Vigour von mystique ((X-Men: First Class)) ================================================================================ Kapitel 1: Omega ---------------- Vorwort(e): Inspiriert durch das X-Men: First Class-Kinkmeme auf livejournal. Es gab einen wunderbaren Eintrag mit dem Wunsch, ihn auf Charles und Erik in der Zukunft zu übertragen: "There is this teacher at my school who always talks about his wife. It's just cute little things, stories and such, and it's pretty obvious that he loves her. The thing is, his wife died several years ago." Mein Englisch ist nicht ansatzweise gut genug, um die Geschichte auf Englisch zu schreiben, aber bevor die Idee in meinem Kopf versauert, dachte ich mir, ich schreibe sie lieber auf. Ihr werdet vielleicht bemerken, dass Raven kaum Erwähnung in der Geschichte findet. Es ist falsch anzunehmen, dass Charles nicht mehr an sie denkt oder sie nicht vermisst. Aber ich habe mich bewusst beinahe ausschließlich auf die Beziehung von Charles und Erik konzentriert und dabei ist das Verhältnis von Charles und Raven viel zu kurz gekommen. Ich hoffe, ihr verkraftet das. Über Kommentare und Anmerkungen freue ich mich immer! Hinweis: Ich habe bewusst kaum Altersangaben gemacht, Aber ich weiß, dass es Komplikationen mit den jungen Charakteren (Ororo, Jean und Scott) gibt, sollte man diese Geschichte auf die Zeit der X-Men Trilogie hochrechnen (2000). Da Ororo aber bereits in First Class kurz als junges Mädchen gezeigt wurde und der Film ohnehin einige kleine Logiklücken hat, nehme ich mir die Freiheit einfach heraus. ;-) Titel: Vigour Fandom: X-Men: First Class Genre: Slash, One-Shot Rating: PG-13 Pairing: CharlesxErik Vigour Es ist 1965, als Professor Charles Xavier in seinem Unterricht zum ersten Mal von Erik erzählt. Die Villa in Westchester ist nun mehr oder weniger offiziell eine Schule für Hochbegabte und immer mehr Räume füllen sich mit dem Gemurmel von Kindern und Jugendlichen. Die große Eingangshalle ist erfüllt von Gelächter und den eiligen Schritten verspäteter Schüler. Der ehemalige Empfangssaal ist zu einem der größten Klassenräume umgestaltet worden und momentan mit mehr als fünfzehn aufmerksamen Schülern unterschiedlichen Alters gefüllt. Alle Augen sind auf den Professor gerichtet, der vor ihnen in seinem Rollstuhl sitzt und einen Vortrag über die Zusammensetzung der DNS hält. Jeder von ihnen weiß, dass Charles Xavier ein Telepath ist – hat es entweder schon am eigenen Leib oder aus den Geschichten der anderen Schüler erfahren. Und so ist es auch keine Überraschung, dass dem Professor die zunehmende Langeweile seiner Zuhörer nicht entgeht. Doch anders als erwartet, reagiert er weder genervt, noch gereizt. Stattdessen lässt er seine Notizen sinken und blickt regelrecht belustigt in die Runde. „Es scheint, als wäre ich etwas zu tief in die Materie abgedriftet.“ Und ein unbekannter Glanz legt sich über seine Augen, als er hinzufügt: „Erik hat mich immer darauf hingewiesen, in meinen Erzählungen nicht zu sehr abzuschweifen. Eine Angewohnheit, die ich mir zu meinem Bedauern in vielen unserer langen Gespräche angeeignet habe.“ Die Schüler wechseln überraschte Blicken, denn von einem Erik haben sie bisher noch nicht gehört. Und es scheint, als ob der Professor diesen Mann sehr gut kennt. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Charles Xavier Erik erwähnt. oOo Im Frühjahr 1970 steht Ororo zum ersten Mal vor den Toren der Schule. Ein Schild am Eingang heißt sie herzlich willkommen und Professor Xavier begrüßt sie persönlich in seinem Büro. Es ist ein aufregender Tag, denn noch nie hat Ororo so viele andere Mutanten gesehen, noch nie hat sie einen Ort wie diesen erlebt, an dem Mutationen eine Selbstverständlichkeit für jeden darstellen. Hier verurteilt man sie nicht für ihre schneeweißen Haare, es hackt niemand auf ihr herum oder bezeichnet sie als Oma. Stattdessen kommt ein Junge schnurstracks auf sie zu und fragt, ob er ihre Haare einmal anfassen dürfte. Perplex nickt sie und nachdem er eine Strähne zwischen seinen Fingern hin und hergeschoben hat, fragt er sie nach ihrer Fähigkeit. Nicht Abnormität oder Andersartigkeit. Es ist eine Fähigkeit. Jeder von ihnen hat eine besondere Begabung. Es ist nur natürlich, dass die Schüler jedem Neuling mit Neugier begegnen. Jeder von ihnen hat eine einzigartige Fähigkeit und es ist wie ein kleiner, inoffizieller Wettstreit, wer von ihnen die am meisten imponierende Mutation hat. Es steht außer Frage, dass der Professor die erste Stelle der Liste einnimmt. Er ist ein mächtiger Telepath (jeder von ihnen hat zumindest schon einmal einen mentalen Vorgeschmack darauf bekommen, nicht zuletzt, weil der Professor immer genau weiß, warum die versäumten Hausaufgaben nicht gemacht wurden) und trotz seiner Lähmung strahlt er eine Überlegenheit aus, die jedem in der Schule imponiert. Gleichzeitig hat er einen besonderen Charme, der bei vielen Mädchen bereits zu Schwärmereien geführt hat. An zweithöchster steht Erik. Erik, den keiner der Schüler persönlich kennt. Erik ist ein Mythos. Niemand weiß, was genau seine Mutation beinhaltet, aber jedem ist klar, dass sie der des Professors mindestens ebenbürtig ist. Überhaupt winden sich zahllosen Gerüchte um Erik. Jeder kennt ihn, hat von ihm gehört und wer die Schule für Begabte zum ersten Mal betritt, erfährt zunächst drei grundlegende Dinge: Erstens: Charles Xavier ist ein Telepath und es macht keinen Sinn, ihn irgendwie zu belügen, weil er es ohnehin herausfindet. Zweitens: Mach niemals Witze über das Aussehen von Doktor Hank McCoy, wenn du nicht Professor Summers heißt. Und drittens: Hör genau hin, dann erfährst du die Geschichte von Erik, dem zweitmächtigsten Mutanten, der nach Professor Xavier jemals existiert hat. Und diese Geschichte willst du nicht verpassen. Diese ungeschriebenen Regeln stehen noch weit über der Schulordnung, die der Professor jedes Mal zu Beginn eines neuen Jahres verließt, und der mit jedem Sommer weitere Punkte hinzugefügt werden. Ororo hält sich intuitiv an die drei Gesetze der Schule. Und so hört sie zu. „Ich sprach einmal ausführlich mit Erik über die Bedeutung zukünftiger Mutationen für uns alle. Wir waren unterschiedlicher Meinung – wie so oft.“ Ein leises Lachen zieht sich durch die Reihen der Schüler. Es ist allgemein bekannt, dass der Professor und Erik sich selten einig waren und in so gut wie allen Dingen einander widersprachen. „Jedenfalls – und darum geht es hier eigentlich - veranschaulichte er mir während unserer Diskussion, dass das Gesetz des Stärkeren sich nicht nur durch unsere Evolution, sondern auch durch unser Sozialleben zieht. Starke Persönlichkeiten ziehen andere Menschen an. Sei sind wie Magneten.“ Bei diesem Wort zieht einen Moment lang ein dunkler Schleier über das Gesicht des Professors. Doch ebenso plötzlich ist er wieder verschwunden. „Sie monopolisieren. Denken wir an Hitler. Seine Taten sind aus heutiger Sicht nicht in Worte zu fassen und seine Ideologie ist uns unbegreiflich. Es ist das Gesetz des Stärkeren, das ihm so viele Anhänger gebracht hat. Die Menschen in seiner Umgebung spürten es und folgten ihm. Ich war der Ansicht, dass der Darwinismus ausschließlich im Verlauf der Evolution auftritt. Doch das lange und – zugegeben – aufgeheizte Gespräch mit Erik“, wieder ein Raunen in den Schülerreihen, vereinzeltes Schmunzeln und Kichern, „brachte mich zu der Erkenntnis, dass es unbedacht war, den Darwinismus einzig auf die genetische Evolution an zu wenden, wo es doch ganz offensichtliche Beispiele für sozialen Darwinismus gibt. Da wir Menschen sind, versuchen wir der Auslöschung durch den eindeutig Stärkeren zu entgehen, indem wir unser Verhalten anpassen. Einigen gelingt es, einigen nicht. Ich muss Erik dankbar dafür sein, dass er mich auf meinen Irrtum aufmerksam gemacht hat.“ Jeder von ihnen würde nur zu gerne erfahren, wer genau Erik ist. oOo Es gibt viele Gerüchte über Erik. Nicht alles, was die Schüler sich untereinander erzählen, entspricht den Worten des Professors. So ist Erik nicht der verschollene Zwillingsbruder von Charles Xavier oder sein früh verstorbener, hochintelligenter Sohn. Es ist ebenso erfunden, dass er an der Erfindung der Atombomben beteiligt war, die Ende des zweiten Weltkriegs über Japan abgeworfen wurden. „Wir waren damals viel zu jung, um die Bedeutung unserer Fähigkeiten über unsere gegensätzliche Weltanschauung hinaus zu sehen. Ich bin in den letzten Jahren Leuten begegnet, die behaupteten, Mutanten seinen ein Fluch Gottes. Andere hielten sie für Gottes höchste Schöpfung. Erik bezeichnete uns als bessere Menschen. Dieser Aussage glaube ich heute mehr als alles andere.“ Charles Xavier sieht die Runde. Er begegnet hoffnungsvollen, teils auch skeptischen Blicken. „Die Menschen sind zweifellos nicht immer gerecht zu uns. Sie haben Angst vor dem, was aus uns werden kann. Sie fürchten das, wozu wir fähig sind.“ Er muss niemandem sagen, wen genau die Menschen fürchten, denn jeder im Klassenraum kennt die Antwort. Magneto und die Bruderschaft. Mutanten, die sich für eine Welt ohne normale Menschen zusammengeschlossen haben. „Wir sind die besseren Menschen, denn wir verurteilen sie nicht, weil wir anders sind. Wenn wir ihnen zeigen, dass wir auf ihrer Seite sind, dass wir ihnen nicht schaden wollen, werden sie uns irgendwann glauben.“ Niemand von ihnen stellt die Frage, die sie alle beschäftigt: Wann wir das sein? Es ist die Angst, keine Antwort zu bekommen, die sie daran hindert. oOo In einer Welt, die von Furcht und Feindseligkeit gezeichnet ist, sind Menschen wie Charles Xavier für Mutanten wie ein Anker, der verhindert, dass sie abdriften und an den Klippen des Hasses zerschellen. Erik ist die Kette, die sie an den Anker bindet. Er ist es, der den Professor so menschlich macht. Für viele stellte der Mythos Erik die Brücke dar, die Charles Xavier für sie erst zugänglich macht. Ororo erinnert sich an ein Gespräch mit einem älteren Mädchen, das bei der Berührung von Gegenständen das Gesicht der letzten Person sah, die es berührt hat. „Ich hatte immer Angst vor ihm“, hatte sie Ororo gestanden, als sie in einer Mittagspause im Westflügel saßen und ihre Hausaufgaben verglichen. „Ich hab Geschichten über ihn gehört. Dass er in Kuba gewesen sein soll, als es beinahe einen dritten Weltkrieg gegeben hat.“ (Ororo wusste nicht genau, was das bedeutete, sie hatte im Geschichtsunterricht gerade einmal die ersten zwei Weltkriege aufgearbeitet, aber von einem dritten hatte sie bis dahin noch nicht gehört. Sie hörte schweigend zu und nickte immer wieder.) „Außerdem ist er alleine dafür verantwortlich, dass die Regierung nicht von uns weiß. Er kann die Gedanken von jedem Menschen kontrollieren, wenn er das will. Nachdem ich dass alles hier erfahren habe, wollte ich eigentlich wieder nach Hause. Und dann hat er mich in sein Büro gerufen, als hätte er meine Gedanken gehört, und ich hatte wirklich Angst. Bis er mir von Erik erzählt hat. Davon, dass Erik ihm am Anfang nicht wirklich getraut hat, weil er wusste, dass der Professor seine Gedanken lesen konnte. Und er hat mir erklärt, dass es bestimmte Personen gibt, die in uns eine unvergleichliche Bereitschaft wecken, uns zu kontrollieren. Und dass Erik ihn gelehrt hat, dass das bloße Ausleben der eigenen Fähigkeiten hinter dem Wohl der anderen zu stehen hat.“ Ororo nickte, denn tatsächlich konnte sie den Worten des Professors folgen. „Ich habe immer noch einen riesigen Respekt vor Professor Xavier, aber was er mir gesagt hat, hat mir die Angst vor ihm genommen. Ganz egal, was über ihn erzählt wird, Erik wäre nicht mit ihm befreundet gewesen, wenn der Professor in Wahrheit ein schlechter Mensch wäre.“ oOo „Ich erinnere mich an Tage, an denen die Welt in Ordnung war. Erik und ich haben gemeinsam Schach gespielt. Ich habe versucht, fürchterlich schlechte Drinks zu mischen und er hat sie getrunken, obwohl ich meinen am liebsten wieder ausgespuckt hätte. Danach hat er sie zubereitet. Er war zwar ein bescheidener Koch (ihr erinnert euch vielleicht daran, was ich euch über das Küchenfiasko erzählt habe), aber er besaß die einzigartige Gabe, das perfekte Verhältnis verschiedenster Spirituosen zu finden. Er legte großen Wert darauf, dass ich seine Kreationen austrank, was zu einigen der miserabelsten Schachpartien führte, an die ich mich erinnern (und teilweise auch nicht erinnern) kann. Diese Geschichte ist jedoch keinesfalls ein Freibrief für euch. Ihr seid noch Minderjährig und glaubt nicht, dass ich es nicht merke, wenn ihr unerlaubt Alkohol konsumiert.“ Charles Xavier versucht, streng in die Runde zu sehen, doch das Zucken seiner Mundwinkel lässt ihn daran scheitern. An einem sonnigen Nachmittag, an dem sie den Unterricht nach draußen verlegt haben, erzählt er ihnen von etwas Anderem: „Dieses Grundstück ist mehrere Hektar groß. Seht ihr die Satellitenschüssel da hinten? Sean ist von dort aus das erste Mal geflogen. Einige Tage vorher war er an einem Sprung aus der ersten Etage der Villa gescheitert (sprecht ihn bitte nicht darauf an). Jedenfalls standen wir zu viert auf der höchsten Ebene der Schüssel – Sean, Hank, Erik und ich. Und Sean zögerte – verständlicherweise, denn der Fall war über vierzig Meter tief – und bevor ich überhaupt in der Lage war, ihm Mut zuzusprechen, hat Erik ihn runter gestoßen.“ Einige der Jungen pfeifen anerkennend. Erik hatte Stil. Der Professor löst seinen Blick von der Schüssel und lächelt nicht weniger amüsiert. „Ich will nicht sagen, dass es die beste Lösung war. Aber sie war zweifellos effizient und ersparte uns allen die alternative Wartezeit, bis Sean von sich aus gesprungen wäre. Und auch, wenn er Erik die Tage danach nicht mehr als drei Meter an sich heran ließ, war er ihm doch in gewissem Sinne dankbar für seine helfende Hand.“ Sie sehen sich einen Moment lang an und brechen gleichzeitig in schallendes Gelächter aus. oOo Es sind Geschichten wie diese, Geschichten über Erik, die den Professor so menschlich machen. Geschichten aus seiner Vergangenheit, die so absolut lebendig sind, als entstammen sie einem andern Leben. Ororo fragt sich oft, was aus diesem Erik geworden ist. Warum er heute nicht hier an der Seite des Professors steht, zufrieden in die Runde blickt und grinst. „Er hatte ein sehr ansteckendes Lachen. Hank und Sean fanden es zwar unheimlich, aber wenn ihr Erik jemals hätte lächeln sehen, dann wüsstet ihr, was ich meine. Sein Lächeln war berauschend.“ Charles Xavier streicht abwesend über seine Unterlagen. Ororo kennt den Ausdruck auf seinem Gesicht. Ihr Vater hat ihre Mutter früher so angesehen. In diesem Moment ist sie sich sicher, etwas über Erik erfahren zu haben, das keines der Gerüchte bisher in Worte gefasst hat. oOo „Hast du dich je gefragt, wo Erik heute ist?“ Scott lässt das Comicheft ruckartig sinken, als hätte er nicht bemerkt, dass Ororo sich schon vor einer viertel Stunde neben ihn gesetzt hat. Sie widersteht nur mit Mühe dem Drang, die Augen zu verdrehen. Jungs und Comics – das würde sie nie begreifen! „Wieso?“ „Weil er nicht hier ist. Und ehrlich gesagt kann ich ihn mir nicht ohne den Professor vorstellen. Eigentlich kann ich mir den Professor mittlerweile nicht wirklich ohne Erik vorstellen. Hat dein Bruder denn nie über ihn gesprochen?“ Scott verzieht den Mund. Das Thema Alex ist nach wie vor empfindlich. Scott hat es ihm noch immer nicht ganz verziehen, ihn einfach verlassen und erst nach vier Jahren zu sich an die Schule geholt zu haben. Ororo weiß mittlerweile, dass die Schuld dafür nicht ganz bei Alex liegt, da er die Hälfte dieser Zeit im Gefängnis verbracht hat, aber verletzte Gefühle lassen sich nur schwer und langsam heilen. „Nein. Er spricht manchmal von früher, aber Erik hat er nie erwähnt.“
„Findest du das denn gar nicht komisch?“ „Vielleicht mochte er ihn nicht.“ „Wie kann man Erik nicht mögen?“ Jean Grey lässt sich neben ihnen auf die Bank fallen. Sie ist drei Monate vor Ororo an die Schule gekommen und die beiden haben sich rasch angefreundet - begünstigt durch den Umstand, dass sie sich ein Zimmer teilen. Jean beneidet Ororo um ihre Haare und Ororo Jean um ihre Ausstrahlung. „So, wie der Professor von ihm erzählt, ist er der faszinierendste Mensch, der ihm jemals begegnet ist.“ „Er muss echt stark sein“, stimmt Scott ihnen zu und legt – Ororo kann es kaum glauben – das Comicheft beiseite. „Er hat vor niemandem Angst und war der beste Freund vom Professor. Also muss er stark sein.“ „Darum wundert es mich, dass er heute nicht hier ist und uns unterrichtet So wie dein Bruder, Doktor Hank und Sean.“ „Vielleicht hatte er keine Lust und reist durch die Welt.“ „Warum hat ihn dann in den letzten Jahren niemand in dieser Schule gesehen?“ „Vielleicht lebt er nicht mehr?“ Die Frage hängt für einige Sekunden zwischen ihnen und Jean sieht aus, als hätte es Überwindung gekostet, sie auszusprechen. Ororo schluckt den plötzlichen Kloß in ihrem Hals und schüttelt erst langsam, dann immer bestimmter den Kopf. „Das glaube ich nicht.“ „Aber der Professor spricht immer von ihm in der Vergangenheit. Von früheren Zeiten. Von damals.“ Jean zeichnet mit einem Finger das Muster ihres Kleides auf ihrem Bein nach. Die Vorstellung, Erik könnte tot sein, scheint ihr genauso wenig zu behagen, wie Ororo. Nicht Erik. Nicht der mutige, furchtlose Erik. oOo Charles Xavier sieht jeden von ihnen lange und eindringlich an. Sie sind zu fünft, Ororo eine von ihnen, und sie haben heute die Aufgabe bekommen, im Team gemeinsam gegen Sean anzutreten. „Bei dieser Aufgabe geht es nicht um Stolz oder den Drang, sich zu beweisen“, erklärt Professor Xavier ruhig. „Ich möchte, dass ihr Teamfähigkeit beweist. Nur gemeinsam könnt ihr erfolgreich sein. Das hier ist keine simple Übung für den Unterricht, es soll euch für euer künftiges Leben lehren. Alleine kommt ihr nicht weit.“ Sein Blick verdüstert sich und Ororo spürt Bitterkeit am Rand ihres Bewusstseins. „Ihr könnt versuchen, alleine die Dämonen eurer Vergangenheit zu jagen. Vielleicht seid ihr dabei erfolgreich, aber danach habt ihr nichts mehr. Lernt die Vorzüge eines Team – einer Familie – zu schätzen und verteidigt sie. Ihr werdet merken, dass es ein Fehler wäre, sie von euch zu stoßen.“ Er begegnet Ororos Blick und lächelt sie an. Sie spürt, wie ihr warm und gleichzeitig kalt wird, denn sein Lächeln ist so einfühlsam, wie sie es selbst bei ihm noch nicht gesehen hat. „Erik hat mir einmal das Leben gerettet. Wir hatten einen ... Unfall mit dem Jet und waren im Begriff abzustürzen. Wäre er nicht gewesen, hätte ich den Aufprall nicht überlebt. Er hat nicht nachgedacht, als er sich dazu entschieden hat, mich zu beschützen, denn wir waren eine Familie.“ Und Ororo wünscht sich in diesem Moment nichts mehr, als Mitglied einer solchen Familie zu sein, wie der Professor sie in Erik gehabt hat. oOo Ororo hadert geschlagene fünf Minuten mit sich, ehe sie die Hand hebt und an die dunkle Tür vor sich klopft. Hinter dem Holz hört sie schwere Schritte. Dann blendet sie helles Licht. „Ororo?“ „Doktor.“ Sie lächelt gegen die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster am gegenüberliegenden Ende des Raumes scheinen. „Darf ich reinkommen?“ Sie versucht es mit dem zuckersüßesten Lächeln, das sie besitzt. Hank McCoy, das dichte Fell im Licht der untergehenden Sonne leicht gerötet, zögert. „Eigentlich bin ich gerade mitten –“ Er unterbricht sich und Ororo weiß, dass sie ihn hat. Normalerweise nutzt sie es nie so schamlos aus, aber sie mag Doktor McCoy ohnehin (sie weiß, dass unter dem blauen Fell und dem oft ruppigen Auftreten ein netter Mann steckt) und darum ist ihr Lächeln nicht einmal großartig geschauspielert. „Komm rein.“ Hank tritt beiseite und macht ihr Platz. „Wie kann ich dir helfen, Ororo?“ Er deutet auf den einzigen freien Stuhl, der nicht unter Akten und Laborutensilien vergraben ist. Ororo tänzelt an ihm vorbei und setzt sich. Ihre Füße baumeln mehrere Zentimeter über dem Boden. (Scott zieht sie immer damit auf, dass sie für ihre elf Jahre viel kleiner ist als andere Mädchen. ) „Ich wollte Sie fragen, ob Sie einen Rat für mich hätten. Sie haben mich vor ein paar Monaten untersucht, als ich das starke Fieber hatte und ehrlich gesagt, habe ich seitdem das Gefühl, anfälliger für Wetterumschwünge zu sein.“ Hank überlegt einen Moment lang, dann greift er zielstrebig in das Chaos um ihn herum und hält mit einem Mal eine Akte mit Ororos Namen in der Hand. Seine Augen überfliegen die Zeilen der ersten Seite. „Dein Körper ist empfänglich für die Veränderung der Atmosphäre kurz vor einem Wechsel der Wetterverhältnisse. Das Fieber hat dein Immunsystem geschwächt und dich empfindlicher gemacht. Jetzt bist du zwar wieder gesund, aber die Feinfühligkeit wird höchstwahrscheinlich bleiben.“ „Hm.“ Ororo hat damit gerechnet. Eigentlich ist es ihr sogar egal, denn es stört sie nicht – im Gegenteil. Es ist mehr als praktisch, vorher zu wissen, ob es heute regnen wird oder nicht. Sie ist ihr eigener Meteorologe. „Kann ich Sie noch etwas fragen?“ Hank, noch immer halb in ihre Akte vertieft, nickt und bedeutet ihr, weiter zu sprechen. „Was ist aus Erik geworden?“ Sie beobachtet, wie die Augen des Doktors mitten im Lesen erstarren und auf einem Wort verharren. Seine Haltung versteift sich und langsam lässt er die Hand sinken. „Wie bitte?“ „Sie wissen doch sicher auch, dass Professor Xavier immer wieder von Erik spricht. Und ich ... wir fragen uns, wo er heute ist.“ Hank scheinen die Worte zu fehlen. Er öffnet den Mund, sagt jedoch nichts. Dann schließt er einen Moment lang die Augen und eine Mischung aus Frustration und Schmerz passiert sein Gesicht. „Verdammt, Charles“, flucht er und scheint für einen Augenblick zu vergessen, dass Ororo vor ihm sitzt. Doch ebenso schnell erlangt er seine Fassung zurück. „Dazu habe ich nichts zu sagen“, knurrt er und wendet sich von ihr ab. „Es tut mir leid, Ororo, aber ich habe noch einige wichtige Tests durchzuführen, bevor die nächste Unterrichtsstunden anfängt. Ich hoffe, ich konnte dir bei deinem Wetter-bedingten Problem helfen.“ Ororo springt vom Stuhl und ist mit wenigen, schnellen Schritten an der Tür. „Danke, Doktor McCoy.“ Er hat ihr den Rücken zugewandt. Ororo hört ihn leise murmeln, kann jedoch seine Worte nicht verstehen. Sie vermutet, dass er Verwünschungen ausstößt. Es ist allseits bekannt, dass Doktor McCoy sehr launisch sein kann, aber genauso weiß eigentlich jeder, dass er im Grunde ein herzensguter Mensch ist. Allerdings hat Ororo ihn noch nie wütend wegen des Professors gesehen. Während sie das Labor hinter sich lässt, wird ihr bewusst, dass sich immer weitere Ungereimtheiten um Erik ranken, je mehr sie nachforscht. oOo Weihnachten kommt und geht, die Geschichten über Erik setzen sich fort und werden am Leben erhalten. An einem verregneten Januarabend reißt Ororo die Tür zur Terrasse im Erdgeschoss auf und rennt blind hinaus. Ihre Sicht ist verschwommen und ihre Wangen tränennass. Sie hat sich zum ersten Mal mit Jean gestritten. Ein dummer, alberner Streit, aber keiner von ihnen war bereit, die Meinung des anderen zu akzeptieren. Keiner war bereit gewesen, einen Schritt auf den anderen zuzumachen. Es nieselt und ist kalt, aber Ororo hat kein Problem damit. Das Wetter gehört zu ihr, wie die Luft zum atmen. Wenn sie sich mitten in einen Sturm stellt, fühlt sie sich zuhause. Und wenn sie weinend im Nieselregen steht, hat sie das Gefühl, der Himmel trauert mit ihr. Beinahe hätte sie den Professor übersehen. Sein Rollstuhl steht am Geländer der Terrasse, wenige Meter von ihr entfernt. Sein Gesicht ist von ihr abgewandt, der Blick in die Ferne gerichtet. Dorthin, wo ungefähr die Satellitenschüssel stehen muss. Ororo wischt sich über die Wange und nähert sich ihm zögerlich. Natürlich weiß er längst, dass sei hinter ihm steht. So ist es keine Überraschung, dass sie seinem milden Lächeln begegnet. „Es scheint, als hätten wir denselben Gedanken gehabt, Ororo.“ „Professor.“ „Möchtest du mir zeigen, was passiert ist?“ Sie nickt und spürt eine sanfte Berührung ihres Bewusstseins. Bilder und Gesprächsfetzen des Streits erscheinen vor ihrem Geist. Dennoch ist die Präsenz des Professors wie eine tröstende Umarmung und als er die Hand von seiner Schläfe sinken lässt, ist sein Blick voll mitfühlender Trauer. Zumindest glaubt Ororo das im ersten Moment, bis sie genauer hinsieht und erkennt, dass der Kummer viel tiefer geht. Es ist, als hätte Professor Xavier gerade eben die gleiche Situation erlebt. Bloß hundertmal schlimmer. „Es tut mir Leid, Ororo. Ein Streit über unterschiedliche Meinungen ist nicht immer leicht. Solange es nicht mehr als eine Plänkelei ist, mag es amüsant sein, aber grundlegend verschiedene Ansichten sind schwer zu vereinen.“ „Ich hatte eine lange und ausführliche Unterhaltung mit Erik über dieses Thema. Wir waren unterschiedlicher Meinung – wie so oft.“ Der Professor verharrt. Er hat Ororos Gedanken wohl gesehen. „Unsere Diskussionen waren nicht immer von der leichten Sorte“, gesteht er und greift damit die indirekte Frage auf. „Tatsächlich waren wir die wenigste Zeit der gleichen Meinung. Das bedauere ich sehr. Dennoch kann ich heute behaupten, etwas daraus gelernt zu haben. Erik nannte mich oft naiv. Vielleicht war ich es auch hin und wieder. Doch seine abweichende Meinung hat mir etwas viel Wichtigeres vor Augen geführt: Ich war damals viel zu arrogant. Ich nahm an, meine Meinung sei die einzig wahre und ignorierte bewusst die Tatsache, dass er genug Gründe für seine Weltansicht hatte. Heute weiß ich, dass es falsch ist, jemand anderen nach meinen eigenen Idealen formen zu wollen. Das solltest du dir auch merken, Ororo. Jean und du, ihr mögt euch heute streiten, weil ihr euch nicht einigen könnt. Aber schon sehr bald wirst du erkennen, dass ihre Weigerung, deinen Standpunkt anzunehmen, dir einen völlig neuen Blick auf die Dinge offen gelegt hat. Nämlich ihren.“ Ororo hat bis dahin schweigend zugehört. Viel zu gebannt ist sie von den Worten des Professors. Von der Bitterkeit in seiner Stimme. Von seiner Reue, die ihren Geist erfüllt, als wäre es ihre eigene. In diesem Moment wünscht sie sich so sehr, Erik wäre hier und könnte den Professor trösten. Und sie ist sich sicher, Charles Xavier denkt das gleiche. oOo „Auf der Suche nach den allerersten Mutanten haben Erik und ich viele faszinierende Menschen getroffen. Einige, so wie Hank, Sean und Alex, haben sich uns angeschlossen.“ Alex steht neben dem Professor. Es ist der Abend vor Neujahr. Hank und Sean sind draußen, gemeinsam mit einigen anderen Erwachsenen, und bereiten das Feuerwerk vor. Alex hat ein Auge auf die Schüler, während der Professor seine Ansprache hält. Nun ergreift er das Wort und im ersten Moment wirkt Charles überrascht. „Es gab noch weitere Mutanten. Einer von ihnen war Darwin. Wir haben ihn viel zu früh verloren. Aber nicht an die Menschen, sondern an einen anderen Mutanten. Der Stein mit seinem Namen, draußen an der großen Eiche soll uns allen bewusst machen, dass wir auch Feinde in den eigenen Reihen haben und dass wir darum zusammenhalten müssen.“ Einige Tage zuvor haben Magneto und die Bruderschaft einen Angriff auf das CIA-Hauptquartier verübt und zahlreiche Agenten umgebracht. Die Geschichte hat sich wie ein Laubfeuer in der Schule ausgebreitet. Nicht zuletzt, weil der Professor gemeinsam mit Alex und Hank eingegriffen hat. Es gibt viele Geschichten über den Ausgang des Kampfes. Einige Mitschüler behaupten, Charles Xavier hätte die Gedächtnisse aller Beteiligten gelöscht, damit nichts an die Medien dringt. Andere sagen, die CIA halte die Informationen zurück, aus Angst, eine Massenpanik auszulösen. Wieder andere erzählen von einem epischen Kampf zwischen dem Professor und Magneto. Ororo ist diesem Mann zum Glück noch nie begegnet. Das, was sie von ihm gehört hat, reicht ihr vollkommen. Vermutlich gibt es keine Person, die mehr von Hass erfüllt ist, als Magneto. „Unsere Schule ist ein Ort für Mutanten, die die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben“, setzt der Professor seine Rede fort. „Und auch für diejenigen, die meinen, keine Hoffnung mehr zu haben. Sie ist eine Nachricht an alle Muanten, da draußen in der Welt. Ihr seid nicht allein.“ „Ich dachte, ich wäre der einzige.“ „Du bist nicht der einzige. Erik, du bist nicht der einzige!“ Ororo zuckt zusammen und Jean mustert sie besorgt von der Seite. „Alles in Ordnung?“ „Ich glaube ... ja.“ Sie fasst sich an die Stirn und schüttelt den Kopf. Es war wie ein plötzlicher Gedanke, eine Erinnerung. Nur gehörte sie nicht ihr. Bevor sie Jean irgendetwas davon erzählen kann, beginnt das Feuerwerk. Es ist imposant und so schier glaublich, dass Ororo diesen seltsamen Moment für die nächste Zeit vergisst. Erst viel später wird sie daran zurückdenken. Und in der folgenden, viel zu kurzen Nacht am 1. Januar des Jahres 1971 träumt sie von einem fernen Strand und vertrauten Armen, die sie umschlingen und fest halten. oOo Sie hätte nicht gedacht, dass ihre Nachforschungen Konsequenzen haben. Nicht bis zu dem Tag, an dem sie auf einem der Schulflure, gemeinsam mit Scott und Jean, den Professor und Hank belauscht. Es war ein Versehen, sie hatten nicht darauf gewartet, aber die Stimmen waren nicht zu überhören. „Professor, so geht es nicht weiter. Sie können den Kindern nicht von Erik erzählen, als wäre er –“ „Als wäre er was, Hank?“, fragt Charles Xavier und seine Worte sind scharf und gereizt. Die Kinder haben ihn noch nie so gehört. „Ein Mensch mit Gefühlen? Eine reale Person?“
„Sie wissen, was ich meine. Er hat große Fehler gemacht. Fehler mit fatalen Konsequenzen.“ „Das weiß ich nur zu gut, Hank.“ „Ich wollte Sie nicht –“ „Das hast du nicht. Aber ich bitte dich, meine Erinnerung an Erik zu respektieren. Die Kinder haben ein recht darauf, von ihm zu erfahren. Er ist der stärkste Mutant von uns allen gewesen.“ „Ich denke eher, dass Sie-“ „Nein, Hank. Ich war und werde nie der mächtigste Mutant sein. Es gibt weit größere Talente.“ Stille. Hank ist der erste, der wieder spricht. „Es geht mir hier nicht nur um die Kinder, Professor. Es geht mir auch um Sie. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, so ... in der Vergangenheit zu leben.“ „Das tue ich nicht. Indem ich von Erik spreche, bringe ich den Kindern einen Mann nahe, den sie bedauerlicherweise nicht mehr kennen lernen können. Einen Mann, der Bewunderung verdient hat für das, was er in seinem Leben ertragen und überlebt hat.“ „Aber dieser Mann existiert nicht mehr!“ Jeder von ihnen kann es spüren. Einen Augenblick lang pulsiert eine gewaltige, ungebändigte Wut durch die Luft. Die Kinder halten den Atem an. Ororo kann ihr Herz bis in ihren Hals schlagen spüren. „Er mag nicht mehr existieren“, sagt der Professor leise und jedes Wort ist wie ein scharfer Schnitt in die Stille. „Aber das macht ihn nicht weniger bedeutend. Nicht für mich. Und für dich sollte es das auch nicht, Hank.“ Der Professor lässt Hank stehen und verlässt den Flur. Erst Minuten später, nachdem auch Hank gegangen ist, trauen sich Ororo, Jean und Scott aus ihrem Versteck. Keiner von ihnen kann in Worte fassen, was sie soeben erfahren haben. oOo „Der Professor muss Erik sehr geliebt haben“, sagt Jean eines Nachmittags, während sie gerade für einen bevorstehen Test lernen. Scott starrt sie an, als hätte sie soeben verkündet, habe sich verlobt. Dann verzieht er den Mund und sagt. „Iieh.“
 „Wieso?“, fragt Jean und runzelt die Stirn. „Na, der Professor und Erik sind doch beide Männer!“ „In unserer Nachbarschaft wohnte ein Mann mit einem anderen zusammen“, murmelt Ororo. Gleichzeitig erinnert sie sich jedoch auch an die Spitznamen, die ihr Vater für sie übrig gehab hat. Keinen davon wagt sie auch nur laut zu denken. „Ist das denn nicht verboten?“ Scott kann ihnen immer noch nicht folgen. „Ich weiß nicht. Aber wäre es denn so schlimm, wenn der Professor Erik geliebt hat?“
 „Keine Ahnung.“ Scott zuckt die Schultern. „Aber fändet ihr dass den nicht komisch? Der Professor ist so stark und da kann er doch nicht –“ „In einen Mann verliebt sein?“, beendet Jean den Satz für ihn. Ihr Blick ist hart wie Stein. „Es ist heuchlerisch, dass wir als Mutanten Toleranz von den Menschen verlangen und selbst Intoleranz zeigen, bei Menschen die anders sind.“ Scott scheint unter ihrem strafenden Blick immer kleiner zu werden. „Wie kommst du überhaupt auf die Idee?“, fragt er schließlich, als er es nicht länger aushält, mit einem derart wütenden Blick bedacht zu werden. Er ist rot im Gesicht und meidet direkten Augenkontakt mit Jean. Es mag daran liegen, dass die Stifte auf dem Tisch bei ihren letzten Worten zu zittern begonnen haben. Ein Zeichen dafür, dass ihre Stimmung auf ihre Mutation überschlägt. „Hast du denn noch nicht genug Beweise? Die Art und Weise, wie er über ihn spricht. Sein Blick, wenn er sich an besondere Augenblicke erinnert? Und dann hat er ihn vor Doktor McCoy verteidigt.“ „Und wie kommst du gerade jetzt darauf?“ „Ich weiß nicht. Es war wie eine Ahnung. Der Gedanke war einfach da.“ Ororo fragt sich, ob Jean auch so einen Erinnerungs-Gedanken-Moment erlebt hat, wie sie. Ob sie auch Bilder gesehen hat, die sie vorher nicht kannte. Charles und Erik, jünger und so anders. Sie beschließt, Jean später danach zu fragen. Jetzt genießt sie erst einmal, wie Scott sich immer noch unter Jeans Blicken windet. oOo Ororo denkt in den nächsten Tagen noch oft an Jeans Worte. Und fragt sich, wie sie das nicht gesehen hat. Es ist so offensichtlich. Erik ist mehr als nur ein Mythos. Mehr als nur ein Sinnbild für den aufrichtigen, ehrlichen Mutanten, der für viele ein Vorbild ist, weil stärker ist als seine schreckliche Vergangenheit. (Sie kennen keine Details, der Professor hat sie nie genau geschildert, lediglich angedeutet, aber die Gerüchte füllen die Lücken mit grausamen Szenarios, die Erik nur noch unglaublicher wirken lassen.) Und, was besonders wichtig ist: Erik ist mehr gewesen, als nur der wichtigste Freund des Professors. Charles Xavier hat Erik geliebt. Liebt ihn noch heute. Ororo erwischt sich in den letzten Tagen immer häufiger dabei, wie sie Erik innerlich dafür verflucht, dass er den Professor verlassen hat. Dass er gegangen ist – aus welchen Gründen auch immer. Denn es ist mehr als eindeutig, dass Professor Xavier ihn vermisst. „Ihr braucht zunächst eine Strategie, bevor ihr blind in eine Situation rennt. Es ist, wie im Schach. Erik hat zu Beginn unserer späteren Gewohnheit angenommen, ich würde mithilfe meiner Fähigkeit mogeln. Bis ich ihm an einem Abend auf sehr peinliche Art und Weise gezeigt habe, dass ich es nicht tue. Ich habe mich so sehr von ihm ablenken lassen, dass ich eine offensichtliche Falle nicht als solche erkannt habe und nach beschämend wenigen Zügen ein feixendes Schachmatt akzeptieren musste. Aber die Partien endeten nicht immer so. Sie waren oft verzwickt und langwierig. Ich muss gestehen, dass ich seit vielen Jahren keine annähernd scharfsinnigen Gegner mehr hatte. Aber wo war ich stehen geblieben? Ach ja, Strategien ...“ Es ist sogar so weit gekommen, dass es ihr regelrecht wehtut, Charles zuzuhören, wenn er über Erik spricht. Weil sie jedes Mal meint, den Schmerz in seiner Stimme über den Verlust zu hören, den er vor so langer Zeit erlitten hat. Weil sie das Gefühl hat, jedes amüsierte Schmunzeln und leise Lachen trägt einen Funken Bitterkeit und längst abgekühlte, jedoch nicht vergessene Wut über das eigene Versagen in sich. Das alles mag albern sein, aber für Ororo fühlt es sich real an. Und sie hat früh gelernt, ihrem Gefühl blind zu vertrauen. oOo
 Es ist ein schrecklicher Tag. Sie hat den ganzen Morgen über Kopfschmerzen, weil sie spürt, dass das Wetter umschlagen wird. Ein Unwetter braut sich zusammen und sie sprudelt über vor angestauter Energie. Scott ist heute besonders nervig - er und einige seiner Freunde ziehen sie immer wieder auf, weil sie im Feldunterricht gestern bei Alex einen Baum mit einem Blitz entzündet hat, ohne es zu wollen. Normalerweise würde es sie nicht so sehr stören. Normalerweise würde sie Scott mit einem Blick deutlich machen, dass die Scherze eine Grenze übertreten und er würde aufhören, denn auch wenn er sie gerne ärgert, sind sie doch immer noch Freunde. Heute hat sie nicht die Kraft dazu. Und Jean ist nicht da, sonst hätte sie es für Ororo übernommen und Scott und die Jungen in ihre Schranken gewiesen. Sie ist frustriert, geplagt von Schmerzen und äußerst reizbar. Und am Nachmittag auf der Wiese hinter der Villa, als Alex sie zum dritten Mal auffordert, die Lufttemperatur um sie herum bis auf den Gefrierpunkt zu senken (was sie nicht schafft, egal, wie oft sie es versucht, obwohl es doch so leicht ist) und einige Jungen darüber kichern, scheint etwas in ihr zu brechen. Ein Damm, wie sich herausstellt. (Scott wird ihr später erzählen, dass ihre Augen blendend weiß gewesen sind und dass es sehr eindrucksvoll ausgesehen hat) Sämtliche angestaute Energie entläd sich in einem Gewitter, das über sie hereinbricht, wie eine Naturgewalt. Tiefschwarze Wolken sammeln sich über der Villa und ein plötzlicher Sturzbach ergießt sich über alle Anwesende. Ororo spürt, wie das alles von ihr ausgeht, doch sie hat nicht das Gefühl, es lenken zu können. Ein Blitz zuckt über den Himmel und tiefes Grollen erfüllt die Luft. Immer mehr Blitze zucken über den Himmel. Sie kann es nicht kontrollieren. Es ist nicht das erste Mal, dass ein junger Mutant die Kontrolle verliert, aber es ist etwas anderes, ob aus den Wasserhähnen nur noch grünes Wasser kommt, sämtliche Glühbirnen durchschmoren oder ob ein Gewitter im Begriff ist, alle ihre Mitschüler und ihren Lehrer zu entzünden. Sie sucht nach dem Ort in ihrem Geist, der ihr normalerweise die notwendige Ruhe gibt, um sich zu beherrschen, aber er ist fort und stattdessen klafft dort nur ein großes Loch, das sich immer mehr mit Angst und wachsender Panik füllt. Sie sieht, wie Alex den Jungen und Mädchen bedeutet, sich flach auf den Boden zu pressen, bevor er Anstalten macht, sich ihr zu nähern. Ein Blitz schlägt einige Meter von ihm entfernt im Boden ein und fegt ihn von den Füßen. Ororo weiß, dass ein Blitz nicht direkt treffen muss, um tödlich zu sein. Ihre Wangen sind nass und sie weiß nicht, ob es ihre Tränen sind oder der Regen, der wie kleine Kieselsteine auf sie einschlägt. Hör auf, denkt sie und schlingt die Arme um sich. Hör auf. Ich will das nicht. Noch nie hat sie sich so hilflos gefühlt. Ororo. Und ein Schluchzen entweicht ihrer Kehle, wird verschluckt vom Donner. Ororo, hör mir zu. Achte auf meine Stimme. Der Professor. Der Professor ist da. Alles ist gut. Ich bin bei dir. Niemandem ist etwas passier. Ororo, hör mir genau zu. Such den Ort in dir, der dir Ruhe spendet. Da ist nichts, flüstert sie. Alles, was sie spürt ist die Wut des Gewitters. Eine Wut, die sie nicht mehr haben dürfte. Eine Wut, die unbegründet ist. Aber immer wurde ihr gesagt, sie sei nicht normal. Ihre Eltern haben sie gefürchtet. Die Nachbarskinder haben sie gehasst und sich über sie lustig gemacht. Und sie hat angenommen, dass es hier anders sein würde, aber dann haben Scott und die anderen - Nein Ororo, niemand hasst dich. Erinnere dich. Du hast Freunde hier, die dich lieben - eine Familie. Sie weiß es, sie sollte es wissen, aber sie kann es nicht kontrollieren, sie ist schwach und wütend und so wütend und sie weiß nicht einmal mehr wieso. (Wieso ist sie wütend? Auf wen? Auf sich? Auf die anderen? Auf die Wut?) Eine sanfte Berührung seines Geistes. Dann Bilder. (Jean, Scott und sie selbst, gemeinsam an einem Sommerabend auf der Terrasse. „Ich bin froh, dass ich hier bin“, gesteht sie den anderen. „Denn sonst hätte ich nie so gute Freunde wie euch gefunden.“ Zwei Hände greifen nach ihren und halten sie fest, während sie die Sternschnuppen über sich zählen. „Beste Freunde für immer.“) Denk an den Punkt zwischen Wut und Gelassenheit. Mit einem Mal ist es so eindeutig. Sie sieht sich, Scott und Jean und auf einmal ist da dieses Gefühl, dieser Raum und sie umfasst ihn mit beiden Händen. Der Regen lässt nach. Sie spürt die Präsenz von Charles Xavier und dann fluten mit einem Mal andere Bilde ihren Geist. Zwei Männer, einander gegenüberstehend. Einer von ihnen presst eine Waffe gegen die Stirn das anderen. Ein Grinsen. Ein Zögern. Die Hand mit der Waffe zittert. Der gleiche Ort, nur später. Dieselben Männer. Zu viele Emotionen. Denk an den Punkt zwischen Wut und Gelassenheit. Trauer. Erinnerungen. Freunde. Tränen. Ein weites Meer unter ihnen, das Rauschen der Turbinen in ihren Ohren. Das Ziel so nah. Förmlich spürbar. Dann der eine Moment. Das Tasten. Das Greifen. Der Punkt zwischen Wut und Gelassenheit. Erfolg. Euphorie. Stolz. Lie- Der Strom aus Erinnerungen und Bildern verebbt plötzlich. Es tut mir leid, Ororo. Das wollte ich nicht. Ich habe einen Moment nicht aufgepasst. Ororo steht mitten auf der Wiese, nass bis auf die Knochen, während die Wolken über ihr aufbrechen. Sonnenlicht flutet das Gelände und langsam rappeln sich die anderen auf. Gut gemacht. Der Professor klingt stolz und ein letztes Mal berührt er sie - vorsichtig und behutsam, tröstend - dann zieht er sich zurück. Ein Schatten fällt über sie. „Ororo.“ Alex. Es geht ihm gut. Und obwohl er eben beinahe von einem Blitz getroffen worden ist, gilt seine ganze Aufmerksamkeit ihr. Er packt sie vorsichtig bei den Schultern, sein Gesicht ist gezeichnet von Sorge. Keine Anschuldigung. Keine Wut. „Geht es dir gut? Hörst du mich? Ororo, ist alles in Ordnung? Tut dir etwas weh?“ Keine Wut mehr. Keine Enttäuschung. Erkenntnis. Eine Familie. Die anderen Jugendlichen scharen sich um sie. Scott greift nach ihrer Hand. Sie ist warm. Erinnerungen: Beste Freunde für immer. Ororo lächelt. oOo Es wird Frühling an der Schule für junge Begabte und Ororo feiert dem Beginn ihres zweiten Jahres. Jean schenkt ihr zum Jubiläum eine neue Spange für ihre Haare. Scott hat es vergessen und versucht, ihr ein Comicheft anzudrehen. („Nein, Ororo, das habe ich extra für dich gekauft, weil es mich an dich erinnert hat!“ „Und deswegen hab ich dich schon letzte Woche damit gesehen, als du es nach Henry geworfen hast, weil er dich erschreckt hat?“ „Das war ... ein anderes.“ „Na klar. Ach, nun gib es schon her. Danke, Scott.“) Es kommen immer neue Mutanten an die Schule und langsam werden die Räume knapp. Einige Kinder teilen sich die Zimmer bereits, aber es gibt andere Mutanten, die Einzelzimmer brauchen, bis sie sich kontrollieren können. Und so groß die Villa auch ist, irgendwann muss sie ihr Limit erreichen. An einem späten Abend huscht Ororo über die Flure, weil sie das Abendessen verpasst hat (Jean hat ihr unbedingt zeigen wollen, was die Kontrollstunden mit dem Professor ihr neues ermöglichen und, zugegeben, einen Stuhl nur mit Telekinese schweben zu lassen, ist schon echt imposant, aber Ororo hat dafür jetzt Hunger!) Sie schleicht auf Zehenspitzen und lauscht angespannt, denn sie weiß, was ihr blüht, wenn man sie nach Einbruch der Nachtruhe hier draußen erwischt. In der Küche schmiert sie sich rasch ein Sandwich und während sie es zufrieden kauend vertilgt, wäre sie beinahe an der offenen Zimmertür zu ihrer rechten vorbeigelaufen. Sie erstarrt. Dann macht sie einen Satz nach hinten und presst sich gegen die Wand, denn sie hat den Rücken des Professors in seinem Rollstuhl selbst in der Dunkelheit erkannt. „Es ist albern“, hört sie ihn leise murmeln und ist hin und her gerissen, zu warten oder zu gehen. Wenn sie jetzt zu laut ist, bemerkt er sie. Wenn sie allerdings bleibt, wird er auch mitkriegen, dass sie da ist. So oder so wird er sie registrieren. Also verharrt sie und lauscht seinen Worten. „Nach all den Jahren sollte ich darüber stehen. Aber ich habe wohl nach wie vor gehofft, dass du eines Tages vor der Tür stehst und zurückkommst. Wahrscheinlich hattest du recht, mich naiv zu schimpfen. Und selbst heute bin ich es noch.“ Lange Sekunden verstreichen ohne irgendein Geräusch. „Dieses Zimmer wird gebraucht, Erik. So, wie jedes in diesem Haus. Ich kann es mir nicht mehr leisten, zu hoffen und dabei dringend gebrauchten Raum zu verschwenden. Es ist Zeit, das hier loszulassen.“ Ororo realisiert mit wachsendem Staunen, dass sie über ein Jahr lang, Tag für Tag, an Eriks altem Zimmer vorbeigelaufen ist, ohne es zu merken. Dass sie alle es sind, ohne auch nur zu ahnen ... Sie stößt sich von der Wand ab und – Professor hin oder her, er wird längst wissen, dass sie da gewesen ist und es scheint ihm egal zu sein – eilt mit schnellen, leisen Schritten zurück in ihr Zimmer. Sie rüttelt Jean wach und duckt sich unter dem Kissen hinweg, dass nach ihr geworfen wird. Dann erzählt sie ihr, was sie soeben herausgefunden hat und sie sitzen noch lange auf ihrem Bett und diskutieren darüber, wie man einen Mann, von dem man nicht mehr kennt als seinen Namen, dazu bewegt, wieder zurück zu kommen. oOo Weitere Wochen ziehen ins Land. Der Unterricht wird wie gewohnt fortgesetzt, der Professor erzählt immer wieder von Erik. Sean reagiert abweisend auf den Versuch, mit Ororo und Jean über Erik zu sprechen. Alex sieht sie einen Moment lang perplex an, dann gibt er ihnen mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie gehen sollen. Murrend ziehen sie weiter - auf der Suche nach jemandem, der ihnen Antworten geben kann. „Warum seid ihr beiden so erpicht darauf, mehr über Erik zu erfahren?“, fragt Scott sie einmal und Ororo wird klar, dass sie noch nicht darüber nachgedacht hat. Es ist, als handele sie aus einem Instinkt heraus. „Reichen euch die Geschichten des Professors denn nicht?“ Sie überlegt einige Momente. Jean antwortet zuerst: „Weil er der einzige Mensch ist, der den Professor wirklich glücklich machen kann.“ „Der Professor sieht nicht unglücklich aus.“ „Findest du das wirklich?“, fragt Ororo ungläubig. Ja, der Professor scheint immer zu lächeln und hat für alle freundliches Wort übrig. Er nimmt sich Zeit für jeden, der ein Problem hat und zögert nicht, zu helfen. Er ist ein guter Mensch. Vielleicht zu gut. Aber da ist etwas an ihm, das noch einen anderen Eindruck vermittelt. Nichts Offensichtliches, eher ist es unterschwellig. Der Professor ist ein Mann, der in jungen Jahren einmal alles verloren hat. Aus seinen Erzählungen wissen sie, dass er nicht immer an den Rollstuhl gefesselt war. Zur Zeit von Erik konnte er noch laufen. Ororo hat es deutlich in den Bildern gesehen, die der Professor ihr versehentlich übermittelt hat. Also hat er über die Jahre nicht nur Erik, sondern auch das Gefühl in seinen Beinen verloren. Oft fragt Ororo, ob das fair ist. Aber wann ist das Leben schon fair? oOo Es wird Sommer. Das Grundstück der Schule erstrahlt in seinem satten Grün und viele Einheiten werden nach draußen verlegt. Die Bruderschaft greift an einem der heißesten Tage einen Marinestützpunkt an. Der Professor und einige Erwachsene, darunter Alex und Sean, intervenieren. Der Unterricht wird an diesem Tag weitgehend fortgesetzt, um keine Unruhe auszulösen. Erst am späten Nachmittag hören sie das vertraute Geräusch des Jets und ein Schatten fliegt über sie hinweg. Der Professor ist verletzt. Sean und Alex tragen ihn regelrecht aus der Maschine. Von seinem Rollstuhl ist weit und breit nichts zu sehen. Die jungen Mutanten haben sich alle an den Fenstern des Hauses versammelt und sehen gebannt nach draußen. Es ist ein beängstigendes Gefühl, wenn man realisiert, dass die stärkste Person, die man zu kennen glaubt, verwundbar und demnach sterblich ist. Sie werden zurück zur Ordnung gerufen, doch keiner von ihnen kann sich auf die Aufgaben vorne an der Tafel konzentrieren. Nicht, während sie vor dem Klassenraum das Knurren von Hank und schnelle, gehetzte Schritte hören. Nicht, während jeder von ihnen am äußersten Ende seines Bewusstseins ein dumpfes, schmerzhaftes Pochen spürt, das eindeutig vom Professor stammt, der seine Kraft in diesem Moment nicht ganz unter Kontrolle hat. Viel später an diesem Tag hält Ororo es nicht mehr aus. Sie hat Angst um den Professor. Angst, dass er sterben könnte. Niemand hat ihnen bis jetzt gesagt, was genau passiert ist. Wieder einmal sind Gerüchte alles, was ihnen geblieben ist und die sind ebenso unglaublich wie grauenvoll. Der Professor soll Magneto vor einer Titankugel aus einer modifizierten Pistole beschützt haben. Andere erzählen, Magneto habe eine auf ihn gerichtete Kugel abgelenkt und den Professor bewusst damit getroffen, um ihn aus dem Weg zu räumen. Scott behauptet, Henry hätte von Simon und Neil gehört, der Professor sei von der Telepathin der Bruderschaft mental angegriffen worden, als er auf den Kampf konzentriert gewesen ist und hätte deswegen die Waffe, die auf ihn gerichtet war, zu spät bemerkt. Doch alle haben etwas gemeinsam: Der Professor wurde von einer Kugel getroffen. Es ist weit nach Mitternacht und Ororo beschließt – wieder einmal – auf eigene Faust nachzuforschen. Keiner der Erwachsenen ist bereit, ihnen Informationen zu geben. Sie haben ein gutes Recht darauf, zu erfahren, wie es dem Professor geht. Jean ist der gleichen Meinung und gemeinsam schleichen sie über die Schulflure. Beinahe wäre sie in Sean hineingerannt, wenn Jean sie nicht im letzten Moment an der Hand zurückgezogen hätte. Sie hören einige eilig und leise geraunte Gesprächsfetzen. „- nicht so weit kommen dürfen. Warum ist er überhaupt so weit in den Kampf vorgedrungen?“
- doch wie er ist, wenn es um ihn geht. Und normalerweise hätte er es früh genug gemerkt, aber –„ „- Hank gesagt?“ „Kritisch.“ „- lebenswichtige Organe getroffen?“ „Nein, aber das Fieber gibt uns zu –“ „Verdammt.“ Ein dumpfes Geräusch lässt darauf schließen, dass Alex mit der Faust gegen etwas geschlagen hat. Schließlich entfernen sich die Stimmen. Ororo und Jean sind allein. Sie sehen sich an und sind einer Meinung: Sie müssen den Professor sehen. Es ist egoistisch, aber für jeden von ihnen ist Charles Xavier zu so etwas wie einer Vaterfigur geworden. Ein Lehrer und Mentor. Und zu hören, wie schlecht es um ihn steht, schmerzt beinahe körperlich. Sie verstecken sich hinter der Flurecke zu seinem Zimmer, denn Hank und Rose, ihre Lehrerin für Geschichte und Englisch, stehen vor der geschlossenen Zimmertür. „Er weigert sich, Schmerzmittel zu nehmen. Sagt, es sei zum Schutz der Schüler.“ Hank schnaubt. „Er kann vor Schmerzen kaum klar denken.“ „Und wenn du sie ihm gibst, ohne dass er es bemerkt?“ „Er wird es in meinen Gedanken sehen, noch bevor ich es ihm geben kann. Hätte ich einen Helm wie ...“ Ein tiefes Knurren erfüllt den Flur. „Er würde es merken“, wiederholt Hank und schüttelt den Kopf. „Wieso soll es die Schüler schützen, wenn er Schmerzen hat?“
„Wenn der Professor Morphin oder ähnliche schmerzlindernde Medikamente zu sich nimmt, lässt seine Kontrolle nach. Es tritt dann öfter der Fall ein, dass er projiziert. Leider habe ich es bis jetzt noch nicht geschafft, ein Mittel zu finden, welches das verhindert.“ „Aber bei den Schmerzen die er momentan hat, wäre etwas Projektion das geringste Übel.“ „Ich weiß. Aber er weigert sich. Und selbst in seinem jetzigen Zustand kann ich ihn nicht überwältigen.“ „Passt jemand auf ihn auf?“ „Sein Zustand ist stabil. Er hat um Ruhe gebeten. Derzeit sind es einzig und allein die Schmerzen, die mir zu denken geben, aber er wird überleben. Das Fieber ist eine natürliche Reaktion. Ich werde in einer halben Stunde noch einmal nach ihm sehen. Du solltest schlafen gehen, Rose.“ „Du auch, Hank.“ Sie hebt eine Hand und streicht ihm über die Wange. „Du magst es gut verbergen, aber es ist trotzdem zu sehen, wie müde du bist.“ „Ich werde später schlafen.“ Dann ist der Flur verlassen und das ist ihre Chance! Sie schleichen zur Tür des Professors und Ororo gibt Jean mit einer Geste zu verstehen, jetzt bloß keinen Laut von sich zu geben, bevor sie die Klinge runter drückt. Das Schloss springt auf, doch noch bevor sie die Tür aufdrücken können, ertönt ein leiser Knall im Zimmer, auf der anderen Seite des Holzes. Sie erstarren. „Danke, Azazel. Komm bitte in einer Stunde zurück.“ „Da.“ Wieder der leise Knall, dann Stille. Alles erdrückende, furchtbare Stille. Jean sieht Ororo von der Seite an und in ihrem Blick liegt die Frage: Was zum Teufel ist da passiert? „Charles.“ Sie zucken zusammen, denn es ist wirklich jemand im Zimmer des Professors. Aber wie -? Und warum -?! „Du und die Kugeln. Es ist, wie vor neun Jahren. Wieder stehe ich an deinem Bett. Und weiß nicht, was dir die Kugel dieses Mal genommen hat. Was hast du denn noch zu verlieren? Du spürst deine Beine doch längst nicht mehr.“ Wieder ein flüchtiger Blick. Wer immer es ist, er war dabei, als der Professor an den Rollstuhl gefesselt wurde. Etwas schabt über den Boden, vermutlich ein Stuhl, der an das Bett gezogen wird. „Ich muss keine Gedanken lesen können, wie du, um zu wissen, dass die anderen mich für verrückt halten, weil ich ... besorgt war.“ Das Wort wird ausgesprochen, wie eine Krankheit. „Azazel ist schlau genug, nicht über mich zu urteilen. Er ist loyal. Wie ist es bei dir, Charles? Was machen die Kinder?“ Ein Schnauben. „Sie sind längst keine Kinder mehr, nicht wahr? Vor neun Jahren mochten sie es noch gewesen sein. Heute sind sie Krieger, genau wie wir. Genau wie die zukünftigen.“ Wieder Stille. „Vielleicht hilft es dir, zu wissen, dass ... My-Raven ebenfalls in Sorge um dich war. Sie weiß jedoch nicht, dass ich hier bin. Sie würde es nicht gutheißen.“ Raven? Den Namen hat keiner von ihnen jemals vorher gehört. Und woher kennt sie den Professor? „Im Grunde ist es lächerlich. Das alles. Siehst du es denn nicht, Charles? Diese Schule, das Versteckspiel. Wovor sich verstecken? Was verstecken? Dass wir die Zukunft sind? Dass wir besser sind. Wir sind die besseren Menschen, Charles. Das ist es, wovor sie alle Angst haben.“ Und diese Worte, dieser eine Satz, lässt Ororo und Jean schlagartig begreifen, wer in diesem Moment neben dem Bett des Professors auf einem Stuhl sitzt und mit ihm redet: Erik. Es ist Erik. „Was muss passieren, damit du es endlich begreifst? Müssen sie erst diese Schule angreifen und die jungen Mutanten vor deinen Augen aus Angst und Hass erschießen? Müssen die Menschen erst einen Genozid an den Mutanten beginnen, ehe du deine Meinung revidierst und endlich die Wahrheit siehst? Wann wirst du aufhören, an einen falschen Glauben fest zu halten?!“ „Sobald ich meinem Glauben an dich verliere, mein Freund.“ Die Stimme des Professors ist schwach und von Schmerz gezeichnet. „Ich dachte, dass hättest du längst“, bemerkt Erik nüchtern. Wenn die Antwort ihn überrascht hat, so lässt er es sich nicht anmerken. „Oh nein, Erik. Das habe ich nicht. Nach all den Jahren glaube ich noch immer an dich. Ich glaube an dem Mann, den ich vor neun Jahren aus dem Wasser gezogen habe, als er sich mit allem, was er hatte, an ein sinkendes U-Boot klammerte.“ „Zu diesem Zeitpunkt war bereits klar, wie alles enden würde.“ „Wie kann es das gewesen sein? Es gab so viele Momente, in denen du die Chance gehabt hast, zu gehen. Denk an die erste Nacht zurück. Es stand dir frei, doch du entschiedst dich, zu bleiben.“ „Weil es für den Moment am sinnvollsten war.“ „Mach dir nichts vor, Erik. Du bist geblieben, weil das, was es dir brachte, mehr wert war, als zu gehen. Freunde. Familie.“ Mich. Der Gedanke ist so laut, als hätte Charles ihn ausgesprochen. Erik geht nicht darauf ein, als hätte er ihn nicht gehört. „Es hat seinen Zweck erfüllt. Shaw ist tot. Mehr habe ich nie gewollt.“ „Warum dann nicht heimkehren? Warum nicht –“ „Heimkehren?“, echot Erik und in seiner Stimme liegen Hohn und Spott. „Heim? Mein Heim wurde mir genommen von den Nazis. Von Shaw. Alles, was ich hier hatte, war ein kurzzeitiger Ersatz. Nicht mehr.“ „Das kannst du doch selbst nicht glauben. Die Kinder haben dich bewundert. Sie hatten Respekt vor dir und sahen zu dir auf.“ „Sie haben noch heute Respekt, Charles.“ „Respekt ist nicht das Gleiche wie Feindseligkeit.“ „Es erfüllt denselben Zweck.“ Charles muss versucht haben, etwas darauf zu erwidern, doch nur ein schmerzerfüllter Laut ist zu hören. In Eriks Stimme liegt eine seltsame Anspannung, als er das nächste Mal spricht: „Du solltest dich nicht überanstrengen. Die Verletzung ist zwar nicht lebensgefährlich, aber kritisch.“ „Das habe ich ... schon einmal gehört.“ Charles Stimme ist gepresst, aber nicht verärgert. „Charles.“ Dieses Mal liegt so viel Emotion in dem einen Wort, dass Ororo im ersten Moment nicht glauben kann, dass es noch immer Erik ist, der mit ihm spricht, nachdem er in den letzten Minuten so feindselig gewesen ist. „Bitte, Erik. Ich habe dir schon vor langer Zeit gesagt, dass es nichts zu vergeben gibt. Ich bereue das, was ich dir damals gesagt habe. Es war niemals deine Schuld. Bitte hör auf, dich deswegen zu quälen.“ Wenn ich etwas ändern könnte, dann würde ich verhindern, dass du von der Lähmung erfährst. So viel Schuld sollte niemand empfinden müssen, mein Freund. Der Stuhl knarrt, dann erfüllt das Rascheln von Stoff den Raum. Erik hat sich wahrscheinlich zum Professor hinab gebeugt. „Es hätte nicht so weit kommen müssen.“ Seine Worte sind so leise, dass Jean und Ororo die Ohren mit aller Kraft gegen das Holz pressen müssen, um etwas zu verstehen. „Alles, was du hättest tun müssen, war, meine Hand zu nehmen und mit mir zu kommen.“ „Erik, du glaubst nicht, wie schwer es mir gefallen ist, dich gehen zu lassen.“ „Warum dann bleiben? Warum, Charles? Warum ein Leben führen, das so nicht hätte kommen müssen?“ „Weil jemand von uns an die Menschen glauben muss.“ „Wieso?! Wenn sie in Momenten, in denen sie zeigen können, was sie deiner Meinung nach auszeichnet, doch wieder nur Befehlen folgen, obwohl sie ach so gute Menschen sind?! Wieso haben die Menschen deine Loyalität mehr verdient als ich?“ Die letzten Worte sind nur noch ein Raunen in der Dunkelheit. Chalres Gedanken sind klar und deutlich: Du hast so viel mehr als meine Loyalität, Erik. So unendlich viel mehr. „Die Menschen können sich bessern. Sie können lernen, uns zu akzeptieren.“ „Nachdem sie uns ausgelöscht haben. Wirst du es erst begreifen, wenn es zu spät ist? Soll ich erst zulassen, dass sie dich töten? Willst du mir das auch noch aufbürden, Charles? Glaubst du, das würde ich ertragen? Shaw ist eine Sache, aber das ...“ Einen Moment lang klingt er wie ein gebrochener Mann. „Es tut mir leid, Erik.“ Wieder das Rascheln von Stoff und dieses Mal ist Ororo sich sicher, Tränen in der Stimme des Professors zu hören Sie stellt sich vor, wie Charles Eriks Hand umklammert und sie gegen seine Lippen presst. „Es tut mir so unendlich leid. Ich wünschte, du hättest das nicht erleben müssen. Ich wünschte, niemand hätte das. Ich wünschte, die Menschen hätten deinen Glauben verdient, aber ich weiß, dass sie es nicht tun. Darum muss ich an sie glauben. Denn wer bleibt ihnen noch?“ „Du bist noch immer genauso arrogant wie früher, Charles.“ Bei diesen Worten hat Erik seine Hand wohl zurückgezogen. „Vieles ist wie früher, Erik.“ „Unsere Unfähigkeit, zu einer gleichen Meinung zu kommen?“ „Nein, Erik.“ Was ich fühle. Was du fühlst. Es ist noch immer das gleiche. Doch wieder geht Erik nicht auf diesen eindeutigen Gedanken ein und Ororo fragt sich, wieso es ihn so unberührt lässt, wenn der Professor doch offensichtlich mehr als nur die Hand nach ihm ausstreckt. Wie kann Erik das einfach ignorieren?! „Wie soll es jetzt weiter gehen?“, fragt er schließlich. „Sind wir dazu verdammt, ewig so weiter zu machen?“ „Es gibt so viele Möglichkeiten, mein Freund. So viele Optionen.“ „Leere Worte, Charles. Wir können gar nichts tun und du weißt es. Du hast deine Rolle und ich meine. Niemand wird es verstehen. Nicht Raven, Hank, Sean oder Alex. Und was ist mit den jungen Mutanten? Was willst du ihnen sagen? Wer soll ich für sie sein?!“ Erik. Einfach nur Erik. Das wäre mehr als nur genug. „Ich sehe, du hast selbst keine Antwort darauf.“ Aber die hat er doch! War Erik taub oder warum hörte er nicht auf den Professor?! Wollte er es nicht wahrhaben? Jean scheint das gleiche zu denken, denn ihr Blick ist nicht minder fassungslos. „Erik.“ „Nein, Charles. Es war ein Fehler, hierher zu kommen. Ich sehe, dir geht es schon viel besser. Ich bedauere, dass du wieder verletzt werden musstest, aber es war deine – “ „Bitte, Erik.“ Ein gequälter Laut dringt durch den Spalt in der Tür. Ororo kann durch das Schlüsselloch von hier aus sehen, dass der Professor sich trotz Schmerzen aufgerichtet und nach Eriks Hand gegriffen hat. Sie selbst kann Erik von hier aus so gut wie gar nicht sehen. Es ist zu dunkel und das Schlüsselloch zu klein. „Bitte.“ Charles hält die Hand fest, als wäre sie ein Anker. Sie ist alles, was ihn in diesem Moment noch aufrecht hält, denn seine Beine können ihm unmöglich irgendwelchen Halt geben und die Verletzung muss ihm unglaubliche Schmerzen bereiten. „Charles, ich ...“ Und nun liegt deutliches Zögern in Eriks Stimme. Es ist, als wüsste er genau, was der Professor meint, dabei kann Ororo sich nicht daran erinnert, dass überhaupt eine Frage gestellt worden ist. „Ich werde nichts tun, ich schwöre es dir. Es ist nur ... diese Leere.“ Er presst sich Eriks Hand gegen die Wange. „Bitte, Erik. Diese Stille bringt mich um.“ „Es geht nicht, Charles. Du weißt, wieso.“ „Ich werde nach keinen Plänen suchen. Verdammt“, es ist das erste Mal, dass sie den Professor fluchen hören, „wenn du mir dann glaubst, werde ich dir Informationen von uns verraten, aber bitte, Erik! Nur dieses eine Mal.“ „Du weißt genau, dass du diese Schule dafür nicht in Gefahr bringen würdest. So egoistisch bist du nicht Charles.“
 Doch, das bin ich, Erik. Du weißt nicht, wie egoistisch ich bin. Du fehlst mir. So sehr. Bitte Erik. Bitte, nur ein einziges Mal möchte ich wieder – Und das vollkommene Ausbleiben irgendeiner Reaktion auf diese Worte, auf dieses Geständnis, lässt Ororor und Jean zu einer furchtbaren Erkenntnis kommen: Es ist nicht so, dass Erik Charles ignoriert. Er kann ihn nicht hören! Soweit sie wissen, gibt es nur einen einzigen Menschen auf der Welt, der immun gegen Charles Xaviers Telepathie ist: Magneto. Und als wollte das Schicksal ihnen den unumstößlichen Beweis für ihre Feststellung geben, sieht Ororo nun durch das Schlüsselloch, wie Erik sich von Charles näher ziehen lässt, bis er vor ihm auf dem Bett kniet. Der magentafarbene Helm glänzt im Mondlicht. Ororo ist mit einem mal eiskalt. Alles ergibt plötzlich Sinn. Die Reaktion der anderen Erwachsenen auf die Frage nach Erik. Das bewusste Verschweigen von Eriks Mutation – es gibt nur einen Mutanten, der Metall beherrscht. Und letztendlich die Trauer des Professors über Eriks Abwesenheit. Über seinen Verlust. Erik existiert nicht mehr. Stattdessen gibt es nur noch Magneto. „Ich verspreche dir alles, Erik. Nur dieses eine Mal, bitte!“ Erik – Magneto – löst seine Hand aus dem Griff des Professors. Sie verharrt einen Moment, greift schließlich nach dem Helm und streift ihn langsam, so unendlich langsam, von seinem Kopf. Wilde Emotionen streifen Ororo und Jean: Angst, Hoffnung, Unglauben, Freunde, Erleichterung, Liebe. Sie gehören alle Charles. Und dann umfasst er Eriks Gesicht mit seinen Händen und zieht ihn so nahe, bis ihre Stirnen sich berühren. Diese Geste ist so unbeschreiblich intim und innig, dass Ororo hilflos nach Jeans Hand tatstet und sie fest drückt. Sie hört die Stimme des Professors nicht mehr in ihrem Kopf. Sie braucht nicht wieder durch das Schlüsselloch zu sehen, um zu wissen, bei wem seine Gedanken in diesem Augenblick voll und ganz sind. oOo Die Genesung von Professor Xavier geht stetig voran. Gestern hat er zum ersten Mal sein Zimmer wieder verlassen können. Nur unter der strengen Beobachtung von Hank, aber immerhin. Er ist nach wie vor noch nicht in der Lage, wieder zu unterrichten, aber er hat den Schülern mit seiner Präsenz gezeigt, dass es ihm gut geht. Dass er überleben wird. Er hat ihnen die Hoffnung zurückgegeben. Ororo hat noch immer nicht ganz verkraftet, was sie in der Nacht vor vier Tagen vor der Tür des Professors erfahren hat und sie weiß, dass es Jean genauso geht wie ihr. Sie haben es Scott nicht erzählt. Sie haben es niemandem erzählt. Sie werden es wohl auch niemals irgendwem erzählen. Erik ist Magneto. Magneto ist Erik. Der Mann, von dem der Professor im Unterricht lustige, lebendige und liebevolle Anekdoten erzählt, ist draußen in der weiten Welt einer ihrer ärgsten Gegner. Der Anführer der Bruderschaft. Wie können zwei so unterschiedliche Personen in Wahrheit ein und dieselbe sein? Wie ist das überhaupt vereinbar? Doch dann erinnert sich Ororo an den Moment, in dem sie einen Bruchteil lang Erik durch die Fassade von Magneto hat scheinen sehen (zwei sich berührende Stirnen, geschlossene Augen, vermischte Atem. Ein Lächeln aus vergangener Zeit) und die Wahrheit ist mit einem Mal gar nicht mehr ganz so unglaublich. Sie kann bis heute nicht sagen, ob der Professor mitbekommen hat, dass sie und Jean an dieser Nacht vor seiner Zimmertür gestanden haben. Es würde sie nicht überraschen, wenn er es nicht einmal gespürt hat. Dafür war er viel zu überwältigt gewesen, von den auf ihn einströmenden Gedanken Eriks. Ororo findet schließlich eine eigene Art von Frieden mit der Erkenntnis. Jean gesteht ihr irgendwann, viel später, dass es ihr nach dem ersten Schock erstaunlich leicht fiel, die Wahrheit zu akzeptieren. Vielleicht liegt es daran, dass sie es irgendwo geahnt haben. Vielleicht ist es aber auch nur der Umstand, dass sie gesehen haben, wie tief die Gefühle der beiden füreinander gehen und wie ungerecht sie es finden, dass Charles und Erik – Professor X und Magneto - durch ihre unvereinbaren Ansichten gezwungen sind, dieses Leben zu führen. Darum beginnen beide Mädchen, die Geschichten des Professors über Erik, seinen Erik, wieder zu genießen. Hin und wieder sehen sie sich an und wechseln einen vielsagenden Blick, der etwa so viel heißt, wie – wie können wir die einzigen sein, denen auffällt, dass der Professor total in Erik verknallt war? – doch die meiste Zeit lachen sie mit den anderen Schülern und mit Charles Xavier über Erik. Den stärksten Mutanten, den es für sie gab. Den wichtigsten Menschen im Leben des Professors. Ihren vergangenen Helden. * [end] * * * * * * Es ist Herbst und die Bäume verlieren ihre Blätter. Die Landschaft um die Schule für Hochbegabte herum erstrahlt in bunten Farben. Storm träumt meist von Unwettern und Regen. Von Chaos und Freiheit. Manchmal, wenn es ruhig ist und die Bruderschaft lange keinen Angriff auf die Menschen verübt hat, träumt sie von einer heilen Welt. Es türmen sich Blätterhaufen auf der Wiese, unter den Bäumen, neben dem Eingang. Die Kinder werfen sich immer wieder gegenseitig hinein, lachen und kreischen. Laub wirbelt durch die Luft und bricht das Licht der tiefen Nachmittagssonne. Sie bemerken den Mann erst, als unmittelbar hinter ihnen steht. Sie halten in ihrem Toben inne und starren ihn an. Und es ist nicht der Fremde, der sie in ihren Bann zieht, sondern der Gegenstand unter seinem rechten Arm: Ein Helm. Die Kinder sind noch zu jung, um die Bedeutung dahinter zu verstehen. Storm kennt sie sehr wohl. Sie verlässt mit schnellen Schritten das Haus und stellt sich zwischen die Kinder und Magneto. Oft genug stand sie ihm in Kämpfen gegenüber, oft genug hat sie ihn verflucht. Oft genug hat sie sich gewünscht, er hätte Charles nie verlassen. „Was willst du?“ Die Kinder versuchen neugierig an ihr vorbei zu schielen. Sie steht im Weg, denn so können sie den Helm nicht mehr sehen. Auf seiner Stirn sind kleine Hörner angebracht, die geradezu danach rufen, berührt zu werden. Die Augen des Mannes richten sich auf Storm und Erkennen streift für einen Moment durch die dunklen Tiefen, die gezeichnet sind von Schmerz und Zeit. So viel Zeit. Sie erhält keine Antwort. Tatsächlich hat sie keine erwartet, aber sie traut sich nicht - wagt es nicht - ihre Gedanken in Worte zu fassen. Die Hoffnung zu äußern, die sie beim Anblick des Helmes in Magnetos Hand übermannt hat, wie eine unsichtbare Macht. Ob Logan sich jedes Mal so hilflos gefühlt hat, wenn Magneto sein Adamantium-Skelett kontrollierte? „Erik.“ Sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der Professor die neue Präsenz bemerken würde. Dass er nicht anders konnte, denn es bedeutete, dass die fortwährende Lücke in seinem Geist sich nun endlich geschlossen hat. Bitte, Erik. Diese Stille bringt mich um. Die Erinnerung an Worte aus eine Zeit, die so viele Jahre zurück liegt. Und die Stimme, dieses Wort, dieser Name, löst eine Reaktion im Gesicht des Mannes vor ihr aus. Die Falten scheinen für einen Augenblick zu verschwinden und der Mund teilt sich zu einem einzigartigen, noch nie gesehenen Lächeln. Storm erinnert sich. Er hatte ein sehr ansteckendes Lachen. Hank und Sean fanden es zwar unheimlich, aber wenn ihr Erik jemals hätte lächeln sehen, dann wüsstet ihr, was ich meine. Sein Lächeln war berauschend. Wie recht der Professor hatte. Sie kann nicht glauben, dass vor ihr der gleiche Mann steht, der der Welt eine Zukunft aus Zerstörung und Hass bereiten wollte. Mit wenigen Schritten ist er am Eingang der Villa und steht schließlich unmittelbar vor dem Rollstuhl. Er greif mit beiden Händen nach dem Helm und hält ihn Charles entgegen. So viele Emotionen zeichnen sich auf dem Gesicht des Professors ab, als er danach greift. Dann lässt er ihn gleichgültig neben sich auf den Boden fallen. Seine Arme umschlingen Eriks Schultern und er zieht ihn an sich. Erik. Jeder von ihnen hört es. Doch das ist egal, denn es geht nur darum, dass einer es hört und Storm kann genau sehen, dass Erik es tut, denn seine Augen erhellen sich und er neigt den Kopf. Sie wünscht sich, sie könnte seine Antwort hören, aber ihre Vorstellung gibt ihr einen guten Eindruck: Ich bin zuhause. Normalerweise wacht sie in diesem Moment immer auf. * Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)