Frühlingsgefühle von Schangia (Rote Blumen sind die schönsten) ================================================================================ Kapitel 2: Knospen ------------------ Shizuo erinnerte sich nicht einmal daran, in Ohnmacht gefallen zu sein. Natürlich, es ergab Sinn, wenn er daran dachte, wie viel Blut er verloren hatte, aber dass er so einfach versagt hatte kratzte doch mehr an seinem Stolz, als er zugeben wollte. Als er allmählich von einem traumlosen Schlaf in einen halbwegs wachen Zustand driftete, fühlte er sich sofort mit seinen eigenen Selbstzweifeln, Vorwürfen und Gefühlen der Enttäuschung konfrontiert. Schnell verging ihm die Lust, die Augen zu öffnen und aufzustehen, seinen gewohnten Alltag wieder aufzunehmen, weil ihm mehr als klar war, dass es eben nicht mehr so sein würde, wie er es gewohnt war. Heiwajima Shizuo verlor nicht. Punkt. Je wacher seine Sinne wurden, desto deutlicher nahm er die Helligkeit war, das Licht, das unsanft versuchte, seine Sicht zu blenden. Also schnell die Decke genommen und über den Kopf gezogen, damit er sich nicht mit der Außenwelt beschäftigen- Decke? Viel zu hastig schreckte er hoch, kämpfte im ersten Moment gegen ein unangenehmes Schwindelgefühl und aufkommende Übelkeit an. Aufmerksame Augen durchsuchten das Zimmer, in dem er sich befand bis ins kleinste Detail nach Gefahren, während sein Kopf unruhig von einer Richtung in die andere ruckte. Den meisten Menschen hätte es wohl Todesangst eingejagt, nach einer Ohnmacht in einem ihnen unbekannten Raum aufzuwachen (Krankenhäuser einmal ausgeschlossen), doch Shizuo erfüllte diese Erkenntnis lediglich mit einem leichten Unbehagen. Es war schließlich nicht so, dass er sich nicht gegen eventuelle Angreifer wehren konnte. Dennoch plagte ihn die Frage, wie er hierher gekommen war. Und viel wichtiger, warum man sich die Mühe gemacht hatte, ihn von der schäbigen Sackgasse in ein Bett zu verfrachten. Ein sehr bequemes Bett, wie er am Rande wahrnahm. Eilig schüttelte er den Kopf, wollte seine Gedanken ordnen und seine nächsten Schritte überdenken. Für gewöhnlich hätte er nun, nachdem er aufgewacht war, seine Sachen zusammengeklaubt und wäre schnurstracks nach Hause gegangen – natürlich nicht, ohne sich mit einem höflichen Nicken bei seinem ›Retter‹ zu bedanken. Heute allerdings würde es nicht so ablaufen wie sonst. Anfangs noch zu überrascht, bemerkte Shizuo erst jetzt einige Details in dem hellen Zimmer, die ihm zuvor entgangen waren. Da war zum einen die Tatsache, dass die Fenster nicht von Vorhängen verdeckt wurden und den Sonnenstrahlen so ungehinderten Zutritt erlaubten. Es war nichts Ausgefallenes, doch es änderte viel an der Atmosphäre, die in dem Zimmer herrschte. Die Fenster befanden sich rechts und links in der Wand, an der das Kopfende des Bettes stand. Ihm gegenüber thronte ein für seinen Geschmack zu großer Kleiderschrank in schlichtem, dunklem Holz, der gut mit der hellen Tapete harmonierte. An der linken Wand befanden sich mehrere Bücherregale, rechts die Tür, die vermutlich in ein Wohnzimmer oder einen anderen Raum führte. Nicht, dass Shizuo auch nur den Hauch einer Ahnung von Innenarchitektur hatte – seine Wohnung hatte Kasuka für ihn eingerichtet –, doch er musste zugeben, Gefallen an dem leicht minimalistischen Stil des Zimmers gefunden zu haben. Zufrieden mit seinen ersten Beobachtungen sah er sich in seiner näheren Umgebung um. Rechts neben dem Bett stand ein kleiner Nachttisch mit mehreren Schubladen, in die er aus Respekt vor der Privatsphäre des Hausbewohners nicht schaute. Viel mehr interessierte ihn das gerahmte Foto, auf dem ein schlanker Japaner mit blond gebleichten Haaren grimmig in die Kamera starrte. Kurz stockte ihm der Atem. Was machte ein Bild, das Shinra zu ihrer Schulzeit von ihm gemacht hatte, auf diesem Nachttisch? Mit einem Mal stieg Misstrauen in ihm auf, er begann, an den guten Absichten seines fragwürdigen Retters zu zweifeln. Angst hatte er nicht, doch das Foto und die Tatsache, dass er wider Erwarten nicht in der verkommenen Seitengasse aufgewacht war, beunruhigten ihn. Nicht beunruhigt, doch dafür panisch aus Angst vor den nächsten entscheidenden Minuten lief der Frühling unruhig umher. Hinter ihm nickten seine Brüder teils anerkennend, teils perplex, so als wüssten sie nicht, ob sie ihm zu diesem Erfolg gratulieren oder ihn bemitleiden sollten. Erfolg. Das würde sich noch zeigen. Er wollte nicht zwingend wissen, was geschehen würde, sobald Izaya hinzukam... Ehe Shizuo jedoch einen weiteren Gedanken an das ominöse Foto verschwenden konnte, klopfte es an der Tür, zwei knappe, aber kräftige Schläge, die signalisierten, dass die Person sich in ihrem Territorium befand, sozusagen Heimvorteile besaß. Dessen war sich auch Shizuo bewusst. Instinktiv wollte er nach einer Waffe greifen, doch erst, als seine Hand ins Leere ging erinnerte er sich daran, dass Verkehrsschilder nicht innerhalb einer Wohnung aufgestellt wurden. Mehr Zeit blieb ihm nicht, denn wer auch immer geklopft hatte, öffnete die Tür nun vorsichtig einen Spalt breit. Ihm blieb fast das Herz stehen, sowie ein schwarzer Haarschopf neugierig ins Zimmer blickte. »Oh, du bist wach«, murmelte Izaya milde überrascht, bevor er die Tür vollständig öffnete und mit einer Tasse dampfenden Gesöffs in der Hand eintrat. »Ich hatte damit gerechnet, dass du noch mindestens ein, zwei Stunden weiterschläfst.« Und Shizuo hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dieser Wendung. Wenn er gekonnt hätte, wäre er aufgesprungen, hätte Izaya umgehend zu Boden geworfen, ihm langsam die Kehle zugedrückt und in sadistischer Zufriedenheit zugesehen, wie das Leben aus den weichen Gesichtszügen wich. Ehe er sich jedoch in seinen Mordphantasien verlieren konnte, musste er sich eingestehen, dass er nicht nur vor Schock wie gelähmt war. Vielmehr war es sein immer noch geschwächter Körper, der sich weigerte, seinen Befehlen Folge zu leisten. Sicherlich musste er ein ziemlich lächerliches Bild abgegeben haben: die Augen vor Schreck aufgerissen, der Mund weit offen, eine leicht zitternde Hand, die auf Izaya zeigte und dazu hilfloses Gestotter, weil die Fragen, die er stellen wollte, die Reise von seinem Hirn zu seinem Mund nicht überstanden und irgendwo auf dem Weg verloren gingen. Sein Gegenüber schüttelte amüsiert den Kopf, schien seine Fassungslosigkeit in vollen Zügen zu genießen. Dann warf Izaya ein Bündel Kleidung auf das Bett, Shizuos Kleidung. Verwirrt sah dieser an sich herunter, bemerkte erst in diesem Augenblick, dass er bis auf seine Boxershorts nichts trug. ›Das kann einfach nicht wahr sein.‹ Doch, es entsprach durchaus der Wahrheit, das bestätigte ihm auch Izayas verhaltenes Kichern. Wenigstens besaß dieser genug Anstand, ihn nicht lauthals auszulachen. Peinlich war es ihm trotzdem; wer wurde schon gerne von seinem Erzfeind bis auf die Unterhose ausgezogen und verarztet? (Jetzt fiel ihm auch auf, dass der Großteil seines Körpers einbandagiert war.) »Was zum...« Unter Aufbringung seiner gesamten Konzentration schaffte Shizuo es sogar, den ersten Teil einer der vielen Fragen zu formulieren, die ihm nicht erst seit Izayas Auftreten im Kopf herumschwirrten. Allerdings schien Izaya seine Mühen nicht richtig anzuerkennen. »Du bist schwerer als du aussiehst, Shizu-chan«, kommentierte er kichernd, die freie Hand in die Hüfte gestemmt, »aber das wird wohl an deinen Muskeln liegen.« War das ein Kompliment? Darauf konnte er nichts erwidern. Shizuo war bereits froh, überhaupt zwei Worte herausbekommen zu haben, da wollte er sein Glück nicht weiter strapazieren. Oberste Priorität war es zwar, Izayas Gründe herauszufinden, aber sich in seinem derzeitigen Zustand auf einen Kampf einzulassen, wagte Shizuo noch nicht. Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, wenn er noch zwei Stunden weitergeschlafen hätte. Indes wurde sein beharrliches Schweigen von seinem Gegenüber völlig falsch gedeutet, vermutlich als Aufforderung an ihn, weiter zu sprechen. Eine Aufforderung, der er nur zu gerne nachkam. In formvollendeter Arroganz zog Izaya die Augenbrauen hoch, ließ ein dermaßen spöttisches Grinsen sein Gesicht einnehmen und sah dabei so lächerlich aus, dass Shizuo dachte, der andere würde kurzzeitig an Gesichtslähmung leiden (wie sonst sollt er so eine Grimasse zustande bringen?). »Ein ›Danke, Izaya-sama‹ wäre durchaus angebracht, findest du nicht?« Er hatte sich wohl verhört. Jetzt musste ihm eine gute Konter einfallen, sonst hatte er diesen inoffiziellen Kampf haushoch verloren. »Fick dich«, knurrte er gereizt, immer darauf bedacht, Izaya mit seinem Blick zu durchbohren. Dieser hingegen interessierte sich nicht für seine Versuche, seine Machtposition wiederzuerlangen, die verloren gegangen war, seit er über die Schwelle dieser Wohnung gezogen worden war. Selbst das letzte Bisschen seiner Bedrohlichkeit schien verflogen, als Izaya wie selbstverständlich an den Nachttisch herantrat, endlich die Tasse abstellte, die Shizuo bereits wieder vergessen hatte. Vermutlich sollte es ihn nicht verwundern, dass Izaya sich so frei und unbeschwert bewegte; immerhin war es seine Wohnung. Sein Territorium, sein Schlafzimmer... und somit auch sein Bett, in dem er gerade in Unterwäsche residierte. Kurz fiel sein Blick auf die Tasse, in der sich vermutlich Kakao befand – Shizuo meinte sich erinnern zu können, dass Izaya keinen Kaffee trank. »Trink ruhig.« Die Stimme des anderen kam verhalten bei ihm an, klang wahrscheinlich deshalb so weit weg, weil Shizuos Sinne noch nicht auf Hochtouren liefen. Übrigens wollte Shizuo auch dies für den Grund halten, dass er Izaya noch nicht versucht hatte umzubringen. Die ganze Situation erschien ihm zu irreal, zu unmöglich, als dass sich seine Wahrnehmung schnell genug hätte regenerieren können. Eventuell, und darauf hoffte er, war all das nur ein schrecklich realitätsfremder Traum, und sobald alles zu verrückt wurde, würde er aufwachen und feststellen, dass nichts von alledem je geschehen war. Und da dies offensichtlich ein Traum war, konnte er sich zurücklehnen und musste nicht wieder in blinder Mordlust auf Izaya stürzen. Wieso sollte er sich nicht ein wenig Ruhe gönnen? Irgendwo in seinem vernebelten Geist verschaffte eine Stimme sich Gehör, die ihn darauf hinwies, wieso Izaya überhaupt mit einem Kakao zu ihm gekommen war – diese Stimme merkte darüber hinaus an, dass er schon seit einiger Zeit auf ebenjene Tasse starrte. Hastig riss er seinen Blick los, linste aus den Augenwinkeln zu Izaya. Auch wenn das nur ein Traum war, konnte diese Ratte das Getränk immer noch vergiftet haben. Besagte ›Ratte‹ kicherte erneut, nahm ungefragt auf dem Bett Platz. »Nenn mir einen Grund, warum ich dir irgendetwas untergemischt haben sollte.« Bis auf die üblichen Gründe – Hass, Schadenfreude, Sadismus, allgemeine Freude an seinem Leid – fielen ihm keine ein. Stattdessen bemerkte er ein winziges Detail, welches ihm mangels wacher Sinne zuvor entgangen war. »Du dachtest, ich würde noch schlafen.« Es war eine Feststellung, die Izaya nur mit einem Nicken bestätigen konnte, sagte sie doch im Prinzip nichts aus. Zu sehen, auf welche Ideen ein benommener Shizuo kommen könnte, war mehr als interessant und reizvoll für ihn. Indes überlegte Shizuo weiter, kam schließlich zu einem Schluss, der ihm irgendwie nicht gefallen, geschweige denn einleuchten wollte. »Das ist dein Kakao.« Erst nachdem er die wenigen Worte ausgesprochen hatte, merkte er, wie dämlich sie klingen mussten. Schon traurig, wie nutzlos er nach einer Ohnmacht war. Izaya verstand dennoch, worauf er hinauswollte, antwortete grinsend: »Nicht mehr.« Später würde er seine Begriffsstutzigkeit gerne auf die Unmenge Blut schieben, die nicht mehr durch seine Adern strömten, sondern in irgendeiner Seitengasse den Boden befleckten. Benommen sah er auf seine Hände, hielt den Kopf schon eine Weile gesenkt, weil er nicht wusste, wie er auf so viel ungewollte Nähe und beinahe aufgezwungene Vertrautheit reagieren würde. »Du scheinst ihn nötiger zu haben als ich.« Er sprach immer noch von dem Kakao. Eine simple Erklärung, da er wusste, dass Shizuo sie momentan nur so verstehen würde. »Außerdem kann ich mir jederzeit einen neuen machen.« Definitiv ein Traum. So viel Verständnis und Freundlichkeit konnten unmöglich von dem bösartigen Japaner kommen, der ihm sein Leben schon viel zu oft erschwert hatte. Angespannte Stille legte sich über sie. Sowie Shizuo spürte, wie sich das Bett unter ihm etwas bewegte, sah er flüchtig auf: Izaya hatte sich mit den Händen auf der Decke abgestützt und sich nach hinten gelehnt. Es mochte sich zwar um seine Wohnung und sein gottverdammtes Bett handeln, aber Shizuo fühlte sich dennoch in seiner Privatsphäre gestört. Zu gerne würde er ihm einen schlagfertigen Kommentar entgegenschmettern, doch auch Izaya schien noch etwas sagen zu wollen. Sein Mund öffnete und schloss sich, das Grinsen war gänzlich verschwunden und hatte nur den Anflug eines Lächelns hinterlassen. »Schön, dass es dir besser geht«, wisperte Izaya abwesend, während er einen unbestimmten Punkt an der gegenüberliegenden Wand fixierte. Spätestens jetzt war Shizuo sich absolut sicher, dass er immer noch ohnmächtig war und all das nur träumte. Oder er war wach und Izaya war ein begnadeter Schauspieler. Oder er sagte die Wahrheit, hatte sich wirklich Sorgen um ihn gemacht. Ach, das wurde ihm alles zu verdreht, zu ungewohnt emotional. Er brauchte jetzt erst einmal eine- Nachdenklich legte er die Stirn in Falten. »Wo sind meine-«, begann er missmutig, ehe Izaya ihn unterbrach, auf den Lippen wieder das gewohnt überhebliche Grinsen. Er lehnte sich noch ein wenig zurück, drehte sich gleichzeitig in Shizuos Richtung und zog gemächlich eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche. »Meinst du die hier?« Zuerst erstaunt, begriff er schnell, wie Izaya an seine Zigaretten kommen konnte. Das Warum war in diesem Falle auch leicht herausgefunden, denn der andere hatte seine schlechte Angewohnheit des Rauchens nie gemocht und oft versucht, ihm während ihrer Kämpfe die Kippe aus dem Mund zu stibitzen. »Gib sie mir.« Auf Höflichkeit konnte er getrost verzichten. Das hatte Izaya in seinen Augen nicht verdient. Sowie sein Gegenüber die Zigarettenschachtel allerdings mit einem gezielten Wurf im Papierkorb versenkte und ihm überlegen zuzwinkerte, fragte er sich, ob ein ›bitte‹ etwas an seinem nikotinlosen Schicksal geändert hätte. Ein wenig sehnsüchtig begann er, den Papierkorb zu fixieren, dachte kurzzeitig sogar daran auszuprobieren, inwiefern er telekinetische Kräfte besaß. Je länger er sich einen kräftigen Zug an einer Zigarette wünschte, desto heftiger wurde auch sein Verlangen etwas zu trinken. Ihm fiel auf, dass er gar nicht gefragt hatte, wie lange er weggetreten war – wahrscheinlich war es auch nicht von Bedeutung, aber die Antwort würde wohl seinen Durst erklären. Zögerlich, mit einem wachsamen Seitenblick auf Izaya, griff er nach der Tasse mit dem mittlerweile wohl erkalteten Kakao, führte sie an seine Lippen, schnupperte kurz daran und stellte zu seinem Unmut fest, dass alles in Ordnung zu sein schien. Während Shizuo ein paar Schlucke trank, zog das Foto auf dem Nachttisch erneut seine Aufmerksamkeit auf sich. »Das Bild«, setze Shizuo an, doch weil er die passende Frage wieder vergaß, sobald er das Foto näher betrachtete, verstummte er schnell und schaute Izaya fragend an. Lächelnd (das tat er momentan viel zu oft für Shizuos Geschmack) beendete Izaya seinen Satz: »Trifft dich sehr gut. Es ist eines meiner Lieblingsbilder.« Skeptisch zog Shizuo eine Augenbraue hoch, wollte nichts mehr als zu glauben, dass er sich verhört hatte. »Normalerweise steck es aber in einem Fotoalbum«, erklärte Izaya weiter, als er Shizuos Gesichtsausdruck bemerkte, »ich habe es nur rausgestellt, um dich ein wenig zu verwirren.« Am Rande seines Sichtfeldes nahm er verschwommen eine Bewegung wahr. Wissend, dass es nur Izaya sein konnte, schoss sein Kopf nach oben und sein ganzer Körper verkrampfte sich, während Izaya ihm die Tasse aus der Hand nahm. »Du hättest sie sonst fallen lassen«, meinte dieser beiläufig und beugte sich ein wenig über Shizuo, um die Tasse wieder auf dem Tisch abzustellen. Entweder bemerkte er das Unbehagen, welches den anderen befiel nicht, oder es interessierte ihn nicht. Da Shizuo allerdings glaubte, ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen erkannt zu haben, setzte er auf den zweiten Gedanken. Indes wurde der Frühling aus der ganzen Situation nicht wirklich schlau. Sicher, es stimmte ihn glücklich, dass die beiden sich momentan scheinbar nicht umbringen wollten, aber ein wenig zweifelte er dennoch an Izayas guten Absichten. Der Sommer riet ihm zwar unentwegt, den Dingen von hier an ihren Lauf zu lassen und nicht noch mehr Erwartungen in die beiden zu setzen (denn es war Erfolg genug, die beiden so friedlich beieinander zu sehen), doch er konnte nicht aufgeben. Nicht jetzt, wo er den beiden praktisch nur noch den sprichwörtlichen Schubs in die richtige Richtung geben musste. Ähnlich wie der Frühling wusste auch Shizuo nicht so recht, was er von seiner momentanen Lage halten sollte. Am meisten beunruhigte ihn, dass er nicht nur die Kontrolle über seinen Körper, sondern auch die über seine Gefühle wiedererlangen musste, da sie ihm wohl irgendwo zwischen Ohnmacht und Aufwachen abhanden gekommen war. Im Gegensatz zu sonst tobte in ihm nicht das übliche Gemisch aus Hass und Mordlust, er wollte auch nicht zwangsläufig spüren, wie das warme Blut seines Feindes durch seine Finger rann. Shizuo fühlte eine Ruhe in sich, von der er geglaubt hatte, sie in Gegenwart von Izaya gar nicht empfinden zu können. Aber wie sein eigentlicher Feind so neben ihm saß, ein Lächeln auf den Lippen, das eine Spur friedlicher wurde je öfter sein Blick auf das Foto fiel... ›Er war schon immer ein gnadenlos guter Schauspieler‹, beschloss Shizuo, bevor sich irgendwelche Gedanken in ihm einnisteten, die nicht mit seiner festgefahrenen Meinung über Izaya konform gingen. Was nützte es ihm, darüber nachzudenken, ob dem anderen sein Wohl am Herzen lag oder nicht? Alles unnötiger Ballast, der ihn im entscheidenden Moment zögern lassen könnte. Doch auch wenn dies lediglich eine Farce war – und seiner Meinung nach war es das ganz gewiss –, würde Shizuo Antworten auf einige weitere Fragen einfordern, die ihn schon seit seinem Erwachen auf der Zunge lagen. »Izaya.« Der Angesprochene reagierte nicht, sah weiterhin abwechselnd auf das Foto und aus dem Fenster. Unwillkürlich fragte Shizuo sich, was für eine Aussicht er von hier aus wohl haben musste, schüttelte jedoch hastig den Kopf, um solch nichtige Gedanken loszuwerden. Dann tat er etwas, das ihn weniger Überwindung kostete als erwartet. »Oi.« Auffordernd stupste er Izayas Bein mit seinem Fuß an. Für jeden anderen wäre diese Geste nichtig, unbedeutend gewesen, aber Izaya war überwältigt, starrte für einige Augenblicke fassungslos zwischen Shizuos Fuß und seinem Gesicht hin und her. Soweit dieser sich erinnern konnte, hatte er niemals gesehen, dass Izaya geschockt, überrascht oder in irgendeiner Weise erstaunt war. Es amüsierte ihn, dass gerade er dazu in der Lage gewesen war, diese Emotion aus ihm herauszukitzeln. Oder vielleicht war es ihm gerade deshalb gelungen; weil er es war, und niemand sonst. Merkwürdig, dass er gerade heute auf so viele abwegige Gedanken kam. Mittlerweile hatte Izaya sich darauf beschränkt, ihn fragend anzusehen, anstatt zwischen Gesicht und Fuß zu wechseln. Bevor ihm sein Blick zu durchdringend wurde, räusperte Shizuo sich leise. »Wieso hast du mir geholfen?« Bildete er sich das nur ein, oder wanderten Izayas Mundwinkel tatsächlich kurzzeitig nach unten, lag seine Stirn für wenige Augenblicke in Falten? Öffnete und schloss sich sein Mund mehrere Male, so als wäre er sich nicht sicher, was er darauf erwidern sollte? Bestimmt alles nur Einbildung. Shizuo glaubte schon nicht mehr daran, in den nächsten Minuten eine Antwort zu erhalten, als: »Wieso ich dich gerettet habe?« Ihm sagte der Ausdruck ›gerettet‹ nicht im Geringsten zu, und noch weniger passte ihm der Ausdruck auf Izayas Gesicht. Hatte er sich zuvor noch eingebildet, Unsicherheit in den feinen Zügen des anderen lesen zu können, war davon nun nichts mehr zuerkennen. Stattdessen grinste er ihn herausfordernd an; in seinen roten Augen lagen Gefühle verborgen, die ihm unbekannt waren, die ihm aus diesem Grunde bereits unsympathisch waren, weil sie das Rot noch dunkler machten und Shizuo einen Schauer über den Rücken laufen ließen. Erschrocken schnappte er nach Luft, nachdem Izaya die Beine anzog und sich vollständig auf das Bett setzte, sich ihm dann auf allen Vieren näherte. Verstohlen blickte er ihn unter seinen schwarzen Haarsträhnen an, und irgendwas an diesem Blick – eigentlich alles an ihm – wollte Shizuo nicht behagen. »Du fragst dich, wieso ich dich gerettet habe?«, wiederholte er schnurrend seine Frage, setzte quälend langsam (in machen Kreisen hätte man es wohl ›verführerisch‹ genannt) eine Gliedmaße vor die andere. Bis seine linken Hand schließlich in Shizuos Schoß landete und dieser aufkeuchte, Izaya entgeistert ansah. Tief kichernd hob Izaya seine andere Hand, fuhr mit einem Finger Shizuos Bandagen nach. »Weil ich so gerne meinen Spaß mit dir habe«, schnell beugte er sich vor, flüsterte seinem Gegenüber die Worte kaum hörbar ins Ohr und ließ ihm nicht den Hauch einer Chance, seine Gedanken zu ordnen. So viele unerwartete, praktisch unmögliche Eindrücke konnte Shizuo nicht auf einmal verarbeiten. Sein Unverständnis der Gesamtsituation hatte bereits dazu geführt, dass er sitzen geblieben war, als Izaya den Raum betreten hatte, anstatt ihn anzugreifen. Er war ruhig geblieben, hatte sich von ihm bewirten lassen (Gott weiß, was in diesem Kakao steckte!) und nun musste er die Konsequenzen für sein leichtsinniges Handeln tragen. Sahen die Konsequenzen jedoch so aus, wollte er lieber noch einmal einer Horde Yakuzamitgliedern gegenüberstehen. In seinem einzigen geistesgegenwärtigen Moment, seit er aufgewacht war, seit sein Unheil begonnen hatte, stieß er Izaya von sich, bevor dieser mit seinem Mund an andere Stellen von Shizuos Gesicht wandern konnte. In der gleichen Bewegung griff er nach seiner Kleidung, schwang die Beine aus dem Bett und stürmte davon, heraus aus dem Schlafzimmer seines Feindes, heraus aus dessen Wohnung und hinauf auf die Straße. Er konnte nur hoffen, dass er zu dieser Zeit – wie viel Uhr es auch immer sein mochte – auf keinen Bewohner Ikebukuros treffen würde. Frustriert schrie er auf. Was das wahrscheinlich Schlimmste an allem war? Die Schamesröte stieg ihm ins Gesicht, als er seinen Blick flüchtig nach unten richtete und sah, was Izaya neben Unmengen von verschollen geglaubten Gefühlen noch hatte aufwecken können. Shizuo hastete weiter, wollte seinem Hirn gar nicht erst die Zeit lassen, über alles nachzudenken. Er brauchte Ruhe, viel davon, und zwar sofort. Und vor allem brauchte er eine Zigarette. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)