Batman - Reset von --Ricardus-- ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Gotham 11.Oktober 23:31 Uhr Commissioner James Worthington Gordon „Seltsam …“ Ein Wort, das er schon lange nicht mehr in den Mund genommen hatte. Aus dem einfachen Grund, dass es sich in einer Stadt wie dieser nicht lohnte Worte auszusprechen, die andernorts ihre wortwörtliche Bedeutung beibehielten, hier aber ein Synonym für „normal“ waren. Aber in dieser Nacht, in diesem mit einer seltsamen Atmosphäre angefüllten Raum, strömt es zwischen Gordons Lippen hindurch und bildet einen sanften Nebel in der kühlen Luft. Der Raum ist kälter, als er eigentlich sein dürfte. Der Commissioner hat seinen Trenchcoat angelassen, unter dem er immer noch das Pyjama-Oberteil trägt, welches er auch getragen hatte, als man ihn so unsanft aus dem Schlaf geholt hatte. Das Wort steht im Raum und sein Sprecher bemerkt unweigerlich wie perfekt es doch die Situation beschreibt, auch wenn es mit Gordons unglaublicher Nüchternheit gesprochen ist, denn er hat keine Ahnung, was er da vor sich hat … Und vor allen Dingen nicht, wie er eine Ahnung davon bekommen kann. Die Fotografen und Spurenanalytiker huschen nur zögerlich über die Szenerie, laufen beinahe wie auf rohen Eiern ehrfürchtig auf den Marmorfliesen umher. Es wirkt fast so, als hätte man sie beauftragt auf einem Minenfeld nach brauchbaren Beweisen zu suchen und nicht in der protzigen und überaus weitläufigen Eingangshalle des Wayne Manor. Einer der Photographen weiß anscheinend nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, drückt fahrig auf den Auslöser seines Apparates und stößt mit dem Rücken gegen ein Podest mit einem Blumentopf. Dieser schlägt auf den Boden, zerbricht und beschallt die totenstille Halle für eine schmerzhaft lange Zeit. Gordon schließt die Augen und richtet sein Gesicht zum kalten Steinboden, während der angespannte junge Mann die Erde zur Seite wischt. Keiner wagte es das Missgeschick auch nur eines kurzen Blickes zu bedenken. Alle sind sie gefangen in dieser beklemmenden Atmosphäre. Der Commissioner steht mitten im Raum. Wie in Gedanken versunken, starrt er zu Boden, aber denkt nichts. Er lauscht wie sein eigener Atem über seinen Oberlippenbart gleitet und dabei dieses leise pfeifende Geräusch macht, welches Sarah so liebt. Diesmal kann er beim Gedanken an sie nicht lächeln. Er blickt wieder hinüber zu der Szenerie, riskiert ein weiteres Mal, dass ihn die Situation überfordert. Er sieht zu der Leiche, die am Ende der Treppe wie vergessen daliegt. Wie eine Puppe sieht sie aus. Schwer, steif und kalt wie dieser Raum. Der Körper ist nicht schlimm zugerichtet. Wäre das Loch und die Kugel nicht, die in der Stirn steckt, umgeben von einem Saum getrockneten Blutes, der einer dort niedergelegten Strauchrose gleicht, dann hätte es auch ein Herzinfarkt sein können. Gordon war weitaus Schlimmeres gewohnt. Viel … Schlimmeres … Aber Art und Weise des Todes spielen in diesem abstrusen Bild keinerlei Rolle. Der Commissioner starrt zu der mächtigen Doppeltreppe und zu der Wanduhr, die im Schatten des Brückenganges wie ein stummer Beobachter aussieht und anscheinend stehen geblieben ist, um die Situation noch zu unterstützen. Er öffnet den Mund und redet mit fester Stimme zu der Uhr vor ihm. „Was hältst du davon?“ Hinter Gordon gleitet ein Schatten vom Gebälk hinunter und nähert sich ihm. Der Commissioner hatte ihn gespürt, bereits als er den Raum zum ersten Mal betreten hatte. Natürlich war er schon lange vor ihnen hier gewesen und hatte seine Analysen gemacht. Immerhin war es sein Haus. Jim Gordon hatte lange gebraucht mit der Verantwortung zu leben, zu wissen, wer Batman eigentlich war. Er hatte verstanden, warum der dunkle Ritter gerade ihm mitteilen wollte, wer er war, aber er hatte es das erste Mal abgelehnt in das Gesicht unter der Maske zu schauen. Weil er Angst hatte. Angst davor, welche Änderungen das mit sich brachte … welche Gefahren. Und auch jetzt war ihm dieses Wissen mehr eine Last, als dass es ihn erleichterte. „Ich halte es für einen Scherz.“ Der Dunkle tritt neben ihn. Niemand dreht sich um. Zu gewohnt ist seine Anwesenheit. „Meine Analysen allerdings machen daraus eine Unmöglichkeit.“ „Das heißt?“ „100% genetische Übereinstimmung. Ich habe es dreimal berechnen lassen. Ich habe Äußerlichkeiten wie Iris, Muttermale, Narben und Gebiss geprüft. Er ist es.“ Gordon stößt einen Atmer aus, der noch länger ist, als die Leitung, auf der er gerade steht und blickt den Dunklen durch seine Brillengläser an. „Nimm mir das nicht übel, mein Freund.“, sagt er leise genug, „Aber in dem Fall muss ich noch einmal unter vier Augen mit dir reden!“ Batman reagiert gefasst, wie er es immer tut. Mit der Stimme eines automatisiertem Übermenschlichen, die dunkel wie die Nacht ist, in der er lebt und so bar jeder Emotion. „Kein Problem, Commissioner.“ Er verlässt den Raum überraschender Weise durch die Tür. Fünf Minuten später wird sich Gordon mit ihm an der Gabelung vor Wayne Manor treffen und eine der seltsamsten Unterhaltungen seines Lebens führen. Doch vorerst wirft er noch einen letzten Blick auf den toten Mann am Fuß der Treppe. Einer der Photographen verewigt gerade ein weiteres Mal das Unmögliche. Und Gordon versteht immer noch nicht. Er fürchtet nur. Denn egal, was der Grund dafür ist, dass hier vor ihm der tote Körper Bruce Waynes liegt, es bedeutet auf jeden Fall, dass sich die Dinge ab jetzt wieder zum Schlechten wenden werden. Kapitel 1: 1 ------------ Zwei Jahre zuvor ... West Harlow/Gotham City, 5. August 01:32 Uhr Ein Mädchen Es regnet. In der Leak Road schlägt der Wind die Tropfen ohne Unterlass gegen die zerfressenen Backsteinwände der Wohnhäuser. Das Wasser rinnt in einem dicken Strom die Fassaden herunter und verlagert all den Dreck und Taubenmist ein Stockwerk tiefer. In der Dunkelheit sieht die Flüssigkeit eher aus wie schwarzer Teer, der zäh in den Rinnstein tropft, darin verschwindet und den breiten, tosenden Strom unter der Stadt nährt. Der Stadtteil ist heruntergekommen. Je weiter man sich von der „Gotham City Hall“ in westlicher Richtung entfernt, je ungemütlicher wird es. Um die Docks herum, ist es noch schlimmer. Wer hier wohnt, hat zu viel Geld, um in die wirklich miesen Gebiete, wie die Narrows, verschlagen zu werden und zu wenig Geld, um sich eine Wohnung in Uptown oder sogar Midtown zu leisten. Wer hier wohnt, steht irgendwo zwischen allem. Das Mädchen wohnt in der Nummer 229. Ihr Zimmer liegt genau auf der Höhe der Oberbahnschienen. Wenn es aus dem Fenster blickt, sieht es nur die stählernen Balken und die abgesplitterte Farbe auf den Schweißnarben. Es sieht wie die Schienen anfangen ganz leicht zu vibrieren, wenn sich ein Zug nähert. Wenn er dann endlich vorbeifährt, dringt die Vibration bis in seine Wohnung und lässt die Gläser in ihren Schränken aneinander klirren. Das Mädchen hat die Fächer mit Luftpolsterfolie ausgekleidet. Vasen und zerbrechliche Dekoration hat es in Holzrahmen eingefasst. Es investiert lieber in solche kleinen Dinge, als in eine bessere Wohnung. Es hat auch keine andere Wahl. Hätte es die, wäre es wohl kaum hier. Das Mädchen hat auch einen Namen. Aber er ist nicht wichtig, denn dieses Mädchen wird es nicht mehr lange geben. Ein weiteres Opfer der Stadt und des Größenwahnsinns, der in ihren Abwasserleitungen pulsiert wie in den Adern eines Irren. Das Mädchen heißt Amanda Abbott. Sie hat einen schmächtigen, beinahe androgynen Körperbau. Zu wenig Fett. Zu wenig Brust. Zu wenig Hüfte. Zu wenig von beinahe Allem. Aber sie ist intelligent, die kleine Amanda. Sie studiert. Was sie studiert, lohnt sich nicht einmal mehr zu sagen, denn sie wird nicht mehr lange sein. Die Stadt wartet auf sie und ihr Maul mit den tausend Reißzähnen ist geöffnet. Amanda liest viel. Sie lernt sich das Hirn ganz wund. Sie isst kaum. Sie trinkt nur. Wenn sie sich etwas zu essen macht, dann nur viel zu wenig und viel von dem falschen Zeug. Vor zwei Tagen haben ihre Hände angefangen zu zittern. Sie hat es ignoriert. Genauso wie den Hunger. Warum sie das tut? Sie will hier weg. Sie will gut sein, einen guten Job bekommen und endlich gutes Geld verdienen. Aber nur wenige Dinge in dieser Stadt sind … gut. In dieser Nacht lernt sie wieder einmal viel zu lang. Amanda lernt nur nachts, weil die Bahnen dann einen langsameren Rhythmus haben. Sie liegt auf der Couch und hat ein dickes Buch auf die Knie gestützt. Fünf weitere liegen auf einem Stapel am Boden. Unter ihren dunklen, braunen Augen liegen Furchen, so dick, dass man sie im Halbdunkel der kleinen Stehlampe mit falsch gesetzten Kajalstrichen verwechseln könnte. Sie greift nach einer Packung Eistee, die neben ihr auf der Couch liegt, eingebettet zwischen zerknautschten und ergrauten Stofftieren, die schon seid Ewigkeiten als Einzige mit ihr den Schlafplatz teilen. Amanda ist 25. Sie hatte Freunde, hatte Verehrer. Bevor ihr Studium begann und sie sich gnadenlos mit Arbeit überhäufte und sich um des fragwürdigen Erfolges wegen selbst zerstörte, hatte sie so etwas wie Freizeit gehabt. Jetzt würde sie bald ihren Abschluss machen. Jetzt war nichts anderes mehr wichtig. Und gerade jetzt verlassen sie ihre Kräfte. Sie kann nicht mehr länger schlafen als vier Stunden am Tag. Ihre Nerven sind überreizt und ihre Verdauung spielt verrückt. Sie hat seid Tagen nicht mehr in den Spiegel gesehen, ihr Zimmer ist voller Dunst - Weiß der Teufel, woher der kommt! – und das Sonnenlicht lässt sie dauerhaft ausgesperrt. Sie will die Stadt nicht sehen! Nicht solange sie nicht alles weiß, was in diesen gottverdammten Büchern steht! Aber die Stadt will sie sehen. Und sie findet immer eine Möglichkeit, auch die scheuesten Gestalten aus ihren Löchern zu locken. Amanda hebt die Packung an ihre Lippen und kippt sie. Immer weiter und weiter, bis sie wirklich sicher ist, dass sie leer ist. Sie seufzt. Mit einer unglaublich langsamen und steifen Bewegung wischt sie das Buch von ihren Knien und richtet sich auf. Ihre Füße berühren seid Stunden zum ersten Mal wieder das abgelatschte Linoleum ihres Zimmers und suchen nach den Hausschuhen. Ein leichtes Schwindelgefühl überkommt sie und sie zögert aufzustehen. Aber sie muss etwas trinken. Wenigstens das! Und sie muss Shark füttern. Shark ist ein Goldfisch von immenser Größe. Dementsprechend bewohnt er auch immen großes Goldfischglas, welches auf einer frei schwingenden Platte angebracht ist, damit Amandas einziges Haustier keinen qualvollen Vibrationstod sterben muss. Der Fisch sieht sie erwartungsvoll an. Was zum einen drauf hindeuten kann, dass ein Fisch im Gegensatz zu seiner Herrin sein tägliches Fressen benötigt, und zum anderen kann es auch wieder auf nichts hindeuten, denn Fische haben ohne Zweifel immer dieselbe erwartungsvolle Visage. Amanda überwindet sich und steht auf. Sie geht zu dem kleinen Regal unterhalb der baumelnden Goldfischplattform und greift in die Schublade. Zwischen ihren Fingern hält sie eine Dose Fischfutter. Sie schraubt den Deckel ab, ignoriert ihre zitternden Hände und kippt das Gefäß über die Wasseroberfläche, unter der Shark schon wie ein Verrückter hin und her schwimmt. Nichts passiert. Die Dose ist leer. Sie seufzt ein weiteres Mal und wirft die Dose in den Müll. Shark schaut erwartungsvoll. Das ist der Auslöser. Der Lockvogel. Die Stadt fletscht die Zähne. Niemand sieht wie sich langsam ein monströses Lächeln auf ihren Gesichtszügen bildet. Amanda nimmt ihren Regenmantel vom Haken, überprüft ob die 10 Dollar, die sie einmal in die rechte Seitentasche gesteckt hatte, noch da sind, dann zieht sie den Mantel an und bedeckt ihr kurzes, schwarzes Haar mit der Kapuze. Gegen 01:44 verlässt sie die Wohnung. Die Stadt tobt triumphierend, doch die Straßen bleiben ruhig. Niemand spürt die leichte Vibration im Boden, den Anflug eines Lachens. Das Mädchen tritt auf die Straße. Sofort sitzt ihm der Regen im Nacken. Es zieht die Kapuze enger um sein Haupt und senkt den Kopf. Es wird schnell gehen, der Laden ist nicht weit. 24 Stunden geöffnet. 24 Stunden die breite Auswahl zwischen Dosenraviolli und Corned Beef. Statt von A bis Z, ist es eher ein A bis F Laden. Aber seltsamerweise gehört Fischfutter noch zum Sortiment. Das Mädchen erreicht den Laden. Kauft Fischfutter, drei Packungen Eistee und ein Clubsandwich, welches es nie essen wird, und verlässt den Laden wieder. Der Regen fegt es fast von den Füßen, so leicht ist es innerhalb der letzten Wochen geworden. Das Mädchen bemerkt seine Schwäche zum ersten Mal seid Langem – vielleicht auch, weil die frische Luft das Denken aufklart – und nimmt sich vor, morgen etwas Ordentliches zu kochen. Vielleicht wird es sogar einen kleinen Spaziergang machen und sich ein wenig auf dem Wochenmarkt umsehen. Das Mädchen denkt all die vernünftigen Dinge, die es sich vornimmt und höchst wahrscheinlich doch nicht machen wird, als es gegen einen Fels prallt. Die Männer waren plötzlich und unter dem Deckmantel des Unwetters aufgetaucht. Sie hatten das Mädchen schon im Blick, seid dem es den Laden verlassen hatte. Sie waren groß, breit, dunkel und überall. Es waren fünf. Sie schlossen sich wie eine Wand um das Mädchen. Eine Hand schnellte nach vorne und presste sich gegen seinen Mund. Ein Arm umschlang seinen zierlichen Hals und drückte mit der Endgültigkeit eines Schraubstocks zu. Man hielt Arme und Beine eng an den Körper des Mädchens gepresst. Wie bei einer Wühlmaus, die langsam durch eine Schlange zerquetscht wurde, flackerten seine Sinne. Der Boden unter seinen Füßen rutschte weg, der Himmel über ihm fing an zu flimmern und wie ein kaputter Fernseher zu rauschen. In seinen Ohren begann es zu fiepen und das Pochen seines eigenen Blutes wurde darin leiser. Wieso? Wieso musste “Wieso?” immer die letzte Frage sein? Besteht das Leben nicht aus viel mehr als aus dem Tod? Wieso also fragt man im Angesicht seines Dahinscheidens nach dem Grund dafür? Die Männer ziehen das Mädchen von der Straße. Einer sammelt ihre Einkäufe ein. Sie wollen keine Spuren hinterlassen. Danach sind sie weg. Ein Mädchen ist verschwunden. Keiner sucht nach ihm. Es wird nicht das Letzte sein. Ein Mädchen ist verschwunden und wird nicht mehr in seine Wohnung zurück kehren, wo sein Goldfisch wartet und erwartungsvoll guckt. Ein Mädchen ist verschwunden und die Stadt lacht. Lacht aus tiefster Seele. Kapitel 2: 2 ------------ Das selbe Jahr ... The Narrows/Gotham City 10. August 21:12 Uhr Batman/Bruce Wayne Er erinnert sich nicht, dass es jemals so still in den Narrows gewesen ist. Und das ist nicht gut. Bei weitem nicht. Abenddämmerung. Der Dunkle hockt auf der niedrigen Begrenzungsmauer eines Flachdaches – irgendwo zwischen einer Fernseh-Empfangsantenne und einem verrosteten und verbeulten Blechschornstein, aus dem aber kein Rauch aufsteigt. Wie erwartet, denn es ist Sommer. Er spürt die Ziegel unter seinen Füßen, sogar durch die dicken Spezialsohlen seiner Stiefel hindurch. Und er sieht in den Abgrund vor ihm, der durch den beginnenden Sonnenuntergang auch nicht freundlicher wirkt wie eine tollwütige Bulldoge. Der Abgrund war schon da, da hatte er noch nicht über dem vierten Stock eines Häuserblockes gesessen. Eigentlich war der Abgrund schon da gewesen, da war er nicht einmal Batman gewesen. Die Narrows sind so alt wie diese Stadt und sie sind Ausdruck ihrer Ungerechtigkeit, Brutalität und Absurdität. Sie waren ein Slum, ein Versteck für alle Arten von Herumtreibern und Verbrechern gewesen. Doch seit dem großen Desaster von vor drei Jahren, in dem innerhalb von ein paar Stunden die gesamte Stadt kurz vor einer kollektiven Selbstvernichtung durch das von Dr. Jonathan Crane, der sich selbst in seiner krankhaften Natur Scarecrow zu nennen pflegte, freigesetzte toxische Aerosol, welches unbeschreibliche Wahnvorstellungen hervor rief und die Einwohner dieses Stadtteils zu unberechenbaren Mördern machte (wenn sie es denn nicht schon aus eigenem Antrieb waren), gebracht wurde, waren die Narrows komplett durch die ausführenden städtischen Gewalten abgeriegelt wurden. Erst nur vorübergehend durch den Befehl des damaligen GCPD-Leiters und später durch Bürgermeister Garcia in der Einfuhr beschränkt. Es wird vermutet, dass er besonders auf Druck durch Sicherheitsbeauftragte aus Washington zu dieser Entscheidung gelangt war. Das gesamte Viertel, das wie eine Insel im Gotham River liegt, zwischen Downtown Haysville und Midtown Gainsly, wurde darauf hin laut Angaben des Departements „auf unbestimmte Zeit“ geräumt. Die Vermutung liegt nahe, dass „unbestimmt“ in diesem Fall wahrscheinlich eine sehr lange Zeit bedeutet. Die meisten Anwohner zogen nachvollziehbar bereitwillig in die Übergangslager und wurden zwei Wochen später in passablen Mietwohnungen untergebracht, von wo aus sie sich langsam wieder in die Stadt eingliedern konnten, ohne allzu große Nachteile zu erlangen. Man kann nun der Ansicht sein, die Narrows hätten damit ihren alten Schrecken verloren. Man kann es aber auch nicht. Und wenn man einen Blick auf diesen Teil der Stadt erhaschen kann, weiß man unweigerlich, warum man sich eher der zweiten Meinung anschließen sollte. Aus dem anfänglich sehr kleinen Geschwür, welches sich durch ein stark ausgeprägtes Drogen- und Rotlichtmilieu, Glücksspiel, eine extrem hohe Mordrate, Überfälle an nahezu jeder Ecke, Vergewaltigungen, Vertrieb illegaler Schusswaffen und Vertrieb aller erdenklichen Geschlechtskrankheiten auszeichnete, war ein Tumor von so beachtlicher Größe heraus gewuchert, dass er von seiner Position aus, die ganze Stadt erdrückte. War der GCPD anfänglich durch die Aussiedlung der Anwohner und Sperrung der Zufahrtsstraßen eine Menge Arbeit erspart geblieben, da die Narrows zu allen Zeiten immer ein Höchstgebot an polizeilicher Aufmerksamkeit gefordert hatten, so haben sie nun ein weitaus größeres und kaum zu bewältigendes Problem: Das leere Viertel zieht die wirklich Gefährlichen an. Es ist wie ein Spielplatz für die Hardliner ihrer Profession. Und sie spielen ausgelassen. Batman weiß, wer aus Black Gate kommt, kommt zuerst hier hin. Wer aus Arkham kommt, kommt zuerst hier hin. Wer etwas wirklich Großes vor hat, der kommt zuerst hier hin. Aber das Wissen nutzt ihm rein gar nichts. Denn wenn Batman weiß, dass er in den Narrows suchen muss, weiß er nicht wirklich, wo er suchen muss. Dieses Gebiet ist wie eine unabhängige Stadt. Sie hat Wächter, sie hat Augen und Ohren und so krank das vielleicht auch klingen mag, hat sie auch so etwas wie eine Verwaltung. Nur dass die ständig wechselt. Der Modus Operandi der „Big Bad“, zu denen Subjekte wie der Joker oder TwoFace zählen, ist zunächst, die Vormachtsstellung in den Narrows zu erreichen. Meist ein einfaches Unterfangen, da selten mehr als einer von ihnen auf freiem Fuß ist und es auch selten lange genug bleibt. Doch wenn es dazu kommt, dass mehrere Parteien versuchen ihre Positionen zu verteidigen, kommt es zum Bandenkrieg und das Feuer über den Narrows ist dann bis Uptown hin sichtbar. Für Batman bedeutet Chaos in den Narrows nicht zwangsläufig etwas Schlechtes. Es bedeutet, dass die Tiere beschäftigt sind, denn wenn sie sich nicht bekriegen und gegenseitig zerfleischen, bilden sie Teams. Und „Big Bad“- Team-Ups sind nicht nur im wörtlichen Sinne nicht gut. Diese Befürchtung quält ihn, als er auf der flachen Ziegelsteinmauer hockt und der Sonne beim Untergehen zusieht. Der Grund warum er diesen Abend schon so früh in der Stadt unterwegs ist, ist, weil er sehen will, was man ihn nicht sehen lassen will. So gut wie alle Verbrecher haben mittlerweile verstanden, dass sie weitaus sicherer fahren, wenn sie ihre Geschäfte tagsüber erledigen, auch auf die Gefahr hin von der GCPD, die für diese Wandlung nicht sehr dankbar ist, gefasst zu werden. Die Sache mit dem Angst einflössenden Fledermauskostüm funktionierte also immer noch so wie ursprünglich geplant. Doch der dunkle Ritter ist nicht hier, um kleinen Fischen hinterher zu jagen, die übergangsweise den großen Teich besetzen. Er ist hier um ein Rätsel zu lösen. Ein Rätsel, in dem sieben junge Menschen innerhalb sieben aufeinander folgenden Nächten verschwinden, ohne dass es ein Muster in den Orten gibt, an denen sie verschwinden. Angefangen hat es in der Nacht am 02.August in South Farrow. Ein junger Student führt seinen Hund Gassi. Das ist so gegen 23 Uhr. Er durchquert den Park, stoppt an einem Stufenbrunnen und verschwindet. Nun, er verschwindet ganz sicher nicht ohne Einflussnahme von Außen, aber das ist, wonach es aussieht. Die Polizei findet keine Spuren, keinen Hund, kein Haar, keine Stofffaser, keine Fingerabdrücke. Batman findet ebenso wenig. Es ist ein Wunder, dass man das Verschwinden des Jungen überhaupt bemerkt. Zu verdanken hat man das der Vermieterin der Studentenwohnung, die die darauf folgenden zwei Tage sturmgeklingelt hatte, um ihre lang vermisste Miete einzutreiben und kurzerhand die Polizei gerufen hatte, eigentlich weniger aus Sorge um den Jungen, als aus dem Wunsch die Polizisten mögen die Tür zu dem Mietpreller eintreten. Opfer Nummer zwei (in chronologischer Reihenfolge des Verschwindens, nicht des Meldestatus) war ein junger Kerl Mitte Zwanzig aus Gainsly, der meinte, dass 1 Uhr nachts am 03.August die perfekte Zeit wäre, sich in der Seitenstraße zum Friedhof von seinem Stammdealer Gras zu besorgen. Im Endeffekt bekommt er seinen Kick, ohne dass ihm überhaupt die Gelegenheit gegeben wird, einen Joint zu drehen. Doch genauso wie Opfer Nummer 1 hinterließen weder er, noch seine Entführer irgendwelche Hinweise und sein Verschwinden wurde nur aktenkundig, weil ein zugedröhnter Kumpel am nächsten Tag vor seiner Wohnung randalierte und dabei lauthals neben allerlei wüsten Beschimpfungen nach dem „versprochenen Gras“ schrie. Nach diesen ersten Zweien nahm man bereits an, dass es sich wohlmöglich um eine Serientat handelte. Eine von langer Hand geplante vielleicht. Zwei junge Männer in zwei hintereinander folgenden Nächten. Beide wohnten allein, hatten weder wirklich enge Freunde noch sonstige Beziehungen und beide hatten sie ein gestörtes Verhältnis zu ihren Familien, was wohl auch der Grund war, dass man ihr Verschwinden nur durch Zufall bemerkte. Einer von Ihnen war ein Bauwesen-Student gewesen, der andere ein arbeitsloser Sozialhilfeempfänger mit einer abgebrochenen Kommunikationsinformatiker-Ausbildung. Die Wohnorte der beiden liegen gut 12 Kilometer Straßenstrecke auseinander, ihre Lebenssituationen waren denkbar verschieden und die Umstände ihres Verschwindens lassen auf eine unglaubliche Willkür schließen, hinter der aber zweifellos ein ausgefuchster Plan stecken konnte, worauf die Sterilität der Tatorte schließen lässt. Geplante Willkür. Es war eine große Kunst etwas bis ins Detail Ausgefeiltes, wie zufällig wirken zu lassen. Dennoch hat man versucht zwischen den ersten zwei Opfern Parallelen zu ziehen und Hypothesen über die Vorgehensweise des Täters oder der Täter aufzustellen. Doch nach 24 Stunden wildestem Herumspekulierens verschwand ein dritter Mensch und vernichtete gleichzeitig die gesamte Arbeit der GCPD-Profiler. Denn diesmal war es ein Mädchen. Sie ist 25 und verschwindet zwischen 01:30 Uhr und 2:30 Uhr in der Nacht vom 04. auf den 05. August. Ihre Spur verliert sich in einer Seitenstraße in West Harlow. Sie ist noch nicht einmal 100 m von ihrer Haustür entfernt, als man sie überrascht. Ihr Verschwinden wird erst drei Tage später gemeldet, weil sie nicht mehr zu Vorlesungen an der Universität erscheint. Auch dort wieder keine Spur von den Angreifern. Kurz darauf treffen verspätete Vermisstenmeldungen von zwei weiteren jungen Mädchen ein, die jeweils am frühen Morgen des 06. August und des 07.August von der Straße gerissen werden. Die Versuche der Polizei eine Vorgehensweise zu ermitteln, ähnelt dem Versuch Puzzleteile zweier unterschiedlicher Puzzle zu einem System zusammen zu fügen. An keiner Ecke will es passen und am Ende ist das Bild noch verquerer als zuvor. Batman suchte nicht mehr nach Gemeinsamkeiten, sondern nach Unterschieden zwischen den Verschwundenen. Doch davon gibt es zu viele. Sollte es wirklich so sein und die Entführungen folgten keinem bestimmten Muster, blieb nur das Warten darauf, dass die Täter einen Fehler machten. Und dieser ereignete sich dann als in der Nacht vom 07. auf den 08.August Mädchen Nummer 4 und somit Opfer Nummer 6 verschwand. Ihre Vermisstenmeldung trudelte diesen Morgen (10.August) zusammen mit dem Suchzettel eines weiteren Mädchens ein und Commissioner Gordon, den die beinahe täglichen Meldungen über ein weiteres Verschwinden in einen Zustand hilfloser Gereiztheit versetzt hatten, hatte zwei Teams zu den Wohnorten der Mädchen geschickt, in der zweifelhaften Hoffnung durch knallharte Routine irgendwann auf brauchbare Hinweise zu stoßen. Die Spurensicherung war gerade mal zwei Stunden unterwegs gewesen, da erreichte ihn bereits ein Anruf in seinem Büro. Am Wohnort von Opfer Nummer 6 hatte man Kleidungsfasern und einen halben Schuhabdruck in der Größe 46 gefunden, der sich im Matsch einer vergammelten Fleischtomate, die aus einem Müllsack in der engen Gasse, die als Tatort galt, gefallen war, verewigt hatte. Gordon war Hals über Kopf und mit wehendem Jackett aus seinem Büro gestürzt und hatte das gesamte Laborpersonal zusammen gebrüllt und somit aus ihrer fortgeschrittenen Lethargie geholt. Der rüde Umgangston war nicht wirklich seine Absicht gewesen, aber in dem Moment, in dem er die Nachricht über sachdienliche Beweise in Empfang genommen hatte, war bei ihm ein Knoten geplatzt und die tagelang angestaute Anspannung ergoss sich über die schockierten Kriminaltechniker. Als er wenige Minuten später Batman auf seiner Kommandofrequenz erreichte, hatte seine Stimme wieder ihre dunkle, sonore Tiefe angenommen. Im Laufe des Nachmittags wurden Analysen gemacht. Alles stand unter dem Druck der drohenden Nacht. Man wollte unbedingt eine weitere Entführung vermeiden. Die Untersuchung der Stofffaser brachte nicht viel Nützliches. Man stellte lediglich fest, dass sie Teil eines blauen Synthetic-Shirts mit dem Slogan der Gothamer Footballmannschaft war. Die Shirts sind Massenware. Eigentlich hat fast jeder eines dieser Oberteile zuhause im Schrank. Der Schuhabdruck aber brachte einen Durchbruch! Neben der Größe und dem Modell verriet der Abdruck etwas weitaus wichtigeres. Er verriet, wo sich der Besitzer der Schuhe in letzter Zeit am meisten aufgehalten hatte. Zwischen dem Tomatenbrei hatte man einzelne Erdpartikel extrahieren können, die man genaueren Untersuchungen unterzog. Nach einigen Messungen konnten deutlich erhöhte Werte des Aerosols festgestellt werden, welches Crane damals auf die Stadtbevölkerung angewendet hatte. Und außer den Narrows gab es keinen weiteren Stadtteil, der nach drei Jahren noch eine solch hohe oder überhaupt messbare Belastung aufwies. Commissioner Gordon, ganz in seinem neu gewonnenen und für ihn so typischen Eifer, stellte unter Hochdruck eine kleine Einheit zusammen und stattete sie mit aller erdenklichen Schutzkleidung aus und ließ das, nun bis an die Scheitel bewaffnete Team vor seinem Büro Aufstellung nehmen, während er selbst in Schutzweste, Teflon-Knie- und Armschonern, schwarzem feuerfesten GCPD-Overall und eisenbeschlagenen Stiefeln (die Standartausstattung für Einsätze in den Narrows) in sein Büro stürmte, die Pumpgun auf einen Haufen unbearbeiteter Akten ablegte und sein eigenes angepasstes Headset aus einer Schublade nahm. „Batman?“, fragte er atemlos in das beinahe unsichtbare, stecknadelkopfgroße Kugelmikrofon vor seinem Mund. „Commissioner.“, bestätigte man am anderen Ende der Leitung. „Die Täter kommen aus den Narrows. Wir sind gerade dabei das Gebiet weiter einzugrenzen. Sieht ganz danach aus, als ob das Bodenmaterial in den Abdrücken aus der Nähe der ehemaligen Glasfabrik stammt. Quarzsand.“ „Welche Glasfabrik? Brooks oder Meisand?“ „Wissen wir noch nicht.“, Gordon klaubte die Waffe wieder vom Tisch. Ein Stapel Akten rutschte hinterher und verteilte sich unbeachtet auf dem Linoleumboden. „Aber ich und ein paar Männer sind schon auf dem Weg dorthin. Wenn sich etwas Neues ergibt, sagt man uns sofort bescheid. Also, wenn du—„ „Nein, Jim.“ „Was?“ Gordon lief bereits den langen Flur entlang, der das Großraumbüro von der Eingangshalle trennte. Seine Leute geschlossen hinter ihm. „Du und deine Leute. Ihr bleibt, wo ihr seid! Wir haben noch keine Ahnung in welchem Gebäude sich die Täter aufhalten oder ob sie überhaupt derzeit in den Narrows sind. Wenn ein Trupp Polizisten dort eine Razzia veranstaltet, haben wir das ganze Pack gegen uns, auch die, die nichts mit der Sache zu tun haben. Außerdem könnten die Entführten noch leben. Man würde sie vielleicht als Geiseln verwenden.“ Gordon blieb stehen und hob die Hand. Seine Gefolgsmänner stoppten abrupt, das Rascheln ihrer schweren Kleidung verstummte. „Wenn wir nicht sofort eingreifen, verschwindet wieder ein Mensch. Die Nacht bricht bald an.“ „Das wird nicht passieren. Wenn wir mit den Narrows richtig liegen, dann werde ich heut Nacht ein Auge auf das Viertel haben. Wenn sie ihre Streifzüge von dort aus beginnen oder dort beenden, werde ich sie erwischen. Wenn nicht …“ Die tiefe, verzerrte Stimme machte eine kurze Pause. „Dann sollten wir hoffen, dass es aufgehört hat.“ Gordon umklammerte bereits das hölzerne, glatt polierte Geländer der geschwungenen Treppe in der GCPD-Eingangshalle und starrte in die Luft vor ihm. „Ich werde dir ein paar Männer zur Verstärkung schicken. Sie können in 20 Minuten an der Zufahrt sein, wenn du--“ „Nein.“, sagte die emotionslose Stimme und lies damit keinen Widerspruch zu, „Ich bin bereits da. Lass deine Männer in Bereitschaft, aber bleibt den Narrows fern. Hier gibt es zu viele Augen und Ohren. Es wäre zu auffällig.“ „Du kannst nicht völlig ohne Unterstützung dort herum laufen!“, schrie Gordon schon beinahe in das winzige Mikrofon, „Sag mir, wo du gerade bist, wir werden dann zu dir aufschließen und uns am Rand des Viertels stationieren, nur für den Fall, dass sich dort etwas tut.“ „ __#__“ Der prägnante Piepton im In-Ear zeigte an, dass die Leitung abgebrochen wurden war. Commissioner Gordon rammte seine Faust gegen das Geländer. „Zu auffällig…“, knurrte er, „Nicht so verf***t auffällig wie ein Mann in einem verdammten Fledermauskostüm!!!“ Der dunkle Ritter hat im Laufe der Jahre gelernt, wie er seinen Willen gegenüber Jim durchsetzen kann, auch wenn dieser in Höchstform aufgelaufen ist. Besonders dann! Dass sie sich beide dabei meist wie zickige Anführerinnen zweier Mädchencliquen aufführen, ist ihnen noch nie in den Sinn gekommen. Bruce Wayne weiß nur, dass es funktioniert und er weiß auch, dass – wenn er Gordons anfänglichen, beinahe übertriebenen Tatendrang ausgebremst hat – dieser immer die richtige Entscheidung treffen wird. Auch wenn sie sich nie als Freunde im wirklichen Sinne bezeichnen können, verbindet sie dennoch etwas viel stärkeres als Freundschaft. Etwas viel tieferes. Sie sind auf eine Art seelenverwandt. Sie haben im Grunde dieselben Ziele, dieselben Prinzipien und somit auch denselben Weg diese Ziele zu erreichen. Sie wollen Gotham vor sich selbst schützen. Sie wollen das Recht wieder in die dreckigen Winkel dieser Stadt bringen. Sie wollen ein funktionierendes System, was dafür sorgt, dass der Wahnsinn wieder von den Straßen verschwindet, dass Korruption nicht mehr die Organe der Justiz und der Exekutive zerfrisst und sie von ihnen her aufweicht, wie einen porösen Schwamm. Bruce Wayne und James Gordon haben eine Allianz gebildet und Gleichgesinnte um sich gescharrt, um Gotham City wieder aus dem Dreck empor zu heben und all das wieder ans Licht zu bringen, aufgrund dessen diese Stadt einst so beneidet und bestaunt wurden war. Sollte einer der beiden Brüder im Geiste jemals seine Prinzipien verletzten, so würde ihn der andere zur Strecke bringen. Das wissen beide. Es ist jetzt kurz vor 1. Das Warten zieht sich hin. Nichts ist bis jetzt passiert. Detektivarbeit braucht einen langen Atem oder sie braucht jemanden, der nicht einmal atmen muss. Auch wenn er vor ein paar Stunden noch sechs Tassen Kaffee getrunken hat, bemerkt Batman wie seine Konzentration unweigerlich unter dem permanenten Mangel an Geschehnissen leidet. Er hat seine Position bisher nur einmal gewechselt, denn er hat Angst, etwas zu übersehen. Es ist so ruhig, dass er immer noch glaubt, jeden Moment würde eintreffen, worauf er bereits so lange wartet. Die Ruhe vor dem Sturm sagt man. Nur dass diese Ruhe jetzt schon beinahe vier Stunden dauert und kein laues Lüftchen weht. Die Fledermaus entscheidet noch einmal den Rest des Teams über Intercom anzusprechen. „Robin, Nightwing? Alles in Ordnung bei euch?“ Vom Dach der zweiten Glasfabrik, der Meisand-Fabrik im Süden der Narrows, meldet sich Dicks geflüsterte, aber dennoch klare Stimme: „Nichts Batman. Absolut gar nichts.“ „Unter meiner Bettdecke würd ich sogar mehr verdächtige Dinge finden!“ Im Gegensatz zu dem älteren Dick Grayson, bemüht sich Tim Drake, der auf der anderen Seite der Brook-Glasfabrik, die auch Batman im Blick hat, observiert, kaum darum seine Frustration zu verbergen oder darum, seine Stimme zu senken. „Robin, sei still!“, faucht der Ältere auf Leitung zwei zurück. „Was denn? Die einzigen Personen, die ich hier gesehen hab, waren ein Dealer, der sich selbst einen Schuss gesetzt hat und eine Bande Randalen, die ein Auto zu Schrott gehauen haben, die ich aber nicht vermöbeln durfte, weil ich ja hier rumhocken und Mäuschen spielen muss!“ Dick wird langsam ungehalten. Langeweile fördert die Streitlust. Auch oder besonders bei diesen Beiden. „Denkst du, bei mir ist es interessanter? Mir ist so tierisch langweilig, dass ich mir schon überlege, ob ich nicht zu dir rüber komme und DICH vermöble!“ Batman – kurzzeitig mit dem Gedanken liebäugelnd, die Beiden einfach ebenso wegzudrücken wie den Commissioner – unterbricht den sich anbahnenden Streit mit seiner dunklen, voluminösen Stimme: „Konzentriert euch! Ich habe hier genauso wenig Auffälligkeiten wie ihr, aber wir müssen unsere Augen offen halten. Wenn die Täter auftauchen, dann in der Nähe der Fabriken.“ „Ja, WENN sie auftauchen!“, kontert Dick schnippisch und klingt dabei, fast so wie sein jüngerer Nachfolger. „Das müssen sie.“, sagt der Dunkle ruhig und reibt sich den linken Ellenbogen, der trotz dicker Schutzpanzerung durch das andauernde Stützen auf dem Mauervorsprung wehtut, „Sie werden das Muster nicht brechen.“ „Was macht dich da so sicher?“ Die Skepsis in Nightwings Stimme ist noch eingefärbt von der gedeihenden Streitlust. „Was ist, wenn sie niemanden mehr entführen? Was ist, wenn sie das Muster mit Absicht brechen, um uns zu verwirren? Sie haben auch angefangen Mädchen zu holen. Du hast bestimmt schon in Erwägung gezogen, dass sie nur mit uns spielen könnten, oder?“ Batman hat keine große Lust einem Ansturm von ketzerischen Fragen zu beantworten, aber er muss die beiden noch ein paar Stunden bei Laune halten. Und um aufmerksam zu sein, müssen sie überzeugt sein, von dem, was sie tun. „Nein, sie werden nicht einfach aufhören. Ich kann euch nicht genau sagen warum, aber ich spüre dahinter mehr. Etwas Größeres vielleicht. „Meinst du, es könnte Bane sein?“ Tims Stimme ist wieder von Interesse und einem spontanen Geistesblitz, der ihm unweigerlich bei dem Wort „Größeres“ in den Sinn gekommen war, geschwängert. „Red keinen Unsinn!“, kontert Dick schneller, als Batman zu einer Antwort ansetzen kann, die gewiss ähnlich, aber um einiges charmanter ausgefallen wäre. „Bane hat das Land verlassen. Er ist irgendwo in Südamerika untergetaucht. Es wäre sogar ziemlich bescheuert für IHN innerhalb der nächsten dreihundert Jahre hierher zurück zu kommen, wo er doch die Todesstrafe bekommt.“ Batman ergänzt sanft: „Außerdem sind Entführungen etwas, was er gern selbst in die Hand nimmt. Bane hat keine Gefolgsleute.“ Tim schweigt beleidigt. Bruce kann sich sein kleines ovales Gesicht vorstellen, wie es in sich zusammen geschmollt mit vorgeschobener Unterlippe im Stehkragen seines Kostüms verschwindet und keinen Pieps mehr von sich gibt. „Wir sollten die Vermutungen auf später verschieben. Wenn bis fünf nichts passiert sein sollte, treffen wir uns eine halbe Stunde später am Batmobil.“ Dick bestätigt, Tim schweigt weiterhin beharrlich und Batman tastet sich wieder aus der Kommandoverbindung aus. Fast zwei weitere Stunden kriechen durch die dunklen Gassen, gut 20 m unter ihm, während oben auf dem Dach gefühlte 10 Stunden verstreichen. Die Fledermaus muss sich mittlerweile beherrschen, nicht an die Wand gelehnt einzuschlafen. Das ununterbrochene Gestarre auf die Straßen unter ihm, die rechts und links an dem Fabrikgebäude vorbei führen, wirkt auf seine Augen wie ein schwerer Backstein und lässt sie sich anfühlen, als würden sie gleich platzen oder von allein in Flammen aufgehen. Ab und zu muss er sich eine Natriumlösung hinein tropfen, um den milchig-trüben Schleier zu vertreiben, der sich in immer wieder in seinen ermüdeten Blick schleicht. Da nimmt er plötzlich eine Bewegung wahr. Die Routine der letzten Stunden und die dumpfe Vorahnung, doch nur wieder eine verirrte Schnapsdrossel in der Dunkelheit unter ihm zu erkennen, lässt ihn langsam, beinahe träge reagieren. Er hebt den Blick über den Rand der schlampig verputzten Dachrandabgrenzung und späht hinunter auf den, mit Kiesgeröll und feinen, im Mondlicht funkelnden Glassplittern bedeckten Weg, der zum westlichen Haupttor des Fabrik führt und hinter dem Gebäude wieder zwischen den zwielichtigen Schluchten der Wohngegend verschwindet. Als er in der Dunkelheit Scheinwerfer erkennt, richtet er sich ohne Zögern auf, bleibt an den schmalen Schornsteinschlot gepresst, dessen metallener Körper ihm die letzten Stunden als Rückenlehne gedient hat, und beobachtet die Szenerie. Die Situation wirkt viel versprechend, nicht zuletzt, da es das erste Fahrzeug ist, das sich dem Gebäude nähert. Es ist auch noch ein kleiner weißer Transporter. Der Grund, warum die Täter keine Spuren in der Nähe der Tatorte hinterließen … Ein Fluchtfahrzeug, wie vermutet. Der Wagen hält gut 500 m vor dem Eingang. Die Scheinwerfer strahlen den Weg hinunter und werfen den Schatten einer altersschwachen Straßenlaterne hart gegen die Mauern der Glasfabrik. Die Tür an der Fahrerseite öffnet sich. Sie fliegt beinahe aus den Angeln, so heftig wird sie nach außen aufgestoßen. Mit dem unangenehmen Geräusch überdehnter Türblockierer dringt ein Schwall übler Flüche aus dem Autoinneren. Ein breitschultriger Mann springt auf die Straße. Er ist vollkommen dunkel gekleidet und trägt ein schwarzes Capi auf dem Kopf. Reichlich seltsam für diese Tageszeit. Will er nicht erkannt werden? Der große Kerl geht nach hinten und reißt offenbar stinksauer die hintere Autotür auf. Auch wenn die laute und dröhnende Stimme des Mannes an den Hauswänden hundertfach gebrochen und reflektiert wird und sich zu einem unverständlichen Brei aus wummernden Bässen vermischt, hört Batman die kreischende Frauenstimme deutlich genug aus dem hinteren Teil des Autos, um zu ahnen, was als Nächstes passieren wird. Der Dunkle springt deswegen aus der Deckung auf die Dachbalustrade und stürzt sich ohne zu Zögern in die Tiefe. Unter sich sieht er, wie eine heftig um sich tretende und schreiende Gestalt aus dem Wagen gezerrt wird. Sie kratzt und schlägt und wird zu Boden geworfen. Ihr blondes Haar ist ein einziger wilder Wust. Sie schreit erschrocken auf, denn die Glassplitter zwischen den Steinchen bohren sich augenblicklich tief in ihre Knie. Das Batcape des dunklen Ritters entfaltet sich lautlos. Die dünnen Stäbe aus speziell verhärtetem Aluminium machen ein leises Geräusch, das er selbst kaum wahrnimmt. Er spürt nur die leichte Vibration, mit der sie gegen den Stoff schrammen und spannt parallel seinen Körper an, um wie ein geräuschloses schwarzes Blatt auf seinen Feind am Boden zuzugleiten. Die Überraschung gelingt ihm. Im letzten Moment zieht er seine Beine nach vorn und erwischt den Hünen mit einem kraftvollen Doppeltritt auf die Brust. Dem Mann treibt es mit einem erschrockenen Keuchen die Luft aus beiden Lungenflügeln. Er taumelt nach hinten, findet keinen Halt und stürzt schräg über die Motorhaube des Transporters. Batman landet kurz davor und widmet sich ohne zu Zögern dem am Boden Liegenden. Er greift ihn am Kragen seiner schwarzen Nylonjacke, zieht ihn obgleich seiner Größe nach oben und wirft ihn so auf die Motorhaube nieder, dass sich die Wischwasser sprühenden Ventile in den Hinterkopf des Täters stempeln wie spitze Steine. Er ächzt auf, fasst sich an den Nacken. Batman zieht ihn wieder nach vorne, um ihm ins Gesicht sehen zu können und bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Das Gesicht des schwarz gekleideten Mannes ist schmerzverzerrt und faltig. Die äußerst blasse Haut ist gesprenkelt von verfrühten Altersflecken, alten Brandmalen und Narben irgendeiner vergangenen Hautkrankheit. Durch zahlreiche Zahnlücken quillt der markante Geruch eines Fischmarktes im Hochsommer und die Augen sind durch die geweiteten Pupillen fast vollkommen schwarz. Batman fletscht die Zähne und starrt an dem Mann herunter. Es ist schwer zu sagen, wie alt der Kerl ist. Seine Hände zittern, die Haut dort ist wie Pergament. Dennoch zeugt alles davon, dass er vor nicht allzu langer Zeit mal ein kräftiger Bursche gewesen sein muss: Die breiten Schultern, der stämmige Körperbau, das volle Haar, das unter dem Capi hervor schaut. „Wer bist du?“, knurrt der dunkle Ritter. Seit den Pupillen weiß er, dass er mit einem Junky spricht, der von seinem letzten Trip noch nicht runter ist. Also erwartet er nicht wirklich eine präzise Antwort. Der Mann auf der Motorhaube starrt ihn nur an, als würde er jeden Moment losheulen müssen. Seine Unterlippe zittert. Er hat Angst. Was auch immer sein Trip aus Batman macht, es wird nicht beruhigender sein, als das Original. Batman stößt ein frustriertes Grollen aus und lässt von dem Elend ab. Er will nach dem Mädchen sehen, auch wenn er die Befürchtung hat, dass es die Enttäuschung komplett machen wird. Sie sitzt einige Meter von ihm entfernt an einen Geröllhaufen gepresst, den man vor der Fabrikwand aufgeschüttet hat und versucht sich die beinahe unsichtbaren Glasstückchen aus den Knien zu entfernen. Dabei heult sie Rotz und Wasser. Die Fledermaus tritt zu ihr und als sie nach oben blickt, mit einer Mischung aus animalischer Furcht und allzu menschlicher Verwirrung, wendet Batman seinen Blick bereits zähneknirschend ab. Er hat ihr Gesicht gesehen. Sie sieht beinahe so alt aus, wie ihr Peiniger. Zwischen ihren runzeligen Wangen und den stark geschminkten Augen sitzt eine Nase, die aussieht wie ein Papageienschnabel, an dem zu allem Überfluss auch noch ein silbernes Piercing baumelt. Ihre Pupillen sind ebenfalls geweitet und sie macht nicht wirklich den Eindruck, als könnte sie den Patron der Stadt noch richtig erkennen. Ihr dürrer, verbrauchter Körper steckt in knalligen und viel zu engen Kleidern, mit viel zu wenig Stoff. Eine Crack-Hure. Ein armseliges Produkt des Drogenkonsums, ein Opfer der Drogenbarone und diverser familiärer Tragödien. Letzten Endes dazu gezwungen für ein wenig Heroin oder Crystal ihren Körper zu verkaufen, nur um dann ertragen zu können, was sie tut, um ertragen zu können, was sie tut. Batman blickt auf den zitternden Schatten vor sich und stößt innerlich einen Seufzer aus. Dann klinkt er sich wieder ins Intercom ein. „Nightwing. Robin.“ Bestätigung von beiden Seiten. „Wir brechen die Aktion für heute Nacht ab. Ich habe meinen Posten verlassen.“ Aufgeregtes, erwartungsvolles Schweigen. „War falscher Alarm.“ Seufzen auf beiden Kanälen. „Wir treffen uns in fünf Minuten am Batmobil. Und bitte bleibt weiterhin unauffällig!“ Nachdem er die Bestätigungen erhalten hat, kniet er sich zu der Frau hinunter und hält ihr eine steril verpackte Binde entgegen mit einer kurzen Erklärung und in der Hoffnung sie würde sich an ein paar seiner Anweisungen erinnern, wenn sich ihr Verstand wieder geklärt hatte. Die Frau in ein Krankenhaus zu fahren würde sich nicht lohnen. Jeden Drogenabhängigen auf kalten Entzug zu setzen war nicht möglich und jede verlorene Seele retten zu wollen, war etwas, das einem Gottkomplex näher kam, als der Realität. In seiner Anfangsphase hatte Batman so etwas getan und er hatte nur allzu schnell dazu gelernt. An manchen Tragödien konnte man nichts ändern, man konnte nur eine kleine Hilfestellung leisten und hoffen die Menschen würden allein den richtigen Weg finden. Hier verhält es sich ähnlich. Er gibt der Prostituierten das Verbandsmaterial, dem Junky nimmt er die Autoschlüssel ab. Dann zieht er sich mit der Batclaw wieder auf das Dach zurück und macht sich auf den Weg zum Batmobil, welches gut verborgen, in einem nahe gelegenen Abwasserabfluss geparkt steht. Diese Nacht ist ernüchternd gewesen. Es ist seltsam. Sollte Dick Recht gehabt haben und man spielte nur ein wenig mit ihnen? Vielleicht haben sich aber auch die Analysen geirrt und sie haben am völlig falschen Ort gewartet. Das alles würden sie in ein paar Stunden heraus finden. Dann würde man entweder ein neues Opfer haben oder eine Änderung im Plan. Vorausgesetzt es gibt einen Plan hinter dem Ganzen. Der Dunkle senkt den Blick, als er zum Abwasserrohr hinunter stapft und fragt sich warum er das Gefühl hat, dass ihn dieser Fall so erdrückt. Menschen waren schon oft verschwunden und viel zu oft nie wieder lebend aufgetaucht. Das ist etwas, worüber er beinahe sagen könnte, er habe sich daran gewöhnt. Was ihn wirklich fertig macht, was wirklich in seinem tiefsten Inneren an ihm nagt, ist die Tatsache, dass er noch keinen Schritt voraus ist. Zum Warten und Zusehen verdammt, fühlt er sich zum ersten Mal wie der Rest dieser Stadt. … Als Batman am Steuer seines Hightec-Fahrzeuges sitzt, die seicht gefluteten Abwasserkanäle entlang rast, die es ihnen ermöglicht haben in diesen abgeriegelten Teil der Stadt zu kommen, und geduldig den Beschwerden und den immer wahnwitzigeren Verschwörungstheorien seiner beiden jungen Gehilfen zuhört, entschließt sich das leidige Schicksal, welches diese Stadt so hart in seine Krallen geschlossen hält, sein liebstes Ass aus dem Ärmel zu schütteln: Die Ironie. Nur zwei Querstraßen von dem Gebäude entfernt, auf dessen Flachdach der dunkle Ritter bis vor einer halben Stunde noch gesessen hatte, spuckt die Nacht eine Gestalt auf die Straße, die sehr wohl etwas mit den Ereignissen der letzten Woche zu tun hat. Einen kleinen silbernen Metallkoffer an sich gepresst, überquert sie die Straße, springt von Schatten zu Schatten und tastet sich mit nervösen Bewegungen in Richtung Glasfabrikmauer. Immer wieder wirft sie gehetzte Blicke in die zahlreichen Gassen und Nebenstraßen und kommt sich dabei vor, wie das einzige Sahnetörtchen auf dem Treffen einer Selbsthilfegruppe für Fresssüchtige. Aber es ist ja nicht mehr weit! 100 m vielleicht noch, dann wird die Person das unscheinbar, beinahe wie zufällig an die Wand gelehnte Wellblech sehen. Dahinter liegt ein, zur Hälfte vernagelter Eingang, eine rahmenlose Tür, zu klein für einen Menschen normaler Größe. Wohin der Gang führt, der hinter dieser Tür begann? Die Person weiß es, sie ist schon oft diesen Weg gegangen und immer wieder verspürt sie das vorfreudige Kribbeln in der Magengegend, ähnlich einem Orgasmus in seiner frühen Phase. Die Hände werden dann immer ganz schwitzig und im Kopf entsteht ein Sog, der den Körper dazu veranlasst sich nur noch schneller auf das Ziel zu zu bewegen. Die Person biegt um die Ecke und fährt regelrecht zusammen. Da sind Leute! Ein Mann, an den Vorderreifen eines Transporters gelehnt und allem Anschein ein wenig weggetreten und eine Frau, die wimmernd und leise vor sich hin faselnd mit einem Verband in der Hand auf dem steinigen Boden hockt und leicht vor und zurück wippt. Beide reagierten sie nicht sofort, als der Fremde plötzlich an der Mauer erscheint und sie mit geweiteten Augen anstarrt, das Gesicht voller unangenehmer Überraschung und einem fieberhaft arbeitenden Denkapparat dahinter. Doch als sich die Person wieder in Bewegung setzt, anscheinend um sich den beiden zu nähern, blickt die Frau mit ihrem leeren Blick zu der Gestalt auf. Ihre blassgrauen, unterlaufenen Augen nehmen einen sehr schlank gewachsenen, jungen Mann wahr, in einer schwarzen Stoffhose und mit einem kurzen, dunkelblauen Trenchcoat bekleidet, unter dem ein wenig in Falten geworfener weißer Stoff aufblitzt. Es ist eine Art weißer Chemiekittel, den er sich in den Hosenbund gestopft hat, damit er nicht unter dem dunklen Trenchcoat hervor lugt. Die Sicht der noch zur Hälfte im Delirium schwebenden Frau, ist verschwommen und ihr Geist ist zu träge, um das Wenige, was sie noch erkennt zu verarbeiten. Jede Sekunde, vergisst sie, was die Sekunde zuvor passiert ist. Wäre sie zu diesem Zeitpunkt klar, würde sie den Mann wohl erkennen, der sich nun einem Meter vor ihnen hinkniet und seinen Koffer öffnet. Sie hätte auch die kleinen Fläschchen und das kleine Gerät erkannt, welches einem Raumduftversprüher außerordentlich ähnelt und so fürsorglich in weichen, angepassten Moosgummi gelagert ist, damit kein Glas auch nur einen Kratzer abbekommt. Beinahe liebevoll streicht der junge Mann über die kühlen Körper der Fläschchen, berührt ihre gläsernen Schwanenhälse und begutachtet den Ladezustand des kleinen Gerätes, an dessen oberen Ende ebenfalls eines der kleinen Gefäße angesteckt ist. Dann plötzlich zieht er die Hand zurück, als hätte er sich die Fingerspitzen daran verbrand und schließt den Koffer mit einem schmerzvollen Seufzen. Er richtet sich wieder auf und sieht die beiden Menschen vor sich das erste Mal direkt an. Sie starren durch ihn hindurch und vergessen von Moment zu Moment immer wieder, dass sie nicht allein sind. Die Drogen haben in ihrem Kreislauf mittlerweile ihre volle Wirkung entfaltet. Auf dem Gesicht des dünnen Mannes mit den schmalen Schultern liegt ein linkischer Ausdruck, welcher wohl von seinem intelligenten Blick durch zwei Augen, die von Farbe und Ausdruck als eisig beschrieben werden können, und von dem beinahe unsichtbaren Lächeln, das Unsicherheit, Labilität und soziapathische Vorfreude gleichzeitig ausdrückt, ausgelöst wird. Er beobachtet die zwei Menschen auf ihrem Trip, wie zwei verwirrte Laborratten durch die Augen eines Wissenschaftlers. Ein klarer Verstand ohne die Fesseln von Moral und Gewissen. Ein perfekter Forschergeist. Kindliche, unschuldige Neugier bemächtigt sich seiner Mimik, als er in die Innentasche seiner Jacke greift und einen kleinen Revolver hervor zieht, der nicht mehr als sechs Kugeln fasst und nicht mehr wiegt, als ein 100 Seiten Taschenbuch, und ihn nacheinander auf beide Personen richtet. Er muss dreimal abdrücken. Den Mann trifft er sofort in die Brust. Seine Lunge kollabiert und er bringt keinen Laut heraus, da die Droge seine Reflexe lähmt. Die Frau, von dem ersten Schuss ein Stück weit aus ihrer Lethargie gerissen, zieht die Knie erschrocken nach oben. Die erste Kugel durchschlägt daher ihren Unterschenkelknochen, anstatt ihren Brustkorb zu treffen. Der Mann mit der Waffe geht kurzerhand noch zwei Schritte auf sie zu und feuert die dritte Kugel auf ihren Kopf ab. Sie tritt durch die Stirn ein und verschwindet irgendwo im Schädel. Der Körper der Prostituierten sackt nach hinten, Arme und Beine über den Geröllhaufen ausgestreckt. Der Mann betrachtet nur kurz sein Werk, lässt den Revolver wieder im Trenchcoat verschwinden und nimmt seinen Koffer an sich. Er hat Wichtiges zu tun. Der Sog erfasst ihn wieder und zieht ihn zum Wellblech an der Fabrikmauer, hinter dem er sich mit schlaksigen, aber dennoch eleganten Bewegungen vorbeischiebt. Die Art und Weise, wie er sich bewegt, würde jedem Menschen erst beim zweiten Hinsehen auffallen. Beim ersten Mal würde man überlegen, in seinen Erinnerungen und Erfahrungen kramen, was einem die Gestalt des jungen Mannes so seltsam bekannt vorkommen lässt. Zugegeben, niemand, außer seinen alten Mitschülern und Studenten, hätte diesen Vergleich wirklich benutzt. Und zugegeben, die meisten, die ihn in seiner Gegenwart zum Ziel der Beleidigung anzuwenden pflegten, hatten es auf so mannigfaltige Arten und Weisen bereut, dass es selbst dem fantasievollsten Menschen nicht gelang, es sich vorzustellen. Aber wenn man ihn so betrachtet, dann … Er sieht so aus, wie … Er hat ein bisschen was von einer Vogelscheuche. Kapitel 3: 3 ------------ Das selbe Jahr ... The Narrows/Gotham City 10. August 03:55 Uhr Scarecrow/Dr. Jonathan Crane Das dunkle Loch, in das er so bereitwillig geklettert ist, empfängt ihn mit staubiger Hand und dem unangenehmen Geruch abgestandener Pisse und anderen noch widerwärtigeren Körpersäften. Zwar ist dieser schmale, zerfallene Tunnel seit Jahren unbewohnt und von Herumtreibern unbehelligt, aber die Penetranz seiner einstigen Bewohner will einfach nicht weichen. Crane zieht den Kragen seines Trenchcoates über Mund und Nase. Es widert ihn an, zu riechen, was andere hier hinterlassen haben. Alle menschlichen Ausdünstungen sind ihm unglaublich verhasst, bis auf den kühlen und beinahe chlorartigen Geruch von Angstschweiß, der ihm – ohne jeden Zweifel – das liebste Parfüm und stärkste Aphrodisiakum unter allen Dingen auf der Welt ist. Beim Gedanken daran, drückt er seinen Koffer fester an seine Brust und kann auf dem Metall die Vibration seines eigenen Herzschlags spüren, der sich dabei ein wenig beschleunigt. Es ist schon eine ganze Weile her, als er sich das letzte Mal der stillen Freude über den Moment der selbst verherrlichenden Genugtuung hingegeben hat. Die zwei Menschen, denen seine besondere Genussgier gerade das Leben gekostet hat, sind durch ihren Drogenkonsum so gelähmt gewesen, dass sie nicht einmal im Stande gewesen sind, zu erkennen, dass sie sich in einer gefährlichen Situation befanden, obwohl Crane einen Hauch fast verflogener Angst bei dem Mann spüren konnte, deren Ursprung ihm aber gänzlich unbekannt blieb. Der kurze Schrecken, der sich der Frau bemächtigte, als er den Junky erschoss, war etwas, dass Dr. Jonathan Crane peripherer Angst zuordnet. Also einer Angst, die reflexartiger Natur ist und von den Betroffenen noch nicht einmal selbst wahrgenommen wird, weil sie viel zu kurz empfunden wird. Wonach er sich wirklich sehnt, ist es, einen abgrundtiefen und traumatisierenden Schrecken in den Kopf eines unbedarften Menschen zu pflanzen und ihn diesem solange unablässig, aber kontrolliert auszusetzen, bis dessen Verstand dieses Horrorszenario als einzige und absolute Wahrheit betrachtet und der Körper durch den panischen Geist zugrunde gerichtet wird. Nichts ist befriedigender, als zuzusehen, wie ein Wesen stirbt, allein durch die Kraft ihm injizierter Bilder von Dingen, die so eigentlich nicht existierten. Vielleicht hat er diese Nacht wieder eine solche Gelegenheit. Deswegen trägt er den Koffer bei sich. Bereits seid Wochen will er seinem neuen Teamkollegen demonstrieren, womit er zu so zweifelhafter Berühmtheit gelangte. Sein Lebenswerk, sein Ein und Alles. Doch er hat brav gewartet, wollte nichts überstürzten und das eigentliche Projekt dabei am Vorrankommen hindern. Doch während dieser Tage verbissenen Zurückhaltens, hat der Wunsch nach Bestätigung seiner genialen Arbeit unerbittlich an ihm genagt, besonders weil es sich dabei um die Bestätigung eines solchen Virtuosen handelt, den selbst Jonathan Crane in seiner narzisstischen Natur, zu bewundern bereit war. Vorsichtig setzt er einen Fuß vor den anderen. Mehr als nur einmal tritt er in Etwas, was von fragwürdiger Konsistenz ist. Er geht langsam, denn auch wenn er mittlerweile weiß, wo sich welcher Bretterstapel oder zerbrochener Ziegelstein in der Dunkelheit befindet, ist er auch davon überzeugt, dass die Idioten, die sie für die etwas unangenehmeren Arbeiten haben anheuern müssen, ihre Schritte nicht ganz so vorsichtig setzen und deswegen den Gang des Öfteren in seiner Struktur verändern, und er hat keine Lust über eine leere Bierflasche zu stolpern und mit dem Gesicht in einer toten Ratte zu landen. Eine Art Niedergeschlagenheit befällt ihn, als er bemerkt, dass der staubige Geruch, der ihm immer noch vehement in der Nase hängt und seine Geruchsnerven mit sanften Schlägen niederknüppelt, bis sie zu benommen sind, noch andere Nuancen in der Umgebung wahrzunehmen, nicht aus dem verrottenden Gang stammt, sondern von ihm selbst ausgeht. Er kriecht durch die Fasern seines Trenchcoatkragens, er durchdringt den weißen Kittel und das dünne Hemd darunter, er liegt auf der blassen Haut und in den Wellen seines braunen Haares. Jonathan Crane riecht mehr nach einem alten hölzernen Möbelstück, als nach einem lebendigen Menschen. Und er weiß auch woran das liegt. Es liegt an diesem verdammt winzigen Höllenloch, in dem er schon seit Monaten wohnt. Vier nackte Betonwände ohne Geschichte. Dunkel und unausstehlich eng. Eine Decke, die in Fetzen herunterhängt und auf der etliche Rohrbrüche dunkle Stockflecken hinterlassen haben. Ein zertretener Linoleumboden mit braun-beigem Rautenmuster, teilweise versteckt unter einem verblichenen Asia-Shop-Orientaltteppich. Und zwischen all dem hässlichen Wahnsinn, eine Möblierung, die jeden Innenausstatter sofort ins Grab befördert hätte. Die knapp 25 m² verteilen sich auf einen Wohnraum, einen minimalistischen Flur und ein winziges Bad, in dem man praktisch keine andere Wahl hat, als im Stehen zu Pinkeln. Den Wohnraum nimmt hauptsächlich ein schiefer und angerosteter Metalltisch ein, dessen Beine so unförmig sind, dass es ein Rätsel ist, wie er überhaupt steht. In die Tischplatte sind in regelmäßigen Abschnitten kleine Löcher gestanzt und an den Tischkanten ziehen sich schmale Rinnen zu allen vier Ecken. Der Anblick dieser Möbelmutation erinnert nicht nur Dr. Crane an einen Autopsietisch. Fragwürdig ist nur, warum er in dieser Wohnung bereits stand, als er dort einzog. Die andere Hälfte des Raumes teilen sich eine ehemals kornblumenblaue Küchenzeile und eine zerschlissene Matratze, an deren Seiten Sprungfedern durch den Bezug stechen und die verbliebene Füllung hervorquillt. Das einzige Fenster der Wohnung steht dauerhaft offen. Zum einen, weil Crane den muffigen Geruch nicht aushält und zum anderen, weil er gar nicht wissen will, was passiert, wenn er versucht das Fenster mit der dafür vorgesehenen Verrieglung zu schließen. Vermutlich würde sich das letzte noch im Rahmen verankerte Scharnier lösen und ihn jeglicher Möglichkeit berauben, das Fenster je wieder in irgendeiner Art und Weise zu nutzen. Nun gut, neben all den Unannehmlichkeiten, bleibt der positive Nebenaspekt, dass er keinen Cent Miete zahlen muss und ohne weiteres Inkognito bleibt, sofern er es wünscht. Im Moment ist er so etwas wie ein Hausbesetzer. Er schreibt seine Notizen und Ausarbeitungen bei Kerzenschein, kocht mit Hilfe von halbleeren Gasbehältern, die er unter der Spüle und im Keller des Hauses gefunden hat, und duscht stets nur in den Gewölben unter der Glasfabrik, in die er sich nun langsam vorarbeitet. Der finstere Tunnel endet an einer Treppe, die weiter nach unten führt. Dr. Jonathan Crane tastet nach dem geschwungenen Geländer und durchtrennt dabei das frisch gewebte Netz einer handflächengroßen Kellerspinne, die er dank der Dunkelheit nicht im ausgehöhlten Ende des Geländerrohres bemerkt, und die sich – aufgeschreckt durch die Griffe seiner suchenden Hand – tiefer in ihren kleinen Metalltunnel zurückzieht, die unzähligen schwarzen Spinnenaugen skeptisch auf den im Dunkeln lauernden Feind gerichtet. Sich am Geländer orientierend, geht es für ihn zehn Meter in die Tiefe. Mit jedem Schritt wird es kühler und als er am Fuß der Treppe ankommt, hat er den ganzen Sommer hinter sich gelassen. Hier ist es feucht und außergewöhnlich frisch, selbst für die Tiefe, in der er sich befindet. Crane weiß, dass dies an den Belüftungsanlagen liegt, die sie hier installieren mussten, damit die Geräte nicht überhitzten. Die fehlende Elektronik und der gekappte Strom in der gesamten Fabrik hätten ihnen beinahe das Genick gebrochen. Über die Jahre, die diese Fabrik schon geschlossen ist, hat man das Gebäude gänzlich ausgeschlachtet und alles entfernt, was irgendwie noch Geld einbrachte. Der Strom war in den ganzen Narrows abgeschaltet wurden, nachdem man das Gebiet abgeriegelt hatte. Ihnen dienen jetzt moderne Generatoren zum Antrieb der ganzen Anlagen, auch wenn deren Leistung geradeso zu reichen scheint und einen Havariefall mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht abdecken würde. Vor ihm liegt nun eine gerade mal 1,60 m hohe Metalltür. Crane kann das frische Öl an ihren Scharnieren riechen und er bemerkt an der Direktheit, in der sein Atem in der Dunkelheit reflektiert wird, wie nahe sie ihm schon sein muss. Er streckt die Hand aus und berührt die kühle Oberfläche mit den Fingerspitzen eher als gedacht. Seine Hand wandert nach links unten und findet die Nummerntafel des Schlosses. Vorsichtig gibt er den 12-stelligen Sicherheitscode ein, betätigt die „Bestätigen“-Taste und vernimmt das leise Surren des Türöffners. Daraufhin schiebt er die Tür nach Innen auf. Mit unüberhörbaren Knacken und Schaben flüchten die Verschlussriegel im Inneren zur Seite. Ein Schwall klinisch reiner und nahezu perfekt klimatisierter Luft zieht an ihm vorbei durch den Türspalt und verebbt irgendwo auf dem Weg nach Draußen. Cranes Haar fliegt über beide Ohren zurück und legte sich für einen kurzen Augenblick wie ein dunkles, seidenes Tuch über seinen Schädel. Mit einiger Anstrengung schließt der dünne Mann die Tür, gegen den starken Luftzug kämpfend. Der ehemalige Universitätsprofessor ist kein kräftiger Kerl, was man seiner sehnigen, beinahe dürren Gestalt ansehen kann, aber er ist äußerst linkisch im Gebrauch seiner Gliedmaßen und weiß seine schmächtige und blasse Erscheinung zu seinem Vorteil zu nutzen. Allerdings kann man eine 20 cm dicke Eisentür weder mit einer versteckt geschlagenen Linken, noch mit einer Ladung Angstgas in die Knie zwingen. Mit einem dumpfen „Klonk“ vereinigen sich Tür und Rahmen wieder zu einem Ganzen und die Riegel und Zahnrädchen, die mit dem Codeschloss verbunden sind, bewegen sich wieder in ihre ursprüngliche Position zurück. Mit dem letzten Klicken des letzten Rädchens flammt grelles, weißes Licht auf und erhellt den hellgrauen Waschbeton des Ganges in göttlichem Schein. Crane verzieht das Gesicht mit dem Zischlaut einer jungen Natter, dreht sich um, legt seine Stirn gegen die Metalltür und bildet mit seinen Händen einen schützenden Trichter um die schmerzende Augenpartie. Der Metallkoffer, den er immer noch umklammert, schrammt leise über die Wand, als er ihn mit anhebt. Wir haben jetzt also auch Licht in Gang 1. Erfreulich … Natürlich! Nicht nur, dass sie Notwendigkeit einer Beleuchtung, die selbst ein Blinder hätte wahrnehmen können, gleich nach einem Gang durch völlige Dunkelheit, äußerst fragwürdig war; Nein, man hatte es nicht einmal für nötig gehalten, ihn zu warnen. Seine Augen brennen und füllen sich mit Tränenflüssigkeit und er sieht nur noch tanzende Lichter im Schatten seiner Hände. Er kichert leise in sich hinein, als er beginnt den Schmerz zu genießen, indem er sich vorstellt, den verantwortlichen Idioten eine volle Ladung Gas zu verabreichen und ihn dann zu erwürgen, während seine angsterfüllten Augen langsam aus ihren Höhlen hervorquellen und sein Körper so starr vor Schreck ist, dass er sich nicht wehren kann. Crane tötet nur äußerst selten. Lieber sieht er zu, wie sich Menschen selbst hinrichten. Wie sie krepieren, an ihren Wahnvorstellungen. Doch wenn er wütend ist, verliert er die Beherrschung und gewinnt sie, wie jetzt, nur äußerst langsam wieder. Jede noch so kleine Lappalie kann im falschen Moment dazu führen, dass sich in seinem Inneren ein Schalter umlegt. Auch wenn Crane nach außen hin recht ruhig und kalt wirkt, befriedigt er seine Rachsucht mit besonders aggressiver Hinterlist und Sorgfalt. Und er ist wirklich leicht zu kränken … Er legt seine Hand auf die geschlossenen Augenlider, direkt über das absurde Grinsen, und dreht sich wieder um. Langsam, ganz langsam öffnet er die Augen wieder und das schizophrene Lächeln verebbt, seine Hand wandert hoch zur Stirn und streckt sich dann durch sein Haar, um es aus dem Gesicht zu streichen und es nicht ganz so wirr aussehen zu lassen. Kaum 10 Sekunden später, weiß er gar nicht mehr, dass er gerade äußerst wütend war und noch viel weniger weiß er von dem winzigen, banalen Auslöser. Wie ein Eiswind gleitet er durch den langen Flur, biegt um eine Ecke, dann um noch eine. Ein weiterer Flur. Überall fiepen Halogenlampen einen unausstehlich hohen Ton, den Jonathan Crane dank seines nicht besonders hohen Alters noch gut wahrnehmen kann. Irgendwo hinter den dicken Wänden zu seiner Rechten wird das Pochen der Generatoren immer lauter und lauter. An einer Stelle vibriert sogar der Boden und kleine Teile vom Putz explodieren aus der Wand. Crane verzieht das Gesicht und drückt den Koffer an seine Brust, als befürchte er, die Schwingungen könnten seinem Elixier schaden. Seine Reise endet vor einer weiteren Tür. Er kann sie bereits sehen, nachdem er um die letzte Ecke gebogen ist. Und wieder ist da dieser Sog. Er würde nicht aufhören können, weiter zu laufen, selbst wenn er es wollte. Aber, bei Gott! Das wollte er nicht! Sein Herz schlägt wie wild, als er die Hand auf die beinah subtil wirkende Klinke legt, die sich ihm wie eine hilfreiche Hand entgegen streckt. Jaaaaaa! Er kichert beinahe los wie ein Schulmädchen. Er drückt die Türklinke und stößt seine Schulter gegen das Metall, um die Tür aufzudrücken. Durch den größer werdenden Spalt schlägt ihm der Duft des Garten Edens entgegen, streicht über seinen Haaransatz, gleitet über seine hohen Wangenknochen. Einen kurzen Moment lang erlaubt er sich die Augen zu schließen, wie ein Gourmet, dem gerade die weltbeste Mousse au chocolat auf der Zunge zergeht. Dann atmet er aus und tritt in den riesigen Raum. Der Länge nach misst der Raum ungefähr 20 m, der Breite nach nur 8. An der Decke, die sich gut 6 m über ihm befindet und es schafft, ungefähr soviel Vertrauen in Einem zu wecken, wie ein Damoklesschwert, sind großflächige Neonstrahler angebracht. Jeder mit einem metallenen Gitter davor, um das Licht möglichst fokussiert abzugeben. In den Lichtkegeln stehen wunderbare Dinge: Tische mit chemischen Anordnungen, Blaupausen, Notizblöcken – über und über voll geschrieben mit Formeln und Formelkorrekturen. Werkzeug, mechanische Anleitungen und Relais, die entweder kaputt sind oder doch keine Verwendung fanden. Überall liegen Schräubchen, Muttern und Überreste mikrotechnologischer Bauelemente. Den Boden zieren Ölspritzer und einige Tropfen einer viel liebreizenderen, roten Flüssigkeit. Doktor Crane hat von der Funktionsweise nichtorganischer Mechanismen keine Ahnung. Genauso verhält es sich bei seinem Partner und Idol. Die technische Verwüstung haben sie den Ingenieuren zu verdanken, die sie sich für die Installation ihrer kleinen Kooperation mit einigen nicht minder größenwahnsinnigen, aber technisch sehr versierten Personen aus Japan und Jugoslawien, hatten besorgen müssen. Und sie haben unvergleichliche Arbeit geleistet. Das opus paratum steht im zweiten Drittel des Raumes, welches es beinahe ganz ausfüllt. Es ist ein riesiger Apparat, einer Fusion aus Hydranten, Wasserpistole und Teilchenbeschleuniger nicht unähnlich. Im Endeffekt ist es genau das: Ein drei Meter hoher, viereinhalb Meter breiter und gut sieben Meter langer Teilchenbeschleuniger, den man in ungefähr 120 Einzelstücke zerlegen muss, um ihn zu transportieren und irgendwo anders wieder aufzubauen. Das Monstrum wird von Stahlblenden umschlossen, aber wenn man einen Blick auf die Blaupausen wirft, bekommt man eine ungefähre Ahnung von der unglaublichen Menge an Technologie unter dem harten, nichts sagenden Panzer. Aber selbst den erfahrensten Köpfen würden sich beim Anblick der Skizzen und Notizen nicht alle Fenster und Türen zum Verständnis öffnen, denn so etwas gab es streng genommen noch gar nicht. Und menschenrechtlich hätte es so etwas auch nie geben dürfen. Es ist der Prototyp einer Waffe, der dort steht, die wie so viele Waffen, der Vernichtung von Menschen dient. Allerdings ist es keine Massenvernichtungswaffe, sondern ein sehr genau fokussierbarer, extrem starker Mikrowellen-Strahler, der die exakte Eliminierung einzelner Personen, auf die man zielt, zur Folge hat. Die Perfektionierung einer militärischen Idee von Mikrowellenphasern. Ein metallenes, klopfendes, vibrierendes Ungetüm, dessen einzigartige Fähigkeit – und auch gleichzeitig monumentaler Unterschied zu bisherigen Versuchen eine fokussierbare Waffe mit Mikrowellen zu entwickeln – es ist, das es Menschen und andere Lebewesen, also biologische Masse, gänzlich verschwinden lassen kann, ohne wie vorher erwähnte Waffentypen die Zielpersonen in glibbrigen, feuchten Blutpudding zu verwandeln. Dieses Gerät bringt das Kunststück fertig Materie in so hohe Schwingung zu versetzen, dass sie buchstäblich in Rauch aufgeht, indem sie anfängt durch ihre eigene Reibung zu verdunsten. Das alles passiert so unglaublich schnell, dass kaum eine Sekunde vergeht, zwischen dem Wechsel der Aggregatzustände. Soweit die Theorie. Im Moment haben sie die Erprobung über Pflanzen, Insekten und kleine Säuger bis zu Menschen ausgeweitet. Allerdings haben die menschlichen Probanden nicht so auf die Strahlenbehandlung reagiert, wie erhofft. Stattdessen hat sich das Ganze in eine ziemlich ekelhafte Angelegenheit verwandelt. Anfänglich probiertem sie den Organic Aggregat Changer (OAC) an männlichen Probanden aus. Junge Menschen, deren soziale Kontakte sehr spärlich gesät und deren familiäre Verhältnisse entfremdet genug waren, um ihr Verschwinden lange zu vertuschen oder wohlmöglich nie auffallen zu lassen. Doch es stellte sich leider heraus, dass der Körperbau von Männern, was Fett- und Muskelstruktur anging, sowie das Durchschnittsgewicht, die Durchschnittsgröße und die allgemeine, vorhandene Masse ein größeres Hindernis für die Ausbreitung der Mikrowellen innerhalb der verschiedenen Zellstrukturen darstellt, als zuvor bei den Ratten und Hunden. Selbst auf der höchsten Stufe (und höher darf man nicht gehen! Denn auch wenn sich der unsichtbare Strahl so exakt ausrichten lässt, dass man gut einen halben Meter neben der Versuchsperson stehen kann ohne getroffen zu werden, verliert man bei höheren Spannungen genau diese Richtwirkung. Die Wellen beginnen, ähnlich wie die glühenden Arme so genannter Sonnenstürme, aus dem Raster auszubrechen und in den Raum hinein zu ragen. Die Wellen biegen sich an Hindernissen oder werden unkontrollierbar reflektiert. Deshalb bauten die Ingenieure eine Reglersperre ein.) lies sich das Gewebe nicht gleichmäßig in Schwingung versetzen. So glich das Spektakel nicht einem gewünschten In-Rauch-Aufgehen, sondern einer äußerst widerwärtigen Verflüssigung der unterschiedlichen Zellgruppen. Jeder Teil des Körpers schien sich in unterschiedlicher Stärke und zu verschiedenen Zeitpunkten in eine blubbernde, zischende und nur teilweise verdampfende Pampe zu verwandeln, die neben dem zum Brechen animierenden Geruch nach mikrowellierter Schweinesülze, auch noch animalisch-menschliche Schreie von sich geben konnte, solange bis die Wellen die Blutgefässe zerrissen und sich der unnarkotisierte Mensch (nun schwerlich als solcher noch erkennbar) durch einen schmerzvollen Tod erlösen konnte. Nach diesen ein wenig ernüchternden Ergebnissen, suchten sie sich spezielle weibliche Probanden, die neben ihrem kleineren Gewicht und ihrer zierlicheren Statur, auch den Vorteil hatten, leichtere Beute für ihre Häscher abzugeben. Sie fingen ein paar Mädchen, in verschiedenen Teilen der Stadt, von denen sie glaubten, dass sie die Vorraussetzungen erfüllten. Alle waren sie schmächtig, leicht unterernährt, schwach, von ihrer sozialen Umwelt weites gehend abgekapselt. Aber auch wenn man nun glaubte die perfekte Versuchsanordnung gefunden zu haben, machte doch der erste Versuch mit einem jungen Mädchen alle neu geschöpften Hoffnungen zunichte, indem sie fast genauso unschön auf die Behandlung reagierte, wie ihre männlichen Vorgänger. Aber immerhin brachte sie die Einsicht, dass das Problem nicht allein durch die Veränderung der Versuchspersoneneigenschaften gelöst werden konnte, sondern einiges mehr an Überlegungen benötigte. Erst zwei Tage zuvor entwickelten Doktor Jonathan Crane und sein vorübergehender Lehrmeister eine schwach gelbliche Flüssigkeit, die menschliche Zellen um ein Vielfaches empfindlicher für die Mikrowellenstrahlung macht. Sie wird per Injektion in den Blutkreislauf verabreicht. Das scheint für den Bau einer Waffe ziemlich uneffizient zu sein, aber wie bereits erwähnt handelt es sich lediglich um einen Prototypen und besonders Crane weiß, wie einfach es ist, bestimmte Stoffe in die Körper von möglichst vielen Menschen zu befördern und das sogar ohne großes Aufsehen zu erregen. Nach einigen weiteren Tests an Ratten und anderem Getier, ist es heute nun endlich soweit. Sie starten einen weiteren Versuch an einem Mädchen. Das erste Mal mit voran gehender Injektion. Die Spritze und das kleine Fläschchen mit dem Serum liegen sauber aufgereiht neben Latexhandschuhen, Kanülen und anderem medizinischen Besteck auf einem sterilen OP-Beistelltisch an der Wand. Dieser wird später in die Mitte des Raumes gerollt werden, genau neben die aufrecht gestellte Behandlungsliege, die wie eine längliche, metallene Zielscheibe vier Meter entfernt vor dem Lauf des OAC steht. Und sie ist bereits belegt. Den Kopf wie ein lebloser Vogel zur Seite abgeknickt, die blassen Wangen auf der festgeschnallten Schulter ruhend, atmet sie kaum merklich ihre letzten Atemzüge als festes Wesen. Sie ist dünn, wie die anderen Mädchen und die Lederriemen, die auf der Höhe ihrer Schultern, der Handgelenke, der Hüfte und der Knöchel ihren Körper bandagieren, sind denkbar eng gezurrt. Doktor Jonathan Crane bewegt sich auf die Höhe des OAC und blickt im Raum umher. Sein Partner scheint noch nicht da zu sein. Er hört keine Stimmen und kann sich auch nicht erinnern irgendjemanden auf den Fluren begegnet zu sein. Die Wahrheit ist, er hat es eingeplant. Er wollte eher hier sein. Er wollte noch ein Weilchen allein sein. Allein mit dem wunderbaren Geruch, der – obwohl das Mädchen kaum noch bei Bewusstsein ist – noch immer von ihr ausgeht. So klar und unverfälscht wie die Düfte eines harzenden Pinienwaldes nimmt er ihren Angstgeruch auf. Er bemerkt wie seine Hand am Griff des Koffers zu zittern beginnt und packt das Gelenk mit der anderen Faust. Wenn diese abgestandene Furcht schon so wunderbar duftet, wie wahrhaft göttlich muss der Geruch eines frischen Schreckens auf ihrer Haut sein? Wie unvergesslich wird der Blick in ihren großen Augen sein, wenn sie ihre Wahnvorstellungen ein letztes Mal ins Bewusstsein zurück reißen? Er will es sich nicht vorstellen, er will es erleben! Deswegen und nur deswegen ist er jetzt hier. Allein. Crane stellt den Metallkoffer auf einen länglichen Tisch, der bedeckt ist mit Schrauben und Blaupausen. Die Schlösser schnacken auf und die Klappe gleitet seicht nach oben und offenbart die glänzenden Stücke seiner zersprungen Seele. Das ist Alles, was von ihm geblieben ist. Das ist Alles, was ihn noch ausmacht. Und er wird der Welt nicht vorenthalten, was er ist … als was er sich versteht: Die absolut reine und nackte Angst, die in Jedem steckt und der niemand etwas entgegen zu setzen hat. Kapitel 4: 4 ------------ Das selbe Jahr ... The Narrows/Gotham City 11. August 04:23 Uhr Das Mädchen Sie ist ein Opfer. Ihre junge Seele stillt den Hunger dieser Stadt nicht einmal annährend, aber das interessiert das riesige leere, schwarze Loch nicht, das dort hervor giert, wo eigentlich Rechtschaffenheit, Freiheit und Sicherheit herrschen sollten. Es zieht beharrlich alle Menschen in seinen Bannkreis aus blauem Feuer, die Guten und Aufrichtigen gleichermaßen wie die Irren, Geächteten und Antisozialen. Es verheißt Freiheit und lockt mit einem Neubeginn, mit unendlichen Chancen und dem uralten Mythos vom amerikanischen Traum. Dinge, die in vielen amerikanischen Städten längst nicht mehr so realistisch erscheinen, wie hier in Gotham City. Jeder der nach diesen Dingen sucht, sieht im Antlitz dieser Stadt eine Zuflucht und erkennt sein Schicksal irgendwo zwischen den verschlungenen Gassen, in den leuchtenden Reklamen oder emporstrebenden Wolkenkratzern. Niemand sieht die spitzen Krallen und Zähne an den Wänden der Häuser, in den Eingängen zu den Einkaufszentren und U-Bahntunneln; die scharfen Waffen einer dunklen Metropole in einem dunklen Zeitalter. Keiner weiß, dass aus den Gullydeckeln der faulige Atem einer sich langsam zersetzenden Gesellschaft dringt oder dass das Hämmern auf den Bahnschienen der Metro der geheuchelte Herzschlag eines dunklen, herzlosen Babylons ist. Die gealterte Hure am Fluss, auf deren fleckigen Busen die Narrows liegen und zwischen ihren schlaffen Schenkeln die Megchant River-Insel, auf der das Arkham Asylum Tür und Tor geöffnet hält für die Flut an Geistesgestörten und ihren unheilvollen Gedanken. Die Hure blickt mit blinden Augen in das Land und belauscht mit tauben Ohren das Chaos, was in ihrem Inneren erblüht wie eine riesige, wunderschöne Blume, hinter deren Blütenblättern sich aber tödliche Schlingen mit einem Würgegriff verbergen und immer fester zudrücken. Sie tastet danach, unternimmt den verzweifelten Versuch sie heraus zu reißen, immer und immer wieder, aber sie schafft es nie, denn das Chaos ist ein unverrückbarer Teil von ihr. Und zwischen all den sinnlosen Versuchen, kleinen und großen Erfolgen, kleinen und großen Niederlagen, fängt sie an zu begreifen, warum der Wahnsinn sie nicht verlassen wird. Weil es IHR Wahnsinn ist. Es ist keine Krankheit, die sie sich von einem Freier eingefangen hat. Kein fremder Wanderer ist gekommen und hat die Irren irre gemacht oder die Mörder zu Mördern. Das alles ist in ihr gewachsen, wie ein Tumor, der wandert und schleichend meuchelt. Es war schon immer da. Es ist ihre Veranlagung. Die Suchenden ignorieren diese Tatsache, laufen mit einem Tunnelblick auf ihr persönliches Ziel umher, solange bis sie sich fragen, was der Grund sein könnte, weshalb sie seit Wochen nicht mehr richtig schlafen können, weshalb ihnen der Schweiß mitten auf der Straße auf der Stirn ausbricht und warum sie sich nicht mehr erinnern können, wann sie das letzte Mal richtig glücklich waren. Erst dann beginnen sie langsam, nur sehr langsam, sich zu besinnen. Gotham ist schon lange keine Goldgräberstadt mehr, in der Jeder in kürzester Zeit zu Geld und Ansehen kommen kann. Aber sie erweckt immer noch den Anschein. Jetzt liegen die Straßen voller ewig Suchender, die glaubten eine Weile lang gefunden zu haben, was sie suchten, dann feststellen mussten, dass dem nicht so war und ihr Ziel vergaßen. Das Einzige, was jetzt noch glänzt ist das Katzengold. Aber das leuchtet hell genug für die irrsinnigen Gemüter, die meist anderes begehren, als Reichtum. In vielerlei Hinsicht sind sie anspruchsvoller in ihrer Anspruchslosigkeit. Sie werden nicht enttäuscht, weil sie Etwas suchen, was diese Stadt im Überfluss zu bieten hat. Chaos und genug Platz, um sich unter den Augen Aller an dessen Wachstum mitzuwirken. Das Mädchen weiß nicht, dass ein besonders ambitionierter Vertreter dieser Gruppe gerade dabei ist, seinen Hunger nach Bestätigung und Anerkennung seiner perfiden Kunst zu stillen; zum einen, weil er seine Arbeit verfeinern möchte und ständig neue Erkenntnisse benötigt, zum anderen, weil er nun mal nicht anders kann, denn wie so viele, die ihm auf verschiedene Weisen ähnlich sind, leidet er unter einem unerklärbaren Zwang, einer Sucht, die von ihm alles abverlangt, von seinen Opfern aber weitaus mehr fordert. Der blasse Körper des Mädchens lehnt gefesselt an totem Metall, ihr Geist liegt gefesselt in einer von wirren Träumen durchdrungenen Bewusstlosigkeit. Ein Delirium, wie es häufig kurz vor dem Tode auftritt. Sie ist dünn, viel dünner, als in der Nacht, in der man sie gefangen hat. Das war vor ungefähr 6 Tagen. In der Zwischenzeit hat man ihr nur soviel Nahrung in Form von medizinischen Nährlösungen verabreicht, um sie am Leben zu erhalten. Hinter dieser Schwächung ihres Körpers steckt ein kalter, analytischer Plan. Sie ist eine Versuchsanordnung, eine neue Probe aufs Exempel. Ihre Größe, ihr Alter, ihr Gewicht. Das alles steht irgendwo auf ein Blatt Papier geschrieben, sauber eingetragen in eine Tabelle. Größe, Alter, Gewicht. Mehr ist sie nicht. Und dahinter eine leere Spalte mit der Überschrift „Auswirkung/Ergebnis“. Das Mädchen ist blass. Ihre Haut scheint einen leichten Blauschimmer zu haben, wie man ihn bei fein geschliffenem Mondstein erkennen kann. Ihre Fingerknöchel, ihre Wangenknochen und Schlüsselbeine treten knochenweiß hervor. Ihr Magen hat mittlerweile auch aufgehört zu knurren. In dieser Behandlung wird sie keine zwei Tage mehr überleben. Muss sie auch nicht. Die selbst ernannten Herrscher über ihre Existenz haben entschieden, dass ihr Leben jetzt enden soll. Dieser Morgen war ihr morgen. Ihr persönliches Good Bye and Fare Well. Allerdings ist es auch genau der Morgen, an dem Jonathan Crane die seltene Gelegenheit wahrnimmt, ein paar Minuten ihrer kostbaren, verbleibenden Lebenszeit mit den Alpträumen zu füllen, die sie als geistig gesunder Mensch seid Jahren bereits erfolgreich aus ihrem wachen Bewusstsein heraus hält und die – wären sie doch einmal an die Oberfläche gerutscht – niemals so grässlich ausgeartet wären, wie sie es jetzt tun werden. Sie hat keine Traumata, aber sie hat Ängste wie wir alle. Ängste über die man sagen kann, sie seien unlogisch, irrational und vollkommen leicht auszublenden, wenn man erwachsen ist und die Fähigkeit besitzt klar zu denken. Nur lässt sich diese Fähigkeit sehr gut manipulieren. Das erste, was sie wahrnimmt ist ein scharfer Geruch. Einer, der einem die Nasenhaare wegätzt, würde man ich permanent einatmen. Sie verzieht das Gesicht nur schwach, beinahe hilflos, und dreht ihren Kopf unbeholfen ruckartig und mit immer noch geschlossenen Augen von dem kleinen Fläschchen mit Riechsalz weg, dass ihr Crane unter die Nase hält. Sie schwebt nur ganz leicht an der Grenze zwischen Wachheit und Ohnmacht. Sie bemerkt kaum den kühlen Luftzug an ihrer Wange und wie ein Fingerpaar ihr rechtes Augenlied nach oben zieht, um einen routinierten Blick auf die Weitung der Pupillen und somit ihren Bewusstseinszustand werfen zu können. Es dauert kaum zwei Sekunden, dann fällt ihr Lid wieder in seine Position zurück und der Luftzug streift wieder über ihr Gesicht. Doktor Jonathan Crane trägt eine Schutzmaske und hält die Gaspistole sicher umschlossen und nur einige wenige Zentimeter von den sich leicht blähenden Nasenlöchern seiner Testperson entfernt. Er legt den Kopf schräg - seine Wange streift fast seine linke Schulter - und beobachtet sonderbar konzentriert das flache Auf und Ab ihres Brustkorbes, der die festgeschnallten Lederriemen mit einem leisen Knirschen dehnt. Im für ihn richtigen Moment drückt er ab. Eine mehlartige Wolke, die so bekannt und doch so unheilvoll aussieht, wie das, was sie hervorruft, schwebt eine hundertstel Sekunde lang wie in Zeitlupe vor dem Gesicht des Mädchens, bedeckt ihre Haut wie das fein gewobene Netz einer Tunnelspinne, mit Wirbeln, die zu allen Seiten hin Drehungen vollführen und an den Seiten zu verblassen beginnen. Dann atmet sie ein. Der dichte Dunst verschwindet augenblicklich in den zwei dunklen Nasenlöchern und wandert die Luftröhre hinab, durch die Bronchien zu den Lungenblässchen in beiden Lungenflügeln. Dort gelangt er in die Blutlaufbahn und bindet sich an die roten Blutkörperchen, auf denen er innerhalb von nicht einmal zwei Herzschlägen bis in das Gehirn des Mädchens reist. Das Halluzinogen krallt sich an den visuellen Cortex und beginnt dort nun endlich zu wirken. Das Alles in weniger als vier Sekunden. Ihr Körper bemerkt sofort, dass etwas nicht stimmt. Ihre halbdurchsichtigen Deliriumfantasien reißen abrupt ab, ihr Atem und ihr restlicher Kreislauf pausiert, beinahe so als wäre ihr gerade etwas Wichtiges eingefallen. Dann setzt ihr Herzschlag überraschend stark und mit deutlich erhöhtem Tempo wieder ein. Ihr Körper erzittert unter den Auswirkungen des plötzlich freigesetzten Adrenalins. Ihre Augäpfel bewegen sich in unruhigen Sakkaden unter den Lidern und ihr Mund ist schlagartig trocken. Alles eine augenblickliche Reaktion auf das Gas. Noch hat sie die Augen geschlossen und sieht nicht einmal den Schatten einer unheilvollen Halluzination. Und dennoch reagiert sie empfindsam auf die instinktiven Warnsignale, die der Körper einem gibt, wenn er sich in Gefahr wägt. Nur dass es hier das Halluzinogen ist, welches ihn in eine Hab-Acht-Haltung zwingt, sie aufpuscht bis sie keinen klaren Gedanken mehr fassen kann – wäre dies in ihrer Situation noch möglich - und eine wichtige Vorraussetzung schafft für den Erfolg der eigentlichen Wirkung des Nervengases. Das Adrenalin belebt den dahinsiechenden Körper noch ein letztes Mal. Unter dem schnellen Flattern ihres Atems zuckt sie zusammen, so als ob man ihr einen elektrischen Schlag gegeben hätte und öffnet dabei die Augen. Ihr Puls liegt mittlerweile bei 145 steigend und nährt sich dabei von kaum vorhandener Energie. Das Mädchen starrt angstvoll wie eine junge Forelle, die man gerade am Haken aus dem Wasser in die lebensfeindliche Luft gezogen hat. Ihre dunklen Augen zucken zweimal durch den Raum vor ihr und scheinen sich dabei an unsichtbaren Gegenständen zu orientieren, dann heften sie sich an die Gestalt im weißen Kittel, die dicht neben ihr an der Metallbahre steht und zurückstarrt. Das Mädchen bemerkt nicht den abartig faszinierten Blick der emotionslosen, hellen Augen, die kindliche Erregung darin oder das leichte Zucken in den Mundwinkeln. Ein Sekundenlächeln. Sie sieht etwas ganz Anderes, etwas viel Verabscheuenswürdigeres, wenn das überhaupt möglich ist. Statt den zarten Zügen eines jungen Soziopathen sieht sie den massigen Schädel eines schwarzen Pferdes. Die Nüstern weiten sich und aus ihnen steigt dünner, heißer Nebel, der die Luft flimmern lässt. Hinter dem Flirren starren ihr zwei riesige, leere Augenhöhlen entgegen. Nicht ganz leer! Irgendetwas bewegt sich darin. Zehe, windende Bewegungen. Das Pferd nähert sich ihrem Gesicht. Sie kann die Hufe auf dem Boden hören. Sein Atem brennt auf ihrer Haut wie ein Inferno. Das Mädchen schließt die Augen und dreht sich vor Ekel und Verwirrung seufzend zur Seite. Sie will nicht in die leeren Löcher starren und sehen, womit sie angefüllt sind. Noch hat sie die Erscheinung nicht als Realität akzeptiert. Würde sie die Augen geschlossen halten, würde sie den Schrecken vielleicht umgehen können. Allerdings verwirrt das Gas auch alle anderen Sinne: Den Geruchssinn, den Hörsinn, das Fühlen … Und das beunruhigt und macht den eigenen Körper zu einem unhörigen Diener. Sie öffnet die Augen wieder, als sich der Atem des Tieres von ihr entfernt. Sie blickt nach vorn. Das Pferd steht nun drei Meter von ihr entfernt und scharrt mit den Hufen nervös über den Betonboden. Es klingt, als würde ein Metzger sein Beil schleifen, so hart presst es seine Hufe gegen den grauen Untergrund. Dann wirft es den Kopf in den Nacken, bäumt sich auf und wiehert. Nein, es schreit! Und das Mädchen kreischt mit, denn der Laut, der dem Tier entrinnt, ist so Angst einflößend, dass er sie in blanke Panik versetzt. Ein Laut den weder Mensch noch Tier formen können. Ein einziger lang gezogener, hoher Ton ähnlich einer Mischung aus Krächzen, Trompeten und dem Schreien eines sterbenden Kindes. Der Ton vibriert, reißt abrupt ab und setzt sich in ihrem Inneren als endlos gewordener Alptraumruf fort, obgleich er in der Luft schon verklungen ist. Die beschlagenen Hufe knallen zurück auf den Untergrund. Das Pferd schüttelt die verklebte Mähne, dreht dabei das Haupt von Rechts nach Links und wieder zurück. Dann - mit dem Knacken vieler knöcherner Halswirbel - überdehnt sich der schlanke Hals des Tieres und der Kopf wird endgültig herum gerissen, sodass die leeren Augenhöhlen sie nun von unten her anstarren und das geifernde Maul gen Himmel zeigt. Lange, teerartige Speichelfäden rinnen über die hochgezogenen Lefzen des Tieres nach unten, verfangen sich einen Moment lang in den abgerundeten Winkeln der Schädelvertiefungen und rinnen dann in breiteren Strömen heraus und verkleben die Mähne. Mit einigen weiteren angestrengt wirkenden, ruckartigen Bewegungen und einem Geräusch, das an zerbrechendes Geäst erinnert, dreht sich das Haupt gegen den Uhrzeigersinn weiter bis es wieder seine endgültige Position erreicht hat. Aus der zerquetschten Kehle des Tieres dringt ein feuchtes Keckern. Ist das ein Lachen? Blut läuft aus Nüstern und dem schiefen Maul, dringt nun auch aus den leeren Augenhöhlen und schwemmt eine Flut an wimmelndem Getier heraus. Maden, Würmer, Mückenlarven, Kellerasseln, fette Engerlinge und junge Grabkäfer. Sie versuchen sich an ihrem Wirt festzukrallen, werden aber durch den endlosen Schwall halb geronnen Blutes heraus gespült und klatschen mit dem Geräusch eines voll gesogenen Schwammes auf den Boden. Wild scharrend verteilt das dunkle Reittier die stinkende Verwesung unter sich. Mittlerweile hat sich der Kopf des Pferdes fast völlig von seinem Hals gelöst und jegliche Anspannung verloren. Die Lippen hängen schlaff über den gelblichen Zähnen und die Ohren schlackern zu allen Seiten, während die schwarze Mähne sich mit dem Speichel und Blut voll saugt und die dicke rote Brühe mit den Insektenlarven einen See unter den Hufen bildet. Der Kopf stoppt in seiner rotierenden Bewegung. Alles wird widerlich still, bis auf das Mädchen, welches seit ungefähr zwei Minuten nicht aufgehört hat zu schreien und dessen Blick, wie festgenagelt auf der Szenerie haftet. Dann – mit dem Klang, den ein großer Gegenstand macht, wenn man ihn aus feuchtem Morast zieht – löst sich der Pferdeschädel vom Hals des Tieres. Er fällt jedoch nicht zu Boden. Irgendetwas hält ihn an Ort und Stelle. Das Etwas lässt hinter den Kieferknochen acht lange, schwarz schimmernde Beine erkennen. Lange, behaarte Spinnenbeine, die sich mit leisem Knarren in Bewegung setzten und den Kopf wie eine Ameise, die ihre Beute zum Bau schleppt, nach unten auf den Boden mitnehmen und dann auf das vor Angst halb wahnsinnig gewordene Mädchen zu. Sie schreit und rüttelt an ihren Fesseln, mit einer vehementen, unerschütterlichen Macht, zu der sie eigentlich keine Kraft mehr hat. Doch Angst ist immer ein zuverlässiger Ansporn. Unter lauter werdenden Schreien und Kreischen spürt sie wie das Etwas ihre Beine berührt, sich schwer wie ein feuchter Sack an ihrer Jeans hängt und beginnt sich daran nach oben zu hangeln. Sie spürt die Spitzen Beinchen auf ihrer Haut, wie sie durch den Stoff an ihre Schenkel drücken und ihre Hüften hinaufwandern, nach neuem festeren Halt tastend. Dann, unerträglich langsam, taucht vor ihrem Gesicht der massige Pferdekopf auf. Er ist wieder falsch herum gedreht. Nur Millimeter von ihr entfernt, glänzt blutiges Zahnfleisch aus einem Maul voller schiefer Zähne, dann heben sich die leeren Augenlöcher auf ihre Höhe. Das Tier muss tot sein, aber plötzlich strömt wieder dieser widerliche Atem aus seinen Nüstern. Und diesmal brennt er nicht nur auf der Haut des Mädchens, sondern er verbrennt sie regelrecht. Wie Säure gleitet der Nebel über ihren Nasenrücken. Für einen kurzen Moment hört sie auf zu schreien, um nichts davon einzuatmen. Der giftige Dunst fließt auch am Haupt des Gauls nach unten und ätzt alles weg, auf das er trifft sodass am Ende nur noch ein weißes Gerippe übrig bleibt, überlaufen von Blutrinnsalen und kleinen geschwärzten Fleischklumpen, das sie mit einem zerstörten Grinsen betrachtet. Das Mädchen wirft sich gegen seine Fesseln, versucht das Ding abzuschütteln, schreit und gibt sich dem reinen Wahnsinn in einer Art und Weise hin, die jeden Menschen zu einer leeren Hülle macht, wenn er dem Auslöser nur ein wenig länger ausgesetzt bleibt. Doch das Ding will nicht gehen, es krallt sich nur noch fester an ihren Brustkorb. Spinnenbeine drücken gegen ihren Busen und bohren sich in ihre weiche Haut. Ihre Lunge zieht sich schmerzhaft zusammen. Die Atemnot setzt ein. Ihr Körper kollabiert, während der Griff des Monsters immer fester wird. Dann öffnet sich das knöcherne Maul des Pferdes und es brüllt: Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)