Extravaganza von Sengo-sun ([HolmesxWatson]) ================================================================================ Kapitel 26: Ein Gespräch über Feinde und Geliebte ------------------------------------------------- Woyzeck starrte in die Leere. Irgendwo in der Ferne der Welt lachten Menschen. Er blinzelte. Manchmal war er sich nicht mehr so sicher, wann er sich erinnerte und wann er im jetzt war. Nochmal hörte er das Lachen. Es klang vertraut. Träge hob er den Kopf, legte ihn schief und betrachtete den lachenden Körper. „Sie sind doch alle tot – nicht wahr…“ Der Vater hatte einst etwas gesagt: Tote, die lebten. Ruckartig stand Woyzeck auf. Laub raschelte, während er davon lief, Bäume rauschten an ihm vorbei. Lachen in seinem Kopf dröhnte. Einszweidrei… Einszweidrei… Tamtatam- tamtatam… Er blieb stehen und seufzte. Er musste weitermachen, stillstehen half nichts. Langsam drehte er sich um und sah zurück zu den lachenden Gestalten. Junge Gesichter, braune Locken, Sommersprossen… Aber eigentlich waren sie doch alle tot, oder? Wieder hörte er einen Walzer im Kopf. Mit gepresstem Atem drückte er sich gegen einen Baum. Da waren noch mehr Menschen, doch er wagte es nicht ihnen in die Augen zu sehen – es brachte Unglück… „Geht es ihnen nicht gut?“ Woyzeck zuckte zusammen und blickte in das Gesicht eines jungen Studenten. Er war auch einst so jung gewesen – und so unschuldig, so naiv… „Oh, bald schon.“, murmelte Woyzeck und die Stimmen. Zum ersten Mal seit langem waren er und der Choral in seinem Kopf sich einig – absolut. Er lächelte. Gelinde gesagt, war es abgründig zermürbend. Einfach gesprochen war es eine Woche, die alles beinhaltete: Mord, Totschlag, Verstümmelung, sadistische Neigungen, Anstiftung, postmortale Gewaltzufügung und noch vieles mehr und all diese Untaten bekam ich ab, beziehungsweise mein Geist. Alles in einer geballten Woche, was auf einen Geist einwirken konnte, rammte sich in meinen Schädel. Da gab es die ältere Dame, die ständig neues Morphium verlangte – wegen ihrer Schmerzen. Ebenso gab es den hyperaktiven Jungen, der erneut mit gebrochenen Gliedmaßen erschien und freudig weitertobte. Plus die überbesorgte Mutter, die mehrfach promoviert hatte, mehr Doktortitel im imaginären Namen trug als man selbst und bereits an der zehnten Dissertation schrieb. Natürlich wusste sie es mit böswilliger Konstanz besser als ich. Vor dem Fall des Barons, hätte ich dies mit Gutdünken runterschlucken können und es irgendwo zwischen anderen gedanklichen Papieren abgeschrieben. Aber es gab nun mal den Fall des Barons. Und mit ihm all die Blessuren, die sich mit jedem neuen Sonnenaufgang anhäuften – vor allem jedoch die seelischen. Selten kam ich mir so schrecklich wund vor, ohne wirkliche Verletzungen davonzutragen. Ich stand im Bad und betrachtete mein Spiegelbild. Man kann nur schwerlich fassen, was geschieht, wenn man sich selbst sieht. Nicht dieses flüchtige Bild in Fensterscheiben oder das müde Antlitz am Morgen, sondern zum ersten Mal sich selbst, gespiegelt von einer verdrehten Welt, wo rechts zu links wird. Blaue Augen, gräulich von den letzten Strapazen, glitten über ein fahles Gesicht. Jede Pore meines Körpers strahlte etwas Verletztes aus – etwas Wundes, Abgebranntes. Ich spürte, dass ich mich immer mehr im Anblick eines Abgrundes verlor, ohne es zu wollen – man spielte mit mir, ohne mir körperlich etwas anzutun. Es war ärgerlich. Wütend schlug ich gegen das Waschbecken, krallte meine Finger darum und presste die Lider aufeinander. Ich hörte wie mein Atem den Raum ausfüllte – abgehakt, unregelmäßig. Ein undefinierbares Geräusch entschlüpfte meinem Mund, während mein Körper langsam seine Spannung verlor. „Es bringt nichts, die Fassung zu verlieren, John.“, rief ich mich selbst zur Raison. Nein, es brachte wirklich nichts, sich dem wirren Chaos der Gedanken zu ergeben, weil dahinter etwas lauerte, dass deutlich schlimmer war. Tief atmete ich ein und stieß die Luft langsam wieder aus. Dann hob ich den Blick und betrachtete mein Spiegelbild erneut. Da stand ein Entschluss in der Sphäre zwischen Spiegelwelt und Realität. Er war deutlich zu spüren. Ruckartig drehte ich den Wasserhahn auf, spritzte mir das kühle Nass ins Gesicht, ehe ich das Bad und die Wohnung verließ. Noch während ich die Haustür schloss und auf die Straße trat, glaubte ich den bohrenden Blick meines Wohngenossen im Rücken zu spüren. Londons Straßen führten mich fort, weg von der Baker Street tief ins Getümmel, wo das urbane Herz stetig schlug. Bis ich vor dem Hotel stand, floss die Zeit nur träge, während der Himmel spöttisch zu weinen schien. Durchnässt und mit hochgezogenen Schultern stand ich vor dem prächtigen Gebäude und wusste nicht so recht, wie man mich einlassen würde, ohne direkt Scottland Yard zu informieren. Da trat er heraus. Alleine, in einem eleganten Sakko aus schwerem Stoff, sowie einer Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger geklemmt. Das Feuerzeug schnappte auf und erleuchtete – ich zuckte innerlich zusammen- Züge, die blass vom stetigen Entgegenblicken waren, ausgezehrt als wäre der Baron nichts mehr als ein lebender Toter. Er sah mich und winkte leicht. „Der Hund erscheint ohne sein Herrchen?“ Sardonisch lächelte er, während er seine Zigarette entzündete. „Bitte?“ – „Tun sie doch nicht so, Doktor, sie wissen genau was und wie ich es gemeint habe. Darf ich ihnen auch eine anbieten?“ Er beobachtete meine Miene. Wortlos steckte er das Päckchen Zigaretten weg. „Sie wollen Antworten.“ „Nein.“ Erwiderte ich knapp. Erstaunen erhellte die fahlen Züge. „Nicht? Ist das nicht etwas unlogisch?“ „Sherlock kennt die Antworten.“ Der Baron lachte leise. Rauch kringelte sich aus seiner Nase und er wirkte wie ein dämonisches Fabelwesen aus einem dunklen Alptraum entsprungen. „Das wiederum ist Trägheit.“ „Ist es das? Ich habe gelernt, dass Sherlocks Wahnsinn Methode hat, aber ihrer scheint mir recht suspekt, Herr Baron“ „Jeder Wahn hat seine Methode, werter Doktor. Ob sie ihnen nun vertraut erscheint oder nicht. Aber wie kommt es, dass sie mich als wahnsinnig erachten?“ Der Baron fixierte mich, ich spürte seinen Blick, wie er sich in jede Faser meines Körpers einbrannte. Da lag eine ebenso verschlingende Finsternis in seinen Augen, wie ich sie bei Sherlock gesehen hatte – nur fehlte dem Baron etwas, was ich einzig in den grauen Iris entdeckt hatte: ein Hauch Wärme. Der Baron unterbrach mich, ehe ich überhaupt zur Antwort ansetzen konnte: „Ihr Instinkt, nicht wahr? Gut. Es ist sehr gut, dass sie ihm vertrauen.“ Er zog erneut an der Zigarette. „Ich fürchte, dass sie nicht erpicht darauf sind mit auf mein Zimmer zu kommen.“ Fragend hoben sich elegante Brauen. Ich hob das Kinn und sah dem Baron entschlossen entgegen. Er legte den Kopf leicht schief, ehe er sich nach vorne beugte, sein Gesicht nahe dem meinem brachte und mich mit kühlen Augen studierte. „Ich lebe seit langem mit einem Wahnsinnigen zusammen, der mehr ist als dies und definitiv mehr als ein Genie. Er ist etwas Besonderes, aber auch jemand mit soziopathischer sowie psychopathischer Eigenschaften. Außerdem ist er ein Meister der Kunst der Deduktionen.“, zischte ich, während mein Körper sich alarmiert anspannte. „Wollen sie mir weiß machen, dass sie mir gewachsen sind, Doktor?“ Murmelnd streiften diese Wörter mein Gehör. Ich schluckte. „Es mag sein, dass nicht jeder so unübertrefflich ist wie Sherlock. Auch dass jeder in seinem Umfeld, dank seiner Genialität dumm oder gar dämlich wirkt, aber ich bin nicht blöd. Ich bin mir absolut sicher, dass sie mehr Leichen im Keller haben als Woyzeck. Und ich weiß, dass sie eine wichtige Rolle in diesem verkappten Spiel haben.“ „Ja, John. Das mag sein.“ Ich erschauerte, als er meinen Namen aussprach. Es klang so endgültig, als stünde vor mir bereits ein Verstorbener. „Sie sollen wissen, dass ich sie keineswegs unterschätze. Im Gegenteil, ich schätze sie sehr. Aber mir ist auch bewusst, was am Ende auf sie wartet. Es gibt Dinge, die in eines geliebten Menschen schlummern, die alles verändern.“ Er strich bei diesen Worten meine Jacke glatt. Kälte floss plötzlich in meinen Adern und ich begann zu frieren. Vor mir stand jemand, der womöglich mehr Blut an den Händen hatte, als ich nach einer Splittergranatendetonation. „Passen sie gut auf. Denn jedes Objekt wirft einen Schatten, welche Art dieser entspricht, stellt sich meist erst im letzten Moment heraus, denn solange die Sonne im Zenit steht, gleichen sich alle Schatten.“ Der Baron betrachtete den Regen, ehe er sich von mir abwandte. Abschließend hörte ich ihn leise sprechen: „Manche Feinde sind die eigenen Liebsten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)