Batman - Reset von --Ricardus-- ================================================================================ Kapitel 2: 2 ------------ Das selbe Jahr ... The Narrows/Gotham City 10. August 21:12 Uhr Batman/Bruce Wayne Er erinnert sich nicht, dass es jemals so still in den Narrows gewesen ist. Und das ist nicht gut. Bei weitem nicht. Abenddämmerung. Der Dunkle hockt auf der niedrigen Begrenzungsmauer eines Flachdaches – irgendwo zwischen einer Fernseh-Empfangsantenne und einem verrosteten und verbeulten Blechschornstein, aus dem aber kein Rauch aufsteigt. Wie erwartet, denn es ist Sommer. Er spürt die Ziegel unter seinen Füßen, sogar durch die dicken Spezialsohlen seiner Stiefel hindurch. Und er sieht in den Abgrund vor ihm, der durch den beginnenden Sonnenuntergang auch nicht freundlicher wirkt wie eine tollwütige Bulldoge. Der Abgrund war schon da, da hatte er noch nicht über dem vierten Stock eines Häuserblockes gesessen. Eigentlich war der Abgrund schon da gewesen, da war er nicht einmal Batman gewesen. Die Narrows sind so alt wie diese Stadt und sie sind Ausdruck ihrer Ungerechtigkeit, Brutalität und Absurdität. Sie waren ein Slum, ein Versteck für alle Arten von Herumtreibern und Verbrechern gewesen. Doch seit dem großen Desaster von vor drei Jahren, in dem innerhalb von ein paar Stunden die gesamte Stadt kurz vor einer kollektiven Selbstvernichtung durch das von Dr. Jonathan Crane, der sich selbst in seiner krankhaften Natur Scarecrow zu nennen pflegte, freigesetzte toxische Aerosol, welches unbeschreibliche Wahnvorstellungen hervor rief und die Einwohner dieses Stadtteils zu unberechenbaren Mördern machte (wenn sie es denn nicht schon aus eigenem Antrieb waren), gebracht wurde, waren die Narrows komplett durch die ausführenden städtischen Gewalten abgeriegelt wurden. Erst nur vorübergehend durch den Befehl des damaligen GCPD-Leiters und später durch Bürgermeister Garcia in der Einfuhr beschränkt. Es wird vermutet, dass er besonders auf Druck durch Sicherheitsbeauftragte aus Washington zu dieser Entscheidung gelangt war. Das gesamte Viertel, das wie eine Insel im Gotham River liegt, zwischen Downtown Haysville und Midtown Gainsly, wurde darauf hin laut Angaben des Departements „auf unbestimmte Zeit“ geräumt. Die Vermutung liegt nahe, dass „unbestimmt“ in diesem Fall wahrscheinlich eine sehr lange Zeit bedeutet. Die meisten Anwohner zogen nachvollziehbar bereitwillig in die Übergangslager und wurden zwei Wochen später in passablen Mietwohnungen untergebracht, von wo aus sie sich langsam wieder in die Stadt eingliedern konnten, ohne allzu große Nachteile zu erlangen. Man kann nun der Ansicht sein, die Narrows hätten damit ihren alten Schrecken verloren. Man kann es aber auch nicht. Und wenn man einen Blick auf diesen Teil der Stadt erhaschen kann, weiß man unweigerlich, warum man sich eher der zweiten Meinung anschließen sollte. Aus dem anfänglich sehr kleinen Geschwür, welches sich durch ein stark ausgeprägtes Drogen- und Rotlichtmilieu, Glücksspiel, eine extrem hohe Mordrate, Überfälle an nahezu jeder Ecke, Vergewaltigungen, Vertrieb illegaler Schusswaffen und Vertrieb aller erdenklichen Geschlechtskrankheiten auszeichnete, war ein Tumor von so beachtlicher Größe heraus gewuchert, dass er von seiner Position aus, die ganze Stadt erdrückte. War der GCPD anfänglich durch die Aussiedlung der Anwohner und Sperrung der Zufahrtsstraßen eine Menge Arbeit erspart geblieben, da die Narrows zu allen Zeiten immer ein Höchstgebot an polizeilicher Aufmerksamkeit gefordert hatten, so haben sie nun ein weitaus größeres und kaum zu bewältigendes Problem: Das leere Viertel zieht die wirklich Gefährlichen an. Es ist wie ein Spielplatz für die Hardliner ihrer Profession. Und sie spielen ausgelassen. Batman weiß, wer aus Black Gate kommt, kommt zuerst hier hin. Wer aus Arkham kommt, kommt zuerst hier hin. Wer etwas wirklich Großes vor hat, der kommt zuerst hier hin. Aber das Wissen nutzt ihm rein gar nichts. Denn wenn Batman weiß, dass er in den Narrows suchen muss, weiß er nicht wirklich, wo er suchen muss. Dieses Gebiet ist wie eine unabhängige Stadt. Sie hat Wächter, sie hat Augen und Ohren und so krank das vielleicht auch klingen mag, hat sie auch so etwas wie eine Verwaltung. Nur dass die ständig wechselt. Der Modus Operandi der „Big Bad“, zu denen Subjekte wie der Joker oder TwoFace zählen, ist zunächst, die Vormachtsstellung in den Narrows zu erreichen. Meist ein einfaches Unterfangen, da selten mehr als einer von ihnen auf freiem Fuß ist und es auch selten lange genug bleibt. Doch wenn es dazu kommt, dass mehrere Parteien versuchen ihre Positionen zu verteidigen, kommt es zum Bandenkrieg und das Feuer über den Narrows ist dann bis Uptown hin sichtbar. Für Batman bedeutet Chaos in den Narrows nicht zwangsläufig etwas Schlechtes. Es bedeutet, dass die Tiere beschäftigt sind, denn wenn sie sich nicht bekriegen und gegenseitig zerfleischen, bilden sie Teams. Und „Big Bad“- Team-Ups sind nicht nur im wörtlichen Sinne nicht gut. Diese Befürchtung quält ihn, als er auf der flachen Ziegelsteinmauer hockt und der Sonne beim Untergehen zusieht. Der Grund warum er diesen Abend schon so früh in der Stadt unterwegs ist, ist, weil er sehen will, was man ihn nicht sehen lassen will. So gut wie alle Verbrecher haben mittlerweile verstanden, dass sie weitaus sicherer fahren, wenn sie ihre Geschäfte tagsüber erledigen, auch auf die Gefahr hin von der GCPD, die für diese Wandlung nicht sehr dankbar ist, gefasst zu werden. Die Sache mit dem Angst einflössenden Fledermauskostüm funktionierte also immer noch so wie ursprünglich geplant. Doch der dunkle Ritter ist nicht hier, um kleinen Fischen hinterher zu jagen, die übergangsweise den großen Teich besetzen. Er ist hier um ein Rätsel zu lösen. Ein Rätsel, in dem sieben junge Menschen innerhalb sieben aufeinander folgenden Nächten verschwinden, ohne dass es ein Muster in den Orten gibt, an denen sie verschwinden. Angefangen hat es in der Nacht am 02.August in South Farrow. Ein junger Student führt seinen Hund Gassi. Das ist so gegen 23 Uhr. Er durchquert den Park, stoppt an einem Stufenbrunnen und verschwindet. Nun, er verschwindet ganz sicher nicht ohne Einflussnahme von Außen, aber das ist, wonach es aussieht. Die Polizei findet keine Spuren, keinen Hund, kein Haar, keine Stofffaser, keine Fingerabdrücke. Batman findet ebenso wenig. Es ist ein Wunder, dass man das Verschwinden des Jungen überhaupt bemerkt. Zu verdanken hat man das der Vermieterin der Studentenwohnung, die die darauf folgenden zwei Tage sturmgeklingelt hatte, um ihre lang vermisste Miete einzutreiben und kurzerhand die Polizei gerufen hatte, eigentlich weniger aus Sorge um den Jungen, als aus dem Wunsch die Polizisten mögen die Tür zu dem Mietpreller eintreten. Opfer Nummer zwei (in chronologischer Reihenfolge des Verschwindens, nicht des Meldestatus) war ein junger Kerl Mitte Zwanzig aus Gainsly, der meinte, dass 1 Uhr nachts am 03.August die perfekte Zeit wäre, sich in der Seitenstraße zum Friedhof von seinem Stammdealer Gras zu besorgen. Im Endeffekt bekommt er seinen Kick, ohne dass ihm überhaupt die Gelegenheit gegeben wird, einen Joint zu drehen. Doch genauso wie Opfer Nummer 1 hinterließen weder er, noch seine Entführer irgendwelche Hinweise und sein Verschwinden wurde nur aktenkundig, weil ein zugedröhnter Kumpel am nächsten Tag vor seiner Wohnung randalierte und dabei lauthals neben allerlei wüsten Beschimpfungen nach dem „versprochenen Gras“ schrie. Nach diesen ersten Zweien nahm man bereits an, dass es sich wohlmöglich um eine Serientat handelte. Eine von langer Hand geplante vielleicht. Zwei junge Männer in zwei hintereinander folgenden Nächten. Beide wohnten allein, hatten weder wirklich enge Freunde noch sonstige Beziehungen und beide hatten sie ein gestörtes Verhältnis zu ihren Familien, was wohl auch der Grund war, dass man ihr Verschwinden nur durch Zufall bemerkte. Einer von Ihnen war ein Bauwesen-Student gewesen, der andere ein arbeitsloser Sozialhilfeempfänger mit einer abgebrochenen Kommunikationsinformatiker-Ausbildung. Die Wohnorte der beiden liegen gut 12 Kilometer Straßenstrecke auseinander, ihre Lebenssituationen waren denkbar verschieden und die Umstände ihres Verschwindens lassen auf eine unglaubliche Willkür schließen, hinter der aber zweifellos ein ausgefuchster Plan stecken konnte, worauf die Sterilität der Tatorte schließen lässt. Geplante Willkür. Es war eine große Kunst etwas bis ins Detail Ausgefeiltes, wie zufällig wirken zu lassen. Dennoch hat man versucht zwischen den ersten zwei Opfern Parallelen zu ziehen und Hypothesen über die Vorgehensweise des Täters oder der Täter aufzustellen. Doch nach 24 Stunden wildestem Herumspekulierens verschwand ein dritter Mensch und vernichtete gleichzeitig die gesamte Arbeit der GCPD-Profiler. Denn diesmal war es ein Mädchen. Sie ist 25 und verschwindet zwischen 01:30 Uhr und 2:30 Uhr in der Nacht vom 04. auf den 05. August. Ihre Spur verliert sich in einer Seitenstraße in West Harlow. Sie ist noch nicht einmal 100 m von ihrer Haustür entfernt, als man sie überrascht. Ihr Verschwinden wird erst drei Tage später gemeldet, weil sie nicht mehr zu Vorlesungen an der Universität erscheint. Auch dort wieder keine Spur von den Angreifern. Kurz darauf treffen verspätete Vermisstenmeldungen von zwei weiteren jungen Mädchen ein, die jeweils am frühen Morgen des 06. August und des 07.August von der Straße gerissen werden. Die Versuche der Polizei eine Vorgehensweise zu ermitteln, ähnelt dem Versuch Puzzleteile zweier unterschiedlicher Puzzle zu einem System zusammen zu fügen. An keiner Ecke will es passen und am Ende ist das Bild noch verquerer als zuvor. Batman suchte nicht mehr nach Gemeinsamkeiten, sondern nach Unterschieden zwischen den Verschwundenen. Doch davon gibt es zu viele. Sollte es wirklich so sein und die Entführungen folgten keinem bestimmten Muster, blieb nur das Warten darauf, dass die Täter einen Fehler machten. Und dieser ereignete sich dann als in der Nacht vom 07. auf den 08.August Mädchen Nummer 4 und somit Opfer Nummer 6 verschwand. Ihre Vermisstenmeldung trudelte diesen Morgen (10.August) zusammen mit dem Suchzettel eines weiteren Mädchens ein und Commissioner Gordon, den die beinahe täglichen Meldungen über ein weiteres Verschwinden in einen Zustand hilfloser Gereiztheit versetzt hatten, hatte zwei Teams zu den Wohnorten der Mädchen geschickt, in der zweifelhaften Hoffnung durch knallharte Routine irgendwann auf brauchbare Hinweise zu stoßen. Die Spurensicherung war gerade mal zwei Stunden unterwegs gewesen, da erreichte ihn bereits ein Anruf in seinem Büro. Am Wohnort von Opfer Nummer 6 hatte man Kleidungsfasern und einen halben Schuhabdruck in der Größe 46 gefunden, der sich im Matsch einer vergammelten Fleischtomate, die aus einem Müllsack in der engen Gasse, die als Tatort galt, gefallen war, verewigt hatte. Gordon war Hals über Kopf und mit wehendem Jackett aus seinem Büro gestürzt und hatte das gesamte Laborpersonal zusammen gebrüllt und somit aus ihrer fortgeschrittenen Lethargie geholt. Der rüde Umgangston war nicht wirklich seine Absicht gewesen, aber in dem Moment, in dem er die Nachricht über sachdienliche Beweise in Empfang genommen hatte, war bei ihm ein Knoten geplatzt und die tagelang angestaute Anspannung ergoss sich über die schockierten Kriminaltechniker. Als er wenige Minuten später Batman auf seiner Kommandofrequenz erreichte, hatte seine Stimme wieder ihre dunkle, sonore Tiefe angenommen. Im Laufe des Nachmittags wurden Analysen gemacht. Alles stand unter dem Druck der drohenden Nacht. Man wollte unbedingt eine weitere Entführung vermeiden. Die Untersuchung der Stofffaser brachte nicht viel Nützliches. Man stellte lediglich fest, dass sie Teil eines blauen Synthetic-Shirts mit dem Slogan der Gothamer Footballmannschaft war. Die Shirts sind Massenware. Eigentlich hat fast jeder eines dieser Oberteile zuhause im Schrank. Der Schuhabdruck aber brachte einen Durchbruch! Neben der Größe und dem Modell verriet der Abdruck etwas weitaus wichtigeres. Er verriet, wo sich der Besitzer der Schuhe in letzter Zeit am meisten aufgehalten hatte. Zwischen dem Tomatenbrei hatte man einzelne Erdpartikel extrahieren können, die man genaueren Untersuchungen unterzog. Nach einigen Messungen konnten deutlich erhöhte Werte des Aerosols festgestellt werden, welches Crane damals auf die Stadtbevölkerung angewendet hatte. Und außer den Narrows gab es keinen weiteren Stadtteil, der nach drei Jahren noch eine solch hohe oder überhaupt messbare Belastung aufwies. Commissioner Gordon, ganz in seinem neu gewonnenen und für ihn so typischen Eifer, stellte unter Hochdruck eine kleine Einheit zusammen und stattete sie mit aller erdenklichen Schutzkleidung aus und ließ das, nun bis an die Scheitel bewaffnete Team vor seinem Büro Aufstellung nehmen, während er selbst in Schutzweste, Teflon-Knie- und Armschonern, schwarzem feuerfesten GCPD-Overall und eisenbeschlagenen Stiefeln (die Standartausstattung für Einsätze in den Narrows) in sein Büro stürmte, die Pumpgun auf einen Haufen unbearbeiteter Akten ablegte und sein eigenes angepasstes Headset aus einer Schublade nahm. „Batman?“, fragte er atemlos in das beinahe unsichtbare, stecknadelkopfgroße Kugelmikrofon vor seinem Mund. „Commissioner.“, bestätigte man am anderen Ende der Leitung. „Die Täter kommen aus den Narrows. Wir sind gerade dabei das Gebiet weiter einzugrenzen. Sieht ganz danach aus, als ob das Bodenmaterial in den Abdrücken aus der Nähe der ehemaligen Glasfabrik stammt. Quarzsand.“ „Welche Glasfabrik? Brooks oder Meisand?“ „Wissen wir noch nicht.“, Gordon klaubte die Waffe wieder vom Tisch. Ein Stapel Akten rutschte hinterher und verteilte sich unbeachtet auf dem Linoleumboden. „Aber ich und ein paar Männer sind schon auf dem Weg dorthin. Wenn sich etwas Neues ergibt, sagt man uns sofort bescheid. Also, wenn du—„ „Nein, Jim.“ „Was?“ Gordon lief bereits den langen Flur entlang, der das Großraumbüro von der Eingangshalle trennte. Seine Leute geschlossen hinter ihm. „Du und deine Leute. Ihr bleibt, wo ihr seid! Wir haben noch keine Ahnung in welchem Gebäude sich die Täter aufhalten oder ob sie überhaupt derzeit in den Narrows sind. Wenn ein Trupp Polizisten dort eine Razzia veranstaltet, haben wir das ganze Pack gegen uns, auch die, die nichts mit der Sache zu tun haben. Außerdem könnten die Entführten noch leben. Man würde sie vielleicht als Geiseln verwenden.“ Gordon blieb stehen und hob die Hand. Seine Gefolgsmänner stoppten abrupt, das Rascheln ihrer schweren Kleidung verstummte. „Wenn wir nicht sofort eingreifen, verschwindet wieder ein Mensch. Die Nacht bricht bald an.“ „Das wird nicht passieren. Wenn wir mit den Narrows richtig liegen, dann werde ich heut Nacht ein Auge auf das Viertel haben. Wenn sie ihre Streifzüge von dort aus beginnen oder dort beenden, werde ich sie erwischen. Wenn nicht …“ Die tiefe, verzerrte Stimme machte eine kurze Pause. „Dann sollten wir hoffen, dass es aufgehört hat.“ Gordon umklammerte bereits das hölzerne, glatt polierte Geländer der geschwungenen Treppe in der GCPD-Eingangshalle und starrte in die Luft vor ihm. „Ich werde dir ein paar Männer zur Verstärkung schicken. Sie können in 20 Minuten an der Zufahrt sein, wenn du--“ „Nein.“, sagte die emotionslose Stimme und lies damit keinen Widerspruch zu, „Ich bin bereits da. Lass deine Männer in Bereitschaft, aber bleibt den Narrows fern. Hier gibt es zu viele Augen und Ohren. Es wäre zu auffällig.“ „Du kannst nicht völlig ohne Unterstützung dort herum laufen!“, schrie Gordon schon beinahe in das winzige Mikrofon, „Sag mir, wo du gerade bist, wir werden dann zu dir aufschließen und uns am Rand des Viertels stationieren, nur für den Fall, dass sich dort etwas tut.“ „ __#__“ Der prägnante Piepton im In-Ear zeigte an, dass die Leitung abgebrochen wurden war. Commissioner Gordon rammte seine Faust gegen das Geländer. „Zu auffällig…“, knurrte er, „Nicht so verf***t auffällig wie ein Mann in einem verdammten Fledermauskostüm!!!“ Der dunkle Ritter hat im Laufe der Jahre gelernt, wie er seinen Willen gegenüber Jim durchsetzen kann, auch wenn dieser in Höchstform aufgelaufen ist. Besonders dann! Dass sie sich beide dabei meist wie zickige Anführerinnen zweier Mädchencliquen aufführen, ist ihnen noch nie in den Sinn gekommen. Bruce Wayne weiß nur, dass es funktioniert und er weiß auch, dass – wenn er Gordons anfänglichen, beinahe übertriebenen Tatendrang ausgebremst hat – dieser immer die richtige Entscheidung treffen wird. Auch wenn sie sich nie als Freunde im wirklichen Sinne bezeichnen können, verbindet sie dennoch etwas viel stärkeres als Freundschaft. Etwas viel tieferes. Sie sind auf eine Art seelenverwandt. Sie haben im Grunde dieselben Ziele, dieselben Prinzipien und somit auch denselben Weg diese Ziele zu erreichen. Sie wollen Gotham vor sich selbst schützen. Sie wollen das Recht wieder in die dreckigen Winkel dieser Stadt bringen. Sie wollen ein funktionierendes System, was dafür sorgt, dass der Wahnsinn wieder von den Straßen verschwindet, dass Korruption nicht mehr die Organe der Justiz und der Exekutive zerfrisst und sie von ihnen her aufweicht, wie einen porösen Schwamm. Bruce Wayne und James Gordon haben eine Allianz gebildet und Gleichgesinnte um sich gescharrt, um Gotham City wieder aus dem Dreck empor zu heben und all das wieder ans Licht zu bringen, aufgrund dessen diese Stadt einst so beneidet und bestaunt wurden war. Sollte einer der beiden Brüder im Geiste jemals seine Prinzipien verletzten, so würde ihn der andere zur Strecke bringen. Das wissen beide. Es ist jetzt kurz vor 1. Das Warten zieht sich hin. Nichts ist bis jetzt passiert. Detektivarbeit braucht einen langen Atem oder sie braucht jemanden, der nicht einmal atmen muss. Auch wenn er vor ein paar Stunden noch sechs Tassen Kaffee getrunken hat, bemerkt Batman wie seine Konzentration unweigerlich unter dem permanenten Mangel an Geschehnissen leidet. Er hat seine Position bisher nur einmal gewechselt, denn er hat Angst, etwas zu übersehen. Es ist so ruhig, dass er immer noch glaubt, jeden Moment würde eintreffen, worauf er bereits so lange wartet. Die Ruhe vor dem Sturm sagt man. Nur dass diese Ruhe jetzt schon beinahe vier Stunden dauert und kein laues Lüftchen weht. Die Fledermaus entscheidet noch einmal den Rest des Teams über Intercom anzusprechen. „Robin, Nightwing? Alles in Ordnung bei euch?“ Vom Dach der zweiten Glasfabrik, der Meisand-Fabrik im Süden der Narrows, meldet sich Dicks geflüsterte, aber dennoch klare Stimme: „Nichts Batman. Absolut gar nichts.“ „Unter meiner Bettdecke würd ich sogar mehr verdächtige Dinge finden!“ Im Gegensatz zu dem älteren Dick Grayson, bemüht sich Tim Drake, der auf der anderen Seite der Brook-Glasfabrik, die auch Batman im Blick hat, observiert, kaum darum seine Frustration zu verbergen oder darum, seine Stimme zu senken. „Robin, sei still!“, faucht der Ältere auf Leitung zwei zurück. „Was denn? Die einzigen Personen, die ich hier gesehen hab, waren ein Dealer, der sich selbst einen Schuss gesetzt hat und eine Bande Randalen, die ein Auto zu Schrott gehauen haben, die ich aber nicht vermöbeln durfte, weil ich ja hier rumhocken und Mäuschen spielen muss!“ Dick wird langsam ungehalten. Langeweile fördert die Streitlust. Auch oder besonders bei diesen Beiden. „Denkst du, bei mir ist es interessanter? Mir ist so tierisch langweilig, dass ich mir schon überlege, ob ich nicht zu dir rüber komme und DICH vermöble!“ Batman – kurzzeitig mit dem Gedanken liebäugelnd, die Beiden einfach ebenso wegzudrücken wie den Commissioner – unterbricht den sich anbahnenden Streit mit seiner dunklen, voluminösen Stimme: „Konzentriert euch! Ich habe hier genauso wenig Auffälligkeiten wie ihr, aber wir müssen unsere Augen offen halten. Wenn die Täter auftauchen, dann in der Nähe der Fabriken.“ „Ja, WENN sie auftauchen!“, kontert Dick schnippisch und klingt dabei, fast so wie sein jüngerer Nachfolger. „Das müssen sie.“, sagt der Dunkle ruhig und reibt sich den linken Ellenbogen, der trotz dicker Schutzpanzerung durch das andauernde Stützen auf dem Mauervorsprung wehtut, „Sie werden das Muster nicht brechen.“ „Was macht dich da so sicher?“ Die Skepsis in Nightwings Stimme ist noch eingefärbt von der gedeihenden Streitlust. „Was ist, wenn sie niemanden mehr entführen? Was ist, wenn sie das Muster mit Absicht brechen, um uns zu verwirren? Sie haben auch angefangen Mädchen zu holen. Du hast bestimmt schon in Erwägung gezogen, dass sie nur mit uns spielen könnten, oder?“ Batman hat keine große Lust einem Ansturm von ketzerischen Fragen zu beantworten, aber er muss die beiden noch ein paar Stunden bei Laune halten. Und um aufmerksam zu sein, müssen sie überzeugt sein, von dem, was sie tun. „Nein, sie werden nicht einfach aufhören. Ich kann euch nicht genau sagen warum, aber ich spüre dahinter mehr. Etwas Größeres vielleicht. „Meinst du, es könnte Bane sein?“ Tims Stimme ist wieder von Interesse und einem spontanen Geistesblitz, der ihm unweigerlich bei dem Wort „Größeres“ in den Sinn gekommen war, geschwängert. „Red keinen Unsinn!“, kontert Dick schneller, als Batman zu einer Antwort ansetzen kann, die gewiss ähnlich, aber um einiges charmanter ausgefallen wäre. „Bane hat das Land verlassen. Er ist irgendwo in Südamerika untergetaucht. Es wäre sogar ziemlich bescheuert für IHN innerhalb der nächsten dreihundert Jahre hierher zurück zu kommen, wo er doch die Todesstrafe bekommt.“ Batman ergänzt sanft: „Außerdem sind Entführungen etwas, was er gern selbst in die Hand nimmt. Bane hat keine Gefolgsleute.“ Tim schweigt beleidigt. Bruce kann sich sein kleines ovales Gesicht vorstellen, wie es in sich zusammen geschmollt mit vorgeschobener Unterlippe im Stehkragen seines Kostüms verschwindet und keinen Pieps mehr von sich gibt. „Wir sollten die Vermutungen auf später verschieben. Wenn bis fünf nichts passiert sein sollte, treffen wir uns eine halbe Stunde später am Batmobil.“ Dick bestätigt, Tim schweigt weiterhin beharrlich und Batman tastet sich wieder aus der Kommandoverbindung aus. Fast zwei weitere Stunden kriechen durch die dunklen Gassen, gut 20 m unter ihm, während oben auf dem Dach gefühlte 10 Stunden verstreichen. Die Fledermaus muss sich mittlerweile beherrschen, nicht an die Wand gelehnt einzuschlafen. Das ununterbrochene Gestarre auf die Straßen unter ihm, die rechts und links an dem Fabrikgebäude vorbei führen, wirkt auf seine Augen wie ein schwerer Backstein und lässt sie sich anfühlen, als würden sie gleich platzen oder von allein in Flammen aufgehen. Ab und zu muss er sich eine Natriumlösung hinein tropfen, um den milchig-trüben Schleier zu vertreiben, der sich in immer wieder in seinen ermüdeten Blick schleicht. Da nimmt er plötzlich eine Bewegung wahr. Die Routine der letzten Stunden und die dumpfe Vorahnung, doch nur wieder eine verirrte Schnapsdrossel in der Dunkelheit unter ihm zu erkennen, lässt ihn langsam, beinahe träge reagieren. Er hebt den Blick über den Rand der schlampig verputzten Dachrandabgrenzung und späht hinunter auf den, mit Kiesgeröll und feinen, im Mondlicht funkelnden Glassplittern bedeckten Weg, der zum westlichen Haupttor des Fabrik führt und hinter dem Gebäude wieder zwischen den zwielichtigen Schluchten der Wohngegend verschwindet. Als er in der Dunkelheit Scheinwerfer erkennt, richtet er sich ohne Zögern auf, bleibt an den schmalen Schornsteinschlot gepresst, dessen metallener Körper ihm die letzten Stunden als Rückenlehne gedient hat, und beobachtet die Szenerie. Die Situation wirkt viel versprechend, nicht zuletzt, da es das erste Fahrzeug ist, das sich dem Gebäude nähert. Es ist auch noch ein kleiner weißer Transporter. Der Grund, warum die Täter keine Spuren in der Nähe der Tatorte hinterließen … Ein Fluchtfahrzeug, wie vermutet. Der Wagen hält gut 500 m vor dem Eingang. Die Scheinwerfer strahlen den Weg hinunter und werfen den Schatten einer altersschwachen Straßenlaterne hart gegen die Mauern der Glasfabrik. Die Tür an der Fahrerseite öffnet sich. Sie fliegt beinahe aus den Angeln, so heftig wird sie nach außen aufgestoßen. Mit dem unangenehmen Geräusch überdehnter Türblockierer dringt ein Schwall übler Flüche aus dem Autoinneren. Ein breitschultriger Mann springt auf die Straße. Er ist vollkommen dunkel gekleidet und trägt ein schwarzes Capi auf dem Kopf. Reichlich seltsam für diese Tageszeit. Will er nicht erkannt werden? Der große Kerl geht nach hinten und reißt offenbar stinksauer die hintere Autotür auf. Auch wenn die laute und dröhnende Stimme des Mannes an den Hauswänden hundertfach gebrochen und reflektiert wird und sich zu einem unverständlichen Brei aus wummernden Bässen vermischt, hört Batman die kreischende Frauenstimme deutlich genug aus dem hinteren Teil des Autos, um zu ahnen, was als Nächstes passieren wird. Der Dunkle springt deswegen aus der Deckung auf die Dachbalustrade und stürzt sich ohne zu Zögern in die Tiefe. Unter sich sieht er, wie eine heftig um sich tretende und schreiende Gestalt aus dem Wagen gezerrt wird. Sie kratzt und schlägt und wird zu Boden geworfen. Ihr blondes Haar ist ein einziger wilder Wust. Sie schreit erschrocken auf, denn die Glassplitter zwischen den Steinchen bohren sich augenblicklich tief in ihre Knie. Das Batcape des dunklen Ritters entfaltet sich lautlos. Die dünnen Stäbe aus speziell verhärtetem Aluminium machen ein leises Geräusch, das er selbst kaum wahrnimmt. Er spürt nur die leichte Vibration, mit der sie gegen den Stoff schrammen und spannt parallel seinen Körper an, um wie ein geräuschloses schwarzes Blatt auf seinen Feind am Boden zuzugleiten. Die Überraschung gelingt ihm. Im letzten Moment zieht er seine Beine nach vorn und erwischt den Hünen mit einem kraftvollen Doppeltritt auf die Brust. Dem Mann treibt es mit einem erschrockenen Keuchen die Luft aus beiden Lungenflügeln. Er taumelt nach hinten, findet keinen Halt und stürzt schräg über die Motorhaube des Transporters. Batman landet kurz davor und widmet sich ohne zu Zögern dem am Boden Liegenden. Er greift ihn am Kragen seiner schwarzen Nylonjacke, zieht ihn obgleich seiner Größe nach oben und wirft ihn so auf die Motorhaube nieder, dass sich die Wischwasser sprühenden Ventile in den Hinterkopf des Täters stempeln wie spitze Steine. Er ächzt auf, fasst sich an den Nacken. Batman zieht ihn wieder nach vorne, um ihm ins Gesicht sehen zu können und bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Das Gesicht des schwarz gekleideten Mannes ist schmerzverzerrt und faltig. Die äußerst blasse Haut ist gesprenkelt von verfrühten Altersflecken, alten Brandmalen und Narben irgendeiner vergangenen Hautkrankheit. Durch zahlreiche Zahnlücken quillt der markante Geruch eines Fischmarktes im Hochsommer und die Augen sind durch die geweiteten Pupillen fast vollkommen schwarz. Batman fletscht die Zähne und starrt an dem Mann herunter. Es ist schwer zu sagen, wie alt der Kerl ist. Seine Hände zittern, die Haut dort ist wie Pergament. Dennoch zeugt alles davon, dass er vor nicht allzu langer Zeit mal ein kräftiger Bursche gewesen sein muss: Die breiten Schultern, der stämmige Körperbau, das volle Haar, das unter dem Capi hervor schaut. „Wer bist du?“, knurrt der dunkle Ritter. Seit den Pupillen weiß er, dass er mit einem Junky spricht, der von seinem letzten Trip noch nicht runter ist. Also erwartet er nicht wirklich eine präzise Antwort. Der Mann auf der Motorhaube starrt ihn nur an, als würde er jeden Moment losheulen müssen. Seine Unterlippe zittert. Er hat Angst. Was auch immer sein Trip aus Batman macht, es wird nicht beruhigender sein, als das Original. Batman stößt ein frustriertes Grollen aus und lässt von dem Elend ab. Er will nach dem Mädchen sehen, auch wenn er die Befürchtung hat, dass es die Enttäuschung komplett machen wird. Sie sitzt einige Meter von ihm entfernt an einen Geröllhaufen gepresst, den man vor der Fabrikwand aufgeschüttet hat und versucht sich die beinahe unsichtbaren Glasstückchen aus den Knien zu entfernen. Dabei heult sie Rotz und Wasser. Die Fledermaus tritt zu ihr und als sie nach oben blickt, mit einer Mischung aus animalischer Furcht und allzu menschlicher Verwirrung, wendet Batman seinen Blick bereits zähneknirschend ab. Er hat ihr Gesicht gesehen. Sie sieht beinahe so alt aus, wie ihr Peiniger. Zwischen ihren runzeligen Wangen und den stark geschminkten Augen sitzt eine Nase, die aussieht wie ein Papageienschnabel, an dem zu allem Überfluss auch noch ein silbernes Piercing baumelt. Ihre Pupillen sind ebenfalls geweitet und sie macht nicht wirklich den Eindruck, als könnte sie den Patron der Stadt noch richtig erkennen. Ihr dürrer, verbrauchter Körper steckt in knalligen und viel zu engen Kleidern, mit viel zu wenig Stoff. Eine Crack-Hure. Ein armseliges Produkt des Drogenkonsums, ein Opfer der Drogenbarone und diverser familiärer Tragödien. Letzten Endes dazu gezwungen für ein wenig Heroin oder Crystal ihren Körper zu verkaufen, nur um dann ertragen zu können, was sie tut, um ertragen zu können, was sie tut. Batman blickt auf den zitternden Schatten vor sich und stößt innerlich einen Seufzer aus. Dann klinkt er sich wieder ins Intercom ein. „Nightwing. Robin.“ Bestätigung von beiden Seiten. „Wir brechen die Aktion für heute Nacht ab. Ich habe meinen Posten verlassen.“ Aufgeregtes, erwartungsvolles Schweigen. „War falscher Alarm.“ Seufzen auf beiden Kanälen. „Wir treffen uns in fünf Minuten am Batmobil. Und bitte bleibt weiterhin unauffällig!“ Nachdem er die Bestätigungen erhalten hat, kniet er sich zu der Frau hinunter und hält ihr eine steril verpackte Binde entgegen mit einer kurzen Erklärung und in der Hoffnung sie würde sich an ein paar seiner Anweisungen erinnern, wenn sich ihr Verstand wieder geklärt hatte. Die Frau in ein Krankenhaus zu fahren würde sich nicht lohnen. Jeden Drogenabhängigen auf kalten Entzug zu setzen war nicht möglich und jede verlorene Seele retten zu wollen, war etwas, das einem Gottkomplex näher kam, als der Realität. In seiner Anfangsphase hatte Batman so etwas getan und er hatte nur allzu schnell dazu gelernt. An manchen Tragödien konnte man nichts ändern, man konnte nur eine kleine Hilfestellung leisten und hoffen die Menschen würden allein den richtigen Weg finden. Hier verhält es sich ähnlich. Er gibt der Prostituierten das Verbandsmaterial, dem Junky nimmt er die Autoschlüssel ab. Dann zieht er sich mit der Batclaw wieder auf das Dach zurück und macht sich auf den Weg zum Batmobil, welches gut verborgen, in einem nahe gelegenen Abwasserabfluss geparkt steht. Diese Nacht ist ernüchternd gewesen. Es ist seltsam. Sollte Dick Recht gehabt haben und man spielte nur ein wenig mit ihnen? Vielleicht haben sich aber auch die Analysen geirrt und sie haben am völlig falschen Ort gewartet. Das alles würden sie in ein paar Stunden heraus finden. Dann würde man entweder ein neues Opfer haben oder eine Änderung im Plan. Vorausgesetzt es gibt einen Plan hinter dem Ganzen. Der Dunkle senkt den Blick, als er zum Abwasserrohr hinunter stapft und fragt sich warum er das Gefühl hat, dass ihn dieser Fall so erdrückt. Menschen waren schon oft verschwunden und viel zu oft nie wieder lebend aufgetaucht. Das ist etwas, worüber er beinahe sagen könnte, er habe sich daran gewöhnt. Was ihn wirklich fertig macht, was wirklich in seinem tiefsten Inneren an ihm nagt, ist die Tatsache, dass er noch keinen Schritt voraus ist. Zum Warten und Zusehen verdammt, fühlt er sich zum ersten Mal wie der Rest dieser Stadt. … Als Batman am Steuer seines Hightec-Fahrzeuges sitzt, die seicht gefluteten Abwasserkanäle entlang rast, die es ihnen ermöglicht haben in diesen abgeriegelten Teil der Stadt zu kommen, und geduldig den Beschwerden und den immer wahnwitzigeren Verschwörungstheorien seiner beiden jungen Gehilfen zuhört, entschließt sich das leidige Schicksal, welches diese Stadt so hart in seine Krallen geschlossen hält, sein liebstes Ass aus dem Ärmel zu schütteln: Die Ironie. Nur zwei Querstraßen von dem Gebäude entfernt, auf dessen Flachdach der dunkle Ritter bis vor einer halben Stunde noch gesessen hatte, spuckt die Nacht eine Gestalt auf die Straße, die sehr wohl etwas mit den Ereignissen der letzten Woche zu tun hat. Einen kleinen silbernen Metallkoffer an sich gepresst, überquert sie die Straße, springt von Schatten zu Schatten und tastet sich mit nervösen Bewegungen in Richtung Glasfabrikmauer. Immer wieder wirft sie gehetzte Blicke in die zahlreichen Gassen und Nebenstraßen und kommt sich dabei vor, wie das einzige Sahnetörtchen auf dem Treffen einer Selbsthilfegruppe für Fresssüchtige. Aber es ist ja nicht mehr weit! 100 m vielleicht noch, dann wird die Person das unscheinbar, beinahe wie zufällig an die Wand gelehnte Wellblech sehen. Dahinter liegt ein, zur Hälfte vernagelter Eingang, eine rahmenlose Tür, zu klein für einen Menschen normaler Größe. Wohin der Gang führt, der hinter dieser Tür begann? Die Person weiß es, sie ist schon oft diesen Weg gegangen und immer wieder verspürt sie das vorfreudige Kribbeln in der Magengegend, ähnlich einem Orgasmus in seiner frühen Phase. Die Hände werden dann immer ganz schwitzig und im Kopf entsteht ein Sog, der den Körper dazu veranlasst sich nur noch schneller auf das Ziel zu zu bewegen. Die Person biegt um die Ecke und fährt regelrecht zusammen. Da sind Leute! Ein Mann, an den Vorderreifen eines Transporters gelehnt und allem Anschein ein wenig weggetreten und eine Frau, die wimmernd und leise vor sich hin faselnd mit einem Verband in der Hand auf dem steinigen Boden hockt und leicht vor und zurück wippt. Beide reagierten sie nicht sofort, als der Fremde plötzlich an der Mauer erscheint und sie mit geweiteten Augen anstarrt, das Gesicht voller unangenehmer Überraschung und einem fieberhaft arbeitenden Denkapparat dahinter. Doch als sich die Person wieder in Bewegung setzt, anscheinend um sich den beiden zu nähern, blickt die Frau mit ihrem leeren Blick zu der Gestalt auf. Ihre blassgrauen, unterlaufenen Augen nehmen einen sehr schlank gewachsenen, jungen Mann wahr, in einer schwarzen Stoffhose und mit einem kurzen, dunkelblauen Trenchcoat bekleidet, unter dem ein wenig in Falten geworfener weißer Stoff aufblitzt. Es ist eine Art weißer Chemiekittel, den er sich in den Hosenbund gestopft hat, damit er nicht unter dem dunklen Trenchcoat hervor lugt. Die Sicht der noch zur Hälfte im Delirium schwebenden Frau, ist verschwommen und ihr Geist ist zu träge, um das Wenige, was sie noch erkennt zu verarbeiten. Jede Sekunde, vergisst sie, was die Sekunde zuvor passiert ist. Wäre sie zu diesem Zeitpunkt klar, würde sie den Mann wohl erkennen, der sich nun einem Meter vor ihnen hinkniet und seinen Koffer öffnet. Sie hätte auch die kleinen Fläschchen und das kleine Gerät erkannt, welches einem Raumduftversprüher außerordentlich ähnelt und so fürsorglich in weichen, angepassten Moosgummi gelagert ist, damit kein Glas auch nur einen Kratzer abbekommt. Beinahe liebevoll streicht der junge Mann über die kühlen Körper der Fläschchen, berührt ihre gläsernen Schwanenhälse und begutachtet den Ladezustand des kleinen Gerätes, an dessen oberen Ende ebenfalls eines der kleinen Gefäße angesteckt ist. Dann plötzlich zieht er die Hand zurück, als hätte er sich die Fingerspitzen daran verbrand und schließt den Koffer mit einem schmerzvollen Seufzen. Er richtet sich wieder auf und sieht die beiden Menschen vor sich das erste Mal direkt an. Sie starren durch ihn hindurch und vergessen von Moment zu Moment immer wieder, dass sie nicht allein sind. Die Drogen haben in ihrem Kreislauf mittlerweile ihre volle Wirkung entfaltet. Auf dem Gesicht des dünnen Mannes mit den schmalen Schultern liegt ein linkischer Ausdruck, welcher wohl von seinem intelligenten Blick durch zwei Augen, die von Farbe und Ausdruck als eisig beschrieben werden können, und von dem beinahe unsichtbaren Lächeln, das Unsicherheit, Labilität und soziapathische Vorfreude gleichzeitig ausdrückt, ausgelöst wird. Er beobachtet die zwei Menschen auf ihrem Trip, wie zwei verwirrte Laborratten durch die Augen eines Wissenschaftlers. Ein klarer Verstand ohne die Fesseln von Moral und Gewissen. Ein perfekter Forschergeist. Kindliche, unschuldige Neugier bemächtigt sich seiner Mimik, als er in die Innentasche seiner Jacke greift und einen kleinen Revolver hervor zieht, der nicht mehr als sechs Kugeln fasst und nicht mehr wiegt, als ein 100 Seiten Taschenbuch, und ihn nacheinander auf beide Personen richtet. Er muss dreimal abdrücken. Den Mann trifft er sofort in die Brust. Seine Lunge kollabiert und er bringt keinen Laut heraus, da die Droge seine Reflexe lähmt. Die Frau, von dem ersten Schuss ein Stück weit aus ihrer Lethargie gerissen, zieht die Knie erschrocken nach oben. Die erste Kugel durchschlägt daher ihren Unterschenkelknochen, anstatt ihren Brustkorb zu treffen. Der Mann mit der Waffe geht kurzerhand noch zwei Schritte auf sie zu und feuert die dritte Kugel auf ihren Kopf ab. Sie tritt durch die Stirn ein und verschwindet irgendwo im Schädel. Der Körper der Prostituierten sackt nach hinten, Arme und Beine über den Geröllhaufen ausgestreckt. Der Mann betrachtet nur kurz sein Werk, lässt den Revolver wieder im Trenchcoat verschwinden und nimmt seinen Koffer an sich. Er hat Wichtiges zu tun. Der Sog erfasst ihn wieder und zieht ihn zum Wellblech an der Fabrikmauer, hinter dem er sich mit schlaksigen, aber dennoch eleganten Bewegungen vorbeischiebt. Die Art und Weise, wie er sich bewegt, würde jedem Menschen erst beim zweiten Hinsehen auffallen. Beim ersten Mal würde man überlegen, in seinen Erinnerungen und Erfahrungen kramen, was einem die Gestalt des jungen Mannes so seltsam bekannt vorkommen lässt. Zugegeben, niemand, außer seinen alten Mitschülern und Studenten, hätte diesen Vergleich wirklich benutzt. Und zugegeben, die meisten, die ihn in seiner Gegenwart zum Ziel der Beleidigung anzuwenden pflegten, hatten es auf so mannigfaltige Arten und Weisen bereut, dass es selbst dem fantasievollsten Menschen nicht gelang, es sich vorzustellen. Aber wenn man ihn so betrachtet, dann … Er sieht so aus, wie … Er hat ein bisschen was von einer Vogelscheuche. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)