Freaks of Nature von sailor_muffin ================================================================================ Kapitel 5: Ein Blick hinter Fassaden ------------------------------------ Alles tat weh. Der Schmerz schien mit jedem Schritt schlimmer zu werden, das Brennen an den Handflächen, der scharfe, pochende Schmerz im Gesicht, das dumpfe Dröhnen im Kopf. Wie konnte es nur so schmerzhaft sein einen einzigen Schlag einstecken zu müssen? Aber L hatte ja nicht wirklich eine Erfahrung mit der er das Gefühl vergleichen könnte. Er hatte sich nie geprügelt. Das Capoeira hatte er vor dem Fernseher mit Übungsvideos angeeignet. Dass Light gerade im richtigen Moment aufgetaucht war könnte vermuten lassen dass der Vorfall geplant war, trotzdem bezweifelte L es. Light hätte keinen Vorteil davon, bis auf vielleicht ein primitives Gefühl der Genugtuung. Und Light stand über diesen Dingen. Also hatte L es wirklich einfach nur geschafft, sich vor seinem ebenbürtigem Rivalen zu blamieren. Fantastisch... Der Waschraum war feucht und roch wie die Umkleide die davor lag, Schweiß und Deodorant und Polyester. Widerlich. Er warf seinen Lutscher in den Abfalleimer. Zögernd hielt er seine Hände unter den leicht angerosteten Wasserhahn. Der Schmerz explodierte erneut als das kalte Wasser über seine Handflächen lief. Reflexartig stiegen ihm Tränen in die Augen, aber er zwang sich keinen Laut von sich zu geben. „Bist du ok?“ L zuckte zusammen, Lights Stimme war viel dichter an seinem Ohr als sie sein sollte. Als er sich umdrehte standen sie nur Zentimeter entfernt. Lights Atem roch leicht nach Minze. L schluckte trocken. „Natürlich.“ Das zweite Mal dass er heute einem Menschen näher als ihm angenehm war, die ganze Sache hatte sich verselbstständigt. Aber obwohl Light auf seine Art sehr viel Gefährlicher und Unberechenbarer als sein vorheriger Angreifer war hatte L nicht dasselbe angewiderte Gefühl. Stattdessen lief eine vibrierende Spannung durch seinen Körper, als ob er kurz davor stehen würde einen extrem verwinkelten Fall zu lösen oder wie damals, kurz vor dem letzten Spiel der Juniormeisterschaften. „Wir müssen das nicht tun. Wie willst du denn mit deinen Händen den Schläger halten? Du musst niemanden etwas beweisen, auch deinem Hauptverdächtigen nicht.“ Schlanke, leicht gebräunte Finger strichen langsam über Ls Schulter, als würden sie versuchen den Schmutz etwas zu entfernen. L schlug sie wütend weg. „Geb dich nicht der falschen Annahme hin ich wäre schwach. Sei es im Körper oder im Geist.“ Nein. Das war nicht mehr das anregende Gefühl von Damals. Es war stärker, viel stärker. Light lächelte leicht und streichte jetzt sanft die andere Schulter ab. „Das weiß ich. Deswegen sind wir hier. Wir beide...“ Er hielt einen Moment inne. Seine Hand ruhte immer noch auf Ls Schulter. „Wir beide sind stärker als all die Menschen da draußen. Der einzige Unterschied ist der, dass ich gelernt habe mich meiner Umwelt so anzupassen dass es dem oberflächlichen Betrachter nicht auffällt. Du hattest dafür nur noch nicht genug Übung.“ „Mir scheint Light-kun verwechselt weltfremd und atypisch mit Soziophatie.“ L war sich darüber im Klaren dass das was er gerade tat dem Fall bestimmt nicht dienlich sein würde, aber er war aufgebracht und sein Herz schlug schnell, viel zu schnell, viel schneller als bei dem Angriff auf dem Platz. Light hob leicht eine dünne Augenbraue. „Soziophatie?“ „Nichts an Light-kun ist echt. Er hat seine Emotionen und Reaktionen alle tadellos kopiert, eine Collage der Dinge die seiner Meinung nach Menschlichkeit ausmacht. Aber das wahre Menschliche fehlt ihm, er ist eine Hülle, eine Tarnung für das was er von der Welt verbergen möchte, für sein wahres Ich.“ „Und was ist mein wahres Ich?“ Wenn L nur ganz leicht den Kopf nach oben neigen würde würden sich ihre Nasen streifen. Light lächelte schmal, in seinen Augen schien der Bernstein zäh und träge zu fließen. Hypnotisch. „Light Yagami ist ein Monster.“ L erwartete (hoffte) dass Light dieses neue Spiel an dieser Stelle beenden würde, lachen, ihn für verrückt und überlastet erklären würde. Ja, er war viel zu schnell vorgestürmt und hatte durch diesen direkten Angriff sicherlich nicht den strategisch günstigsten Zug ausgeführt, aber jetzt war diese Runde vorbei und er musste damit leben. Stattdessen kam eine zweite Hand nach oben. Light hielt ihn an den Schultern, nicht wirklich fest, aber die Berührung allein schien durch den dünnen Stoff wie Feuer zu brennen. Er lächelte jetzt noch breiter, und etwas Grausames war in sein Gesicht getreten. „Und wie sieht es mit L aus, hm? Der große Meisterdetektiv der sich wie eine Ratte in abgeschotteten Zimmern verkriecht, Zuckersirup aus einem Glas löffelt und sich nur die schwersten Fälle aussucht, alles um der ewigen Langeweile zu entkommen. Denn darauf kommt es am Ende immer zurück. Langeweile. Sie macht uns zu dem was wir sind. Wir stehen soweit über den anderen Menschen um uns, das was sie tun genügt uns nicht um dieser tödlichen Trägheit zu entkommen. Wann ist es dir zum ersten Mal aufgefallen? Dass dich das Detektiv-Spielen nicht mehr befriedigt? Dass du mehr brauchst?“ Lights Stimme schien dumpfer, tiefer zu werden, als wäre L unter Wasser. 'Dong. Dong. Dong. Dong.' Die Glocken... Die Glocken waren nie ein gutes Zeichen. „Deswegen tust du das alles. Deswegen bist du bereit deinen Körper bis an seine absoluten Grenzen zu treiben, immer weiter, immer höher. Deswegen bist du bereit hierher zu kommen, aus deinem Versteck zu kriechen und dich der Gesellschaft auszusetzen trotz deines offensichtlichen Abscheues. Denn du weißt, wenn du stoppst, wenn du innehälst, dann bemerkst du wie unzufrieden du bist. Dass du mehr sein willst.“ Mehr. Mehr als nur ein Detektiv. Wie BB. Ein perfektes Verbrechen schaffen. Wie Kira. Eine perfekte Welt schaffen. 'Dong. Dong...' „Du hast dir den Kira-Fall ausgesucht weil der Täter dir so ähnlich ist. Und während du versuchst ihn zu fassen kannst du beinahe vergessen wie sehr du ihn beneidest. Was bringt es einen Verbrecher nach dem anderen hinter Gittern zu bringen? Das Rechtssystem lässt so viele wieder laufen, ein, zwei Jahre gute Führung und ein Vergewaltiger kann wieder auf die Straße. Und die größten Kriminellen, die wirklich verdorbenen Menschen, besitzen genug Geld und Einfluss das sie nie ihre gerechte Strafe bekommen. Tief in dir, da wünscht du dir Kiras Macht zu besitzen. Also wäre ich an deiner Stelle vorsichtig mit Anschuldigungen.“ Light war euphorisch. Das war besser, viel besser als alles was er erhofft hatte. Er hatte damit gerechnet den Rest des Tages untätig vor Ls Schutzmauer stehen zu müssen und diese alberne Farce bis zum Ende durchzuziehen bis sie wieder ins Hauptquartier zurückkehrten. Und dann hatte sich L vor dem Waschbecken umgedreht und noch nie hatte Light etwas so Wunderschönes gesehen. Ls Augen waren feucht, verwirrt, OFFEN! Jetzt! Jetzt, musste er etwas tun, irgendetwas, egal was, um ihn offen zu halten! Und, oh Gott, es funktionierte. Nur ein paar ruhige, gönnerhafte Worte und sanfte Berührungen und L spuckte ihm seine wahren Gedanken entgegen. Dann konnte Light seinen Angriff starten. Scheiß auf den langsamen und vorsichtigen Weg. Er musste nicht mehr die Hintertür nehmen, nicht wenn L so bereitwillig das Eingangstor offenhielt. Während Light allem Luft machte was sich in ihm angestaut hatte, jede Erkenntnis und Beobachtung und Ahnung und Vermutung über dieses unergründliche, unvergleichliche Wesen das sich selbst in Ketten gelegt hatte, schien der endlose schwarze Abgrund in Ls Augen tiefer und tiefer zu werden, eine brodelnde, aufgewühlte Finsternis gefüllt mit all den Gedanken und Gefühlen die L ihm immer vorenthalten hatte. Aber irgendetwas war nicht richtig. L schien ihn gar nicht mehr zu sehen, seine Augen waren starr auf einen weit entfernten Ort gerichtet. Dabei war es doch Light, der ihm sein Fundament unter den Füßen wegriss! Und jetzt auf einmal schien der Andere für ihn gar nicht mehr zu existieren. L war verloren in seiner eigenen Welt und was immer gerade darin vorging sah nur er selbst. Egoistischer Bastard! Light krallte seine Finger in knochige Schultern und schlug den Detektiv mit voller Wucht gegen die harte, mamorierte Wand. Wie ein zerrissenes Gummiband schnalzte Ls Aufmerksamkeit auf Light zurück. Er stieß einen würgenden, kreischenden Schrei aus, so laut und unerwartet dass Light vor Schreck zurückstolperte. L nutzte den neugewonnenen Abstand um ihm mit dem Fuß gegen das Brustbein zu treten, dass Light alle Luft aus den Lungen wich und er hustend zu Boden fiel. Während er noch keuchend nach Atem rang hatte sich L schon auf ihn gestürzt und begonnen wie ein wildes Tier auf ihn einzuschlagen. „Ich versuche alles! Ich mache alles richtig! Was soll ich noch tun? Was??!“ Light schaffte es ihm sein Knie in den Bauch zu rammen und L zur Seite zu stoßen. Der Detektiv hockte zusammengekauert auf dem Boden und starrte Light mit dem Blick eines verletzten, panischen Tieres an. L war immer noch meilenweit weg. Er begann leise vor sich hin zu brabbeln. „Ich habs versucht. Immer. Und wenn wir gar nicht existieren sollten? Vielleicht sollten Leute wie wir gar nicht... Alle um uns herum, die Gesellschaft, sie verachtet uns und wir sie. Wir können gar nicht in dieser Welt leben und werden deswegen von ihr abgestoßen. Natürliche Selektion. Wir sind genauso von dem Gedanken getrieben sie zu vernichten wie sie davon uns zu vernichten. Nichts wird das ändern können, alles was ich versuche, es tut mir so Leid, tut mir so Leid. Ich wollte Ihnen nur helfen. Ich wollte dir nur helfen, B.“ L begann langsam auf Light zuzukriechen, der sofort rückwärts krabbelte bis er mit dem Rücken an die kalte Wand stieß. „Ich wollte nur helfen, B. Es tut mir leid. Bitte, bitte verzeih mir.“ Light konnte nur mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen zulassen dass L ihm halb auf den Schoß kroch und seine blassen, blutverschmierten Finger in Lights Schuluniform grub. Bis auf das leise Schluchzen von dem größten Detektiv der Welt herrschte im Waschraum völlige Stille. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)