Freaks of Nature von sailor_muffin ================================================================================ Kapitel 15: Risiko ------------------ Der Großteil aus Nears Erinnerungen bestand aus Krankenzimmern, weißen Laken und dem Geruch von Desinfektionsmitteln. Die Rituale waren längst tief in ihm eingebrannt, das An und Ausziehen, die kalten Instrumente, tief einatmen, husten, ins Licht sehen, Zunge weit herausstrecken, Reflexe prüfen, auf einer Linie gehen, Temperatur messen, Urinproben, routiniertes Abtasten, leises Piepen von diversen elektronischen Geräten... Es machte nichts aus dass der dazugehörige Mensch im weißen Kittel ständig wechselte, sie waren austauschbar, eine gesichtslose Figur mit leiser Stimme und kalten Händen. Er war mit leichtem Albinismus zur Welt gekommen und befand sich an der Kante zur Kleinwüchsigkeit, er hatte ein schwaches Herz und ein verkleinertes Lungenvolumen, trotz Physiotherapie blieb eine geringe Muskelschwäche in seinen Beinen und sein Kreislauf und Blutdruck variierten von besorgniserregend zu eben noch vorhanden. Und natürlich noch das Asperger-Syndrom, nicht unbedingt körperliche Einschränkung, aber eine unsichtbare Wand zwischen ihm und allem was sich außerhalb befand. Sie nannten ihn erstaunlich und außergewöhnlich und tapfer. Sie gaben ihm Tabellen und Bücher mit, eine endlose Liste an Regeln und eine regenbogenbunte Ansammlung von Tabletten. Sie nannten ihn sensibel und krankheitsanfällig. Mello nannte ihn einen erbärmlichen, lästigen, aufschneiderischen, weinerlichen Schwächling. Near gefiel diese Definition sehr viel besser. Es waren zwei Tage nach seinem Anruf bei Mello dass er sich wieder meldete. Eigentlich wollte er noch etwas warten, vielleicht eine oder eineinhalb Wochen verstreichen lassen bevor er es sich erlauben würde, wieder die elektrisierende, ausfallende Stimme zu hören, aber die Ereignisse hatten ihm die Entscheidung abgenommen. Dieses Mal war es gleich Mello der abhob, vielleicht hatte er die ganze Zeit über lauernd vor dem Handy gesessen, eine Tafel Schokolade nach der anderen verschlingend. Vielleicht... „Hallo Mello. Seht ihr beiden auch gerade die Nachrichten?“ „Nein, wir schauen die Wiederholung von den Golden Girls. NATÜRLICH SEHEN WIR NACHRICHTEN!“ Er stellte sich vor wie Mello jetzt wohl aussehen würde, das Gesicht rosa angelaufen und blitzende blaue Augen. Sein verstorbener Informant, ihr gemeinsamer verstorbener Informant, der ihm nervös die Handynummer für eine nicht geringe Summe herausgegeben hatte, hatte gemeint dass er am ganzen Körper schwarzes Leder trug und eine Federboa um den Hals hatte. Die Vorstellung war gleichzeitig magnetisch, furchteinflößend und ein wenig lächerlich, genauso wie Mello selbst. Near zwang sich den Grund seines Anrufs anzugehen, später war noch genug Zeit seine Gedanken schweifen zu lassen. „Mich würde stark deine Meinung interessieren. Wie gut bist du mit dem Kira-Fall bewandert?“ „Nur grob. Dass ist die Sache an der L schon eine ganze Zeit dran ist. Der Rest der Wammys haben sich da ja rauszuhalten, es soll schließlich keine Verbindung zwischen ihm und uns gezogen werden können.“ Er war immer noch verstimmt, aber schon etwas ruhiger. Und offensichtlich hatte Nears Frage bei ihm auch sofort den Ehrgeiz geweckt. „Dieser 'Jinx' scheint die gleichen Fähigkeiten wie Kira zu besitzen. Aber er macht kleine Videobotschaften für die Abendnachrichten, bringt Leute live um und beginnt diesen Gerechtigkeitsquatsch zu predigen. Ich glaub nicht dass die Zwei zusammenarbeiten, das ist so gar nicht Kiras Stil. Außerdem tötet Kira nur Verbrecher oder Leute die ihn direkt bedrohen. Für Jinx scheint es schon genug zu sein in hirnlosen Talkshows zuzugeben, dass man Kira nicht 'ganz so geil' findet.“ Near hörte das Knistern von Alupapier, das vertraute 'Knacks', dann gleichmäßiges Kauen. Er erinnerte sich an unzählige Nachmittage in der gigantischen Bücherei in Wammys Haus. Staubflocken, die in den den breiten Sonnenstreifen tanzten, der sanfte Geruch alter Bücher und genau dieses Geräusch in einer Endlosschleife von ein paar Tischen weiter, wo hinter einem Berg aus Büchern ein blonder Junge saß, unermüdlich damit beschäftigt ihn zu übertreffen. „Ein Amerikaner höchstwahrscheinlich, niemand würde sich sonst kümmern was diese beschissenen Shows über Kira erzählen. Der soll ja Japaner sein, also befinden sich die beiden ziemlich weit auseinander, unwahrscheinlich dass sie sich schon einmal getroffen haben. Also ist das wohl ein Nachahmer, der von Kira nur gehört hat und jetzt seine eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit verfolgt. Und dabei alles andere als zimperlich vorgeht. Das heißt dann wohl dass wir in ziemlicher Scheiße stecken, einer war schlimm genug, der hier ist noch abgedrehter und wer weiß wie viele noch von diesen Typen auftauchen. Hier ist irgendne ganz große Sache am Laufen.“ Near nickte ruhig. „Ja, zu einem ähnlichen Ergebnis bin ich auch gekommen. Es scheint, dass L beginnt die Situation über den Kopf zu wachsen.“ „Was soll denn das jetzt?! Das ist Ls Fall! Er wird das schon alles im Griff haben. Niemand kann sich da einfach ungebeten einmischen.“ „Es ist nicht ungebeten.“ „Hä?“ „Noch vor dieser beunruhigenden Ausstrahlung habe ich einen Anruf von Watari bekommen. Offenbar gibt es gewisse Komplikationen bei den Ermittlungen in Japan.“ „Komplikationen? Was soll denn das heißen? Ist L in Gefahr?“ „Er hat nichts konkretes berichtet. Nur dass ich mich in die Materie hineinarbeiten sollte, für den Fall dass etwas... Unerwartetes geschieht.“ „Und da hat er sich bei DIR gemeldet?“ „Nun, wenn man von meiner überlegenen Intelligenz absieht, ist es höchstwahrscheinlich deine beachtliche Liste an kriminellen Straftaten die dich als potenziellen Nachfolger disqualifiziert hat. Natürlich ist das nur eine Vermutung.“ Eine recht beeindruckende Ansammlung an Flüchen kam aus der Leitung. Near sollte sich wirklich zusammenreißen. So viel Spaß es auch machte, zum Spielen war später Zeit. Jetzt war es wichtig ein wenigstens halbwegs vernünftiges und produktives Gespräch zu führen. „Wie auch immer,“ unterbrach er Mello als dieser gerade Luft für den nächsten obszönen Wortschwall holte. „L scheint mit der Situation sichtlich überfordert zu sein. Spätestens der Auftritt dieses Jinx zeigt das deutlich. Deswegen ist es nur logisch dass der Nächste in der Reihe übernimmt. Allerdings glaube ich dass ich auf mich allein gestellt an diesem Fall ebenfalls scheitern müsste, soviel habe ich von meinen Nachforschungen erfahren. Ich brauche deine Hilfe, Mello.“ Das war der kritische Punkt. Near hatte kein Problem damit zuzugeben, dass er ohne das Zutun von Mello mit ziemlicher Sicherheit scheitern würde. Für diesen Fall reichte es nicht Theorien in seinem Kopf durchzugehen. Man brauchte genauso wie ein ungewöhnlich gutes Denkvermögen die nötige Intuition und Initiative, eine passive und eine aktive Seite, denn der Gegner war in Beidem extrem gut bewandert. Es war nur die Frage ob die Aussicht darauf, dass Near auf ihn angewiesen war, ausreichte dass Mello mit ihm zusammenarbeitete. „Nur damit ich das richtig verstehe. Watari hat dich damit beauftragt dich darauf vorzubereiten Ls Rolle zu übernehmen. Und deine erste Reaktion ist es mich, einen gesuchten Verbrecher, hinter seinem Rücken dazu einzuladen mitzumachen? Was erste Amtshandlungen angeht ist das ziemlich beschissen.“ Nun, das war zumindest kein Nein. „Wirst du über meine Bitte nachdenken? Gemeinsam können wir diesen Fall lösen, davon bin ich fest überzeugt.“ „Wir werden sehen. Gib mir was unter dem ich dich erreichen kann.“ Near schluckte die Bemerkung, dass Mello all die Zeit nach ihm gesucht hatte nur um jetzt höflich zu fragen, nur knapp herunter. Stattdessen gab er ihm die Telefonnummer der Hauptleitung seiner Abteilung und die Adresse seines großen Bürogebäudes. Es gab keinen Grund mehr sich zu Verstecken. Mello würde zu ihm kommen, und mit einer Herausforderung diesen Ausmaßes im Blick würde er wohl kaum einfach den Wolkenkratzer in die Luft sprengen. Natürlich konnte man sich bei Mello da nie ganz sicher sein. Near lächelte still vor sich hin. 'Mein erstes waghalsiges Risiko. Kein schlechtes Gefühl.' Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)