Sirenengelächter von Blaetterklingen (Halfjack gewidmet) ================================================================================ Kapitel 1: Der Schwertkönig --------------------------- Letzte Nacht haben mich die Alpträume wieder eingeholt. Nach dem Aufstehen bin ich einfach in das Auto gestiegen und losgefahren. Ich habe nicht vor, über die Ausgeburten meines Unterbewusstseins nachzudenken. Dafür habe ich lange genug mit Leuten zusammengearbeitet, die zu intensiv über das nachgedacht haben, was besser unbedacht bleiben sollte, und jetzt nicht mehr aus ihrer eigenen kleinen Welt herauskommen. Zur geistigen Stabilität gehört auch ein gesundes Maß an Ignoranz. Die Dinge sind so, wie sie sind, ob ich sie nun akzeptiere oder ignoriere, am Ende muss ich damit leben. Autofahren lenkt mich ab. Die meisten langweilt es, aber die Straßen und die Umgebung ist an keiner Stelle gleich. Man muss nur auf das Besondere achten. In dieser Gegend war ich noch nie. Mein Vater ist immer holzfällen gegangen oder hat irgendwelche Tiere erschossen, wenn er Ablenkung brauchte. Ich mag das Gefühl der rauen, mit Fäden vernarbten Innenseite meines Lenkrads unter meinen Fingerspitzen. Irgendwie muss ich die Zivilisation schon etliche Meilen hinter mir gelassen haben. Einige von den Tieren, die er als Trophäen gesammelt hat, gibt es, glaube ich, gar nicht mehr. Meine Gedanken überschlagen sich schon wieder und ich will jetzt nicht an meinen Vater denken. Ich sollte versuchen irgendwo zu wenden. Da ist ein Ortsschild. Das heißt, ein Bruchteil davon: ´ill`, steht da auf dem einsam im Wind schwankenden Blech, das so aussieht, als wollte es die sinnlos gewordene zweite Haltestange erreichen. Der Rest des Schildes wird vermutlich irgendwo im hohen Gras liegen. Vielleicht sollte ich hier etwas essen und versuchen herauszufinden, wo ich überhaupt bin. Der Tank dürfte auch nicht mehr viel hergeben... wie er mir gerade ratternd bestätigt. Toll... Wenn man vom Teufel spricht... Die Spritanzeige, der ewige Feind... Wenigstens bin ich bis zu den ersten Häuserreihen gekommen. Nathan Avenue. „Hallo“, rufe ich, nachdem ich nun das dritte leere Geschäft verlassen habe, „ist hier jemand?“ Ich komme mir immer etwas blöd dabei vor, wenn ich lautstark von meiner Stimme Gebrauch mache. Ich mag ihren Klang nicht. Mein Vater hat mich deswegen früher immer ausgelacht. Ich hab ja auch nicht so ein lautes Organ wie er und bei ihm hört es sich auch nicht so an wie Mäusefiepen. Egal. Das Handy hat keinen Empfang. Gelobt sei die angebliche landesweite Netzabdeckung. Einige Straßen weiter, auf der Neely Street, sehe ich eine Telefonzelle. Ich mag die Dinger nicht, ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich sie nicht mag, seit meiner frühsten Kindheit habe ich keine mehr gesehen. Vielleicht beunruhigt mich aber gerade, dass diese Stadt erst auf den zweiten Blick nach Verfall aussieht. Für eine Geisterstadt wirkt alles noch zu intakt, zu gepflegt. Und wenn ich nicht völlig daneben liege, dann zieht gerade Nebel auf... Es ist 1 Uhr am Nachmittag, mitten im Sommer, wo kommt dieser Nebel her? Wenn ich mir das so recht überlege, ist die Telefonzelle bei weitem nicht beunruhigend genug, um sie nicht zu nutzen, damit ich hier schnellstmöglich wieder wegkomme. „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Verdammt, was soll das? Keine der Nummern, die ich probiert habe, funktioniert. Und es waren gut 40. Ich hab ja mein Handy dabei und musste sie nicht aus dem Kopf eingeben, sonst hätte ich wahrscheinlich meine eigene Telefonnummer nicht gewusst. 017... ähm, nein, hätte ich tatsächlich nicht. Die Notrufnummern funktionieren auch nicht. In solchen Augenblicken finde ich es immer interessant, dass einen solche Situationen mehr frustrieren als wirklich beunruhigen. Da liegt ein Telefonbuch. Silent Hill steht auf dem Cover. Darunter steht eine Telefonnummer. Sonderbar, es fühlt sich an, als ob die Schrift das Papier vernarbt hätte. Es kann ja nicht schaden, sie zu probieren. „Hallo?“, meldet sich eine männliche Stimme direkt nach dem ersten Warteton. „Wer ist da?“, frage ich überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass so schnell jemand abnimmt. Ein belustigender Ton ist von der anderen Seite her zu hören. „Das musst du doch wissen, du hast mich doch angerufen.“ „Also, eigentlich bin ich in einer Telefonzelle und rufe eine Nummer an, die auf einem Telefonbuch steht“, sage ich wahrheitsgemäß, so absurd sich das für ihn auch anhören mag. „Das ist ja lustig, ich bin nämlich auch gerade in einer Telefonzelle, genau gegenüber von Grand Market.“ Das ist der Laden direkt vor mir. „Das kann nicht sein, ich...“ „Oh“, unterbricht er mich, „selbe Telefonzelle? Das ist schlecht, dann dreh dich jetzt besser nicht um.“ Ich schlucke schwer und nehme die Pistole aus meiner Jacke, die ich vorsichtshalber aus meinem Auto mitnahm. Gewappnet und zu allem bereit drehe ich mich um und sehe nichts. War das ein Witz? Sollte es mich ablenken? Rasch wirble ich herum, doch wieder nichts. Ich drehe mich einmal um meine eigene Achse. Auf der offenen Straße ist keine Menschenseele zu sehen. Eine leise Frauenstimme erschallt aus dem Hörer: „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Ich stecke die Waffe in meinen Gurt und öffne die Zellentür. So schnell wie erhofft werde ich hier wahrscheinlich... Ein schneidender Schmerz unterbricht meinen Gedanken. Schreiend springe ich einen Schritt nach vorne und stürze der Länge nach auf die harte Asphaltstraße. Augenblicklich drehe ich mich um und sehe eine sonderbare Gestalt, die mit langen Klingen in der Hand die Telefonzelle durchbohrt. Fünf, sechs Mal rammt das Ding schweres Metall in die Zelle unter sich, bis es bemerkt, dass ich nicht mehr in ihr bin. Ich krieche zitternd weg, es springt behände von dem massakrierten Dach hinab und kommt mir langsam näher. Es wirkt männlich von der Statur, doch gleichmäßig verteilte Beulen überziehen den Oberkörper. Irgendwie wirken sie wie Brüste. Der Hals scheint kinnlos in den Kopf überzugehen und zwei seitliche Stielaugen betrachten mich lauernd. O Gott, es hat keine Füße und Unterschenkel, seine Knie münden in zwei metallische Klingen, auf die es sich stützt, wie ein Satyr auf seine Ziegenbeine. Auch die Waffe, mit der er die Telefonzelle zerstörte, hält er nicht in der Hand, es sind seine Hände. „Was willst du?“, frage ich und rappele mich wieder auf, die Waffe auf das kegelförmige Etwas, was wohl sein Kopf sein soll, gerichtet. Es antwortet mit einem insektenartigen Knacken und Klopfen, wie er diese Geräusche produziert, kann ich nicht ausmachen. Ich schreite einen Schritt zurück, doch es springt vor, hebt die Arme über seinen Kopf und ich schieße reflexartig das gesamte Magazin leer. Mindestens sechs Treffer, deren Einschusslöcher einen schwarzen Saft bluten, doch die Kugeln scheinen es nicht aufzuhalten. Angst steigt in mir auf. Ich renne so schnell ich kann, doch es verfolgt mich, ist ganz nahe. Hinter mir spüre ich den Luftstoß, wenn es versucht mich mit seinen Klingen zu treffen. Was will das Ding von mir? Ich erspähe vor mir eine leicht geöffnete metallische Tür, überspringe die letzten zwei Meter und direkt in die Tür hinein, die sich krachend öffnet und durch die Wucht scheppernd hinter mir zuschlägt. Riegel, Riegel! Verschließ die verdammte scheiß Tür! Dort liegt tatsächlich eine Kette mit geöffnetem Schloss. Ich reiße sie hoch, befestige sie und kaum habe ich den Eingang versiegelt, kracht ein gewaltiges Hämmern gegen die Tür, wiederholt sich zweimal mit abnehmender Intensität und wird dann von einem abscheulichen kratzenden Geräusch von übereinander schabendem Metall abgelöst. Ich bekomme Gänsehaut davon, aber das Ding bin ich wohl vorerst los. Mein Herz rast noch immer. Was war das nur? Ob hier drin irgendwo ein Lichtschalter ist? Man sieht fast nichts in der dämmrigen Atmosphäre... Von der anderen Seite des Raumes klopft etwas schnell und drängend gegen die Tür, ein Gurgeln ist zu hören, vor mir liegt neben einer Leiche eine andere Pistole, ich hebe sie schnell auf, das Klopfen wird zu einem Hämmern, ein Schluchzen ertönt, die Tür springt auf, ich schieße und irgendetwas sackt in sich zusammen zu Boden. Das Licht geht an. Zwei Frauen treten in den Raum. Die eine zittert am ganzen Körper, als hätte sie Parkinson, und bewegt mit absurder Geschwindigkeit ihren Mund, womit sie das gurgelnde Geräusch erzeugt, das ich eben schon vernahm. Die andere spricht mit tonloser Stimme: „Du hast das Kind bestraft“, ohne auf den leblosen Körper zu ihren Füßen zu blicken, den ich erst jetzt sehe, „das war unsere Aufgabe.“ O mein Gott, ich habe ein Kind erschossen. Der Raum schwankt vor meinen Augen, mir wird schlecht. „Du bist keine richterliche Instanz.“ Ich glaub, ich muss mich übergeben. „Warum hast du dir dieses Amt angemaßt? Rechtfertige dich!“ Sirenen heulen los und die beiden Frauen lachen wild auf, mit veränderter, männlich rauer Stimme. Mein Kopf dröhnt mit solchem Druck, als ob er gleich detoniert. Kurz schließe ich die Augen und als ich sie wieder öffne, stehen zwei nackte Monster mit verschiedenen Gürteln aus Tumoren um Arme und Beine vor mir und umkreisen mich langsam. Ich hebe die Waffe erneut und schieße zwei Mal. Sie geben unmenschliche Geräusche von sich, bevor sie zu Boden sacken. Der Raum hat sich verändert, wo vor einer Minute noch die Lampe war, entfaltet sich nun ein tiefschwarzes Dornengeflecht und die Wände sind völlig verdreckt und rostig. Doch gleichzeitig scheinen sie von einer unsichtbaren Lichtquelle angestrahlt zu werden. Ich nähere mich dem armen Ding, das ich ungewollt erschossen habe, und hocke mich über sie. Was soll ich jetzt tun? „O Mann, ihr Erwachsenen seid doch alle gleich“, spricht mich eine Kleinkinderstimme an, „ihr schießt erst drauf los und dann bereut ihr es.“ „Wer spricht da?“, frage ich, nachdem ich mich umgeblickt habe und niemanden sah. „Na ich, das Mädchen, das du gerade erschossen hast.“ Direkt über meinen Kopf schwebt die Kleine mit dem Kopf nach unten gerichtet. „Wie ist das möglich?“ „Woher soll ich das wissen?“, schnaubt mich das Mädchen an, deren langer Rock fast ihren gesamten Körper wie ein Lampenschirm umschließt. „Wieso hast du meine Eltern erschossen?“ „Das waren deine Eltern? Weil... sie haben sich in Monster verwandelt.“ Sie schaut kurz auf die beiden toten Körper, die neben vielen anderen Leichen liegen, und blickt mir dann mit ihren großen Kulleraugen tief in die meinen. „Du siehst aber auch nicht viel besser aus“, erwidert sie, doch was meint sie damit? „Aber wie können das deine Eltern sein? Wo ist dein Vater?“ „Den hast du doch auch erschossen!“ „Aber... aber ich habe doch auf zwei Frauen geschossen...“ „Mein Papa sah nur aus wie eine Frau. Mama meinte, er will nicht mehr wie ein Mann aussehen.“ „Das wird mir jetzt alles etwas zu viel.“ „Aber auf kleine Kinder schießen.“ Für eine tote Zehnjährige ist sie ganz schön frech, auch wenn sie leider Recht hat. „Und die ganzen anderen Leiche hier drin?“ „Die haben Mama und Papa bestraft.“ „Warum?“, „Weil sie böse waren.“ „Was haben sie denn Böses gemacht?“ „Solche Dinge erzählt man doch keinem kleinen Kind.“ Klingt logisch, muss ich zugeben. Ich gehe die Szene noch einmal in meinem Kopf durch. „Hast du nicht versucht, vor deinen Eltern zu entkommen?“ Sie antwortet nicht sofort, sondern schwebt hinab zu ihrem leblosen Körper und streicht über, nein, durch ihre langen braunen Haare, ohne sie wirklich zu berühren. „Ja“, sagt sie traurig und legt sich neben sich selbst. Die beiden Gesichter starren nun teilnahmslos die Decke an. Ich wende den Blick ab, das ist mir alles etwas zu krank. „Warum wolltest du von ihnen weg?“ „Weil sie mich auch bestrafen wollten.“ „So wie die anderen? Was hast du denn getan?“ Sie richtet ihren Oberkörper auf und schaut abwesend durch mich hindurch, dann wendet sie den Kopf von mir ab und sagt: „Das weiß ich nicht.“ Ich kann nicht besonders gut mit Kindern umgehen, aber wenn das keine Lüge war, dann weiß ich es auch nicht. Mir fällt auf, dass das metallische Kratzen vor der Tür noch immer zu hören ist. „Wir müssen gehen, der Schwertkönig wird bald durch die Tür kommen.“ „Der Schwertkönig?“ Das wird das Monster sein, das mich als erstes angriff. „Du weißt, was das ist?“ „Ja, sagte ich doch, der Schwertkönig.“ Durch unzählige Räume und Gänge führt sie mich so schnell, dass ich kaum die Möglichkeit habe, mich zu orientieren, dann bleibt sie urplötzlich am Eingang einer weiträumigen Halle stehen. „Er ist da“, flüstert sie und wirkt dabei äußerst beunruhigt. Ein heißer Schmerzensschrei, dann ist ein Würgen und Grunzen zu hören. Der zweite Schrei klingt anders, intensiver, aber... ich habe kein Interesse, den Grund der Veränderung herauszufinden. Auch klingt es wie Rasseln von Ketten, wie das Geräusch etlicher unterschiedlicher Maschinen, mehr im Hintergrund allerdings, jedoch kann ich nichts erkennen, was dieses Geräusch verursachen soll. Ich blicke in das Gesicht des Mädchens, um zu sehen, wo sie hinschaut. Dann sehe auch ich es. Der Schwertkönig ist etwa zehn Meter vor uns und rammt mit aller vorstellbaren Härte seine Hüften an die Hüften eines anderen muskulösen Monsters, dessen Körper aus einem Torso und sechs, teilweise abgetrennten Tentakeln besteht. Ich will ihre kleinen Augen zuhalten, doch meine Hand gleitet durch ihren geisterhaften Kopf hindurch. Der Leib des Königs zittert und ein knisterndes, lauter werdendes Knacken erfüllt die Halle, bevor er auf das Monster unter sich mit seinen Klingenarmen einsticht, sodass es in kleine Stücken zerteilt zu Boden fällt. „Er hat uns entdeckt“, sagt sie, noch bevor er sich zu uns umdreht und mit nach vorne gebeugtem Oberkörper und über den Boden funkenschlagenden Klingen auf uns zukommt. „Lauf“, quietscht sie und rennt durch eine geschlossene Tür, direkt neben der, aus der wir zuvor die Halle betraten. Ich will ihr folgen, doch die Tür ist verriegelt und das Schloss ist defekt. Er kommt rasch näher. Neben mir liegt eine schwere Brechstange, ich packe sie, ramme sie in den engen Spalt zwischen Tür und Wand und löse ihre Verbindung auf, doch noch bevor ich in den eben noch verschlossenen Raum dringen kann, ist er hinter mir, ich drehe mich schreiend um und schleudere ihm die Stange entgegen. Mühelos zertrennt er das Metall in der Luft, ich aber nutze die kurze Ablenkung und laufe davon. Hinter der Tür ist ein langer Gang, der sich zu einem Schacht verengt. Ich muss mich hindurchzwängen, niederknien, dann krabbeln, doch ich spüre den König nicht mehr hinter mir. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)