Extravaganza von Sengo-sun ([HolmesxWatson]) ================================================================================ Kapitel 7: Wo enden Träume? --------------------------- „Warum habt ihr ihn ‚Woyzeck‘ genannt, Herr?“ Leicht zuckte der Baron bei dem Klang von Mircos Stimme zusammen. Der Mann – nein, der Junge, korrigierte sich der Baron im Geiste, verstrahlte eine unschuldige Naivität aus und gleichwohl konnte man in den Augen ein deutliches Glimmen erkennen, welches von dem Grimm des Lebens beseelt waren. Der Baron machte eine vage Handbewegung. „Mister Holmes muss selbst auf die prägnanten Fakten kommen, wenn ich sie ihm selbst liefere, so verlieren sie an Wert – und genau jener verloren gegangene Wert ist es, der am Ende unser Strick bedeutet, während uns ‚Woyzeck‘“, der Baron lächelte dünn bei dem Klang des Namens, „die Kehle zudrückt. Versteh mich nicht falsch, Mirco, doch ich bin im Grunde genommen nichts weiter als eine zufällige Begegnung und mehr sollte ich auch nicht werden.“ Er fuhr sich mit zittriger Hand über das Gesicht. Braune Wellen langsam von der Krankheit spröden Haares fielen ihm wie ein angenehm dunkler Schleier über die Sicht. „Aber warum ausgerechnet der Name eine Figur aus dem Drama von Georg Büchner?“ beharrte Mirco, leicht tippte Stolz die gepeinigte Seele des Barons an und eine angenehme Wärme erfüllte die schmerzende Brust. Er hatte einen sehr guten Schüler gehabt. „Weil dieser Name passt, mein lieber Mirco, weil er vortrefflich passt.“ „Aber seine Taten sind weitaus schlimmer als die Lappalie des Woyzecks.“ Rief Mirco aus, doch der Baron schüttelte müde den Kopf. „Im Grunde genommen, sind sie es nicht, denn sie haben allesamt den gleichen Ausgangspunkt: den Tod.“ Mirco behielt jegliche weitere Konservation zurück, in dem er sich abwandte und aus dem Zimmer ging. Der Baron sah ihm stumm nach, während er an seinem Getränk nippte. Sherlock war bereits vor meinen Augen davongerauscht und an jenem Abend ließ er mich in einem fremden Hotel alleine stehen, während er anscheinend durch die Gassen von London streifte. Mit verwirrtem Blick stand ich vor der Eingangstür, hinter mir baute sich unheilvoll das Hotel auf, warf seinen Schatten auf mich und ich bekam das Gefühl nicht los beobachtet zu werden. Es lag schwer auf meinem Gemüt, während der Regen immer stärker wurde und der Himmel in einem trostlosen Meer aus grauen Wolken versank. Es erschien mir als würde mit jeder neuen Wolke ein weiterer Schimmer des hoffnungsvollen Tageslichts im zwielichtigen Dämmern dahinschwinden, bis er unter den Wellen des Himmels zu ertrinken schien. Ein namenloses Grauen, nicht aufdringlich oder gar penetrant, sondern von solch einer gänzlich gegensätzlichen Sanftheit bewandert, packte mit klammen Fingern zu und hielt meine Brust fest, es schnürte sich langsam enger um meine Kehle und veranlasste mich dazu mich leicht zu schütteln. Als plötzlich ein Räuspern neben mir erklang, konnte ich nicht umhin, erschrocken zusammenzuzucken und mich umzudrehen. Der junge Mann, der uns als Mirco vorgestellt worden war, stand neben mir, einen schlichten Schirm in der Hand und betrachtete mich aufmerksam. Irgendwie wirkte er fehl am Platz, so wie er dastand, den Schirm in der Hand, einen leicht verträumt und dennoch ungewöhnlich scharfen Blick im Gesicht, während der Regen einen sonderlichen Schein um ihn herum formte. Ich blinzelte und das Bild eines jungen Mannes, wie dieser von einer hellen Aura umgeben war, erlosch. Ich schüttelte den Kopf. Das hier war nur Mirco; ein Untergebener des ‚Barons‘, stellte ich in Ermangelung besserer Umschreibungen für mich fest. Mirco hob den Blick leicht und schien den Himmel misstrauisch zu mustern. „Ich schätze dass dies ein typisches, britisches Wetter ist?“ Fragte er und zuckte nichtssagend mit den Achseln. Seine rotblonden Locken kräuselten sich unter der Luftfeuchtigkeit nur noch mehr und irgendwie wirkte seine Frisur nur noch kindlicher. „Könnte man meinen.“ Kurz schaute ich die Straße entlang und schlug meinen Jackenkragen hoch. Da Mirco weiterhin schwieg wollte ich aus dem Schutz des überdachten Hoteleingangs treten, als jene tiefe und mit hartem Dialekt beseelte Stimme des jungen Mannes die Stille zwischen uns beiden brach: „Ich fahre sie zurück.“ Und zum ersten Mal bemerkte ich in dem Gesicht von Mirco, wie ein besorgter Schatten über dieses zog, es verdunkelte und plötzlich wirkte Mirco keineswegs wie ein junger Mann, sondern wie ein Erwachsener, der bereits zu viel in seinem Leben gesehen hatte. Er lächelte zögernd und nickte zu dem Wagen, der Sherlock und mich bereits in der Baker Street abgeholt hatte. Die Fahrt verlief schweigend, einzig die beständigen Geräusche zerplatzender Regentropfen erfüllten neben dem Rauschen des Wagens jegliche auditorale Sphäre. Seufzend lehnte ich mich im Sitz zurück und starrte nach draußen. In meinem Kopf herrschte ein heilloses Chaos. Fragen begannen mit jedem neuen Gedanken und starben genauso schnell ab. Sie wucherten in meinem Hirn, ähnlich wie wildrankender Efeu, doch genauso schnell wie sie in die Höhe empor schossen, verkümmerten sie wieder. Sie kamen und gingen, waren Ebbe und Flut in meinen Gedanken und ließen mich unruhig werden. Es war seltsam. Irgendwo in den Untiefen meines Kopfes, unter Bergen von quälenden Fragen, waren die Worte des Barons in mein Gedächtnis eingemeißelt. Zwar dachte ich im Moment nicht daran, doch der bittere Nachgeschmack jener in Hohn verpackten Nachricht lag mir schwer auf der Zunge. Als ich nach draußen sah, folgen Fetzen von Neonlichter an mir vorbei, wirkten wie kalte Mauern, denen man um der Erträglichkeit willen Graffiti angeeignet hatte. Wut begann in mir zu brodeln, als ich daran dachte, dass Sherlock ohne mich einfach losgezogen war. Wut, gepaart mit Resignation, war mir dieses Verhalten keineswegs fremd. Es war eine Angewohnheit des Detektives, in dem einen Moment schier phlegmatisch dazuliegen und sich kaum zu bewegen, doch sobald sein Verstand den Mühlrädern der Monotonie des alltäglichen Daseins entkam und etwas Abstruses und Ungewöhnliches entdeckte, gab es kein Halten mehr. Leicht musste ich bei diesem Gedanken lächeln. Wo Alltag einem Menschen halt gab, verursachte er bei Sherlock eine besondere Art des Chaos. Irgendwann kam ich bei der Baker Street an und mit schleppenden Schritten ging ich hoch in mein Zimmer, ungeachtet dessen, dass ich immer noch meine Kleider trug, fiel ich in die weiche Matratze meines Bettes und unendliche Müdigkeit, begründet aus den bohrenden Fragen in meinem Kopf und einem unguten Gefühl, welches aus meinem Innersten entsprungen zu sein schien, überfiel mich und ich döste ein. Man konnte diesen Schlaf nicht als Schlaf bezeichnen, sondern als stetiges Taumeln zwischen Wachen und Dösen. Bei jedem laut vorbeirasenden Auto schreckte ich auf und lauschte gespannt in die Dunkelheit um mich herum. Doch nichts deutete darauf hin, dass Sherlock zurück war. Autoscheinwerfer fluteten mit ihrem an- und abschwellenden Licht das Zimmer. Bizarre Gebilde, geformt aus dem Lehm der Schatten, ragten urplötzlich an den Wänden empor, um kurz darauf im nächsten Licht eines vorbeirauschenden Autos zu verschwinden. Die zuckenden Schatten schienen mein Zimmer immer mehr auszufüllen und das untrügliche Gefühl der Enge schnallte sich um meinen Geist. Mit einem Ruck stand ich auf und eilte die Treppe runter. Dort oben konnte ich nicht mehr verweilen. Den Rest der Nacht verbrachte ich auf dem Sofa. Wann mich der Schlaf letztendlich übermannte, konnte ich nicht sagen. Das stetige Prasseln des Regens hatte mich anscheinend in eine traumähnliche Trance gehüllt. Ich fühlte überdeutlich die schwere meines Leibs, während gleichzeitig ich in eine Schlucht zu fallen schien. Ein Teil von mir löste sich von meinem Körper und segelte in eine triefende Schwärze hinab, wurde schier von etwas Unheil versprechendes eingesogen. Für die Winzigkeit eines Augenblicks empfand ich mich selbst als Motte, wie sie von dem verbrennenden Licht angezogen wurde, welches mir Wärme vorgaukelte um mich anschließend in den Tod zu stürzen. In den Wirren meines zermürbenden Schlafes fühlte ich wie jemand kurz über meine Stirn strich. Erinnerungen an das unschuldige Dasein eines Kindes durchströmten meine Gedanken. Ob ich nun meine Augen aufschlug oder all jenes schier aus meinem ermüdeten Gehirn entsprungen zu sein schien, konnte ich nicht mit absoluter Genauigkeit sagen, denn für eine Zeitspanne, die die Ewigkeit und mehr in sich zu vereinen schien, erschien das Antlitz von Sherlock nahe meinem Gesichts. Wasser tropfte von seinen dunklen Locken, welche das blasse Gesicht umrahmten und einen Kontrast erschufen, wie ich seiner so noch nicht gewahr wurde. Kühl fiel diffuses Licht auf seine scharfgeschnittenen Züge und ein nachdenklicher Ausdruck verhärtete seinen Mund. Ab dem Moment, wo er mich mit einem traurig-wehmütigen Lächeln bedachte, wollte ich diese Erscheinung nicht als real bezeichnen. Sherlock – oder auch die Traumerscheinung- schien meine Gedanken gelesen zu haben, denn mit einem erneuten Lächeln, welches die Süße von Bitterwurz innehatte, beugte er sich näher und warmer Atem strich über mein Gesicht, ehe kühle Finger kurz meine Stirn berührten. Man konnte es noch nicht mal als eine Berührung bezeichnen, denn es fühlte sich an wie an Lufthauch, welcher kaum merklich durch das Haar fuhr. Dann stand Sherlock wortlos auf, entschwand meinem von Müdigkeit langsam trüb gewordenen Sichtfeld und als mir sogar im Traum die Augen zufielen hörte ich noch leise das Rascheln von Stoff und ein neuerliches Gewicht, nicht schwer, auf meinem Körper. Im dunklen Dahindümpeln in eine finstere Traumwelt glaubte ich die Stimme meines Wohngenossen zu hören: „Nichts weiter als ein Traum, John, nur surreale Imagination deines eigenen Geistes, mehr nicht John.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)