Extravaganza von Sengo-sun ([HolmesxWatson]) ================================================================================ Kapitel 13: Violindimensionen ----------------------------- Mirco ließ ihn eintreten. Er zeigte deutlich Verwirrung, auch wenn er es kläglich zu verbergen versuchte. Reste von trockenem Brot hingen an seinem Kragen. Man konnte den Geruch billigen Parfüms riechen, nebst Alkohol und… Körperflüssigkeiten. Da war aber auch noch eine andere Note, die der Besucher an Mirco riechen konnte. Ein Duft, den es nur in einer Straße gab. „Ich hätte nicht gedacht, dass sie in ihrem Zustand ein Bordell besuchen, Herr ‚Baron‘.“ Der Baron sah auf: „Und ich hatte geglaubt sie seien fähig den heißen Brei außerachtzulassen und zum Punkt zu kommen. Sie sind nicht hier um zu plaudern. Ich sehe ihnen ihre Irritation deutlich an. Welche Ebene der menschlichen Gesellschaft bereitet ihnen solche Kopfschmerzen, dass sie nebst Schlaf auch noch andere, triebgesteuerte aber notwendige Dinge vergessen? Es ist nicht der Auftrag. Hat es etwas mit einer Art Fehlfunktion im Getriebe zu tun?“ „Wohl eher einem Zimmer in meinem Palast, das eigentlich abgeschlossen ist. Ich habe sogar den Schlüssel dazu… sagen wir ‚verloren‘.“ Der Baron lachte auf. Er legte die Zeitung weg. „Und nun hoffen sie, dass ich ihn verschwinden lassen kann?“ „Oh, nein. Es ist etwas anderes…“ „Wissen sie, das Einzige, was mich etwas verdutzt, ist, dass sie zu mir kommen. Hört der Schädel nicht mehr zu?“ Schnauben seitens des Besuchers. „Es sind seine mangelnden Antworten.“ „Ja, ich habe gehört, dass selbst Pathologen finden, die Toten sind etwas zu schweigsam, vor allem die Schädel.“ Der Baron lehnte sich zurück. „Nun, wollen sie das Zimmer erkunden oder es verriegeln?“ „Ich fürchte dafür ist es zu spät.“ „Zum Verriegeln?“ Schweigen, dann: „Ja.“ Um ehrlich zu sein, wollte ich nach den letzten Minuten keine Sekunde länger in der Baker Street bleiben. Sherlocks eigentlich gewohnt harsche und peitschenklaren Worte sollten nicht wehtun, dennoch schmerzten sie. Mir war seit längerem bewusst, dass mein Mangel an ordentlichem Essen mehr und mehr zunahm. Selbst Mrs. Hudsons wunderbare Kochkünste halfen nicht darüber hinweg, doch was sollte ich auch anderes tun? Wie konnte man mit jemanden zusammenleben, der chronisch vergaß zu essen, stets schlechtgelaunt war, wenn keine Grausamkeit die Welt erschütterte und noch dazu unmögliche Zeiten für sein Violinspiel fand? Nicht dass ich seine Künste verschmähte, sie waren an sich bereits eine vollkommene Symphonie. Und jedes Mal, wenn ich die manchmal sanften, dann wieder kräftigen Töne durch die Dielen sickern hören konnte, verlor ich mich in einer Welt, fern von dem Lärm der Moderne. Es war eine Dimension, die nur aus Lauten bestand, jenen die Sherlock seiner Stradivari entlockte. Sie war voller Poesie, Phantasie und Gefühl, welches mich zu Anfang verwundert hatte, doch es passte zu dem hochgewachsenen Mann mit dem ich stetig in neue Abenteuer verstrickt war. Ich stoppte. Kalte Wände, weißes Neonlicht bildeten mein Umfeld, wurden bald nur noch Nebensache. Da war ein Gedanke. Ich starrte vor mich, mein Blick entglitt immer wieder meinem inneren Fokus. Wie schaffte es Sherlock selbst ohne anwesend zu sein, meine Gedanken so zu manipulieren, dass ich ihm seine anstrengenden Charaktereigenschaften verzieh? Denn Charakterfehler besaß ein beratender Detektiv nicht. Ein Sherlock Holmes machte keine Fehler. Jedenfalls war dies Sherlock Ansicht. Auch wenn ich bereits einige Beispiele für seine Fehler als Fälle hatte. Seufzend lehnte ich mich gegen die Wand. Mein Magen fühlte sich leer an und die imaginäre Pro- und Kontraliste schien ebenso der Ödnis anheimgefallen zu sein. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte ich, dass mir jegliche Fäden entglitten. Im Krieg war dies passiert, als ich unter Beschuss gestanden hatte. Dann bei meinem ‚jungfräulichen‘ Treffen mit Sherlock. Gut, danach gab es keine Normalität mehr, doch ich hatte irgendwie immer noch das Gefühl gehabt, die Kontrolle über gewisse Teile meines Lebens zu haben. Oder es war mir einfach nicht bewusst gewesen, dass mir alles einfach so entglitt. Das Leben wollte andere Akte spielen, eine neuartige und gefährlichere Bühne betreten, als die, auf der ich bereits stand. Kalte Müdigkeit pochte in meiner alten Wunde. Seufzend vergrub ich das Gesicht in den Händen. Ich wusste, dass Sherlock noch vor dem Mikroskop saß. Vielleicht redete er wieder laut, tief im Glauben versunken ich höre ihm zu. Obwohl mich der Fall rund um den Baron interessierte, nagte an mir noch eine gänzlich andere Frage: Was für einen Fall hatte Sherlock noch angenommen? Wer war der Klient? Worum ging es? Und wieso wollte mich Sherlock nicht weiter darin verwickeln? Dumpfes Pochen in meinen Schläfen erinnerte mich daran, dass ich diese Nacht Schlaf benötigte. Nicht dieses Dahindämmern mit all den diffusen Träumen, sondern tiefer, dunkler, vollkommen schwarzer Schlaf. Mein Körper wie auch mein Ego brauchte Abstand von Sherlock. Und sei es nur für ein paar Stunden. Wenn ich überhaupt so viel Zeit hatte. Ich verließ das Hospital und rief ein Taxi. Es dauerte nicht lange und ich stand im Bad unserer Wohnung. Ich stand mit Unterhosen vor dem Spiegel. „Ein halbes Kilo? Nun ja, würd ich nicht meinen.“ Ich stippte mir gegen meinen Bauch. Gut, als ich zurückkam gab es gar keinen wirklichen Bauch, noch nicht mal ein Bäuchelchen. „Nein, insgesamt sind es fast drei. Aber ich dachte, das wäre dir bewusst.“ Es gab Menschen, die unbedingt im Boden versinken wollten und jetzt konnte ich sie voll und ganz verstehen. Das ich rot wurde, war mir bewusst, wie auch der plötzliche, nervöse Schweißausbruch. Wie schaffte es Sherlock so verdammt lautlos zu sein? Fast wie ein schwarzer Kater. Er hatte sich gegen den Rahmen der Badezimmertür gelehnt, eine Braue im galanten Spott erhoben und einem feinen, beinahe filigranen Zucken im Mundwinkel. Sein Blick ruhte auf mir. „Du warst plötzlich weg, Molly musste mir erst zeigen, dass du erneut weggegangen bist, während ich mit dir gesprochen habe. Ich habe gar nicht bemerkt, wie du den Raum verlassen hast.“ Nun hob er auch die andere Braue. „Und nun erblicke ich dich im Bad, wie du an meiner Auffassung zweifelst? Wirklich John, du weißt genau, wie gut ich mir körperliche Maße merken kann.“ Er schnaufte beleidigt, aber sein Blick klebte immer noch an mir. Ich runzelte die Stirn und kniff dabei leicht die Augen zusammen. Mein Mund war ratlos zu einem leichten ‚Oh‘ geöffnet. Ich vermutete mein Antlitz war die Personifikation der Verwirrung und Empörung. Ich sollte an der Palette meiner Emotionen arbeiten. Plötzlich veränderte sich etwas in Sherlocks Gesicht. Und es brachte mir eine eiskalte Gänsehaut. Ich fühlte mich plötzlich mehr als nur halbnackt. Unruhig durch mein Unwohlsein, versuchte ich irgendwie von mir abzulenken. „Wie geht dein Fall voran?“ „Der Baron?“ Ruhig, samtig und dunkel rollten diese Worte durch den immer kleiner und enger werdenden Raum. „Ich dachte, du hättest einen anderen Fall?“ Ich nestelte am Bund meiner einzigen Bekleidung herum. Irgendwie war das hier sehr seltsam. Da war dies Intensivität von Sherlock ausgehend. Düster, alleseinnehmend – einsaugend wie ein schwarzes Loch. Und dann noch ich, der mit allem überfordert zu sein schien. Ein Teil von mir wollte fliehen, der andere war eingefroren, von der Zeit, dem Augenblick… von der Präsenz eines absoluten Genies. Schlagartig veränderte sich etwas. Sherlock stieß sich von der Tür ab. Sein Gesicht wurde von Sekunde zu Sekunde um einige Nuancen bleicher, fast schon kalkweiß. Er räusperte sich, seine Augen starr geweitet, als hätte er etwas Illegales eingenommen. Noch einmal räusperte er sich: „Kannst du mir deinen Stock leihen?“ – „Öh, ja.“ Er nickte und ließ mich stehen. Es kam selten bis nie vor, dass mich Sherlock fragte, ob er meine Sachen benutzen durfte. Er tat es einfach. Während ich im Bad stand, hörte ich die knarrende Stufe der Treppe, anschließend wie die Haustür zu fiel. Ich war mir sicher, dass Sherlock nicht hoch in mein Zimmer gegangen war. „Was passiert hier?“, stellte ich meinem Spiegelbild die Frage, die mich unbewusst quälte. Der Spiegel schwieg beharrlich. „Sherlocks Schädel würde mir eher eine Antwort geben.“, grummelte ich, ehe ich duschen ging. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)