In Memoriam von MarvinMcDuck ================================================================================ Kapitel 1: Oneshot ------------------ Regen trommelte auf die Dächer der Häuser, rann in Strömen die Regenrinnen hinab und speiste kleine Bäche, die sich auf den Straßen gebildet hatten, aber George Weasley stand trotzdem vor dem Zauberscherzladen in der Winkelgasse 93 und starrte unverwandt auf das Schild über der Ladentür. Er war längst völlig durchnässt und seine Haare klebten an seiner Kopfhaut, doch er machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Seine Augen fixierten mit aller Kraft den kunstvoll geschwungenen Namenszug, als könnten sie dadurch etwas wieder lebendig machen, was bereits vergangen war, doch gleichzeitig wirkten sie leer; als ob ihr Besitzer schon lange nicht mehr wirklich sah, was er betrachtete. Die Läden um George herum zeigten deutlich, dass sich die Winkelgasse langsam aber sicher von dem Terror des vergangenen Jahres erholte: Auslagen kehrten in ihre Schaufenster zurück, Bretter, die zuvor Türen und Fenster verbarrikadiert hatten, wurden entfernt und Geschäfte neu eröffnet. Die Farbe, und mit ihr der ganz eigene Zauber der Straße, kehrten stetig wieder, die Häuserfronten wurden bunter und gewannen etwas von ihrem alten, strahlenden Glanz zurück. Zu strahlend, echote es dumpf in Georges Gedanken, zu hell, zu freundlich, zu glücklich, zu siegreich, zu euphorisch, zu- Auch das Schild. Besonders das Schild. Es war in einem glühenden Rot bemalt, ähnlich der Haarfarbe seiner Besitzer, und in einem kräftigen Magenta, das sich so richtig herrlich mit dem Rot biss, stand der Name des Ladens: Weasleys Zauberhafte Zauberscherze. Es schien George geradezu zu verspotten, wie es hoch über ihm thronte und die ganze Straße entlang strahlte. Denn es gab keine 'Weasleys' mehr. Aus den 'Weasleys' war nur noch ein 'Weasley' geworden. In dem eintönigen Plätschern des Regens hatte George längst jedes Zeitgefühl verloren. Er vermutete, dass es irgendwann am Nachmittag war. So, wie er sie kannte, lief seine Mutter inzwischen wahrscheinlich Amok und sein Vater, seine Brüder und seine Schwester suchten überall nach ihm. Er war am Morgen früh aufgestanden, früher als alle anderen, hatte den Fuchsbau hinter sich gelassen und war seitdem ziellos umhergeirrt; zuerst in der Gegend um Ottery St Catchpole, über Felder und Hügel, bis er irgendwann nicht mehr wusste, wo er war. Dann war er appariert, an irgendwelche Orte, an denen sie vor langer Zeit gewesen waren, und irgendwann war er in Hogsmeade gelandet. Das Schloss, das man von dort aus sehen konnte, wie es stolz und ansehnlich in den grauen Himmel ragte, hatte Erinnerungen in ihm geweckt und mit einer unerwarteten Macht an dem gerührt, was er tief in seinem Inneren verschlossen hielt... Erinnerungen an ihre Schulzeit, an ihre Streiche, an ihre Streifzüge in den Verbotenen Wald... Er hatte es nicht lang dort ausgehalten und war anschließend noch wirrer durch ganz Großbritannien appariert, bis er schließlich vor dem Tropfenden Kessel gestanden war. Von dort aus war es nur noch der viel zitierte Katzensprung bis zu Weasleys Zauberhaften Zauberscherzen gewesen. Doch selbst jetzt, als er vor dem Laden stand, vor ihrem Laden, war er nicht in der Lage, in der Einzahl zu reden. Ihre Schulzeit. Ihre Streiche. Ihre Streifzüge. Ihre Kindheit, ihr Zimmer, ihre Weihnachtsgeschenke, ihre Ideen, ihr Nachsitzen, ihre Geschwister, ihre Zahnbürste, ihre Schulbücher, ihr Geburtstag, ihre Quidditch-Spiele, ihre Schuhe, ihr Laden. Ihr Leben. Seines und... Es war sinnlos. Sinnlos, anzunehmen, er könnte einfach weitermachen. Sinnlos, sich einzureden, es würde alles schon wieder gut werden. Die Läden in der Winkelgasse öffneten wieder und langsam wurde alles wie früher, ganz normal, doch für George hatte das Wort 'normal' keine Bedeutung mehr. 'Normal', 'Alltag', 'Friede', 'Glück' – all das waren nur noch leere Worte, Hüllen, die nichts beinhalteten, die George nicht wiedergeben konnten, was er für immer verloren hatte... Denn niemand konnte ihm wiedergeben, was er verloren hatte. Niemand. Wie ein Blitz bohrte sich diese Erkenntnis durch den Nebel, der sich über Georges Gedanken gelegt hatte, und holte ihn aus der Taubheit, in die er sich geflüchtet hatte. Es kostete ihn alle Kraft, die er irgendwie aufzubringen vermochte, um sich in diesem Moment, mitten in der Winkelgasse nicht allen Schmerz, alles Leid aus der Seele zu brüllen. All die Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, die er in den letzten Tagen, vielleicht auch Wochen, vielleicht sogar Monaten verdrängt und tief in seinem Innersten begraben hatte, trafen ihn nun mit voller Wucht und er konnte sich nicht wehren, konnte nichts tun gegen das Gefühl, eine Hälfte seines Daseins für immer verloren zu haben. Doch ein Leben ohne ihn war unmöglich. Der Laden, der Fuchsbau, Hogwarts, der Verbotene Wald, Hogsmeade, die Heulende Hütte, der Tropfende Kessel, die Winkelgasse – jeder Ort, den George jemals besucht hatte, hatte er mit ihm gemeinsam besucht, an jedem Ort, den George kannte, haftete etwas von ihm. Es war unerträglich. Doch am unerträglichsten war es, in den Spiegel zu sehen. Oben, in ihrer kleinen Wohnung über dem Laden, hatte George jeden Spiegel, jedes Glas, jede noch so kleine spiegelnde Oberfläche zerbrochen, ohne Rücksicht auf Verluste zerstört, zerbersten lassen, doch selbst in den Splittern hatte er ihn gesehen, hundert- und tausendfach widergespiegelt, sein Ebenbild. Sein Bruder. Es war, als schnürte man ihm die Luft ab, als presste sich etwas mit aller Kraft auf seine Brust und nahm ihm den Atem. Es schmerzte, schmerzte so unendlich, so unerträglich, dass sich George wünschte, es würde enden und sie würden wieder vereint werden, und diesmal nicht nur für zwanzig kurze Jahre, sondern für die Ewigkeit. Denn hier, ohne ihn, schien seine ganze Existenz keinen Sinn mehr zu ergeben. Sie waren immer zu zweit gewesen, grundsätzlich unzertrennlich, sie hatten sich ergänzt, sie hatten alles gemeinsam durchgestanden und ohne den einen war der andere unvollständig, das hatten sie bereits im zarten Alter von fünf Jahren festgestellt. Aber jetzt... Jetzt konnte George nicht einfach aus dem Schrank klettern und sich entschuldigen und alles war wieder wie früher. Jetzt war er für immer ohne seine andere Hälfte. Für immer unvollständig. Szenen zogen vor seinem inneren Auge vorbei, Erinnerungen an früher, an ihren ersten und einzigen Streit, der kaum eine halbe Stunde gedauert haben konnte, an ihre Einschulung, an ihre Streifzüge durch Hogwarts, an ihren Traum von ihrem eigenen Zauberscherzladen, an ihren Erfolg, den sie damit gemacht hatten, und der Regen prasselte unbarmherzig auf seinen Kopf ... und er sah es vor sich, so deutlich, als ob man ihm ein Bild vorhalten würde, das Gesicht seines Bruders, verzogen zu einem letzten Lachen über den Witz, den er gerade machen wollte... „Du siehst furchtbar aus.“ George fuhr herum. Einen Moment lang starrte er völlig orientierungslos um sich, auf der Suche nach demjenigen, der sich getraut hatte, ihn anzusprechen. Als er endlich begriff, wen er da sah, weiteten sich seine Augen. Er wusste nicht, wen er erwartet hatte – ob er überhaupt jemanden erwartet hatte –, doch er hatte auf keinen Fall damit gerechnet, dass sich unter den Menschen, die sich noch an ihn heranwagten, ausgerechnet Angelina Johnson befand. Und doch stand sie vor ihm in ihrem durchnässten blau-grünen Umhang, blickte ihn an, wartete auf eine Reaktion oder zumindest ein Zeichen, dass er geistig noch nicht völlig verstümmelt war. George sah sie nicht an. Auch sie war auf unwiderrufliche Weise an ihn gebunden. Auch ihr Anblick war quälend für George. Er wünschte, sie würde weitergehen und ihn einfach hier stehen lassen. Und dann sagte sie: „Fred hätte dich ausgelacht.“ George zuckte zusammen. Es war das erste Mal, dass jemand in seiner Anwesenheit Freds Namen ausgesprochen hatte. Sie hatten alle Rücksicht auf ihn nehmen wollen, das war ihm klar, doch so zu tun, als ob Fred nie existiert hätte, war zehntausendmal schlimmer gewesen als über ihn zu sprechen. Trotzdem durfte Angelina nicht so über ihn reden. Das würde er nicht zulassen. Wütend hob er den Kopf und starrte sie an, öffnete den Mund, um sie anzuschreien, wie sie es wagen konnte, aber... aber... Sie hat recht, hallte es in seinem Kopf wider und der Nebel lichtete sich langsam, sie hat recht, er hätte dich ausgelacht... Fred hätte dich ausgelacht, er hätte sich schlapp gelacht darüber, wie du hier im Regen stehst und das dumme Schild anstarrst! Er wollte etwas sagen, aber er brachte nur ein Krächzen hervor. Angelinas dunkle Augen blickten ihn einen Moment lang unergründlich an, dann nahm sie ihn sachte am Arm. „Lass uns irgendwo hingehen, wo es trocken ist. Ich hab ein paar Sachen für dich.“ Sie zog ihn sanft mit sich und er ließ sich von ihr führen, immer noch völlig perplex bei dem Gedanken an Fred, der sich bei dem Anblick seines sprachlosen Bruders gekringelt hätte... *** Sie landeten im Tropfenden Kessel, wo Angelina einen kleinen Tisch in einer Nische für sie auswählte, an dem sie ungestört waren. Sie bestellte für sie beide einen Tee, in Georges Fall mit einem tüchtigen Schuss Rum, dann holte sie ihre Handtasche hervor und kramte darin herum. „Hier“, sagte sie ohne Umschweife, als sie gefunden hatte, wonach sie suchte, „für dich. Irgendwie hab ich gedacht, sie stehen dir eher zu als mir.“ Langsam nahm George den gelblichen Umschlag, den sie ihm reichte, in die Hand. Er war ganz trocken, obwohl Angelinas Handtasche ebenso durchnässt war, wie sie selbst. Er besah ihn sich von allen Seiten, bevor er ihn öffnete und seinen Inhalt vorsichtig auf den Tisch schüttete. Es waren Fotos. Manche waren farbig, andere nur schwarz-weiß, doch auf allen grinste George das Gesicht seines Bruders entgegen. Es gab Bilder, die auf dem Weihnachtsball während des Trimagischen Turniers gemacht worden waren, als Fred mit Angelina getanzt hatte; Bilder von damals, ihrem fünften Jahr in Hogwarts, als sie mit Harrys Hilfe den Quidditch-Pokal gewonnen und anschließend bis in die frühen Morgenstunden gefeiert hatten; ein alter Zeitungsartikel über die Familie Weasley, die den Großen Goldpreis des Tagespropheten gewonnen hatte und nun strahlend Urlaub in Ägypten machte; und noch ein Artikel, diesmal ein wenig aktueller, über den neuen Scherzartikelladen in der Winkelgasse und seine beiden Besitzer, mit stolz gewölbter Brust und flammend rotem Haar, das natürlich auf dem schwarz-weißen Zeitungsbild nicht zu sehen war... George biss sich auf die Unterlippe. Beim Anblick seines Bruders, der ihm aus allen Bildern strahlend zuwinkte, brannten ihm die Augen. Hastig schob er die Bilder wieder in den Umschlag zurück und blickte zu Angelina, um sich bei ihr zu bedanken, doch bevor er mehr als ein erneutes heiseres Krächzen zustande brachte, begann sie plötzlich zu erzählen: „Er war mir sehr wichtig, weißt du? Er... und du auch... ihr hattet diese Art, Leute zum Lachen zu bringen... euer Humor war einfach ansteckend... Deshalb... hatten viele euch einfach gern...“ Ihre Stimme zitterte leicht. George hatte das Gefühl, dass sie mehr zu sich selbst sprach als zu ihm. „Er... hat mir wirklich viel bedeutet... schon seit einer Weile. Als er dann... Als ich dann gehört habe, dass er... dass er...“ George wünschte sich nichts sehnlicher als dass sie aufhörte zu reden, dass sie es nicht aussprach, denn er war sich sicher, er würde es nicht ertragen können, es zu hören... „...dass er... tot ist“, würgte sie schließlich hervor, „da... da...“ Eine Träne rollte ihr über die Wange, aber sie riss sich zusammen und sprach weiter. „Jedenfalls... Irgendwann kam mir der Gedanke, wenn es mich so sehr... mitnimmt... wie muss es dir dann erst gehen? Deshalb hab ich alle möglichen Leute aufgetrieben und sie um... um Bilder gebeten. Leider ist das alles, was ich finden konnte, und wahrscheinlich hast du die meisten davon schon, aber...“ Sie machte eine hilflose Handbewegung und brachte ein schmales Lächeln zustande. George wollte ihr sagen, wie viel es ihm bedeutete, dass sie an ihn gedacht, dass sie sich solche Mühe gemacht hatte, aber er fand keine Worte, die ihm angemessen erschienen; und so blieb er stumm. „Bitteschön, mein Herr, meine Dame, Ihr Tee...“ Tom, der zahnlose alte Wirt des Tropfenden Kessel, hatte offenbar in gebührendem Abstand gewartet, bis sich eine Gelegenheit geboten hatte, den Tee zu servieren ohne taktlos zu sein. Unter anderen Umständen wäre George dieses Einfühlsamkeitsvermögen sicher irgendwie irgendwo aufgefallen, doch in diesem Augenblick war er nur froh über jede Ablenkung. Der heiße Tee und der Schuss Rum darin wärmten ihn von innen und taten gut – es kam ihm so vor, als hätte er das letzte Mal vor langer Zeit so etwas Gutes getrunken. Sein Blick fiel auf den Umschlag und dann auf Angelina, die schweigend an ihrem Tee nippte, und erst jetzt bemerkte er die Ringe unter ihren Augen, die leicht gerötet waren. Natürlich, auch an ihr war das vergangene Jahr nicht spurlos vorbeigegangen... Auch sie hatte Verluste zu beklagen... Auch sie hatte Freds Tod hart getroffen. Er war nicht der Einzige. Es war nicht ausschließlich seine Trauer. Mit einem plötzlichen Stechen in der Brust dachte er an seine Mutter, die tagelang geweint hatte, an seinen Vater, der sich im Sommer vor einem Jahr so sehr um ihn gesorgt hatte, als ihm sein Ohr weggeflucht worden war, und der jetzt nicht ihn, aber dafür Fred verloren hatte ... dachte an seine Geschwister, die alle irgendwie damit hatten fertig werden müssen, an Percy und Ron, die dabei gewesen waren, die mit dem Anblick von Freds Tod leben mussten... „Angelina“, sagte er mit einer Stimme, die er vielleicht seit Wochen nicht benutzt hatte, und sie schreckte auf, „ich muss jetzt gehen. Danke für... Danke.“ Angelina blickte ihn an und er glaubte, hoffte, dass sie begriff, wofür er sich bedankte. Dann lächelte sie, genauso schmal wie zuvor zwar, aber er wusste, dass sie verstanden hatte. Er legte genug Geld für seinen und Angelinas Tee auf den Tisch, verstaute den Umschlag mit den Bildern sorgsam in seinem Umhang und nickte ihr noch ein letztes Mal zu. Dann verschwand er durch den Hinterausgang. *** Der Laden war genauso düster und leer, wie George ihn zurückgelassen hatte. Als er eintrat, überlegte er einen Augenblick lang, ob er Licht machen sollte, doch dann ließ er es bleiben. Sein Blick wanderte über die Regale, in denen sich die Scherzartikel stapelten, die er und Fred gemeinsam erfunden hatten. Er ging zu einem hinüber und nahm einen der Jux-Zauberstäbe in die Hand, der sich daraufhin mit einem Quieken in ein Gummiwiesel verwandelte. In diesem Moment kam sich George selbst lächerlich vor. „Wie lang willst du eigentlich noch rumstehen und heulen, Georgie?“ George fuhr zum zweiten Mal an diesem Tag herum. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er war sich sicher, so sicher wie es sicher war, dass Draco Malfoy ein aufgeblasener arroganter Schnösel war, Freds Stimme gehört zu haben. Aber als er sich suchend in dem leeren Verkaufsraum umsah, war da kein Fred, der ihn herausfordernd anstarrte und auf eine gewitzte Antwort wartete; kein Fred, der ihn angrinste, um ihn aufzuheitern; kein Fred ... nie wieder. George sank auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an das Regal und schloss die Augen. Dann wartete er. Er konnte nicht sagen warum oder worauf; er wartete einfach. Der Tag, der grau begonnen hatte und grau geblieben war, neigte sich dem Ende zu und es wurde langsam dunkel, doch George rührte sich nicht vom Fleck. Selbst, als der Laden in völliger Dunkelheit versank und sein Magen vor Hunger brüllte, bewegte er sich nicht. Er würde hier warten, bis etwas geschah. Und dann geschah etwas. Ein leises Knallen ertönte, dann ein Knistern. George spitzte die Ohren. Es kam aus dem Hinterzimmer. Bedacht darauf, ja kein Geräusch zu machen, erhob er sich und schlich lautlos auf das Zimmer zu, den Zauberstab längst in der Hand. Vor der Tür hielt er inne, lauschte einige Sekunden atemlos auf das Knallen und Knistern – dann fasste er sich ein Herz und stieß mit einem Ruck die Tür auf. Im Hinterzimmer war niemand. Es war leer bis auf die Vorräte an Scherzartikeln, die hier gelagert wurden – und einen der neu entwickelten Baby-Feuerwerkskörper, der auf dem Boden munter vor sich hin knallte und knisterte und Funken in sämtlichen Regenbogenfarben gleichzeitig sprühte. George starrte ihn an. Wieso brannte hier plötzlich ein Feuerwerk – wenn auch nur ein (für Weasley-Verhältnisse) winziges? Feuerwerkskörper sollten eigentlich nicht von selbst losgehen, auch wenn sie Teil von Weasleys Zauberhaften Zauberscherzen waren ... obwohl das sicher ein Kassenschlager wäre, überlegte George einen Augenblick lang, doch dann schüttelte er den Kopf. Erst mal sollte er sich um das Mini-Feuerwerk auf dem Boden kümmern, denn es war sicher keine so besonders gute Idee, ein Feuerwerk mitten in einem Raum brennen zu lassen, der bis oben hin voll gestopft war mit- George hielt inne. Ein Feuerwerk in einem Raum, der bis oben hin vollgestopft war mit Feuerwerkskörpern. In den Augen eines jeden anderen Wahnsinn. In Freds Augen – Brillanz. Eine Aktion wie diese schien haargenau seine Handschrift zu tragen. Er hätte sich darüber königlich amüsiert – das wusste George, weil er selbst sich darüber königlich amüsiert hätte, und er und Fred hatten (bis auf einige wenige Ausnahmen, die man an einer Hand abzählen konnte) schon immer dasselbe gedacht. Zünd es an, schmeiß es rein und schau, was passiert!, konnte George seinen Bruder fast sagen hören, mit einem irren Grinsen, von dem er wusste, dass es in diesem Moment sein eigenes exakt widergespiegelt hätte. Wäre nichts passiert und das Feuerwerk nur friedlich heruntergebrannt, hätte Fred es wahrscheinlich mit einem Schulterzucken abgetan und wäre ein wenig enttäuscht gewesen; hätte es aber andere Feuerwerke in Gang gesetzt und am besten gleich den ganzen Laden in die Luft gesprengt, hätte Fred sich scheckig gelacht. Ein Streich ganz nach seinem Geschmack. Ganz nach ihrem Geschmack. George starrte versunken in die bunten Funken. Ein Gedanke kam ihm, eine Idee nahm langsam in seinem Kopf Form an; und während das Baby-Feuerwerk seine letzten Funken hustete, begriff George endlich, worauf er gewartet hatte. Eine letzte Aktion. Und alles, was er brauchte, hatte er hier. Mit einem Ruck drehte er sich um, durchquerte den Verkaufsraum in wenigen Schritten und riss fast schon schwungvoll die Ladentür auf. Der dunkle Himmel war immer noch bewölkt, doch es hatte aufgehört zu regnen. Es war wie ein Zeichen. Auch wenn ihn der Regen sowieso nicht aufgehalten hätte. Es brauchte mehr als schlechtes Wetter, um einen Weasley aufzuhalten, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte – vor allem wenn dieser Weasley mit Vornamen Gred oder Forge heißt, dachte George mit einer seltsamen Mischung aus Wehmut und grimmigem Stolz und drehte sich wieder zu seinem Laden um. Beim Hineingehen riss er wie nebenbei das 'Auf unbestimmte Zeit geschlossen'-Schild von der Tür, zerknüllte es und schob es in seine Tasche. Hätte sich jemand in dieser Nacht kurz vor halb Zwölf in der Nähe des Hauses Nummer 93 in der Winkelgasse aufgehalten, er hätte sich sehr gewundert, dass dort jemand geschäftig immer wieder in einem Laden verschwand und kurz darauf auf die Straße zurückkehrte, ächzend und schnaufend unter dem Gewicht einer Kiste, die er draußen abstellte, nur um erneut wieder in dem dunklen Laden zu verschwinden. Aber im Gegensatz zur Nokturngasse hatte die Winkelgasse ihre Haupteinkaufszeit nicht um Mitternacht und keiner beobachtete, wie George Kiste für Kiste vor den Laden schleppte. Er hätte auch einfach seinen Zauberstab benutzen können, doch er hatte das unbestimmte Gefühl, dass er das hier ohne magische Hilfe aus eigener Kraft schaffen wollte. Und so arbeitete er wie ein Besessener, bis alle Kisten in einer langen Reihe die Straße entlang standen. Als er die letzte an der Spitze der Schlange abstellte und seine Arbeit endlich beendet war, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Seiner Uhr nach zu schließen war es kurz nach Mitternacht. Eine würdige Zeit, fand George und zückte seinen Zauberstab. Nun blieb ihm nur noch eines zu tun... „Incendio“, murmelte er. Der Lärm war ohrenbetäubend. Riesige Raketen schossen kometengleich mit langen feurigen Schweifen in den dunklen Himmel, überdimensionale Feuerräder in den grellsten Farben, von knallrosa bis neongrün, sirrten durch die kühle Nachtluft, gigantische Drachen rauschten steil nach oben mit einem Brüllen, das die ganze Nachbarschaft aus dem Schlaf riss, Knallfrösche explodierten, Baby-Feuerwerke brannten munter auf Hüfthöhe und die Wunderkerzen, die vor über zwei Jahren Dolores Umbridge aufs Übelste beschimpft hatten, buchstabierten nach Herzenslust die wildesten Schimpfwörter, als einundvierzig Kisten Weasleys wildfeurige Wunderknaller auf einmal hochgingen. Verschwitzt, völlig verrußt und mit einem durchdringenden Piepton im Ohr betrachtete George sein Werk am Horizont. Dann richtete er seinen Blick senkrecht nach oben in den dunklen Himmel, der nun nicht mehr dunkel war, sondern von Funken in allen erdenklichen Farben erhellt wurde. Das war er. Sein letzter Tribut. Ich hoffe, du weißt zu schätzen, was für 'ne Scheiß-Arbeit das war. Er schloss die Augen, schob die Hände in die Taschen und kehrte den farbenfrohen Explosionen den Rücken zu. Mach's gut, Fred. Als die ersten Nachbarn empört im Morgenmantel auf die Straße gerannt kamen, um sich über den unerhörten Lärm auszulassen, war Weasleys Zauberhafte Zauberscherze längst verschlossen und sein Besitzer disappariert. *** Percy Weasley betrat am nächsten Morgen die Küche, um seine versammelte Familie bereits dort vorzufinden. Er runzelte die Stirn. Das war höchst ungewöhnlich, da er üblicherweise einer der ersten war, der am Frühstückstisch saß, während andere (wie zum Beispiel Ron oder Charlie) erst nach und nach verschlafen eintrudelten. Doch die Ringe unter ihren Augen verrieten Percy, dass keiner von ihnen – ebenso wie er selbst auch nicht – in dieser Nacht besonders gut geschlafen hatte. Seiner Mutter standen die Tränen schon wieder in den Augen und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zusammenbrechen würde, wenn George nicht bald wieder auftauchte. Seit dem gestrigen Morgen, als er den Fuchsbau verlassen hatte, hatte ihn niemand mehr gesehen; bei dem Gedanken, was ihm in seinem Zustand alles zustoßen konnte, drehte sich Percy der Magen um. Den übrigen Mitgliedern seiner Familie schien es ähnlich zu gehen. Bill, der Fleurs Hand nicht losließ, war der Einzige, der sich bemühte, eine halbwegs normale Konversation aufzubauen. „Morgen, Percy. Hast du schon gehört? In Hogwarts sind sie schon fast fertig mit dem Wiederaufbau. Und Kingsley ist nun endgültig zum Zaubereiminister ernannt worden, was ja auch nur eine Frage der Zeit war, wenn du mich fragst...“ Percy verspürte eine jähe Woge von Zuneigung zu seinem ältesten Bruder. Ihm vom Ministerium zu berichten, weil er wusste, dass sich Percy dafür interessierte, war sehr taktvoll und einfühlsam von Bill. „...und Dad hat gerade gehört, dass es gestern Nacht in der Winkelgasse einen ziemlichen Aufruhr gegeben haben soll... Offenbar hat irgendjemand magisches Feuerwerk losgelassen und das kistenweise, du kannst dir natürlich vorstellen, was für einen Aufruhr das gegeben hat, das Ministerium war bis in die frühen Morgenstunden damit beschäftigt, die ganzen Drachen und Fledermäuse einzusammeln...“ „Magisches Feuerwerk mitten in London?“, wiederholte Percy ungläubig, nur zu dankbar für die Gelegenheit, sich über andere Dinge Gedanken zu machen. „Sind die denn wahnsinnig? Da können wir uns auch gleich auf die Straße stellen und schreien: 'Hallo, wir sind Zauberer!' Wofür haben wir denn das Geheimhaltungsabkommen der Internationalen Zaubervereinigung?“ „Vielleicht hat einfach ein paar Zauberer die Euphorie gepackt und sie wollten den Sieg über Du-Weißt-Schon-Wen noch einmal feiern“, lächelte sein Vater müde. „Also wirklich“, schnaubte Percy, „das ist nun auch schon fast einen Monat her, langsam sollten sie sich doch müde gefeiert haben! Ich denke eher, das war wieder so ein durchgeknallter Spinner, der-“ Doch niemand erfuhr, um welche Art von durchgeknalltem Spinner es sich Percys Meinung nach handelte, denn eine Stimme, die aus der Richtung der Tür kam, unterbrach ihn: „'Durchgeknallter Spinner'? Das ist aber keine nette Art und Weise, von seinem Bruder zu sprechen, Perce.“ Die gesamte Familie Weasley fuhr herum. In der Tür stand, erschöpft aber wesentlich sauberer, als er die Nacht zuvor gewesen war, George Weasley. Seine Mundwinkel zuckten merkwürdig, als wollte er lächeln, hatte aber vergessen, wie es ging. Einen Moment lang herrschte verblüffte Stille, dann... „GEORGE!“ Mrs Weasley war aufgesprungen und hatte dabei fast den Tisch umgerissen. Bevor George auch nur den Mund öffnen konnte, hatte seine Mutter ihn in eine knochenbrechende Umarmung geschlossen und schluchzte in seine Brust. „Wo bist du nur gewesen...? Ich hab mir solche Sorgen gemacht – wir alle haben uns solche Sorgen gemacht – Bill und Fleur sind extra gekommen, und Harry und Hermine und – wir haben überall gesucht – Arthur hat sich freigenommen – und...“ Hilflos tätschelte George den Kopf seiner Mutter, die nun hemmungslos in seinen Umhang weinte, doch er hörte ihr nicht mehr zu. Sein Blick wanderte über seine Familie, alle mit Ringen unter den Augen, die Angelinas im wahrsten Sinne des Wortes in den Schatten stellten, und alle so erleichtert, ihn gesund wiederzusehen, dass es George ganz seltsam wurde. Schnell wandte er die Augen ab von ihnen und starrte auf den leeren Stuhl, der früher einmal Freds Stammplatz gewesen war. Hier in der Küche, die immer eine Art Versammlungsort für alle Weasleys gewesen war, hatten sie ihre Mutter so oft in den Wahnsinn getrieben, dass er es längst aufgegeben hatte zu zählen. Ob es nun ein explodierter Kessel war (der erste Versuch eines Vielsafttranks im Alter von vierzehn Jahren, der hoffnungslos missglückte, weil Fred der Meinung war, man könnte anstatt Florfliegen auch einfach Eintagsfliegen nehmen) oder nur ein Jux-Zauberstab (den George versehentlich neben dem Herd hatte liegen lassen, genauso wie er im Wohnzimmer, im Bad und in Percys und Rons Zimmern versehentlich einen vergessen hatte), sie hatten sich immer bemerkbar gemacht und ihre Spuren hinterlassen. Mit ihrem Zimmer, in dem sie regelmäßig irgendetwas in die Luft gejagt oder in Brand gesteckt hatten (zum ersten Mal mit Vier, als George Bills brandneuen Zauberstab in die Hände bekommen hatte und sie getestet hatten, was passierte, wenn man damit lang genug auf sein Kissen einstach) und in dem der Geruch von Schießpulver wohl noch ewig hängen bleiben würde, verhielt es sich nicht anders... Und draußen im Garten hatte der Apfelbaum immer noch ein tiefes Brandmal aufzuweisen, das entstanden war, als irgendjemand (George wünschte, er hätte diesen Geniestreich für sich beanspruchen können, doch Fred war ein Sekündchen früher auf diese Idee gekommen) einen der Gartengnome mit so vielen Pfefferkobolden aus dem Honigtopf gefüttert hatte, dass er buchstäblich in die Luft gegangen war... Plötzlich spürte George einen Kloß im Hals. Hastig sah er sich nach irgendetwas um, dass ihn ablenken konnte ... und sein Blick blieb an der alten Küchenuhr hängen. Sie hatte nur noch acht Zeiger. Vielleicht war es jetzt an der Zeit, zu tun, was er eigentlich gestern Nacht schon hatte tun wollen: Akzeptieren. „...und Charlie war sogar hoch oben im Norden und hat nach dir gesucht, und natürlich waren wir auch in der Winkelgasse – sogar nach Hogsmeade sind dein Vater und ich gegangen, aber wir haben dich nirgendwo gefunden – und Percy hat... George? George, Schatz?“ George blickte auf seine Mutter herab und verzog sein Gesicht zu seinem ersten Lächeln seit einer gefühlten Ewigkeit. „'Tschuldige, Mum.“ Er machte eine Geste in die Richtung seines Ohres. „Ich hab nur mit einem Ohr zugehört.“ Seine Familie starrte ihn entgeistert an. George spürte, wie sein Lächeln zu einem zaghaften Grinsen wurde. Es war nicht gerade einer seiner besten Scherze – tatsächlich wusste er so sicher, wie er wusste, dass Draco Malfoy ein aufgeblasener arroganter Schnösel war, dass Fred sich darüber gekringelt hätte, wie schlecht der Witz eigentlich war. Aber es war ein Anfang. Hosted by Animexx e.V. 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