Extravaganza von Sengo-sun ([HolmesxWatson]) ================================================================================ Kapitel 18: Getrocknete Feigen ------------------------------ Was war passiert? Mirco stöhnte. Irgendwo war Schmerz, tiefer, dumpfer Schmerz, der pochend seinen Körper schüttelte. Er war gelaufen, immer weiter, immer tiefer in die engen Gassen Londons. Und dann? Mirco drehte sich auf die Seite. Gerüche reizten seine sensiblen Sinne. Erde, Moder, das bittere Aroma der Fäulnis. War er in der Kanalisation? Die Katakomben? Gab es diese überhaupt? Dann schmeckte Mirco Blut. Er wollte die Augen öffnen, doch sie wirkten viel zu schwer. „Wiegelkind, Wiege, weige, Zwetschgenzweige…“ Die Stimme ließ ihn vor Panik erstarren. O, Gott, er war in Woyzecks Hände geraten. Mircos Atem pfiff in rascher Reihenfolge in seinem Ohr. Wie konnte das alles passieren? Er versuchte sich zur Raison zu bewegen, einigermaßen klarer zu denken. Keine Seile verband seine Handgelenke, Beine ebenso wenig. „Wach auf, Mirco.“, deutlich wurden die Worte gezischt. Ruckartig drehte sich Mirco auf den Rücken und wollte zu schlagen, doch er erstarrte. Er hatte gedacht in die Augen eines Wahnsinnigen zu blicken sei nicht besonders schlimm. Doch es stimmte nicht. Da lag ebenso jene grausige Dunkelheit verborgen, wie bei Mircos ‚Chef‘. Woyzeck starrte ihn ausdruckslos an. „Er weiß es nicht, nicht wahr? Böser Junge, geht einfach ohne ein Wort zu sagen, tze.“ Missbilligend schnalzte Woyzeck mit der Zunge, dann griff er Mirco grob am Kragen und zog ihn mit einer immensen Kraft auf die Beine. Mirco wollte mehr sehen, als den Wahnsinn in diesen abgründigen Augen, doch Woyzeck hatte sich gut positioniert. Mirco wusste nicht wo sie waren, aber es schien eindeutig Woyzecks Versteck zu sein. „Keine Angst… es liegt nicht in meinem Interesse dich zu töten… nicht jetzt, vielleicht auch nie…“ Irgendwie schwang in seinen Worten noch etwas gänzlich anderes mit. Woyzeck meinte mit ‚töten‘ mehr als nur einen schlichten Mord. Er ließ Mirco los, tätschelte ihm die Wange. „Es ist besser wir bringen dich wieder auf die Oberwelt.“ Er kicherte und Mirco glaubte, dass dieser Laut ihn auf ewig in den Träumen verfolgen würde, er schnürte ihm jegliche Eingeweide zusammen. Plötzlich holte Woyzeck aus und rammte dem Jungen etwas Spitzes in den Hals. Mirco keuchte gurgelnd, dann wurde alles um ihn herum irgendwie lahm, zäh, träge, uninteressant. „Väterchen, mästen, fressen…“ Woyzeck begann munter ein Lied zu summen, während er den schlaffen Körper Mircos wegzerrte, fort von seinem kleinen Loch, hoch zurück zur Oberwelt. Woyzeck kicherte, während gleichzeitig Tränen seine Wangen herabliefen. „Sherlock?“ „Hmm… Nein, John, keine Gedanken…“, zischte mein Kollege hinter seinen Händen hervor. Sein Blick glitt ruckartig von einem Detail am Kopf zum nächsten, kurz weiteten sich seine Pupillen, dann hörte ich ein leises Ah!, bis: „Interessant. Also ein Spiel und dies ist eine Einladungskarte…“ – „Inwiefern?“ Verwirrt betrachtete ich den Hinterkopf des Toten. Sherlock stöhnte genervt auf. „Ich geben zu, dass dies einmal nicht offenkundig ist, sondern recht subtil… beinahe abstrus. Aber zu aller erst: siehst du den Schnitt, nicht gerade, etwas zu brutal… anscheinend war da jemand ziemlich ungeduldig, oder?“ Graue Augen sahen auf, abwartend wurde eine Braue gehoben. „Oder er musste sich beeilen?“ – „Kein Fragezeichen, sondern Punkt. Ja, der Täter musste sich beeilen, was heißt, dass er fast im selben Zeitraum in Hospital gewesen ist, wie wir. Denn während du erneut gegangen bist, ohne etwas zu sagen, blieb ich bis… zwei Uhr dort und als ich gegangen bin, kamen die Reinigungskräfte. Was heißt, dass entweder wir und Molly ihn störten, oder die Putzkolonne, viel wahrscheinlicher ist, dass er selbst ein Teil davon war, was auch dieser Fleck am Kiefer des Kopfes verdeutlich: der Täter muss in Kontakt mit der grünlichen Scheuerseife gekommen sein. Hier ist ein kleiner Fleck im Bart hängen geblieben. Zurück zu meiner Theorie, dass dies eine Einladung sei. Was passiert mit den Toten in der Autopsie? Richtig, man bricht ihnen in einem T-Schnitt den Brustkorb auf, aber ebenfalls schließt man ihre Augen, meistens jedenfalls. Das letzte Mal, als ich den Toten sah, waren seine Augen zu, warum sorgt jemand dafür, dass die Augen offen bleiben? Symbolische Bedeutung? Ja, definitiv. Was sind Augen im Volksglauben? Die Tore zur Seele. Etwas muss dieser Mann mit sich rumgetragen haben… aber was? Es kann nur etwas sein wie eine Erinnerung… oder? Was mich jedoch am meisten fasziniert ist…“ Er beugte sich vor und ich hörte wie er einen tiefen Atemzug nahm. „Hauch von Moschus, langweilig… Zigaretten… Desinfektionsmittel, schätze einen halben Kanister, wie können diese delinquenten Idioten…“ Abrupt brach er ab. Mit geweiteten, fast fiebrig glänzenden Augen starrte er zum toten Kopf. Ich runzelte die Stirn, versuchte seinen Monolog von eben noch zu verarbeiten, als er mit einem wütenden Knurren aufsprang. „Feigen! Feigen! Diese verdammte Frucht! John, mach dich bereit, wir müssen los!“ Ich schluckte, denn der Ausdruck in Sherlocks bleichem Gesicht ließ mich frösteln, Furch wallte kurz in mir auf. Ohne weiter auf meine Proteste einzugehen, lief Sherlock in sein Zimmer und kurz darauf stand er in voller Montur vor mir, zog seinen Schal zu Recht und legte ungeduldig den Kopf schief. „Brauchst du auch eine Einladung?“ – „Ähm, nein.“ Wortlos machte er kehrt und rannte die Treppe hinunter. Ich fluchte, ehe ich ihm folgte. „Verdammt, Sherlock, was ist denn los?“ Er winkte ein Taxi heran, sprach schroff mit dem Fahrer und zog mich mit einem entschiedenen Ruck in das Auto. „Hab ich das eben nicht gesagt? Feigen. F E G E I N!“ Und mit einem Mal verstummte er. Sein Blick glitt über meine Gesichtszüge, kurz zogen sich seine Brauen unheilvoll zusammen, ich konnte sehen wie Mühlenrad um Mühlenrad sich in seinem komplexen Verstand drehte, nicht langsam oder gemächlich, nein in einer schwindelerregenden Geschwindigkeit. „Ich hoffe du erinnerst dich noch an den Baron?“ „Wie könnte ich nicht, das ist gerade mal drei Tage her.“ Waren es wirklich erst drei Tage? Irgendwie hatte ich mein Gefühl für Zeit gänzlich verloren, dafür schien ein hinterer Teil meines Selbst immer eigenständiger zu werden. „Aber du erinnerst dich nicht daran, wie es dort gerochen hat. Getrocknete Feigen standen auf dem Tisch und eine Karaffe mit Wodka. Aber wichtig sind nur die getrockneten Feigen! Der Tote hatte Kontakt mit dem Baron, wenn nicht sogar mehr als nur einmal, also werden wir nun zum Baron fahren und ihn fragen, wie es denn dazu kommt, dass er uns diese wichtige Detail verschwiegen hat.“ Unter all seinen halb zornigen, halb bissigen Worten vernahm ich noch etwas ganz anderes. Es war wie ein tiefer Abgrund, jenes Gebilde aus Alptraum und letzter Hoffnung. Zuerst glaubte ich, Sherlock fürchtete sich, doch dem war nicht so, es war keine Angst, die unterschwellig seine Stimme beben ließ, sondern hörte es sich mehr nach Kontrollverlust an, leichter Überforderung. Irgendetwas verschwieg Sherlock mir, etwas was den Baron betraf und… ich betrachtete sein im kalten Licht nobel wirkendes Profil. Sein Mund wirkte verbissen, seine Kiefermuskeln zuckten unter der gespannten Haut. Sherlock schien zu bemerken, dass ich ihn ansah. Ein pfeilschnelles, fast schon melancholisches Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. „Versuchst du eine Deduktion, John?“ Die Art wie er meinen Namen aussprach, zerriss etwas in mir. Eine Welle dunkler Wehmut, schwer und bitter, rollte über mich. Und sie hatte ihren Ursprung nicht nur aus mir, sondern auch einen Teil aus Sherlock. Ich sah es in seinen Augen und es schnürte mir das Herz zu. „Und wenn es so wäre?“, flüsterte ich, merkte wie mir dabei der Atem entfloh, als weigerte er sich meine Worte mit sich zu tragen. „Dann hoffe ich du siehst und beobachtest.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)