dem Staat auf der Tasche sitzen und Bücher wälzen. Boris hatte ihm erst erklären müssen, dass das nicht mehr so war, dass er ja gerade deswegen hier arbeitete, weil er dem Staat nicht mehr auf der Tasche sitzen durfte, nur, um ein paar Jahre länger gebildet zu werden. Der Kapitän hatte daraufhin nur genickt und gemeint, eine ehrliche, handwerkliche Arbeit wäre der beste Weg, um nicht zu vergessen, wer denn wirklich die Wirtschaft und damit das Land trug. Boris hatte heimlich dem Himmel gedankt, dass sein Chef nicht gefragt hatte, was er denn bitteschön studierte, denn seine Fächer waren Psychologie (aus Interesse) und Management (um später mal Geld zu verdienen) womit er wahrscheinlich zum letzten Kapitalistenschwein deklariert und hochkantig rausgeschmissen worden wäre. „Ja, heute Nachmittag“, gab er also knapp Auskunft und verfiel dann wieder in Schweigen; erstens, um das Thema im Keim ersticken zu lassen, zweitens, weil gerade wieder eine Gruppe Kunden zu ihnen getreten war. Ein blasser, junger Mann, dessen Gesicht Boris so vage bekannt vorkam, als hätte er es in der Metro auf einem Plakat gesehen, schob sich vor und beugte sich über die Fischleiber. „Gute Ware“, murmelte er. „So frisch, dass sie dich gleich noch mal anspringen, mal’chugan!“, murrte der Kapitän, während Boris dem Kunden angestrengt auf den rotblonden Scheitel starrte. Nein, das mit dem Plakat konnte nicht ganz stimmen, denn irgendwie…irgendwie… Der Kunde warf dem Kapitän einen verwirrten Blick zu, der wohl dem Schnitzer am Ende seiner letzten Bemerkung galt. Vermutlich war er kein Muttersprachler…und Boris fiel es ein: „Brooklyn.“ Die grünen Augen wanderten zu ihm. Blinzelten. „Das ist ja eine Überraschung!“, sagte Brooklyn im schlimmsten Russisch, das er je zu Gehör bekommen hatte. „Boris von NeoBorg. Dieses Land ist wohl doch nicht so groß, wie ich dachte.“ „Zumindest der bewohnbare Teil ist durchaus übersichtlich“, knurrte Boris. „Was machst du hier?“ „Fisch kaufen. Ich bin Koch im ‚Druschba‘.“ „Wie bist du denn dazu gekommen?“ „Ganz einfach: per Bewerbungsschreiben.“ Sie musterten sich; Boris‘ Blick hätte vermutlich ganze Kabeljaue einfrieren und so für mehrere Jahre haltbar machen können, während Brooklyn noch immer seine ästhetische Gelassenheit ausstrahlte, die ihn wie den letzten Yogi wirken ließen. Boris fühlte, wie er sich zusammenreißen musste, um diesem Kerl nicht gleich hier und jetzt sein dämliches Fressbrett einzuschlagen. Natürlich stand ihm noch lebhaft vor Augen, wie sie damals –war es denn wirklich so lange her, dass man schon „damals“ sagen konnte?–gegen Volkov und sein hirnrissiges BEGA-Projekt angerannt waren, wie Garland Zetwald Sergeij und ihn selbst kurzerhand ausgeknockt und Yuriy ebenso leichtfertig für einen Monat ins Koma versetzt hatte. Und wie Brooklyn höchstpersönlich nur kurze Zeit später Kai Hiwatari in aller Öffentlichkeit buchstäblich auseinander genommen hatte. Das ganze NeoBorg-Team, einfach mal so in den Boden gestampft. Da konnte er ja noch drüber wegsehen, über diese Vernichtungsaktion und die Bloßstellung; er konnte auch über die Verletzungen hinwegsehen, die man ihm zugefügt hatte. Was mit Kai passiert war, war ihm ebenfalls schon als es passierte herzlich egal gewesen; er hatte viel eher mit Genugtuung beobachtet, wie dieser endlich von seinem hohen Ross heruntergefallen war. Womit er aber ein ganz arges Problem hatte, immer noch, war dieser eine, verdammte Monat, in dem er um seinen besten Freund hatte bangen müssen. „Na Boris, willst du mich weiter in den Boden starren, oder lieber ein bisschen Geld verdienen?“, sagte Brooklyn, die Stimme selbst in seiner verunstalteten Aussprache mit diesem belustigten Unterton geschmückt, bei dem Boris am liebsten sofort auf ihn losgegangen wäre. Aber er wusste, dass er später bitter von sich enttäuscht sein würde, wenn er jetzt die Beherrschung verlor. Er hatte sich geändert. Er hatte sich –damals–drei Dinge geschworen, wenn Yuriy nur wieder aufwachen würde: erstens, nie wieder einen Beyblade anzurühren. Zweitens, sich nie wieder gehenzulassen. Drittens, einen anständigen Beruf auszuüben und ein solides Leben zu führen. „Wie viel möchtest du denn? Pro Kilo nehmen wir heute…“ Er nannte den Preis, den der Kapitän für die heutige Ladung gemacht hatte. „Klingt gut“, sagte Brooklyn, „Nehm ich.“ Als Brooklyns Ware verladen war, wandte er sich noch einmal an Boris. „Hör mal, du kannst gerne mal bei uns vorbei kommen“, sagte er, wie immer grinsend, „Ich kann dir einen Freundschaftspreis machen.“ Er kicherte vergnügt über seinen eigenen Wortwitz, während Boris unter seiner Jacke Ekelschauer über den Rücken liefen. Yuriy war als einziger zu Hause, als er zurückkam. Er lag schlafend auf dem Sofa, die Beine ragten ein Stück über die Armlehne hinaus, auf seinem Bauch lag ein Buch, „Erotische Kunst des 21. Jahrhunderts.“. Das Cover zierte eine Aufnahme von Terry Richardsons „Terryworld“. Boris nahm es mit Fingerspitzen auf, drehte es herum und zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen, während er sich die Innenseite ansah. Yuriy bewegte sich. „Boris, du stinkst, geh duschen…“, murmelte er und drehte sich auf die Seite, das Gesicht zur Sofalehne gewandt. „Rate, wen ich heute getroffen hab“, sagte Boris unbeeindruckt. Als Antwort erhielt er ein Brummen. „Brooklyn.“ „…Wen?“ „Der Typ von der BEGA.“ „Boris, die BEGA gibt’s nicht mehr.“ „Was nicht heißt, dass ihre Mitglieder alle tot umgefallen sind, sobald Volkov weg war.“ „…Nicht?!“ Boris warf das Buch auf Yuriy, der es nachlässig griff und auf den Boden fallen ließ. „Nimm das weg; wenn ich mit dieser bekloppten Arbeit fertig bin, geh ich ins Kloster“, murmelte er in den Sofabezug. Boris schnaubte nur und ging nun endlich zu seinem Kleiderschrank hinüber, der mit im Wohnzimmer stand, weil er in sein eigenes nicht mehr reingepasst hatte. Was die Raumaufteilung anging, hatte der Architekt ihrer Wohnung ziemlichen Mist gebaut. Konnte aber auch daran liegen, dass sie für eine maximal vierköpfige Familie Anfang des 20. Jahrhunderts ausgelegt war, nicht für eine WG vierer junger Männer, von denen jeder seinen Rückzugsort brauchte. Boris öffnete also die Türen seines Schrankes und streifte sein muffiges Shirt ab, schleuderte es gekonnt auf Yuriys Gesicht, der es nach einem kurzen Laut puren Ekels wieder zurückwarf. Aber so hatte er den Rothaarigen immerhin wecken können und fuhr nun fort, seinem Ärger Luft zu machen „Stell dir vor“, sagte er abschließend, „Der hat doch tatsächlich die Dreistigkeit besessen, mich auch noch zum Essen einzuladen!“ „Na, geh doch hin“, meinte Yuriy, und überrascht hielt Boris inne. „Was?“ „Naja, das ‚Druschba‘ ist doch ein ziemlicher Nobelschuppen; ich würd’s ausnutzen, wenn ich da was günstiger kriegen kann. Hast du denn heute schon was gegessen?“ „Nein, Mutti.“ „Siehst du.“ „Ich muss zur Uni.“ Yuriy warf ihm einen dieser Blicke zu, der ihm unmissverständlich sagte, dass das die wohl schlechteste Ausrede war, die er seit langem von sich gegeben hatte. „Erstens“, sagte Yuriy, „Ist der Kühlschrank dank Ivan leer, und du weißt, wie scheiße das Mensaessen ist. Zweitens war ich die letzten beiden Wochen auch schon für dich in dieser Vorlesung. Inzwischen hab ich deine Krakel-Unterschrift sogar drauf. Und es macht Spaß, diese Marina oder Marija oder wie sie heißt zu ärgern.“ „Wenn sie blond ist, heißt sie Maya. Und ich habe das Gefühl, dass du mich zu irgendwas zwingen willst.“ „Naja, überlegen wir mal, golubchik, deine sozialen Kontakte begrenzen sich in letzter Zeit ja auf uns und toten Fisch. Nein, mal ehrlich“ Yuriys Miene wurde ernst, „Ich finde, das ist eine gute Gelegenheit. Du musst ja nicht Gutfreund mit ihm werden. Aber ich seh doch, wie du dich darüber aufregst. Vielleicht…ist das ja jetzt die Möglichkeit, damit abzuschließen.“ Unzufrieden knetete Boris den Pullover, den er aus dem Schrank genommen hatte, in der Hand. „Hast du denn damit abgeschlossen?“, fragte er provokant. „Naja…“, antwortete Yuriy. „Ich komme drauf klar. Seit wir mit dem Bladen aufgehört haben, ist es nicht mehr so wichtig.“ „Wie machst du das nur?“ „Ich habe die unglaubliche Gabe, zu verdrängen.“ Sobald Boris die Empfangshalle des ‚Druschba‘-Hotels betrat, das, auf einem Hügel stehend, in schönster kosmisch-sowjetischer Optik die Stadt überragte wie ein abgestürztes Raumschiff, fühlte er sich, als würde er noch immer nach Fisch stinken. Der Boden war warm gefliest, die Wände teilweise getäfelt, teilweise von ornamentähnlichen Mosaiken geschmückt. Die Formen waren einfach, entsprachen aber den postmodernen Vorstellungen von Eleganz. Nervös nestelte er an dem Jackett herum, das Yuriy ihm geliehen hatte, weil sein eigenes, das er aus der hintersten Ecke des Schrankes gezogen hatte, einen unauswaschbaren Fleck am linken Ärmel aufwies. Das Ersatzkleidungstück war ihm ein wenig zu eng, spannte an den Schultern, wenn er die Arme etwas intensiver bewegte, und er wusste ganz genau, dass es Yuriy viel besser stand, als ihm. Blau war eben nicht seine Farbe, und am liebsten wäre er zu Hause geblieben, als er sich mit dem Teil im Spiegel betrachtet hatte, aber Yuriy hatte in einem seiner seltenen Anflüge guter Laune nach einer schwarzen Hose und einem grauen Shirt aus Boris‘ Schrank gegriffen und sie ihm aufgenötigt. Erst, als sein Freund die Haustür hinter ihm zugemacht hatte, hatte Boris sich wieder fragen können, was zum Teufel er denn hier bitteschön machte. Aber jetzt stand er hier, die Mädchen an der Rezeption warfen ihm quer durch den leeren Saal schon neugierige Blicke zu, also sah er sich flüchtig nach dem Eingang zum Restaurant um, entdeckte ihn zu seiner Rechten und ging zielstrebig auf ihn zu. Von der Decke hingen dekadente Kronleuchter, die Tische waren rund und mit weiten Linnen bedeckt, der Boden von einem weichen, dunklen Teppich, der alle Geräusche schluckte. Ein leises Summen von Gesprächen, durchsetzt vom gelegentlichen Klappern des Geschirrs, erfüllte den Raum. Wieder blieb er kurz stehen und ließ den ungewohnten Luxus auf sich wirken. Freundschaftspreis hatte Brooklyn gesagt. Na mal sehen, ob er sich einen freundschaftlichen Salat leisten konnte oder so was. „Kuznetsov?“, fragte jemand neben ihm. Verwirrt blinzelnd wandte er sich vom Geglitzer der Kronleuchter ab und sah den Kellner an, der ihn angesprochen hatte. „Richtig.“ „Es ist uns eine Freude, Sie hier begrüßen zu dürfen. Bitte folgen Sie mir.“ Er führte ihn in Schlangenlinien quer durch den Raum in die Nähe der Küche, wo er an einem kleinen Tisch platznehmen durfte. Mit ein paar übertriebenen Handbewegungen reichte er ihm die Karte. …Worauf hatte er sich hier nur wieder eingelassen? Es war zu warm, seine Klamotten zu unbequem, bestimmt roch man auf Meilen, wo er seinen Nebenjob hatte, und zu allem Überfluss saß am Nachbartisch eine Dame, die alle paar Sekunden gackernd auflachte. Als wären seine Nerven nicht schon strapaziert genug. Vergeblich versuchte er, sich auf die Karte zu konzentrieren, aber die wenigsten Sachen, die er dort las, erweckten den Eindruck, essbar zu sein. Er war hier falsch, definitiv. „Privet, Boris!“ Der Stuhl ihm gegenüber wurde nach hinten gezogen und Brooklyn ließ sich darauf nieder, ebenfalls in Jeans und Jackett, nur trug er ein weißes Hemd dazu. „Gut siehst du aus.“ Boris strafte ihn mit einem Blick. „Ich dachte, du kochst hier?“, fragte er misstrauisch und Brooklyn lächelte ihn unerträglich offen an. „Heute nicht mehr. Jetzt genieße ich nur noch, was meine Kollegen schönes gezaubert haben. Ich empfehle den Matjes.“ „Matjes?“, fragte Boris, „In einem Nobelschuppen, wie dem hier?“ „Du glaubst es nicht, aber Hausmannskost geht sehr gut. Aber wenn du nur einen Imbiss möchtest, bestelle ich uns Kaviar und saure Gurken. Dazu ein guter Wodka, das hab ich wirklich lieben gelernt, seit ich hier bin. Ihr Russen wisst, was schmeckt.“ „Sag mir einfach, was ich mir leisten kann.“ „Was du willst. Geht auf mich.“ „Ist es das, was du unter ‚Freundschaftspreis‘ verstehst?“ „So ungefähr, ja.“ „Na gut…“ Und Boris durchblätterte noch einmal die Karte, auf der Suche nach dem teuersten Gericht, das es hier gab. „Wenn du mir finanziell schaden möchtest, nimm…“ Brooklyns Satz ging in einer Folge französischer Wörter über und Boris hob verständnislos eine Augenbraue. „Seite drei das vorletzte Gericht“, sagte Brooklyn. In diesem Augenblick kam auch schon der Kellner, und der Rotblonde übernahm kurzerhand die Bestellung ohne Boris eines Blickes zu würdigen. Der entschied nach ein paar Sekunden des missbilligenden Starrens, dass sein Gegenüber wohl wusste, was er tat und legte die Karte mit einem resignierten Seufzen zur Seite. Die Frage, worauf er sich hier bloß eingelassen hatte, würde er sich sparen, das hatte er schon mal, stattdessen überlegte er, wie er angemessen Rache an Yuriy üben konnte. Während er das dachte, beobachtete er Brooklyn, der mit dem Kellner plauderte. Dieses immerwährende Grinsen, das so gut verstecken konnte, wie krank er manchmal sein konnte, war auch nach all den Jahren nicht aus seinem Gesicht gewichen. Inzwischen zeichneten sich sogar schon die ersten winzigen Lachfältchen um die Mundwinkel ab, ebenso ein Stück weiter in den Wangen, wo er kleine Grübchen bekam. Es war regelrecht unheimlich, wie sympathisch Brooklyn wirkte. Schließlich zog der Kellner ab und Brooklyn stützte das Kinn auf. „Darf man fragen, wie du zur Fischerei gekommen bist?“ Boris verstand die Frage kaum, denn Brooklyn hatte irgendwas in der Reihenfolge der Satzglieder falsch gemacht. Eigentlich konnte man nur noch an der Betonung erkennen, dass es überhaupt eine Frage war. „Hör mal“, sagte er gequält, „Können wir nicht auf Englisch miteinander reden?“ Dann gab er ihm eine kurze Zusammenfassung seiner momentanen Lebensumstände, bei deren Schilderung Brooklyn ihm derartig an den Lippen hing, als würde er ihm einen Abenteuerroman vorlesen. Jedoch fühlte sich Boris nur aus Höflichkeit dazu genötigt, ein wenig Konversation zu betreiben, denn am liebsten hätte er geschwiegen. Aber dieses Hotel, die ganze Atmosphäre, die Gesellschaft… das alles war wie ein kratzender Anzug, der ihn langsam aber sicher wahnsinnig machte. Wieder bewegte er unwohl die Schultern, sodass das Jackett sich gleich noch ein bisschen enger anfühlte. Brooklyn bedachte ihn mit nachdenklich verzogener Miene. „Hör mal“, fing er an (und sein Englisch war um Längen besser zu verstehen), „Ich weiß, dass es dir unangenehm ist, hier zu sein. Wahrscheinlich liegt das auch an mir.“ Er machte eine fragende Pause und Boris bedeutete ihm mit einem Blick, fortzufahren. „Und damals sind ja auch sehr viele sehr unschöne Dinge geschehen…Nun, kurzum: ich verstehe es, wenn du mich hassen solltest.“ „Wir hatten nie sonderlich viel miteinander zu tun“, brummte Boris. „Ich habe mehr Probleme mit Garland, glaub mir.“ „So?“ Nun mischte sich schon wieder ein amüsierter Unterton mit hinein. „Nun, auch verständlich. Doch da ich ebenfalls ein Teil des Teams war, das dein Team damals so vernichtend geschlagen hat, fühle ich mich mitverantwortlich.“ „Ach…also, wenn es um Hiwatari geht, da müsste ich dir eigentlich die Hand schütteln und mich dafür bedanken, dass du ihm seine vorlaute Fresse poliert hast.“ „Oh, das wäre keine gute Idee. Er hat sich ja ganz vortrefflich revanchiert, daher sind wir inzwischen quitt.“ „‘Ganz vortrefflich‘…chert, kannst du nicht ordentlich sprechen?!“, fauchte Boris. „Ich wollte doch nur sagen, dass-“ „Hör auf mit dieser falschen Bescheidenheit, du hast Hiwatari in den Arsch getreten, und das kräftig, und das ist einer dieser Augenblicke, die ich nie mehr vergessen werde, also sei gefälligst stolz auf dich!“ Das hatte Boris eigentlich nicht so direkt sagen wollen, aber nach dem ersten Teilsatz hatte er spontan alle Bedenken über Bord geworfen, einfach, um Brooklyns Schale mal ein wenig anzuknacksen. Was aber scheinbar nicht ganz geklappt hatte, denn sein Gegenüber lachte verhalten. Wenig später kam eine kleine Kolonne von Kellnern auf sie zu und verteilte Teller verschiedener Formate auf dem ganzen Tisch. Boris konnte nicht verhindern, dass ihm ein Stück weit die Augen übergingen und Brooklyn lächelte ein wenig zu gönnerhaft. Er konnte sich einfach nicht entscheiden, in welchem Maße er ihn mögen sollte. „Brooklyn, jetzt mal ganz ehrlich“, sagte er deswegen, „Warum sitze ich hier?“ Daraufhin legte Brooklyn das Besteck zu beiden Seiten des Tellers auf dem Rand ab und aß bedächtig seinen letzten Bissen, bevor er antwortete: „Glaub es oder glaub es nicht, ich habe mich ein wenig gefreut, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Ich habe meinen Vertrag mit der BBA erst vor kurzem auslaufen lassen und bin danach mehr oder weniger durch Zufall nach Russland gekommen. Nun, es ist schwer zu erklären, ich bin ein unabhängiger Mensch, aber irgendwie…es war etwas anderes, als Garland und die anderen noch in greifbarer Nähe waren. Seitdem ich hier bin, bin ich ein wenig zu abgeschottet.“ Boris nickte, denn er konnte sich ganz gut vorstellen, was der andere meinte. Er selbst war noch nie von seinem Team getrennt gewesen, jedenfalls nicht so, dass er sie nicht hätte sehen können, wenn er wollte. Dass Ivan, Sergeij und Yuriy gänzlich unerreichbar wären, konnte er sich gar nicht vorstellen. Brooklyn hatte den Kopf leicht schief gelegt und sah ihn an, als erwartete er eine Erwiderung. Doch Boris wies mit der Gabel auf eine Platte, die zwischen ihnen stand und fragte: „Was ist das?“ Das lächerlich kleine Stück Grünfläche vor ihrem Haus war schwarz. Als Boris näher kam, erkannte er gelegentliches Gewimmel und konnte bald darauf die ersten Leiber von anderen unterscheiden: Krähen. Normalerweise kamen sie nur in Scharen, wenn der Rasen frisch gemäht worden war, und selbst dann waren es nicht so viele. Er musste sogar kurz stehen bleiben, weil ihn das ständige Gehüpfe derartig irritierte, dass er zuerst gar nicht wusste, wo der schmale Gang zur Tür verlief. Als er sich seinen Weg durch den Schwarm hindurch bahnte, wurde er aus hunderten winziger, schillernder Augen verfolgt und kräftige Schnäbel pickten nachlässig nach seinen Füßen; ansonsten ließen sie ihn jedoch in Ruhe. „Was zum Teufel ist denn hier los?“, fragte er, nachdem er die Wohnung betreten hatte und Ivan ihm über den Weg gelaufen war. „Was, meinst du die Krähen?“, fragte der Angesprochene zurück, „Ich hab auch keine Ahnung. Aber komm mal mit, das musst du dir mal ansehen!“ Und er winkte ihn in die Küche. Boris folgte ihm gemächlich und erst, als er Schuhe und Jackett abgelegt hatte, wobei er letzteres provokant durch die Wohnzimmertür auf die Sofalehne schleuderte, damit Yuriy mit ein bisschen Glück einen der Ärmel ins Gesicht gepeitscht bekam. Dann stellte er sich neben Ivan ans Küchenfenster. Draußen wogte die schwarze Vogelmasse noch immer hin und her, von oben sah es aus wie Wellen auf einem tiefen See. Ivan deutete auf einen bestimmten Punkt in ihrer Mitte, und Boris kniff die Augen zusammen und rückte die verstaubte Gardine, die noch vom Vormieter stammte, ein Stück zur Seite. Dann sah er es: Zwischen den Krähen blitzte etwas Weißes auf. „Was ist das?“, fragte er verständnislos. Ivan hob die Schultern. „Keine Ahnung, aber wenn du mich und meine bescheidenen Biologiekenntnisse fragst, würde ich sagen, das könnte eine Taube sein.“ „‘ne Taube?!“ Die Größe würde sogar passen; für eine Möwe war der Vogel jedenfalls zu klein. „Was macht denn eine Taube…?“ Boris ließ die Frage ins Nichts laufen, als ihm bewusst wurde, dass er sowieso keine Antwort erhalten würde. Schweigend sahen sie noch eine Weile hinunter. „Yuriy hat erzählt, du hast diesen Brooklyn von BEGA getroffen?“, sagte Ivan dann. Boris nickte. „Und? Wie ist er so?“ „Unerträglich. Aber spendabel.“ „Oha. Und was wollte er von dir?“ „Gesellschaft.“ „Hn?“ Boris seufzte und gab ihm widerwillig eine kurze Zusammenfassung des Nachmittages. Ivan hörte ihm schweigend und mit nachdenklich zur Seite geneigtem Kopf zu. „Komischer Kauz“, war sein Urteil, „Aber was soll man erwarten?“ „Hm“, machte nun seinerseits Boris in bestätigendem Tonfall, bevor er sich auf die Fensterbank stützte und nach unten spähte. Seltsame Viecher, dachte er. „Trefft ihr euch mal wieder?“, erklang da Ivans Stimme. „Ach, das weiß ich doch nicht! Übermorgen muss ich wieder zu den Fischen, vielleicht ist er auch da, vielleicht nicht, was weiß ich. Und jetzt lasst mich in Ruhe –Seryoga?!“ Sein dritter Mitbewohner war gerade im Türrahmen erschienen, „Such uns mal‘n Film raus.“ "Können wir nicht ‚Tatsächlich Liebe‘ oder so was gucken?“, fragte Yuriy, der den Kopf nach hinten auf die Lehne hatte fallen lassen und somit zur Decke sprach. „Nein, Yura, heut ist Splatter-Night, und du kannst dich nicht dagegen wehren“, entgegnete Ivan. „Schließlich können wir nichts dafür, dass du diese Hausarbeit schreiben musst.“ „…wobei ich mich inzwischen wirklich ernsthaft frage, warum du dieses Thema gewählt hast“, fügte Boris hinzu, der sich der Fernbedienung bemächtigt hatte und den Film zum Laufen brachte. „Es klang…lustig.“ „Du bist nicht lustig, Yuriy, sieh’s endlich ein.“ „Apropos lustig“, brummte Sergeij da von der anderen Seite des Wohnzimmers her, „Diese alte ved’ma aus dem ersten hat nach dir gefragt, Boris.“ „Nach mir?“, wiederholte Boris ungläubig und konnte nicht verhindern, dass ihn ein Gefühl überkam, als wäre er ein kleiner Junge, der etwas angestellt hatte: Ein Gefühl von Ertapptheit. „Das find ich jetzt nicht so übermäßig lustig…“ „Vielleicht braucht sie ja jemanden für ihr Walpurgisnachtsritual“, meinte Yuriy, der sein schönstes Wolfsgrinsen im Gesicht trug. „So wie bei ‚Faust‘: nackig um einen Berg rumhüpfen und jeder mit jedem…“ „Lecker“, kommentierte Ivan. „Zatknis‘!“, rief Boris. Er konnte sein Entsetzen nicht mehr sehr gut verbergen. Erst Brooklyn, und jetzt die alte Hexe, der jeder klügere Mensch aus dem Weg ging, weil sie einen sonst in ihre dunkel-stickige Wohnung zog und wer weiß was mit einem machte…Man erzählte sich in der Nachbarschaft einige Schauermärchen über sie, unter anderem eines, in dem es um ein verschwundenes Kind und eine mumifizierte Leiche auf dem Dachboden ging, die dort irgendwann (nach dem Krieg) aus einer Truhe gezogen worden war. Aber er hatte wohl keine Wahl; wenn die Alte nach ihm fragte, war es das Beste, ihrem unausgesprochenen Wunsch nachzugehen. Er war ja nicht abergläubisch, aber auf einen Fluch konnte er schon allein der restlichen Nachbarn wegen gut und gerne verzichten. „Schön, ich geh morgen zu ihr“, grummelte er, „Aber wenn ich nicht zwei Stunden später wieder da bin, müsst ihr mich retten!“ _________________________________________________________________________________ Obwohl ich lange Jahre Russisch in der Schule gelernt habe, ist fast nichts hängen geblieben. Daher muss auch ich teilweise den wunderschönen online-Übersetzer zu Rate ziehen. tovarishch - "Genosse". Ich war noch nicht in Russland, daher kann ich hier nur mit einer Interpretaion des flüchtigen Eindruckes dienen, den ich mir auf verschiedenem Weg verschafft habe. Ich halte es für denkbar, dass der Begriff "Genosse" noch Verwendung findet und wollte außerdem den Kapitän andeutungsweise als alten Sozialisten darstellen. mal'chugan - in etwa: "Jungchen" druschba - "Freundschaft". Daher auch Brooklyns Wortspiel mit dem "Freundschaftspreis". Falls ihr einen optischen Eindruck von dem Kasten haben möchtet, sucht im Internet mal nach dem Buch "CCCP - cosmic communist constructions photographed". Faszinierend! xD golubchik - in etwa: "Liebling" privet - "Hallo!" chert - in der Bedeutung von "verdammt", wörtlich aber "Hölle". Es geht auch k chertu, also "zur Hölle", aber irgendwie vermittelt dieses Wort einen universellen fluchcharakter xD ved'ma - "Hexe" zatknis - "Halt's Maul!" Kapitel 2: Dienstag ------------------- Diese Tür sah eigentlich genau so aus, wie alle anderen in ihrem Haus. Sie war nachlässig mit einer hellen Lackfarbe gestrichen worden, sodass an einigen Stellen noch uralte Pinselborsten klebten und sich überall kleine Partikel von der glatten Oberfläche abhoben. Die Klinke und das Schloss waren ziemlich neu, glänzten silbergrau und passten nicht zum Stil der Tür selbst. Es half nichts. Wenn Boris sich noch länger Gedanken über die Beschaffenheit einer Tür machte, würde er noch vor Betreten der Wohnung dahinter verrückt werden. Er streckte die Hand aus und drückte mit der äußersten Spitze des Zeigefingers die Klingel. Von drinnen kam ein hohes Schrillen. Danach musste er nur einige Augenblicke warten, bis ihm geöffnet wurde; seltsam, dabei hatte er gar keine Schritte gehört. Vergeblich versuchte er, den Gedanken zu verscheuchen, die alte Hexe hätte schon hinter der Tür stehend auf ihn gewartet. „Komm rein“, brummte sie und wandte ihm den Rücken zu. „Und zieh die Schuhe aus!“ Ihre Haut war sehr dunkel und ledrig. Falten, die wirkten wie gemeißelt, überzogen das ganze Gesicht vom Haaransatz über die runden, geröteten Wangen bis hin zu dem kleinen Kinn. Sie trug einen langen Rock, eine Bluse und ein geblümtes Kopftuch, sodass sie ihn an diese Babuschka erinnerte, die einem am Anfang und Ende der Märchenfilme aus ihrem Fenster sehend ein paar Worte sagte. Über die weiche, aber deutliche Krümmung ihres Rückens hinweg konnte er den Flur entlang spähen und dann in das Wohnzimmer hinein, in das sie ihn führte. Zwischen zwei zerschlissenen Sesseln stand ein runder Tisch, ganz so, wie man es von modernen Medien, Kartenlegern und was es nicht sonst noch gab kannte. Es roch deutlich nach Opiumräucherstäbchen. Er kannte den Geruch, weil Ivan im letzten Sommer welche gekauft hatte, um die Mücken zu vertreiben, die durch die geöffneten Fenster in ihre Wohnung gelangt waren. Sie setzten sich, und augenblicklich fand Boris sich dem forschenden Blick der Hexe ausgesetzt. In einer Ecke des Zimmers, hinter ihm, raschelte irgendetwas, er wollte gar nicht wissen, was genau das war. „Du ziehst die Krähen an“, sagte sie schließlich. Boris fiel aus allen Wolken. „Ähm, klar“, sagte er, „Tu ich doch immer, wenn ich von der Arbeit komme. Der Fisch, wissen Sie…“ Sie winkte unwirsch ab. „Davon rede ich nicht, durak! Hast du keine Augen im Kopf? Die Krähen sind überall vor dem Haus.“ „Klar weiß ich das“, brummte Boris, dessen Respekt vor der Alten mit der Beleidigung ein ganzes Stück geschwunden war. „Und? Was hat das mit mir zu tun?“ Daraufhin seufzte sie schwer, als wäre er nicht ganz bei Verstand. Natürlich wollte sie sich damit nur wichtig machen; warum hatten eigentlich alle solche Angst vor ihr? War doch bloß eine Schwindlerin, wie alle… „Nah! Das hat was zu tun mit der Aura, Freundchen, hat gar nix zu tun mit dem dummen Fisch.“ Boris hob nur die Augenbrauen. Sie seufzte wieder und deutete dann mit ihrem knochigen Zeigefinger auf ihn. „Du ziehst die Krähen an. Irgendwas stimmt mit dir nicht.“ Die Stille, die dann einsetzte, weil Boris auf die Schnelle keine passende Erwiderung einfiel, wurde abermals durchsetzt von dem seltsamen Rascheln hinter ihm. Seine Nackenhaare stellten sich auf, aber er zwang sich, sich nicht umzudrehen. Das war doch bescheuert. Wie bei „Wächter der Nacht“, nur schlechter. Sollte wohl ein Witz sein. „Okay“, meinte er schließlich, „Und jetzt sagen Sie mir mal, wie teuer Sie sich diesen Humbug bezahlen lassen.“ „Ich will kein Geld“, fauchte die Alte. „Ich will nur sehen, was passiert.“ „Das ist doch absurd!“ „Ist es nicht. Tiere spüren Dinge, von denen wir Menschen nicht einmal etwas ahnen. Oder hast du noch nie davon gehört, wie eine Katze, die sich sonst von keinem anrühren lässt, zu einem kranken Menschen geht und sich schnurrend an ihn drückt? Sie spüren das, die Tiere. Sie wissen mehr über uns, als wir selbst.“ „Aha. Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun, um die Viecher loszuwerden?“ Sie hob die Schultern. „Bring deine Aura in Ordnung.“ Boris schnaubte. Was folgte, war ein längeres Blickduell, bei dem die Alte ihre letzte Bedrohlichkeit verlor. Sie war ein einfaches Großmütterchen. Warum sollte sie ihm etwas antun wollen? „War das alles?“, fragte er daher. „Nein“, antwortete die Alte prompt, und innerlich verdrehte Boris die Augen. Sie erhob sich schwerfällig und schlurfte aus seinem Blickfeld hinaus. Als sie wiederkam, hielt sie den Grund für das Rascheln in der Hand: einen winzigen Käfig, in dem eine Taube saß. Boris begriff sofort: „Das ist die, die gestern Abend zwischen den Krähen saß.“ „Genau.“ Sie drückte ihm den Käfig in die Hände, „Bring sie zurück zu den anderen.“ „Warum ich?“ „Du bist verantwortlich für die Krähen. Du bist verantwortlich für sie. Und jetzt verschwinde.“ „Hä?! Aber –hey, warten Sie!“ Doch die Alte war schon wieder hinausgegangen und er hörte, wie sie die Tür öffnete. Kopfschüttelnd rappelte er sich auf und ging hinaus. Prompt fiel die Tür hinter ihm ins Schloss und alles war wie immer, als gäbe es die Hexe gar nicht. Doch dann fiel sein Blick auf den Taubenkäfig. Das Tier gurrte leise. „Was zur Hölle war das eben…?“, murmelte er, während er den Käfig auf Augenhöhe hob. Wusste die Alte denn nicht, wie viele verdammte Tauben es in dieser Stadt gab? Er stellte den Käfig dekorativ auf dem Küchentisch ab, bevor er wieder nach draußen ging, um ein wenig durch die Stadt zu laufen. Bis zu seinem Seminar hatte er noch ein paar Stunden Zeit. Es war kühl und still; die Straßen füllten sich erst langsam, während er sich der Innenstadt näherte. In Städten wie Paris oder London hatte er gesehen, wie sich aberduzende Cafés an die Ufer der gezähmten Flüsse drängten, wie dort die feinen Touristen saßen und bei Kaffee und Tellergroßen Tortenstücken über asoziale Fastfoodkettenstammgäste tratschten. Ein lächerliches Schauspiel, aber es trug sicher dazu bei, diese Städte reich zu machen. In seiner Heimat war der Tourismus noch nicht angekommen. Die Gäste im „Druschba“ kamen fast ausschließlich wegen der Kongresse, die dort stattfanden, oder aus dem näheren Umland für eine Party; Hochzeiten sollte man dort gut feiern können. Aber ansonsten wohnte man hier ruhig und von der Globalisierung abgeschnitten. Nun, die Stadt war auch hässlich. Boris hatte schon öfter darüber nachgedacht, ob die Mentalität hier eine praktisch veranlagte war und auf Ästhetik verzichten konnte, mehr jedenfalls, als in Westeuropa. Es gab, bis auf das „Druschba“ natürlich, und das war mehr als ein Streitfall, keine architektonisch bedeutenden Gebäude. Die wenigen Cafés, die sich halten konnten, befanden sich weitab vom Wasser, denn beinahe die gesamte Uferlinie wurde von der Industrie beansprucht: Es gab eine Werft, einen Containerhafen, eine Fabrik, in der Fisch verarbeitet wurde, die Lagerhallen, in denen auch der Fischmarkt stattfand und ein paar abgesicherte Kais für stahlgraue Militärschiffe weiter außerhalb. Direkt am Wasser entlanggehen konnte man nur an vereinzelten Stellen, und selbst da gab es nichts, als die übertrieben breite, übertrieben leere Promenade und die schmutzigen Wellen, die an ihr leckten. Nur einmal hatte man sich etwas Kultur gegönnt, und zu jener Stelle zog es Boris jetzt hin, einfach, weil sie so schön weltfremd war. Zwischen den Militärkais und der Fischfabrik verlief also der längste Teil der tristen Promenade, und ziemlich genau auf der Mitte dieser Strecke erweiterte sie sich zu einem kleinen, nach hinten ummauerten Platz. Auf der Stirnseite dieses Platzes, den Blick gen Wasser gerichtet, erhob sich ein Kriegsdenkmal, die vielfach überlebensgroße Statue eines Rotarmisten mit wallendem Uniformmantel und Kalaschnikow im Anschlag. Das Ding war wirklich riesig, sein behelmter Kopf ragte vollständig über die Bäume in seinem Umfeld hinweg. Vom Meer aus war es bei Tag besser zu sehen als jeder andere Orientierungspunkt an der Küste. Boris setzte sich zu seinen Füßen auf die oberste der fünf groben Stufen, die durch steigbare kleinere Treppen verbunden waren. Er spähte kurz hoch zu dem harten Gesicht des Soldaten, der mit der gleichen stoischen Entschlossenheit aufs Meer hinausblickte, wie sie die meisten Denkmäler zeigten. Von hier unten konnte er nur ein Stück des Kinns sehen, aber er wusste ganz genau, wie dieses Gesicht aussah. Bartlos, jung und kräftig, mit einem herb-männlichen Kinn und einer scharf gezeichneten Nase. Und trotz allem mit vollen, sogar in Stein gehauen weich wirkenden Lippen. „Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend.“ Nein, dachte Boris nur, bevor er sich umwandte. Nein. Brooklyn stand auf der Treppe, die hinauf zur fünften Stufe führte, und grinste ihn unschuldig an. In den Händen hielt er einen Fotoapparat. „Was für ein Zufall“, sagte er, „Darf ich mich zu dir setzen?“ Boris wollte nicht ganz an einen Zufall glauben, jedoch fiel ihm spontan keine andere, weniger esoterische Erklärung ein, also sagte er erst einmal nichts und wartete ab. Natürlich ließ Brooklyn sich von seinem Schweigen nicht im Mindesten stören und kraxelte zu ihm hinauf, wobei er sich an zwei Falten des sich bauschenden Soldatenmantels vorbeischlängeln musste, ehe er seine Beine ebenfalls über den Rand der Stufe hängen ließ. „Wunderbare Aussicht“, kommentierte er und hob die Kamera ans Auge. „Willst du mir erzählen, dass du noch nie hier warst?“, brummte Boris. „Oh nein, bis jetzt musste ich immer arbeiten und hab kaum was gesehen. Aber jetzt habe ich Zeit, bin krankgeschrieben, hab mir irgendwas eingefangen. Pass auf, ich bin ansteckend.“ Er lachte, und als ob jemand einen Schalter umgelegt hatte, veränderte sich das Licht. Boris war verwirrt, er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass der Wind einfach nur die Wolken ein kleines Stück weiter geschoben hatte, sodass die Sonne frei am Himmel stand. Die Temperatur schien sofort ein wenig zu steigen. „Einfach herrlich!“, seufzte Brooklyn neben ihm und drückte ab. Boris hüllte sich fortan in Schweigen, aber sein Gegenüber schaffte es natürlich, immer wieder kleine Monologe zu halten. Er schien diesen Platz hier regelrecht gefressen zu haben, denn er machte keine Anstalten, seinen Weg fortzusetzen und Boris endlich, endlich allein zu lassen. Schließlich hätte er fünf einsame Minuten zum Nachdenken bitter nötig gehabt. Die Begegnung mit der Hexe lag ihm schwerer auf dem Gemüt, als er es wahrhaben wollte. Er hasste Menschen, die mit einem analysierenden Blick sahen, was an seiner Persönlichkeit nicht stimmte, aber genau diese Menschen konnte er dann meistens nicht ignorieren. Also sollte er an seiner Aura arbeiten, ja? Das war doch lächerlich! Eine Bewegung in seinem Augenwinkel ließ ihn den Kopf drehen. Am Ende der Stufe saß eine Taube, ruckte mit dem Kopf und sah ihn schief an. Boris hob die Augenbrauen, doch schon kündigte das Geräusch von schnellen Flügelschlägen weitere Vögel an. „Oh“, machte Brooklyn neben ihm, „Nicht schon wieder.“ Um sie herum ließen sich immer mehr Tauben nieder, weiß bis dunkelgrau gefärbt. „Was meinst du?“, fragte Boris und machte eine halbherzig-scheuchende Bewegung mit der rechten Hand. Brooklyn hingegen streckte die Finger lockend aus. „Sie verfolgen mich“, sagte er, „Das geht schon seit ein paar Jahren so. Immer mal wieder.“ „Ach so…?“ „Tja, ich ziehe sie wohl magisch an“, meinte Brooklyn gedehnt. Inzwischen hatte ein regelrechter Schwarm sie eingeschlossen. Die Viecher gurrten und pickten nach unsichtbaren Körnern auf dem Beton. An Boris trauten sie sich nicht so recht heran, aber zu Brooklyn kamen sie, zupften an seiner Kleidung, und ihm schien das gar nichts auszumachen. Innerlich schüttelte sich Boris, denn für ihn waren Tauben einfach nur schmutzige Tiere, die zu nichts nütze waren, außer Krankheitsübertragung. Und das als Koch, schoss es ihm durch den Kopf. Er zog die Ärmel seines dunklen Pullovers über die Hände. Der Stoff hatte sich durch die Sonnenstrahlen aufgeheizt, sodass angenehme Wärme auf seinen Armen lag. Komisch, sogar die kahle Promenade sah in diesem Licht ein wenig freundlicher aus. Er ließ den Blick wandern, versuchte die Tauben zu ignorieren und bemerkte kleine Menschengrüppchen aus zwei oder drei Leuten, die sich plötzlich hier herumtrieben. Ältere Laute, die alle irgendwie schick aussahen, jedenfalls für ihre Verhältnisse. „Ach herrjeh!“, ächzte Boris, als ihm der Grund dafür einfiel. Brooklyn zuckte erschrocken zusammen, und mit einem Mal erhoben sich sämtliche Tauben in die Luft. Ein lautes Rauschen hob an, als sie alle gleichzeitig mit den Flügeln schlugen. Boris konnte eine Zeit lang nichts sehen, außer grauweißem Gefieder überall, doch dann war der Schwarm über ihren Köpfen und stieg als diffuse Einheit zum Himmel auf. Zurück blieb eine ungewöhnliche Stille. Er spürte Brooklyns Blick auf sich und wandte sich zur Seite, um ihn zu erwidern; sie sahen sich stumm und ausdruckslos und wahrscheinlich das erste Mal wirklich an. Brooklyn passte nicht hierher, fand er, er wirkte wie jemand, der vollkommen entwurzelt worden war. Warum ausgerechnet Russland?, fragte er sich erneut. Noch mehr Alte strömten auf den kleinen Platz, und das riss sie aus ihrer gegenseitigen Betrachtung. „Was passiert denn jetzt?“, fragte Brooklyn neugierig. „Tanztee“, brummte Boris, „Wahrscheinlich haben sie es vorverlegt, weil es nach Regen aussieht.“ Zwei Musiker, eine Geige und ein Cello, stellten sich in einer Ecke auf. Wenige Minuten später krochen die ersten Töne, leicht verzerrt vom Wind, auf sie zu. Unten auf dem Platz fanden sich die Paare und begannen, sich langsam zu wiegen. „Das ist schön“, murmelte Brooklyn und verfolgte sie mit Blicken. Sein Körper geriet darüber selbst in kaum wahrnehmbare, schaukelnde Bewegungen. „Ich meine, wie viele Leute in unserem Alter können denn tanzen? Nicht so viele. Einen Disko Fox vielleicht, aber mehr auch nicht. Aber die da unten…die treffen sich schon seit Jahrzehnten zum Tanzen, die brauchen nicht einmal auf ihre Schritte achten, das ist für die wie Laufen. Und sie haben ja auch ihre Partner, meistens schon genauso viele Jahre. Ich finde das schön, wenn zwei Menschen sich nach so langer Zeit immer noch so zugetan sind.“ Seine Worte verloren sich und wurden schließlich von der Musik übertönt. Boris runzelte die Stirn, ihn beschlich der Verdacht, dass Brooklyn sich allein fühlte, dass er ihm deswegen so auf die Nerven ging. Na das hatte doch gerade noch gefehlt: Ein Typ ohne Freunde, der in diesem großen, weiten Land nur einen Ansprechpartner hatte, und zwar ihn selbst. Als hätte er nicht schon genug Probleme. Kurz überlegte er, wie er Brooklyn schnellstmöglich an Ivan abtreten konnte, verwarf diesen Gedanken aber schnell, denn Ivan kannte grausame Methoden, um sich zu rächen. Und er würde nicht noch einmal fein gemahlenes Rindenmulch anstatt von Kaffee aufbrühen. „Was laberst du für einen Mist, hm?!“, brummte er also und erhob sich. Er würde dieser Szene jetzt ein Ende bereiten. Brooklyn sah zu ihm auf, die Augenbrauen zusammengezogen. Er wirkte eher angepisst als mitleiderregend, und das war Boris schon fast wieder sympathisch. Aber es spornte ihn gleichzeitig nur noch mehr an, einfach wegzugehen. „Weißt du, wenn du es hier nicht aushältst, dann solltest du deinen Arsch wieder dahin bewegen, wo du hergekommen bist!“, meinte er leichthin und wusste, dass er damit das Messer noch einmal in der Wunde drehte. Brooklyns Augenbrauen zuckten kurz, und für einen kleinen Moment entstanden zwei scharfe Falten an seinen Nasenflügeln, die sich jedoch gleich darauf wieder auflösten. Boris hob die Schultern, steckte die Hände in die Taschen und grinste noch mal auf ihn hinab, bevor er leichtfüßig die Treppen nahm. Er schlängelte sich zwischen den sich wiegenden Paaren durch und wagte erst einen flüchtigen Blick zurück, als er schon die Promenade entlang ging. So wie es aussah, verfolgte Brooklyn ihn nicht. Beim Anblick der Taube auf dem Küchentisch an diesem Abend überkamen ihn erste Zweifel an seinem Tun. Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und starrte das Tier brütend an. Ab und an hörte er das Quietschen von Yuriys Drehsessel oder das Klappern der Tastatur, denn wie immer waren alle Türen geöffnet, sobald die Räume hinter ihnen durch irgendwen besetzt waren. Manchmal schliefen sie sogar bei geöffneten Türen, weil sie einfach vergaßen, diese zuzumachen. Eine Ausnahme war natürlich das Badezimmer, aber selbst wenn dort einer von ihnen in der Badewanne lag oder duschte, konnte es vorkommen, dass ein anderer sich gleichzeitig rasierte oder die Wäsche in die Maschine stopfte. Einmal hatte Ivan sich über eine Aktion der BBA aufgeregt und das nur bei Yuriy tun können, der jedoch gerade ein Bad genommen hatte. Im Verlauf ihres Gesprächs waren auch Boris und Sergeij aus verschiedenen Gründen hereingekommen und gleich dort geblieben, um sich an der Diskussion zu beteiligen. So hatten sie ihre erste Teambesprechung im Bad abgehalten. Boris schmunzelte amüsiert, als er sich daran erinnerte, wie Ivan auf der Waschmaschine und er auf dem Klo gesessen hatten und Sergeij am Waschbecken gelehnt hatte, während der Schaum in der Wanne erst immer dünner geworden war und sich dann langsam aber sicher in Wohlgefallen aufgelöst hatte. Als das Wasser zu kalt geworden war, hatte Yuriy sie schließlich alle hinausgeworfen. Die Taube gurrte leise. Boris wurde aus seinen Gedanken gerissen. Schwerfällig erhob er sich und lehnte einen Augenblick später schon in Yuriys Türrahmen. Er musterte den Rothaarigen, wie er, eine dezente Lesebrille auf der Nase, pausenlos mit allen zehn Fingern auf die Tastatur einhackte, während sein Blick auf dem Manuskript ruhte, das rechts neben ihm lag. Seine Arbeit nahm scheinbar langsam Gestalt an. Boris räusperte sich und erhielt einen fragenden Blick über den Brillenrand hinweg. „Brauchst du zufällig gerade eine Pause?“, fragte er, woraufhin Yuriy die Hände von der Tastatur nahm und sich zurücklehnte. „Ist das deine Taube da in der Küche?“, stellte er die Gegenfrage. „Indirekt“, antwortete Boris. „Okay, ich frage nicht weiter. Was ist los?“ „Brooklyn“, sagte Boris und konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen. „Er geht mir auf die Nerven. Und andererseits…verdammt, er schafft es irgendwie, dass ich mich mies fühle, wenn ich ihn abserviere.“ Er fasste in Kürze seinen Vormittag zusammen und erwähnte seinen Verdacht, dass Brooklyn eine ganz schön einsame, arme Sau war. „Kurz: ich hab keine Ahnung, wie ich mit ihm umgehen soll. Und ich wette mit dir, dass es nicht lange dauern wird, bis er wieder vor mir steht.“ Yuriy hatte sich seinen Monolog geduldig angehört und verzog jetzt nachdenklich den Mund. „Tja, Boris…so, wie ich das sehe, meldet sich da gerade dein Gewissen zu Wort, auch wenn es ziemlich kurios ist, dass du überhaupt eins besitzt.“ „Ja, danke für die Blumen. Und weiter?“ „Also ich verstehe nicht, wo dein Problem liegt“, meinte Yuriy, „Warum greifst du ihm nicht einfach ein bisschen unter die Arme? Okay, unser aller Kennenlernen stand nicht gerade unter einem guten Stern, aber im Grunde hattet ihr auch nie so wirklich was miteinander zu tun. Er hat ja nur zur falschen Zeit auf der falschen Seite gestanden, und das Gefühl dürften wir ja nur allzu gut nachvollziehen können!“ „Aber Yuriy, dank BEGA hast du damals…“ „Aber es war nicht seine Schuld!“, unterbrach Yuriy ihn laut. „Verstehst du nicht? Ihn trifft keine Schuld. Nicht einmal Garland würde ich einen Vorwurf machen. Der einzige, der das zu verantworten hat, ist Volkov! Was würdest du denn sagen, wenn immer noch alle Blader darauf herumhacken würden, was wir damals im Namen von Biovolt für Scheiße gemacht haben?“ „Naja, manche hacken tatsächlich noch darauf rum…“, murmelte Boris beleidigt, doch selbst in seinen Ohren klang das billig. Er bewunderte seinen ehemaligen Teamchef für seine Einstellung. Er musste irgendwann, von allen unbemerkt, mit der Sache abgeschlossen haben und hatte Boris so etwas voraus. „Du weißt ganz genau, wie gut Volkov darin ist, dich von etwas zu überzeugen“, fuhr Yuriy fort, „Und im Gegensatz zum Borg-Team haben sich die BEGA-Blader aufgelöst, sobald ihre Organisation gestürzt wurde. Brooklyn hat auf einen Schlag sein Team verloren. Was würdest du denn tun, wenn Ivan, Sergeij und ich von heute auf morgen in alle Winde verstreut leben würden?“ Er sprach damit die Gedanken aus, die schon den ganzen Tag lang durch Boris‘ Gedächtnis geisterten, und sein schlechtes Gewissen meldete sich, stärker als zuvor. „Aber ich mag ihn nicht“, begehrte er ein letztes Mal auf, „Ich kann ihn einfach nicht ausstehen! Das positivste Gefühl ihm gegenüber ist Mitleid.“ „Naja, aber das zeigt doch, dass du trotzdem ein gewisses Interesse an ihm hast, oder?!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)