Weil ich dich brauche von Hamani ================================================================================ Kapitel 1: Weil wir Engel ohne Flügel nicht Engel nennen können, nennen wir sie Freunde --------------------------------------------------------------------------------------- Wir kannten uns schon so lange. War es seit unserer Kindergartenzeit? Oder doch schon in der Krabbelgruppe? Aber im Grunde ist es egal, nicht wahr? So lange wir zusammen bleiben, ist alles egal. Denn du bist für mich am wichtigsten. Du fragst mich warum? Dann hör dir eine Geschichte an. Unsere Geschichte. Es war vor zehn Jahren als Emily Eltern bei einem Autounfall schwer verletzt wurden und ins Koma fielen. Sie war gerade in der Schule als es passierte und wollte gerade nach Hause, als sie von der Direktorin aufgehalten wurde und die schreckliche Nachricht erfuhr. Emily, das 16jährige Mädchen, das noch niemand weinen sah, brach unter Tränen zusammen. Doch sie berührte nie den Boden, denn hinter ihr stand ihre beste Freundin Sandra, die sofort ihre Arme um Emily schlang, als sie sah, wie sie zu Boden ging. Sie stützte sie und strich ihr beruhigend über den Rücken, während Emily ihre Verzweiflung durch Tränen der Welt zeigte. Sandra war es auch, die alle dazu überreden konnte, dass Emily nicht vorläufig in ein Heim ging, sondern bei Sandra und ihrer Familie unterkam. Emily schlief jede Nacht unter Tränen ein, die jedes Mal sanft fortgewischt wurden, als sie die Augen schloss. Ein ums andere Mal zauberte ihr diese einfache Geste ein Lächeln aufs Gesicht, denn allein dadurch wusste sie, dass sie nicht allein war. Doch dies änderte sich schnell, als Emily ihre Eltern im Krankenhaus besuchte. Strahlend betrat sie das Zimmer der beiden. Endlich waren sie wach. Endlich konnte sie wieder eine Familie werden. Schon auf dem Flur hörte sie den Tumult aus dem Krankenzimmer ihrer Eltern. Sie rannte los, riss die Tür auf und erstarrte. „Jetzt tun sie schon was!“, schrie ihre Tante hysterisch. „Gehen sie bitte aus dem Weg!“, kam es von einer Krankenschwester, die Emilys Tante vom Bett wegschieben wollte. „Wir haben sie verloren… Es hilft nichts mehr“, sagte der Arzt ruhig, leiser als jeder andere und doch waren es seine Worte, die die Welt anhielten. „Nein! Nein! Sie sind nicht tot!“ Emily stürmte zu ihrer Mutter, vorbei an allen geschockten Anwesenden. Sie packte sie an der Bluse und schüttelte sie. „Du bist nicht tot! Du lässt mich nicht alleine! Mama! Mama…“ Und diesmal fing sie niemand auf, als sie zu Boden sank und weinte. Sie sah unter Tränen zu dem Bett ihres Vaters. Er lag ruhig da, als würde er schlafen. Sie betete, dass er nur schlief. Doch der Arzt zog die Decke über seinen Kopf und schlug das Kreuz vor seiner eigenen Brust. Emily schüttelte den Kopf. Das war nicht wahr. Das konnte nicht wahr sein. Sie spürte die Hand ihrer Tante auf ihrer Schulter. Spürte wie sie hochgezogen und umarmt wurde. Aber Emily schüttelte nur den Kopf und weinte. Der Rest des Tages war in ihrer Erinnerung sehr verschwommen, als würde man einen Stein ins Wasser werfen und versucht durch die kleinen Wellen, den versinkenden Stein zu sehen. Das nächste, das sie sicher wusste, war, dass sie im Gästebett ihrer Tante aufwachte. Und das sie nicht alleine war. Sie spürte Arme um sich, die sie festhielten, als wäre sie der größte Schatz der Welt. Spürte sanft den warmen Atem einer anderen Person auf ihrer Haut. Fühlte die Wärme, die von dieser Person ausging. Emily öffnete die Augen und sah in Sandras Gesicht, die ruhig schlief. Sie wollte sich aufsetzen, aufstehen, weggehen, egal wohin, doch sie wurde festgehalten. Verwundert blickte sie wieder zu Sandra, die den Blick erwiderte. „Ich werde immer für dich da sein“, war das einzige, das sie sagte, bevor sie Emily sanft auf die Stirn küsste. Diese kleine Geste reichte aus um Emily wieder zum Weinen zu bringen. Sie klammerte sich an ihre beste Freundin und ließ alle Emotionen zusammen mit den Tränen laufen. All die Wut, die Trauer, die Enttäuschung und das kleine bisschen Freude darüber, dass sie nicht alleine war. Schließlich war ihr persönlicher Engel immer für sie da. Das war das erste Mal, wo ich merkte, wie sehr ich dich brauche. Selbstverständlich? Sandra, wenn es selbstverständlich ist, warum hast nur du das für mich getan? Warum haben die anderen mich mit meinen Gefühlen allein gelassen? Aber ich bin mit unserer Geschichte noch nicht fertig. Ich weiß du kennst sie, aber ich weiß auch, dass du sie genauso gerne hast wie ich. Die nächsten Jahre wohnte Emily bei ihrer Tante. Sie machte ihr Abitur und begann Medizin zu studieren. Sie wollte Ärztin werden um Leben zu retten. Sie wollte ihr bestes geben um anderen Menschen Leid zu ersparen. „Du hast die Aufnahmeprüfung für die Uni bestanden? Oh Emily, das ist wunderbar!“, jubilierte Sandra, als sie ihrer besten Freundin um den Hals fiel. „Ja… Wunderbar“, sagte Emily leise. Sie freute sich wirklich, doch konnte sie dieses drückende Gefühl in ihrem Brustkorb nicht ignorieren. „Ich werde dich so oft wie möglich besuchen! Wir telefonieren mindestens einmal die Woche oder chatten. Und wir schreiben uns Briefe! Keine E-Mails, richtige Briefe. Ich möchte Briefe von dir, du weißt ja wie sehr ich deine Schrift mag“, sagte Sandra, während sie sich an Emily kuschelte. „Trotzdem bin ich über einhundert Kilometer von dir entfernt“, kam es traurig von Emily. Sie blickte Sandra überrascht an, als sie hörte wie diese sagte, dass es egal sei. „Egal?! Wie kannst du das sagen?!“, fragte sie empört, wütend und verletzt zugleich. Daraufhin lächelte ihre beste Freundin und legte ihre Hand auf die Stelle wo Emilys Herz war. „Ein Stück meines Herzens gehört dir und ein Stück deines Herzens gehört mir. Wir sind für immer zusammen.“ Emily spürte wie sie errötete und fiel Sandra um den Hals. Sie hoffte, dass Sandra es nicht gesehen hatte und drückte ihr eigenes Gesicht an ihre Schulter. Es dauerte zwei Monate bis sie sich wiedersahen. Emily hatte sich eine kleine Wohnung in der Nähe der Universität gemietet und lebte alleine. Manche sorgten sich, dass sie einsam werden könnte, doch Emily war nicht einsam. Sie traf in der Uni täglich genug Leute mit denen sie sich auseinander setzte und wenn sie zu Hause ankam, konnte sie mit Sandra über das Internet Zeit verbringen. Aber heute konnte sie ihre beste Freundin endlich wieder in die Arme schließen. Bereits seit einer halben Stunde wartete sie am Gleis auf den Zug von Sandra. Er müsste schon längst da sein! Da! Endlich fuhr der Zug ein. Emily sah zu wie Leute mit schweren Koffern ausstiegen, kleine Kinder aus den Abteilen stürzten und lärmten und sogar einige Leute in Kostümen. Doch das alles ignorierte sie, konzentrierte sich nur auf das Schopf roter Haare, die braunen Augen und den grünen Schal, den Emily selbst vor etlichen Jahren für Sandra gestrickt hatte. „Sandra!“, rief Emily freudestrahlend und rannte auf sie zu und fiel ihr um den Hals. „Wie geht’s es dir? … Sandra? Ist etwas passiert?“ Sorgenvoll betrachte die junge Studentin das Gesicht ihrer besten Freundin. Doch Sandra schüttelte nur den Kopf und umarmte Emily etwas fester. Emily streichelte ihr einfach durchs Haar und zog sie enger zu sich. „Komm, wir gehen zu mir.“ Bei sich zu Hause angekommen, machte Emily erst einmal Kaffe für ihre Freundin. Sie setzte sich neben sie und reichte ihr die Tasse mit dem dampfenden Getränk. „Jetzt erzähl schon“, forderte sie Sandra auf. Diese atmete tief durch und nahm einen Schluck von ihrer Tasse. Danach blickte sie kurz zu Emily, nur um sofort den Boden anzublicken. „Ich…“, Sandra schüttelte den Kopf, als schwirre eine Fliege um sie herum. „Ich bin schwanger.“ „Was?! Aber wie? Ich mein, du hast doch nicht mal einen Freund!“, kam es geschockt von Emily. Sie wollte gerade Sandra weiter ausfragen, als Emily sah wir ihr Tränen die Wangen herunter liefen. „Ich weiß es auch nicht! Ich war vor zwei Wochen auf einer Party und da war dieser Kerl und dann… ist es einfach passiert“, berichtete Sandra mit verzweifelter Stimme. „Was soll ich nur tun? Meine Mutter wird mir kein Geld mehr geben wenn sie das herausfindet! Ich muss meine Ausbildung abbrechen un-…“ Emily drückte Sandra an sich, umarmte sie und sprach beruhigend auf sie ein. Und mit nur einem Satz brachte sie Sandra zum Lächeln, gab ihr das Gefühl, dass sie vielleicht doch alles schaffen kann. Mit einem Satz den Sandra vor vielen Jahren zu Emily sagte. „Ich werde immer für dich da sein.“ Es war so eine chaotische Zeit für uns. Wir haben es deiner Mutter erzählt und sie hat dich tatsächlich rausgeworfen. Die drei Wochen, die du bei mir gewohnt hast, waren wohl die anstrengensten meines Lebens. Aber deine Mutter beruhigte sich ja schnell wieder. Doch eins versteh ich heute noch nicht: Warum musste es so kommen? Es war spätabends als Sandra alleine durch die Straßen ging. Langsam wuchs ihr Bauch und wenn sie etwas engere Oberteile trug, konnte man ihn genau erkennen. Sie lächelte. Sie freute sich auf das neue Leben, das sie bald gebären würde und sie war überglücklich, dass sie Emily an ihrer Seite hatte. Es war Emily mit der sie ihr Kind großziehen wollte, die sie an ihrer Seite wissen wollte. Es hatte lange gedauert, aber endlich hatte Sandra sich selbst eingestanden, dass ihre beste Freundin mehr war, als nur ihre beste Freundin. Und heute war es so weit. Heute würde sie Emily alles sagen und sie war überzeugt davon, dass ihre Gefühle erwidert wurden. Sandra hatte vor Emilys Leibgericht zu kochen und war dafür extra einkaufen gewesen und gerade war sie auf den Weg zu Emilys Wohnung. Doch dort sollte sie an diesem Abend nicht ankommen. Das letzte was sie mitbekam, war ein kräftiger Schlag auf den Hinterkopf und wie der Boden plötzlich näher kam. Und danach war alles schwarz. Als sie erwachte, war sie in einem Krankenhaus, angeschlossen an ein EKG und einen Tropf. Auf dem Stuhl neben dem Bett saß Emily, den Kopf auf der Matratze, unruhig schlafend. Sandra setze sich vorsichtig auf und spürte einen stechenden Schmerz in ihrem Unterleib. Sie verzog ihr Gesicht und drückte ihre Hand sanft auf ihren Bauch. Verwirrt blickte sie sich um. Was war geschehen? Warum war sie hier? Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung neben sich und blickte in Emilys verschlafenes, aber sehr erleichtertes Gesicht. „Du bist wach! Gott sei Dank!“, rief Emily und Tränen begannen über ihre Wangen zu rollen. „Ich hatte solche Angst um dich…“ Sandra strich Emily über den Rücken, während sich diese an sie klammerte. „Emily… Was ist passiert?“, fragte Sandra leise, ihre Stimme voller Angst vor der Antwort. Und Emily erzählte. Erzählte von dem Überfall, wie sie ausgeraubt wurde. Und wie sie durch den Sturz ihr Kind verloren hat. Mit leisem Klirren zerbrach ihre Welt und sie klammerte sich an den wichtigsten Menschen in ihrem Leben und weinte ihr Leid heraus. Diese Zeit gehört zu den schlimmsten meines Lebens. Und dir ging es wohl noch schrecklicher. Doch wir haben es zusammen durchgestanden. Ich habe dich zu den Therapien begleitet und dich bei allem unterstützt. Und wenn ich jetzt so darüber nachdenke, bin ich mir einer Sache sicher: Du bist mein Engel. Und ich hoffe du denkst auch so über mich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)