Retrograde Amnesie von Mihikoru ================================================================================ Kapitel 7: Fragen über Fragen ----------------------------- Fragen über Fragen Joey schwirrten tausend Ideen durch den Kopf, wohin Kaiba mit ihm nach dem Unterricht gehen wollte. Eine Möglichkeit war abstruser als die andere und als er bemerkte, dass er davon Kopfschmerzen bekam, versuchte er, nicht mehr daran zu denken. Doch selbst als er sich draußen auf dem Schulhof von Yugi und den anderen verabschiedete und in die wartende Limousine stieg, konnte er seine Gedanken nicht zügeln. Kaiba machte es ihm auch nicht gerade leichter mit der Gesamtsituation umzugehen. Er schenkte ihm nur einen unbeteiligten Blick und ordnete dann seinem Chauffeur an, loszufahren. Die ganze Zeit über sprach der Brünette nicht mit ihm, sondern telefonierte über sein Handy ziemlich aggressiv mit einigen Geschäftspartnern. Der Blonde versuchte nicht hinzuhören, da es ihn ja rein gar nichts anging, und starrte nur aus den abgedunkelten Scheiben der Nobelkarosserie. Umso erstaunter war er einige Zeit später, als die Limousine direkt auf dem Parkplatz eines großen Einkaufscenters hielt. „Mitkommen, Wheeler!“, ordnete sein Klassenkamerad charmant wie immer an, sodass der Kleinere ihm schnell aus dem Wagen folgte. „Wo gehen wir hin?“ „Ach… Fragst du endlich doch noch?“ Musste Kaiba seine Frage mit einer Gegenfrage kontern? Langsam nervte ihn das! „Natürlich frage ich. Immerhin habe ich ja auch ein Recht zu fragen, wohin du mich bringst.“, antwortete der Blonde nun etwas heftiger als er vorhatte, woraufhin ihn Kaiba lange ansah. „Wird der Hund bissig?“ Seine spöttelnde Frage und dessen arrogante Mimik ließen Joey kurzzeitig die Luft ausstoßen. „Wohin?“, fragte er abermals, blieb stur stehen und verschränkte die Arme. „Wenn du mit mir shoppen gehen willst, habe ich derzeit kein Interesse.“ „Werde bitte nicht kindischer als sonst, Wheeler.“, belehrte ihn der Firmenchef und umfasste das rechte Handgelenk des Anderen. Mit festem, dennoch nicht grobem Griff brachte er den Kleineren dazu, ihm zu folgen. Joey war für einige Sekunden sprachlos, als er die weißen, feingliedrigen Finger des Brünetten um seine empfindliche Haut spürte. Kaibas Hände waren warm, sogar richtig angenehm. Nach all seiner ruppigen Art und kühlen Worte hätte er nicht erwartet, dass sein Klassenkamerad so eine gute Durchblutung hatte. Kaiba und warm. Das passte einfach nicht zusammen. „Kaiba, du…! Lass mich los. Wie sieht das denn aus?“, protestierte er, doch der Angesprochene zuckte nur unbeteiligt mit den Schultern. „Bei Fuß, Köter!“ War ja klar, dass wieder so ein Kommentar kommen musste. Zur Verwunderung des Blonden steuerte der Größere nicht auf das riesige Einkaufscenter zu, sondern lief quer mit ihm über den Parkplatz, durch einen kleinen angelegten Fußgängerweg. Ehe Joey sich versah, befand er sich mitten auf der Hauptstraße im Stadtviertel. Was wollte der Brünette denn hier? „Warum sind wir hier?“ Kaiba beobachtete Wheeler ganz genau und achteten auf jede versteckte Emotion in seiner Gesichtsmiene. Langsam lockerte er seinen Griff um das Handgelenk des Blonden und verschränkte nun seinerseits die Arme vor der Brust. „Wir befinden uns hier direkt an der großen Querstraße des Stadtzentrums. Hier hattest du deinen Unfall.“ Auf Kaibas kühle Erklärung hin weiteten sich die Augen des Kleineren sichtlich und sein Kopf flog panisch in alle Himmelsrichtungen. „Hier war das?!“ Joey konnte es nicht fassen, dass der Ältere ihn hierher gebracht hatte. Das war nicht gerade feinfühlig. Trotzdem blieb er ganz ruhig und ließ seine braunen Augen langsam über die unbekannte Umgebung wandern. Die etlichen Läden, die sich hier niedergelassen hatten, sagten ihm gar nichts. Ebenso das edel aussehende Restaurant auf der anderen Seite. „Warum hast du mich hierher gebracht?“, wollte Joey nun leise wissen, sein Atem ging etwas flacher als gewöhnlich. Er spürte eine leichte Panikattacke auf sich zukommen, so wie der Arzt es diagnostiziert hatte. „Dein zuständiger Arzt sagte, dass bekannte Umgebungen auch helfen würden, dass du dein Gedächtnis zurückerlangst.“, beantwortete Kaiba nun sachlich, woraufhin der Blonde abermals die Luft ausstieß. „Aber doch nicht der Unfallort! Was hab‘ ich dir eigentlich getan, dass du so grausam zu mir bist?“ Joeys braune Augen schimmerten verdächtig, während seine Lider unkontrolliert zu zucken begannen. „Himmel, Wheeler! Wie denn nun?“, zischte der Brünette zurück. „Hast du mir nicht vorhin in der Bibliothek gesagt, dass du nicht bemuttert werden willst?“ „Aber eine Schocktherapie will ich auch nicht.“ „Glaub mir, Wheeler, meine Schocktherapie sähe so aus, dass ich dich vor das nächste Auto schubsen würde.“ Joey war für einige Sekunden sprachlos, mit schreckerweiterten Augen sah er den Anderen an. Kaiba konnte nicht an sich halten, er musste schmunzeln. „Was denn, hast du etwa Angst?“ „Deine Frage ist sehr untertrieben, Kaiba.“ „So etwas traust du mir zu?“ Die Ernsthaftigkeit kehrte in das Gesicht des Größeren zurück. Er konnte schwer fassen, dass Wheeler ernsthaft annahm, dass er ihm schaden wollen könnte. Der CEO konnte nicht verhehlen, dass sie sich noch nie verstanden hatten und alles andere als Freunde waren. Trotzdem würde er dem Kleineren niemals ernsthaft wehtun. Geschweige denn ihn vor ein Auto stoßen. Wofür hielt der Blonde ihn denn? „Ich kenne dich nicht, Kaiba. Nicht richtig.“, beantwortete Joey nun leise die Frage des Größeren, sodass dieser kurz blinzelte um aus seinen Gedankengängen zurück in die Wirklichkeit zu kehren. „Die erste schlaue Erkenntnis von dir, Wheeler.“ Der Blonde erwiderte darauf nichts, besah sich nur weiterhin ihre Umgebung und trat etwas näher an den Bordstein, um den vorbeirauschenden Autos zuzusehen. Kaiba schwieg ebenso und einige Sekunden standen die beiden Oberschüler vollkommen regungslos in den dauernd bewegenden Menschenmassen der anderen Passanten und hingen ihren Gedanken nach. „Weißt du, was ich mich schon die ganze Zeit gefragt habe, Wheeler?“, durchbrach nun der Brünette wieder die Stille zwischen den beiden. „Warum hast du Mokuba damals gerettet?“ „Warum ich ihn gerettet habe?“, echote Joey nun etwas verdutzt über die Frage seines Klassenkameraden. „Ich mag deinen Bruder wirklich sehr, Kaiba. Wir sind auch Freunde. Da ist es doch wohl vollkommen logisch, dass ich ihn aus Reflex beschützt habe.“ „Das ist zwar korrekt, jedoch war meine Frage anders gedacht.“ „Wie war sie denn gedacht?“ „Unsere Oberschule liegt gut eine Dreiviertelstunde Fußweg von der hiesigen Mittelschule entfernt. Mokuba hatte an jenem Tag Fußballtraining und unsere letzte Unterrichtsstunde endete gute zwei Stunden früher. Normalerweise gehst du gleich nach Hause, Wheeler, und die Wohnung von dir und deinem Vater liegt in der entgegengesetzten Richtung von dieser Querstraße…“ „Woher weißt du, wo ich wohne und ob ich gleich nach dem Unterricht nach Hause gehe?“ „… Des Weiteren musst du dich an diesem Tag wohl an der Mittelschule mit Mokuba getroffen haben, sonst hättet ihr diese Querstraße gar nicht zusammen überquert, schon gar nicht zeitgleich.“, beendete Kaiba nun seine Ausführungen, ohne auf die Fragen von Joey einzugehen. Eisige Saphire bedachten das feingeschnittene Gesicht des Kleineren genau. „Warum hast du dich mit Mokuba getroffen, Wheeler? Sag es mir!“ „I-Ich weiß nicht… woher soll ich das wissen? Ich wusste ja noch nicht mal, das wir uns getroffen haben.“, stammelte der Kleinere nun und hob abwehrend die Hände. „Mal ehrlich, Kaiba, wie bist du denn darauf gekommen? Und warum fragst du mich das? Ich meine, ich habe Amnesie.“ „Dessen bin ich mir bewusst, Wheeler. Aber Mokuba scheint bei diesen Fragen auch an Amnesie zu leiden. Er blockiert diese Sache vollkommen, ich habe ihn schon etliche Male danach gefragt und ich will jetzt, das du es tust.“ „Warum denn ich?“ „Weil du ihm das Leben gerettet hast, du dämlicher Köter!“, zischte der Firmenleiter zurück, seine Stimme klang nun etwas gereizter als vorher. „Wenn Mokuba sich mir gegenüber schon nicht öffnet, wird er bei dir sicherlich redseliger sein. Denn dir schuldet er immerhin etwas.“ „Ich will deinen kleinen Bruder nicht aushorchen, Kaiba. Schon gar nicht gegen seinen Willen.“ „Du willst also dein Gedächtnis nicht zurück?“ „Nicht auf diesem Wege.“ „Dir ist echt nicht mehr zu helfen, Wheeler.“ Mit diesen Worten wandte sich der Brünette um und lief einfach in Richtung der wartenden Limousine zurück. Der Blonde sah ihm einige Augenblicke schweigend nach, bevor er ihm langsam folgte. Nach dieser kurzen Unterredung sprachen die beiden jungen Männer nicht mehr miteinander und jeder ging seiner Wege, nachdem sie wieder in der Kaiba Villa angekommen waren. Der Brünette verzog sich wie immer in sein Arbeitszimmer und versuchte seine Arbeit aufzunehmen, die Dank der letzten Tage immer mehr zugenommen hatte. Jedoch konnte er sich abermals nicht konzentrieren und nichts lenkte ihn von den Gedankengängen ab, die er seit Tagen loszubekommen versuchte. Nicht nur, dass er den blonden Köter in seinem Haus beherbergen musste, auch Mokuba sprach nicht mehr offen mit ihm, wie er es sonst getan hatte. Sein kleiner Bruder wirkte verschlossener denn je, sobald er das Thema ansprach, wie es zu Wheelers Unfall gekommen war. Dass sich der Blonde und Mokuba nach dessen Fußballtraining getroffen hatten, war unbestreitbar, denn der Firmenchef wusste eindeutig, dass sich die beiden ab und an hinter seinem Rücken begegnet waren. Zwar waren diese kurzen Treffen gut durchdacht gewesen, doch er hatte genug Quellen die es ihm ermöglichten, alles zu erfahren was er wollte, und da ihm sein kleiner Bruder sehr wichtig war, ließ er diesen auch ab und an beschatten. Ihm war es schon immer ein Dorn im Auge gewesen, dass sich Mokuba mit dem blonden Chaoten so gut verstand, aber gerade deswegen, hatte sein kleiner Bruder dies wohl als Aufforderung verstanden, gegen ihn zu rebellieren. War dies jedoch der einzige Grund gewesen, warum ihre Treffen außerhalb der Kaiba-Villa stattgefunden hatten? Was hatten Wheeler und sein kleiner Bruder so Wichtiges zu besprechen gehabt? Aufseufzend lehnte der Brünette seinen Kopf in den Nacken und schloss seine schmerzenden Augen. Er wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass sich Joey wenigstens ein bisschen hätte erinnern können.| Besagter Blondschopf war gerade dabei, zurück in sein Schlafzimmer zu kehren,als er mit einer Hand durch sein Haar fuhr, dass noch leicht nass vom Duschen war. Auch Joey war sehr verwirrt von den letzten Stunden und sein Kopf hämmerte aufgrund von Kaibas vielen Fragen. Wie lange trug der Brünette dieses Wissen schon mit sich herum und wie oft hatte er Mokuba wohl schon danach gefragt? Leise seufzend ließ sich der Blonde auf dem weichen Teppich vor seinem Bett sinken und starrte gegen die Wand. Auch er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er sich an irgendetwas erinnern könnte. Aber da war nur Leere und Unwissenheit. Träge ließ er seine braunen Augen über die Umrisse der Möbel schweifen und stoppte, als ihm seine Tasche ins Auge fiel, die direkt neben dem Nachtschränkchen stand. Hatte Yugi nicht gesagt, dass er mal darin schauen sollte? Soweit er wusste, hatten seine Freunde einige private Habseligkeiten hineingepackt, die ihm vielleicht helfen konnten, sich wieder zu erinnern. Schaden konnte es ja immerhin nicht, er hatte rein gar nichts zu verlieren. Langsam stand er auf und zog sich das Gepäckstück auf seinen Schoss, um mit nervös zittrigen Fingern den Reißverschluss aufzuziehen. Ihm fielen sofort einige Schnappschüsse ihrer Clique in die Hände, die er leicht lächelnd betrachtete, bis ihm auf der letzten Fotografie ein braunhaariges Mädchens ins Auge fiel, das fröhlich in die Kamera winkte. Sie hatte die gleiche Augenfarbe wie er, – braun. Das musste wohl seine Schwester Serenity sein, die er seit dem Unfall noch nicht gesehen hatte. Yugi und die anderen hatten von ihr erzählt und dass sie bei ihrer Mutter lebte, da sein Vater von dieser schon lange geschieden war. Langsam entleerte er den Inhalt der Tasche und brachte noch einige private Habseligkeiten zu Tage. Darunter mehrere Filme, die er wohl gerne geschaut hatte, sowie ein paar CDs von japanischen Bands. Seine Freunde hatten ihm ebenso einzelne vollgeschrieben Schulhefte eingepackt, die jedoch mehr gefüllt waren mit privaten Kritzeleien,welche er und Tristan sich gegenseitig in den Unterrichtsstunden zugeschoben hatten. Als Letztes hielt er eine schwarze Zeichenmappe in den Händen. Joey haderte einige Sekunden mit sich selbst, bevor er die Mappe aufschlug und es ihm kurz den Atem raubte. Er hatte bis jetzt keine Ahnung davon gehabt, dass er so gut skizzieren konnte. Langsam ließ er die gemalten Werke durch seine Hände gleiten und bewunderte die feingeschwungenen Arbeiten. Er hatte nicht nur wunderschöne Landschaftszeichnungen angelegt, sondern auch Porträts seiner Freunde erstellt. Auch befanden sich einige lustige Karikaturen darunter, die ihn zum Schmunzeln brachten. Dann jedoch gefror sein Lächeln, seine Hände verkrampften sich um den Block und er starrte wie gebannt auf die nächste Zeichnung. Langsam blätterte er zur nächsten… zur nächsten… und zur nächsten. Sein Mund kniff sich zusammen, seine Augen weiteten sich schockiert und er keuchte erschrocken auf. Beinahe panisch blätterte er etliche Zeichnungen durch, in der Hoffnung, zu träumen, jedoch war es nicht so. Als hätte er sich verbrannt ließ er die Mappe plötzlich fallen und atmete abgehackt ein und aus. Der Brünette schreckte hoch als das laute Knallen einer Tür überdeutlich durch die Stille der Etage hallte. Genervt erhob er sich von seinem Schreibtisch und betrat den Flur, da er sich denken konnte, welche Person hier so einen Krach veranstaltete. „Wheeler! Hatte ich dir nicht gesagt, dass du dich leise verhalten sollst?!“, spie er dem Anderen entgegen, der just in diesem Moment an ihm vorbeirannte. „Entschuldige, ich hab’s eilig.“ Der Blonde stürzte mit panischem Gesicht die Treppe zur Eingangshalle hinunter, sodass der Größere ihm nacheilte. „Wo willst du hin, Köter?“ „Zu Yugi, ich muss ihn unbedingt was fragen.“ Mit diesen Worten fiel die riesige Eingangstür der Villa ins Schloss und ließen einen irritiert aussehenden Seto Kaiba zurück, der am Fuße der ersten Etage stand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)