Yoru no tenshi von abgemeldet (Engel der Nacht) ================================================================================ Kapitel 5: Ich bin Fynn ----------------------- Willkommen zurück =) Nach einer relativ langen Sommerpause geht es jetzt endlich weiter mit "Yoru no tenshi". Ich bin stolz darauf, das bisher längste, fünfte Kapitel präsentieren zu dürfen, und hoffe, der Umfang entschädigt ein wenig für die lange Wartezeit. Und wie immer gilt: Rückmeldungen sind gerne gesehen Achtung: In diesem Kapitel bekommt Zen Takazuchiya einen Gastauftritt. Viel Spaß beim Lesen! ~~~~~~~~~~ Ich bin Fynn Der rothaarige Junge blickte sich um. Er befand sich in einer engen Seitengasse Momokuris, wo das Böse allgegenwärtig war und die Dunkelheit sich in jeder Ecke sammelte. Dies war sicherlich kein angenehmer Ort, jeder Mensch hätte die schattenhafte Aura gespürt, die einem einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Aber für ihn war es ein angenehmes Gefühl, wenn er spürte, wie die Energie der Schwärze ihn durchfloss. Die Person wartete auf jemanden. Wie es aussah, würden Itasa, der Schmerz, und Kowage, die Angst, bald eintreffen. Die beiden hatten sich mit ihm verabredet. Sein wahrer Name war schließlich auch nicht Ren, nein, so hieß nur die menschliche Hülle, die der Dämon besetzt hielt. Er trug einen viel ehrwürdigeren Namen, einer, der einem Wesen, geboren in den Tiefen der Hölle, angemessen war. „Katari“, das war die Stimme Kowages, die ihn mit seinem wirklichen Namen anredete, der Betrug. Sie klang hoch und schrill, so wie der Körper, den seine Komplizin besetzt hielt. Die Frau, die dem Jungen nun entgegenkam, hatte langes, helles Haar, das ihr fast bis zu den Hüften ging und ihre Figur ebenso betonte wie die dunkle, eng anliegende Kleidung. Ihr folgte ein eher schweigsamer Mann mit groben Gesichtszügen und dunklem Haar, der eine seltsam verzerrte Miene aufgesetzt hatte. Dies war der dritte im Bunde, Itasa. „Was gibt es zu berichten?“, fragte Kowage eilig. Sie hielt nichts von langen Vorreden. Es musste gesagt werden, was zu sagen war, nicht mehr und nicht weniger. Ren, oder besser, Katari, holte tief Luft, als sammele er seine Kräfte. Dann beschwor er ein flimmerndes Fenster in die Luft, wie aus dem Nichts, auf dem man eine Person, es war ein Mädchen, erkennen konnte. „Dies“, erklärte er mit kalter Stimme, „ist das Ziel meiner Rache. Sie unterbrach mich, als ich mir die Macht eines weiteren Menschen aneignen wollte.“ Die Silhouette wurde klarer und man erkannte darauf Natsuki wie in einem Stummfilm, wie sie Ren-kuns Date mit Hoshigawa Momoko unterbrochen hatte. „Rache?“, es war das erste Mal im Verlauf des Dialoges, dass Itasa seinen Mund öffnete. In seiner ausgehöhlt und leer klingenden Stimme schwang leichter Spott mit. „Und du erwartest Unterstützung?“ „Ja“, Katari nickte. „Doch es wird sich auch für euch lohnen. Dieses Mädchen trägt eine göttliche Kraft in sich. Wenn wir sie zerstören, teile ich die Kraft mit euch.“ Itasa und Kowage nickten. Das Angebot klang vernünftig und ehrlich. Doch trotz allem wussten sie, dass dies Betrug war, der vor ihnen stand. „Und es gibt noch einen Grund, weshalb wir Rache nehmen sollten“, fuhr Katari mit einem gehässigen Lächeln auf den Lippen fort. „Ihre Mutter... ich will ihre Mutter leiden sehen.“ „Wieso ihre Mutter?“, fragte Kowage misstrauisch. „Ihre Mutter... ihr Name ist Nagoya, Marron. Sie war es“, der Hass schien den rothaarigen Jungen zu übermannen. „Sie tötete einst unseren Meister!“ Erschrocken blickten die beiden Komplizen Kataris sich an und tauschten wissende Blicke aus. Schließlich ergriff Itasa abermals das Wort: „Katari, du machst einen Fehler, wenn du mit der Rache zu voreilig wirst.“ Der Junge mit dem roten Haar setzte eine fragende Miene auf. Hier bestand offensichtlich Erklärungsbedarf. „Nagoya, Marron... der Name der Tochter lautet Nagoya, Natsuki, richtig?“, überlegte Kowage. „Du solltest vorerst nicht versuchen, an diese göttliche Kraft zu gelangen.“ „Und wieso nicht?“, wollte Katari leicht ärgerlich wissen. Langsam wurde er ungeduldig. „Nun, es ist, wie du weißt, der höchste Verrat, das Schwert zu erheben...“, die Frau mit dem hellen Haar hielt kurz inne, „...gegen die Königin der Schatten.“ Die Augen des rothaarigen Jungen weiteten sich vor Erstaunen, doch Kowage konnte auch seine Furcht in ihnen erkennen. „D-du meinst...“, stotterte Katari, „s-sie ist...?“ Natsuki seufzte und stützte ihr immer schwerer werdendes Kinn auf den Armen ab. Die ganze Woche lang hatte sie versucht, es zu ertragen, schließlich meinten ihre Eltern es ja nur gut mit ihr, aber warum sie auch noch heute, wo doch Samstag war, mit Shinji Mathe büffeln sollte, war der Fünfzehnjährigen ein Rätsel. Der junge Mann hatte doch bestimmt ebenfalls besseres zu tun, als in der Wohnung der Nagoyas zu sitzen und einem aus seiner Sicht wahrscheinlich ziemlich unreifem Gör den Satz des Pythagoras zu erläutern. Schließlich war heute Shinjis Geburtstag! Endlich klappte der ab heute Neunzehnjährige das Mathematik-Übungsbuch zu und schob seinen Stuhl zurück, um aufzustehen. „Das sollte für heute reichen“, der junge Mann lächelte freundlich. Ich hoffe doch, dachte Natsuki grimmig. Der Violetthaarige blickte das Mädchen hoffnungsvoll an. „Du kommst doch nachher noch vorbei, oder?“, fragte er vorsichtig. Seine Angebetete schien heute keine besonders gute Laune zu haben. Die Fünfzehnjährige verzog wie erwartet die Miene. „Ich hab ja wohl keine Wahl, oder?“, knurrte sie, darauf bedacht, die Abneigung deutlich mit ihrer Stimme zu betonen. Natsuki und ihre Eltern waren, wie jedes Jahr an Shinjis Geburtstag, von den Minazukis zum Mittagessen eingeladen worden und das Mädchen wusste, dass in diesem Punkt jede Diskussion mit Marron und Chiaki sinnlos war. Natürlich passte es ihr nicht in den Kram, dass der ungeliebte Nachbar auf den Tag genau eine Woche nach ihr Geburtstag feierte, doch sie konnte es nicht ändern. Wohl oder übel musste die Fünfzehnjährige die Einladung annehmen. Nun packte Shinji seine Sachen in die Tasche und ging zur Türe, nicht, ohne sich übertrieben freundlich von Marron, die gerade mit einem Buch in der Hand zur Küche hereingekommen war, zu verabschieden. „Schleimer“, murmelte Natsuki verärgert. Die dreiköpfige Familie, Marron, Chiaki und Natsuki an der Zahl, hatte sich vor der Wohnungstüre der verehrten Nachbarn versammelt. Die Mutter trug ein kleines Paket unterm Arm. Jetzt streckte sie ihre Hand aus und drückte auf den kleinen Klingelknopf, der unter dem Türschild prangte. Sofort wurde die Wohnungstüre aufgerissen und eine ziemlich unter Stress stehende Miyako stand im Rahmen. Sie hatte eine Schürze umgebunden und hielt zwei Topflappen in der Hand. „Kommt rein!“, keuchte die violetthaarige Frau und bedeutete den Gästen mit einem Wink, einzutreten. Chiaki bemerkte mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht, dass aus der Küche der Geruch verbrannten Essens und Rauch zu ihnen hinüberwehte. „Was ist los?“, fragte er lachend. „Erzähl mir doch nicht, dass Shinji versucht hat, zu kochen!“ Miyako verzog die Miene. „Der Bub wird mich eines Tages noch in den Wahnsinn treiben. Wird neunzehn und benimmt sich immer noch wie ein Kind“, sie fasste sich mit der Hand an die Stirn und wischte einige Schweißperlen ab. „Er hat darauf bestanden, das Essen selbst zu machen. Er lässt mich nicht auch nur in die Nähe der Küche!“ Die Mutter musste einmal schwer seufzen. „Ach, so schlimm kann es ja nicht sein“, Marron legte ihrer besten Freundin beruhigend die Hand auf die Schulter, „Shinji ist ein guter Junge.“ In genau diesem Moment hörte man aus der Küche ein lautes Poltern und einen Schreckensschrei. Sofort waren Miyako und die Nagoyas bei der Türe und rissen sie auf. Entsetzt blickten die Vier plus Yamato, der aus dem Esszimmer herbeigestürmt war, sich das Chaos an. Aus dem geöffneten Backofen stieg schwarzer Qualm auf, die Türe war von der kleinen Explosion weggesprengt worden. Im Inneren konnte man ein schwarzes Etwas erkennen, das wahrscheinlich ein Braten hätte werden sollen. Ein leichtes Glimmen war immer noch im Ofen zu erkennen. Der Ruß war in der gesamten Küche verteilt und sammelte sich in kleinen, schwarzen Häufchen auf dem Fußboden. Inmitten des furchtbaren Durcheinanders stand Shinji, beide Hände zu Fäusten geballt, und murmelte mehr zu sich selbst: „Shit!“ Er wirkte ein wenig niedergeschlagen. Entsetzt blickte seine Mutter den jungen Mann an. Sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Miyako ballte die Hände krampfhaft zu Fäusten, ihre Augen traten hervor. Dann holte die Frau tief Luft. „SHIIIIINJIIIIIIIIIIIIIIIII!“ Miyako brach zusammen und begann, hysterisch nach Atem zu ringen. „B-beruhige dich, Schatz“, flehte Yamato und kniete neben seine Ehefrau auf den Boden. „Das ist kein Schaden, den wir nicht reparieren können.“ Auch Marron fasste ihre beste Freundin an den Schultern und schüttelte sie leicht, damit sie sich wieder fasste. „Miyako, bitte versuche, dich im Zaum zu halten. Wir können ja auch an einer Imbissbude schnell etwas zu Essen holen.“ „Genau“, Shinji, der schon wieder völlig gelassen wirkte, nickte und fuhr sich grinsend durch seinen zerzausten, violetten Haarschopf. „Mach mal kein so ein Drama draus, Mutter. Das bekommen wir schon wieder hin. Ich geh einfach nach nebenan zu-“ Miyako hatte sich, während ihr Sohn versucht hatte, beruhigend auf sie einzureden, langsam aufgerichtet und sammelte ihren Ärger. Energisch unterbrach sie den Neunzehnjährigen, während er sprach. „Oh nein!“, befahl die Frau, „du wirst nirgendwo hingehen! Du bleibst gefälligst hier und räumst die Küche auf! Das wäre ja noch schöner! Einfach unsere Wohnung verwüsten und dann auch noch verschwinden wollen! Bilde dir das nicht mal in deinen schönsten Träumen ein!“ Miyako sog einmal tief Luft ein und schnaubte wie ein Stier. „Unverschämtheit!“ Marron seufzte und legte ihrer Freundin lächelnd einen Arm um die Schulter. „Keine Sorge!“, erklärte sie der aufgebrachten Mutter, „Chiaki wird schnell nach nebenan zur Imbissbude gehen und uns allen etwas Warmes mitbringen.“ „Werde ich das?“, verdutzt blickte der Blauhaarige seine Ehefrau an. „Wirst du!“, erwiderte Marron, diesmal mit etwas lauterer, kräftigerer Stimme. Sie blickte Chiaki herausfordernd an mit einem Blick, der eindeutig sagte: „Ich dulde keine Widerrede!“ „Schon gut, ich geh ja schon“, brummte Natsukis Vater, drehte sich auf der Stelle um und stapfte unmotiviert in Richtung Wohnungstüre. Mit einem Ruck riss der Mann die Tür auf und zog sie höchst unsanft wieder zu. Er mochte es nicht, wenn seine Frau in so grobem Ton mit ihm sprach. Es kam zwar nicht oft vor, doch manchmal konnte auch die sanfte Marron ziemlich ungemütlich werden. Sie musste sich große Sorgen über die Ausbrüche ihrer Freundin Miyako machen. Die Brünette unterdessen hatte ihre Aufmerksamkeit längst Shinji und seinem Vater Yamato zugewandt. Sie klatschte in die Hände und rief: „Also los. Wir werden dafür sorgen, dass diese Küche wieder wie eine Küche aussieht, und nicht wie ein Schlachtfeld.“ Natsuki musste grinsen. Ihre Mutter war wirklich eine starke Frau. Sie scheute sich nicht im Geringsten davor, mit anzupacken oder in Krisensituationen die Führung zu übernehmen. Marron hatte eine unglaubliche Persönlichkeit. Das Mädchen beneidete sie darum. „Stark, bereit, unbesiegbar, schön, entschlossen und mutig!“, hatte die Mutter früher einmal zu der Fünfzehnjährigen gesagt. „Dies ist mein Lebensmotto. Du solltest auch ein Motto haben, das dir Kraft gibt, Natsuki-chan.“ Ja, dachte Natsuki mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, als sie sich daran erinnerte. So ein Motto wäre doch eigentlich nicht schlecht, oder? Hungrig biss Natsuki von dem immer noch warmen Cheeseburger ab. Innerhalb von zehn Minuten war ihr Vater in der Lage gewesen, zur Imbissbude von nebenan zu rennen, ihnen allen etwas mitzunehmen und wieder in die Wohnung der Minazukis zu stürmen. In dieser Zeit hatten die Übriggebliebenen natürlich nicht geschafft, die Küche fertig aufzuräumen, doch Marron hatte Miyako versprochen, dass sie mit der Arbeit fortfahren würden, sobald alle ihre Mahlzeit beendet hatten. Die aufgebrachte Frau hatte sich auch wieder ein wenig beruhigt. Natsuki hatte das Gefühl, dass ihre Mutter die einzige Person auf der Welt war, der es mit ihrer gelassenen Art möglich war, Miyako in ihrem oft aufbrausenden Zorn zu dämpfen. „Habt ihr heute Morgen die Zeitung gelesen?“, fragte Marrons beste Freundin auf einmal. „Ja, natürlich“, erwartungsvoll blickte die Brünette sie an, damit sie doch endlich fortfahren möge. Sie hatte keine herausragende Neuigkeit in den Nachrichten des Tages bemerkt. Hatte Marron etwas Wichtiges übersehen? „Ich habe von einem Kaito gelesen“, erklärte Miyako geheimnisvoll und blickte in die Runde. „Einem Kunstdieb.“ Die Reaktionen auf diese Aussage fielen sehr unterschiedlich aus. Natsukis Mutter zuckte zusammen und wirkte ein wenig bestürzt, fasste sich aber schnell wieder. Yamato starrte seine Ehefrau überrascht an. Chiaki grinste Marron auf eine ziemlich merkwürdige Weise an. Shinji zeigte überhaupt keine Reaktion, was irgendwie sonderbar aussah. Und Natsuki selbst- ja, die seufzte und wünschte sich im Stillen, dass Menschen über dreißig doch bitte etwas moderner sein sollten und nicht über Themen redeten, die niemanden interessierten. Sie meinte: Es gab tausende und abertausende von Dieben auf der Welt, und auch genug Kunstdiebe. Warum sollte sie dies so aus der Bahn werfen? „Dieser Kaito schickt immer Ankündigungen an den Ort, von dem er zu stehlen gedenkt“, Miyako kicherte, als sie das sagte. „Der Polizei ist er ein Rätsel. Augenzeugen behaupten, er verfüge über geheimnisvolle Fähigkeiten und könne seltsame Zauber beschwören. Als ob so etwas möglich wäre. Und komischerweise verschwindet er immer spurlos, egal, was man tut, um den Dieb zu fangen. Kommt euch das bekannt vor?“ Nun musste Marron lachen. Als ihre Tochter sie mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrte, rang die Frau nach Atem und erklärte: „Miyakos Vater ist Polizist, das weißt du, oder? Früher hat sie selbst eine Kunstdiebin gejagt, daher kommen ihr jetzt die Erinnerungen.“ „Miyako? Hat eine Diebin gejagt?“, wiederholte Natsuki ungläubig. War das ein schlechter Scherz? „Ja“, Chiaki nickte. „Kamikaze Kaito Jeanne nannte sich diese. Miyako hat ewig versucht, sie zu fassen, hat es aber nie geschafft, obwohl Jeanne vor jedem ihrer Diebstähle eine Warnung geschickt hat, damit die Polizei informiert war.“ Die Violetthaarige schnaubte hörbar. „Ph. Ich hätte sie fast gefasst. Aber die hat wohl gemerkt, dass ich ihr langsam auf die Spur komme, denn eines Tages ist sie verschwunden und hat sich nie wieder irgendwo sehen lassen. Wahrscheinlich war sie zu feige!“ Sie blickte Marron herausfordernd an. Die nickte und lächelte leicht. „Natürlich, Sherlock Holmes.“ „Oder sie hat durch ihre Diebstähle so viel Kohle zusammengescheffelt, dass sie jetzt in einer abgelegenen Villa in den Bergen versteckt lebt und es sich gutgehen lässt“, überlegte Yamato. Plötzlich sehr wütend, musterte Miyako ihn wie eine Rachegöttin. „Das stimmt nicht!“, rief sie erzürnt. Ihr Ehegatte zuckte zusammen. „O-Ok.“ Ein Schweigen breitete sich nach Miyakos Ausbruch über allen am Tisch Sitzenden aus, die Minazukis und die Nagoyas. Jeder schlürfte gedankenverloren sein Getränk und aß. Hätte man Natsuki nach ihrer Meinung gefragt, hätte diese Stille ruhig noch ein wenig andauern können. Aber natürlich, das war zu erwarten gewesen, war Shinji mal wieder derjenige, der alles kaputtmachen musste. Ruckartig richtete der junge Mann sich auf einmal auf und schob seinen Stuhl zurück. „Das hab ich ja ganz vergessen!“, rief er mehr zu sich selbst und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. Alle anderen musterten den Neunzehnjährigen ein wenig verdutzt. „Was ist es denn, das du vergessen hast?“, wollte Marron neugierig wissen. „Keichi und Sakura wollten noch eine Feier für mich schmeißen“, erklärte Shinji hastig, „mit ein paar Freunden und so. Ich muss schnell los.“ Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, war der junge Mann auch schon aus der Wohnung gestürmt. Natsuki wusste, dass Keichi ein guter Freund von ihm war. Die beiden kannten sich schon seit der Mittelschule und belegten denselben Studiengang. Man sah sie oft hier in der Nähe herumstreunen oder vor dem Orleans herumlungern. Aber wer zur Hölle war diese Sakura? War das wohl seine Freundin oder so? Elender Heuchler. Wenn er eine Freundin hatte, warum machte er sich dann immer an Natsuki ran? Der flirtete wohl mit jedem weiblichen Wesen, das nicht bei drei auf einem Baum war. Ekelhaft, so etwas. Natsuki schüttelte energisch den Kopf. Was regte sie sich so auf? Das ging sie doch eigentlich gar nichts an. Sollte dieser Nichtsnutz von Shinji doch machen, was er wollte! Eine Welle der Erleichterung überkam das Mädchen, als sie und ihre Eltern wenig später wieder zu ihrer eigenen Wohnung hinübergingen, natürlich nachdem sie Miyako geholfen hatten, die Küche aufzuräumen. Die Fünfzehnjährige fühlte sich meistens unwohl im feindlichen Gebiet, womit das Appartement der Minazukis gemeint war. Selbst wenn dieser Trottel von Shinji nicht anwesend war, hing doch sein Schatten über der Wohnung. Vielleicht lag das aber auch daran, dass Miyako an allen Wänden, auf Kommoden, Tischen und Schränken Bilder von der Familie und ihrem geliebten Sohn aufgehängt hatte. Bilder von Shinji als Neugeborenes, Bilder von Shinji als Kind, Bilder von Shinji mit Freunden, Bilder von Shinji beim Basketball-Spielen, Bilder von Shinji bei Kindergeburtstagen und noch viele, viele mehr. Für Natsuki war es beinahe unerträglich, überall, wo sie auch hinblickte, Shinjis arrogantes Grinsen sehen zu müssen. War das dem jungen Mann denn überhaupt nicht peinlich? Die Fünfzehnjährige gelobte sich selbst jedes Mal, wenn sie wieder in der Wohnung der Minazukis gewesen war, dass sie, wenn sie einmal Mutter werden würde, die Wände nicht zuzupflastern mit den Bildern ihrer Kinder. Natsuki ließ sich erschöpft auf ihr Bett plumpsen. Jetzt wollte sie sich nur noch ausruhen. Das Mädchen begann, langsam und stetig ein und auszuatmen. Doch die Ruhe und Stille, die im Zimmer der Fünfzehnjährigen herrschte, wurde abrupt jäh unterbrochen von Marron, die aufgeregt durch den Türrahmen hereinstürmte. „Natsuki!“, rief sie und fuchtelte mit den Armen wild durch die Luft. „Natsuki, es ist dringend, du musst mir helfen!“ Das Mädchen blinzelte und richtete sich auf. „Mom“, stöhnte sie genervt. „Was ist denn jetzt schon wieder? Ich bin echt müde!“ Die Mutter ließ sich von dem leicht säuerlichen Ton ihrer Tochter nicht beirren und fuhr fort, ohne Luft zu holen. „Du musst dich beeilen, Natsuki! Ich muss deinem Vater dringend ein Bento machen, weil er heute im Krankenhaus Nachtschicht hat, und mir ist der Reis ausgegangen. Aber ich kann nicht weg, weil ich noch andere Sachen auf dem Herd stehen habe. Kannst du dich bitte beeilen und schnell Reis im Supermarkt holen? Es ist wirklich wichtig! Mir bleibt nicht mehr viel Zeit!“ Natsuki stand auf und zuckte mit den Schultern. „Schätze, das kann ich machen“, murmelte sie. „Gut“, Marron drückte dem Mädchen einen Geldbeutel in die Hand. „Nimm dir eine Jacke mit, es soll heute Abend regnen. „Mach ich“, bestätigte die Fünfzehnjähre, ging aus dem Zimmer, schlüpfte in ihre Schuhe und zog den Regenmantel vom Kleiderhaken. Dann öffnete Natsuki die Wohnungstüre und trat auf hinaus auf den Korridor. Als das Mädchen die Vorhalle des Orleans verlies, bemerkte sie, dass es draußen schon dunkel geworden war. Eine Straßenlaterne beleuchtete den Gehweg mit ihrem milchigen Licht, und nur ab und zu hörte man den röhrenden Lärm eines vor dem großen Wohnblock vorbeifahrenden Autos, der schließlich in der Ferne wieder erstarb. Natsuki überlegte, ob sie einen Bus nehmen sollte, entschied sich dann aber doch für den Fußweg, da der große Supermarkt nur einen Marsch von zehn Minuten entfernt war, der nächste Bus in diesen Stadtteil fuhr aber erst in einer Viertelstunde. Die Fünfzehnjährige seufzte und beschleunigte ihre Schritte. Sie musste sich beeilen, wenn ihr Vater sein Bento noch rechtzeitig bekommen sollte. Schließlich stand das Mädchen direkt vor dem großen Einkaufscenter, das Einzige in der Innenstadt Momokuris, dass um diese Uhrzeit noch offen hatte. Natsuki warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war schon zehn nach zehn! Jetzt sollte sie sich besser sputen. Schnell war der dringend benötigte Reis eingekauft und die Fünfzehnjährige verließ den großen Supermarkt wieder. Zu ihrem Pech hatte es zu regnen begonnen, und das Mädchen stöhnte aus Frust. Da war es doch gut gewesen, dass sie ihren Regenmantel mitgenommen. Natsuki zog eilig das schützende Plastik über und bedeckte mit der Kapuze ihr grasgrünes Haar. Katari verschränkte die Arme und verzog das hübsche Gesicht zu einer hässlichen, wütenden Grimasse. Wie jeder Dämon, Kreaturen geboren aus den Tiefen der Hölle, hasste er es mehr als alles andere, wenn er etwas nicht bekommen sollte, nach dem er verlangte. Und im Moment verlangte er nach Rache, oh ja, sein schwarzes Herz triefte, es schrie geradezu nach Rache. Die Hände des Körpers, die der finstere Geist besetzt hielt, ballten sich zu Fäusten. Es war ihm egal, was Kowage oder Itasa einzuwenden hatten. Sie waren doch nur schwach, fast so schwach wie diese armseligen Menschen, deren Leid er genüsslich aufzusaugen pflegte. Katari fürchtete sich nicht vor dieser verdammten Göre. Und selbst wenn die die Königin der Schatten sein sollte... das konnte ihm doch egal sein! Der Meister war tot, gebannt auf alle Zeit von diesem elenden Weibsstück von ihrer Mutter. Er würde ihn von keiner seiner Taten abhalten oder ihn bestrafen können. Nun bogen sich die Mundwinkel des rothaarigen Jungen nach oben zu einem bösartigen, doch freudvollem Grinsen. Er hatte sich schon einen guten Plan ausgedacht, wie er seine Rache ausüben wollte. Ja, wahrlich, ein sehr guter Plan. Wie sehr er sich doch danach sehnte, ihn auszuführen... Nun musste Natsuki sich aber wirklich beeilen. Sie musste ihrer Mutter die Zutaten für das Bento liefern, noch bevor die Nachtschicht ihres Vaters begann. Und Marron, wenn sie auch keine schlechte Köchin war, brauchte etwas Zeit, um es zuzubereiten. Würde sie rechtzeitig kommen? Das Mädchen hoffte es, sonst würde Chiaki seine ganze Schicht lang ohne etwas zu Essen auskommen müssen. Auf einmal begann ein starker Wind, der Fünfzehnjährigen entgegenzuwehen. Das Heulen des Sturms wurde immer lauter und die Blitze zuckten wild und wütend am Himmel, als wollten sie alle Häuser der Stadt in ihrem grellen Licht absorbieren. Der Donner rollte tief und bedrohlich, und der Regen prasselte nun erbarmungslos auf die Erde, um diese und alle darauf lebenden Wesen zu ertränken. Dann flackerte etwas Weißes vor Natsukis Augen auf, und sie hob einen Arm, um ein kleines Blatt Papier aus der Luft zu schnappen, dass die Böen ihr zugetragen hatten. Das Mädchen faltete den kleinen Zettel vorsichtig auseinander und nieste, während sie die krakelige Handschrift zu entziffern versuchte. Auf dem weißen Papierchen stand etwa Folgendes: An Nagoya, Natsuki, das Mädchen mit grasgrünem Haar, Tochter von Nagoya, Chiaki und Nagoya, Marron ehemals Kusakabe: Wenn du das Leben des echten Ren-kun retten willst, dann komm sofort zur Momokuri-Kunstgalerie in der Innenstadt, nahe dem Rathausplatz. Andernfalls könnten schlimme Dinge passieren. Ich weiß, wo du wohnst, kenne außerdem die Adresse all deiner Freunde und Verwandten. Mache daher besser keine Fehler, also: Keine Polizei! Gezeichnet, Ren oder Katari, der Betrug Mit vor Überraschung und Furcht weit geöffneten Augen faltete Natsuki den Brief wieder zusammen. Ihre Lippen bebten vor Aufregung. Das war ein Erpresserbrief! Wie in einem schlechten Krimi. Ob es wohl nur ein böser Scherz war? Das Mädchen kniff die Lider zusammen und blickte sich nach allen Seiten um, um vielleicht eine Sicht auf den erhaschen zu können, der den Zettel fallengelassen haben könnte. Doch in dem schweren Sturm mehr als nur einen Meter weit zu sehen war beinahe unmöglich. Was sollte Natsuki nur tun? Wenn es ein Erpresserbrief war, dann musste dort doch auch stehen, was der Erpresser verlangte, oder? Und außerdem besaß die Fünfzehnjährige ja nicht so viele wertvolle Dinge, mal von ihrem Laptop und ihrem Fahrrad abgesehen. Sie war doch nur ein Schulmädchen! Das Mädchen überflog die Notiz noch einmal und seufzte. Was das wohl bedeuten sollte, das „Leben des echten Ren-kun“ zu retten? Gab es denn zwei? Hatte er einen Zwillingsbruder? Wieso hatte der Erpresser dann mit dem Namen Ren-kuns unterschrieben? Und vor allem: Wer war Katari, der Betrug? Natsuki kannte niemanden mit diesem Namen. Vielleicht war das wirklich nur ein Dumme-Jungen-Streich, um die Fünfzehnjährige einmal gehörig zu erschrecken. Aber andernfalls... dort stand, dass der Absender die Adressen ihrer Freunde und Verwandten kannte. Wenn er mit „Schlimmen Dingen“ drohte, was konnte der Erpresser damit meinen? Das Mädchen wusste, dass die Momokuri-Galerie für moderne Kunst ein der Innenstadt um diese Zeit längst geschlossen haben sollte. Daher entschied sie sich, dem Ort vorsichtshalber einen Sicherheitsbesuch abzustatten. Nur für alle Fälle. Wenn es sich als ein gemeiner Scherz herausstellte, dann würde Natsuki ein Stein vom Herzen fallen. Wenn nicht... Natsuki streckte den Arm aus und brach ein langes Stück Holz von einem Ast ab, der über eine graue Gartenmauer ragte... dann war sie vorbereitet. Das Gewitter hatte sich gelegt, als Natsuki vor dem Gebäude der Momokuri-Galerie für Moderne Kunst stand. Trotzdem spürte das Mädchen, wie ein leichter Nieselregen immer noch auf ihre Kapuze und den Regenmantel prasselte. Ein unbehagliches Gefühl überkam sie, wenn die Fünfzehnjährige die dunkle Fassade des großen Hauses näher betrachtete. Sie hatte das Gebäude schon bei Tageslicht nicht sehr ansehlich gefunden, aber nun, in dieser Finsternis... da lief Natsuki buchstäblich ein Schauer über den Rücken. Ein leichter Wind kam auf, und die Pforten des Hauses öffneten sich einen Spalt, sodass ein schummeriges Licht aus dem Gebäudeinneren drang. Ein schiefes Grinsen schlich sich auf die Wange des Mädchens. Das hier war wie in einem schlechten Horrorfilm. Zögerlich, doch trotzdem mit festem Schritt, trat sie näher heran und schob die schweren Tore ein wenig weiter auf, um durch den kleinen, geöffneten Schlitz hindurchschlüpfen zu können. Manch einer mag Natsuki wohl als mutig bezeichnen, dass sie einfach das Haus betrat, ein anderer hält sie vielleicht für waghalsig... doch das, was die Fünfzehnjährige tatsächlich antrieb, war schlicht und einfach ihre Neugier. Sie musste einfach wissen, was sie erwartete. War es eine geheime Party? Oder ein schlechter Witz? Vielleicht auch etwas mit versteckter Kamera. Und, für den Notfall hatte sie schließlich den Stock. Das Mädchen schüttelte den Kopf darüber, dass sie bis eben ein mulmiges Gefühl gehabt hatte. Was sollte schon passieren? Sie hatte den zweiten Dan im Kendo! Als sich Natsuki innerhalb der Eingangshalle befand, fielen die großen Pforten mit einem leisen Knarzen ins Schloss. Das schummerige Licht kam von einer Laterne, die auf dem Empfangsschalter stand. Der ganze Saal schien menschenleer. Vielleicht drehten sie hier auch einen Fantasy-Film oder so. Man konnte ja nie wissen. Das Mädchen stellte die Einkaufstüte mit dem Reis aus dem Supermarkt ab. Dann ging sie zur Rezeption. Neben der Laterne befand sich eine kleine Klingel, die man läuten sollte, wenn der Arbeiter, der sich normalerweise am Empfang befinden sollte, einen Moment abwesend war. Natsuki wollte die Hand ausstecken und sie betätigen. Vielleicht würde gleich ein Mitarbeiter kommen und sie einweisen, obwohl die Fünfzehnjährige es merkwürdig fand, dass hier jetzt noch offen war. Zu dumm, dass sie die Öffnungszeiten auf dem Schild neben dem Eingangstor nicht beachtet hatte. Vielleicht war aber auch nur der Nachtwächter anwesend, was die menschenleere Halle erklären würde. Doch wieso waren dann die Pforten geöffnet? Langsam ging dem Mädchen ein Licht auf. Konnte es sein, dass... dies alles ein verrückter Werbegag war, um mehr Besucher herzulocken? Als Natsukis Fingerspitzen die kleine Klingel berührten, durchfuhr sie ein kalter Schauer. Irgendetwas war hier nicht in Ordnung, und dass sie nicht wusste, was, bereitete der Grünhaarigen ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. Die Fünfzehnjährige lehnte sich über die Rezeption und erstarrte vor Überraschung und Schock. Hinter dem Tresen lag jemand auf dem Boden... ohnmächtig. Hastig stürzte das Mädchen um die lange, hohe Ablage herum und kniete sich neben die Person, die sich nicht rührte. „Oh mein Gott“, hauchte Natsuki und versuchte, sich daran zu erinnern, welche Erste Hilfe man leisten musste, wenn jemand reglos auf dem Boden lag. Erst einmal den Puls fühlen, dachte sie, denn es konnte ja sein... das dies eine Leiche war. Die Fünfzehnjährige schauderte. Nachdem sie erkannt hatte, dass der Mensch vor ihr noch lebte, atmete das Mädchen erleichtert auf. Was hätte sie getan, wenn sie in einen Mordfall verwickelt worden wäre? Während sie noch ratlos einen Moment lang überlegte, was nun weiter zu tun war, traf Natsuki die Erkenntnis ganz plötzlich wie ein Schlag. Der Ohnmächtige vor ihr, das war... Ren-kun!!! Natsuki starrte Ren-kun mit offenem Mund an, doch der rothaarige Junge rührte sich immer noch nicht. Hatte der Zettel etwas damit zu tun gehabt? Immerhin hatte dort doch etwas von einem ‚echten Ren-kun‘ gestanden, oder? Was um aller Welt war hier nur los? Träumte die Fünfzehnjährige mal wieder? Sie befand sich hier in einem Krimi-Roman! Auf einmal spürte das Mädchen, dass sich etwas hinter ihr befand. Es war eine seltsame Präsenz, die die kleinen Härchen in Natsukis Nacken sich sträuben ließen. Langsam drehte die Grünhaarige sich um. Es war buchstäblich ein Schatten, dessen rote Augen die Fünfzehnjährige anstarrten, sie beinahe durchbohrten. Sie wusste, dass Schatten eigentlich keine Augen haben durften, doch sie schob es auf ihre eigene Einbildung und Träumerei und rieb sich sorgfältig die eigenen Augen. Als die brennend roten Kreise danach immer noch da waren, richtete sich das Mädchen langsam auf und umklammerte fest den Stock, den sie sich zur Verteidigung abgebrochen hatte. Einen Moment lang war alles mucksmäuschenstill. Natsuki hielt den Atem an, nicht ein Staubkorn innerhalb der riesigen Halle regte sich. Dann schoss der Schatten ohne jegliche Vorwarnung direkt nach vorne und versuchte, sich auf die Fünfzehnjährige zu stürzen. Sie keuchte und sprang zur Seite und stellte erschrocken fest, dass es kein Schatten war, der sie angesprungen war. Es war ein riesiges, rabenschwarz gefiedertes Wesen, dessen einzige Farbkleckse die roten Augen waren. Es hatte aufrechten Gang und an Händen und Füßen befanden sich lange, scharfe Krallen, die jedes Licht, das von der kleinen, milchigen Laterne hinüber schien, absorbierten. Was dem Mädchen ebenso sehr auffiel waren die langen, entsetzend spitzen Fangzähen, von denen jeder dicker war als ihr Oberschenkel. Was war dies für eine Kreatur? Natsuki blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, da das Wesen abermals auf sie zukam. Blitzschnell entschied sie sich, nach links zu rollen um hinter einem großen Zierbaum, der in der Eingangshalle stand, Schutz zu suchen. Doch der Schatten kam schnell hinterher und riss den Stamm der Pflanze mit seinen Krallen in der Mitte entzwei, sodass das Holz nur so splitterte und die Fünfzehnjährige zurückgeworfen wurde. Das Mädchen schnappte heftig nach Luft und rang, um Atem zu fassen. Das konnte doch alles nur ein schlimmer Traum sein, oder? Das konnte nicht real sein! Es war alles nicht echt! Die Albtraum-Kreatur wollte Natsuki keine Verschnaufpause gönnen und wetzte ihre Klauen, um eine Sekunde später zu versuchen, mit den dolchartigen Vorderläufen auf die Grünhaarige einzustechen. Mutig schwang die Fünfzehnjährige ihren Stock, durch den die Krallen des Wesens jedoch hindurch schnitten wie durch Butter. Panisch wich das Mädchen zurück, und der Vorderfuß des Schattens zersplitterte stattdessen das Glasfenster, vor dem sie einen Augenblick zuvor noch gestanden hatte. Natsuki schrie entsetzt auf. Die Scherben flogen wild umher und einige streiften sie, schnitten ihr ins Fleisch. Durch das nun offene Fenster heulte der Wind und der Regen sprühte in feinen Tropfen hinein, um die Haut und die Kleidung der Fünfzehnjährigen wie sanfter Nebel zu benetzen. Erst jetzt bemerkte das Mädchen, dass ihr Regenmantel nur noch in Fetzen an ihrem Oberkörper herunterhing. Hatte das die Kreatur mit ihren scharfen, messerartigen Pfoten zu verschulden? Das Wesen aus dem Albtraum schien für ein paar Momente lang Kraft zu sammeln. Dann drückte es sich wieder mit seinen Hinterfüßen vom Boden ab und sprang mit einem mächtigen Satz auf Natsuki zu, die langen Krallen ausgestreckt, um die Kehle der Grünhaarigen zu durchbohren. Die Fünfzehnjährige sah sich verzweifelt nach einer Möglichkeit um, auszuweichen. Doch es war unmöglich, ihr war jeder erdenkliche Fluchtweg durch die Fänge des Schattens abgeschnitten. Sollte das ihr Ende sein? Das Mädchen schüttelte den Kopf. Es gab immer noch die Option, jetzt ganz fest die Augen zu schließen und darauf zu hoffen, dass dies alles nur ein böser Traum war, aus dem sie jeden Moment wieder erwachen würde, wenn sie sich nur fest genug konzentrierte. Also presste Natsuki ihre beiden Augenlider fest zusammen, sodass ein Flimmern in ihrem Sichtfeld entstand. Bitte wach auf, dachte sie und ballte die Hände zu Fäusten, wach bitte auf. Als die Fünfzehnjährige langsam wieder wagte, aufzuschauen, war sie auf einmal von einem grellen Licht umgeben. Verwundert blickte sie um sich, denn sie hatte das Gefühl, dies schon einmal erlebt zu haben. Ein Déjà-vu? Das Mädchen versuchte, den Boden unter ihren Füßen wieder zu spüren, doch unter ihr befand sich gähnende Leere. War dies also doch ein Traum? Oder war es Wirklichkeit? Auf einmal erkannte Natsuki den Grund, warum ihr das alles so bekannt vorkam. Sie hatte dies schon einmal geträumt! Sie trug genau die gleiche, merkwürdige Rüstung wie in dem Traum, den sie vergangenen Montag gehabt hatte. Ihre Haare waren auch wieder viel länger geworden und mit zwei roten Schleifen zusammengebunden. Und... sie hatte wieder diese seltsamen, weißen Flügel! Das grelle Licht, von dem die Fünfzehnjährige umgeben war, verblasste nun nach und nach, und sie fand sich in der Eingangshalle wieder, in dem sie eben von dem geheimnisvollen Monster attackiert worden war. Doch, wie das Mädchen feststellte, war sie scheinbar noch am Leben. Oder nicht? Vielleicht war sie ja doch gestorben und trug deshalb jetzt diese Flügel. Unsicher kniete Natsuki auf den Boden und vergrub das Gesicht in den Händen. Was sollten ihre Eltern wohl denken, wenn sie erfuhren, dass ihre Tochter tot war? Und Aoko und ihre Großeltern und all ihre Freunde? Es war doch viel zu früh, oder nicht? Sie hatte alt werden wollen. Du bist nicht tot. Die Fünfzehnjährige schreckte hoch. Hatte sie sich die Stimme nur eingebildet? Sie war nur sehr leise gewesen, trotzdem durchdrang sie die Ohren des Mädchens wie ein gewaltiges Echo. Steh auf und kämpfe. Da Natsuki im Moment endlos verwirrt war, entschloss sie sich, der merkwürdigen Stimme einfach mal zu gehorchen. Viel verrückter konnte der Traum ja nicht mehr werden, oder? Und falls es kein Traum war, was die Fünfzehnjährige nicht hoffte, dann war Kämpfen wohl wirklich die einzige Option. Doch was sollte sie tun. Was konnte das Mädchen gegen so ein Schattenmonster nur ausrichten? Natsuki bekam keine Zeit mehr zum nachdenken, da die Kreatur, die sie einen Moment lang überrascht angestarrt hatte, sich nun wieder fasste und abermals angriff. Die Fünfzehnjährige sprang wieder zur Seite, bis sie entsetzt bemerkte, dass sie mit den merkwürdigen Engels-Flügeln, die ihr vorhin einfach so gewachsen waren, tatsächlich fliegen konnte. Und dann spürte das Mädchen es. Da war auf einmal dieses Gefühl. Dieses sonderbare, drückende Gefühl, dass sie immer hatte, nachdem sie einen Bildertraum gehabt hatte. Dieses Gefühl, dass sie dazu drängte, ihren Traum zu Papier zu bringen. Aber, wenn sie dieses Gefühl jetzt hatte, musste das doch heißen, dass sie... wach war! Während sie wieder sanft mit den Füßen auf dem Boden aufsetzte, stürzte Natsuki zum Tresen des Empfangs hinüber, wo Ren-kun immer noch lag und sich nicht rührte. Dort würde sie bestimmt Papier und Stifte finden. Hastig riss sie alle Schubladen auf und suchte nach irgendwelchen Schreibmaterialien. Egal welche, doch das Mädchen musste unbedingt dieses Bedürfnis, zu zeichnen, befriedigen. Sie wusste nicht, warum, doch die Fünfzehnjährige hatte das Gefühl, dass dies die Lösung war, um das Schattenmonster zu vertreiben. Besagte Kreatur kam Natsuki nun immer näher, obwohl sie mit ihren Flügeln einen kleinen Vorsprung gewonnen hatte. Eilig zog das Mädchen ein bedrucktes Blatt Papier aus irgendeiner Mappe, dessen Rückseite jedoch noch weiß war. Vom Boden einer kleinen Box fischte sie einen Kugelschreiber. Das Schattenwesen war nun nur noch ein paar Meter von ihr entfernt. Konzentration, dachte die Fünfzehnjährige bei sich. Wenn sie jetzt in Panik verfiel, wäre das verhängnisvoll. Natsuki musste Ruhe bewahren. Sie schloss die Augen und sah prompt ein Bild vor sich. Es flackerte nur eine Sekunde lang auf, doch das reichte dem Mädchen, um zu erkennen, was sie zeichnen musste. Der Betrug. Das Bild des Betrugs. Katari. Die Fünfzehnjährige umklammerte den Kugelschreiber und fuhr ihn ein wenig zitternd, doch ruhig über das Papier. Die Albtraum-Kreatur war nun nur noch einen oder zwei Meter entfernt. Linien entstanden auf der weißen Oberfläche. Immer näher kam das Wesen, die messerscharfen, ausgestreckten Krallen berührten Natsuki schon fast. Noch ein letzter Strich. Gerade in dem Moment, als das Mädchen befürchtete, von dem Schatten aufgeschlitzt zu werden, beendete sie ihre Zeichnung, die darauf zu leuchten begann. Das Licht schien die böse Kreatur zu umschließen und zu läutern, und eine Sekunde später war das Albtraum-Wesen verschwunden. Dort, wo es einen Moment zuvor noch gestanden hatte, befand sich nun nur noch ein wenig Rauch, der langsam verblasste. Meine ...Rache. Eine böse, doch erstickt klingende Stimme hatte gesprochen, von der Natsuki sich sicher war, dass sie aus dem Inneren der Zeichnung kam, die sie immer noch fest umklammert hielt. Erst jetzt sank das Mädchen entkräftet auf den Boden. Das hier konnte doch alles nicht wahr sein, oder? Sie hatte einen merkwürdigen Zettel bekommen. Ein Monster hatte sie angegriffen. Ihr waren Flügel gewachsen. Das Monster war von einer Zeichnung, die ihr plötzlich in den Sinn gekommen war, aufgesogen worden. Ren-kun lag ohnmächtig hinter dem Tresen. Was für eine verrückte Zeit. Vor einer Woche war alles noch ganz normal gewesen, dann waren Natsukis Träume immer merkwürdiger geworden, dazu dieser seltsame Besucher letzte Woche und nun ...das? Die Fünfzehnjährige schüttelte den Kopf und hielt sich die Stirn mit den Händen. Was passierte nur mit ihrer heilen Welt? „Shirotenshi“, hörte sie auf einmal eine Stimme. Die Stimme klang leicht und sanft und nicht boshaft wie die, die aus dem Inneren der Zeichnung gerufen hatte. Es war dieselbe Stimme, die sie vorhin schon aufgefordert hatte, zu kämpfen. Natsuki blickte sich um. Dann entdeckte sie etwas, dass sie niemals erwartet hätte. Ein winziger Junge mit zerzaustem, blonden Haar und weißen Flügeln flatterte vor ihrem Gesicht. Auf seiner Stirn befand sich ein fröhlich glitzernder, rot leuchtender Kristall. Die Ohren liefen seltsam spitz an, ähnlich wie die des Mädchens selbst im Moment, und seine Pupillen waren schmale Striche, wie die einer Katze. „Hallo“, sagte der Junge. Er hatte also gesprochen. „Uhm, hi“, entgegnete Natsuki verwirrt. „Äh... bist du eine Fee?“ Der Fremde lachte heiter. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich bin das Gleiche wie du im Moment. Ich bin ein Engel.“ Das Mädchen blickte ihn ungläubig an. „Aber das... aber warum-“ Sie konnte ihren Satz nicht ausformulieren, denn der Engel unterbrach sie: „Ich verstehe, dass du jetzt viele Fragen hast. Ich habe aber nicht die Zeit, sie dir alle zu beantworten. Ich versuche, mich kurz zu fassen, in Ordnung?“ Die Fünfzehnjährige konnte nur nicken. Im Moment herrschte in ihrem Kopf ein heilloses Durcheinander. „Ok, ich sollte mich zuerst einmal vorstellen“, überlegte der winzige Junge. „Mein Name lautet Zen, aber das tut nicht zur Sache. Ich habe den Auftrag bekommen, dir einiges zu erklären. Du hast in den letzten Tagen bestimmt viel Aufregendes erlebt, nicht wahr?“ „Ja!“, entgegnete Natsuki. „Nun gut, wo soll ich anfangen?“, Zen sprach mehr mit sich selbst. Dann begann er: „Das Schattenwesen, das du bekämpft hast, das war ein Dämon. Dieser Dämon hatte sich in Ren-kuns Seele eingenistet und ihn dazu gebracht, böse Dinge zu tun, wie Mädchen das Herz zu brechen.“ Erschrocken blickte die Fünfzehnjährige ihn an. Das war unglaublich! Ren-kun hatte das alles nur getan, weil ein Dämon ihn kontrolliert hatte? Die ganzen Mädchen, mit denen er sich getroffen hatte, auch Natsuki selbst... das war nicht wirklich Ren-kun gewesen? „Vor einigen Jahren sah es einmal so aus als hätten wir über diese Kreaturen gesiegt“, erklärte Zen weiter, ohne von dem Gefühlschaos, in dessen Mitte die Fünfzehnjährige sich gerade befand, Notiz zu nehmen. „Damals haben wir es geschafft, den Meister der Dämonen, Satan selbst, zu für immer zu bannen. Doch seine Diener streifen noch immer auf der Erde umher und treiben ihr Unwesen. Bis wir nicht jeden einzelnen von ihnen eingefangen haben, ist die Welt noch nicht vollständig vom Einfluss des Teufels befreit.“ Der Engel machte eine kurze Pause und blickte dann Natsuki an. „Und hier kommst du ins Spiel. Du wurdest mit einer enorm mächtigen, göttlichen Kraft geboren, die den Dämonen ebenbürtig ist. Du musst sie alle finden, bevor sie dich finden. Du musst dich in Shirotenshi verwandeln und auf die Jagd gehen.“ Das Mädchen runzelte die Stirn an. Ok, das hörte sich nun verrückt an. Wie in einem Magical Girl- Manga oder so ähnlich. Sie konnte sich unmöglich verwandeln und auf Dämonenjagd gehen, oder? Zen deutete nun auf Natsukis Halskette mit dem geflügelten Anhänger, in dessen Mitte ein Herz eingraviert war. „Immer, wenn diese Kette mit Wasser in Berührung kommt, verwandelst du dich“, meinte der kleine Engel nun. Nun, das erklärte einiges. Zuerst war da dieser Vorfall mit dem Bad gewesen, von dem Natsuki angenommen hatte, dass es ein Traum gewesen war. Dann hatte sie sich doch vorhin auch in genau dem Moment verwandelt, in dem ihr Mantel zerrissen war und durch das zerbrochene Fenster Regen herein gesprüht war. Oder? Das Mädchen wollte noch so viel mehr wissen. Erst jetzt spürte sie, wie viele Fragen ihr überhaupt im Kopf herum gespukt waren. Je mehr sie von Zen erklärt bekam, desto dringender wurde das Bedürfnis nach Antworten. „Du kannst dich nur nachts verwandeln“, fuhr der blonde Engel fort. „Bleib stark, Kamikaze.“ Mit diesen Worten erhob sich Zen hoch in die Luft und es sah so aus, als ob er schon davonfliegen wollte. Verdutzt starrte Natsuki ihm nach. Bleib stark? Das war alles? Und sie sollte nun ganz alleine Dämonen bekämpfen, obwohl sie nicht mal so richtig verstand, wie sie den Dämon vorhin überhaupt besiegt hatte? „Warte!“, rief das Mädchen, befürchtete aber, dass der Engel sie schon nicht mehr hören konnte. Zu ihrer Überraschung hielt er inne und kam dann noch einmal auf die Fünfzehnjährige zu. „Ich habe noch eine Frage“, meinte Natsuki. Gut, ihr brannten noch massenhaft Fragen auf der Zunge, doch sie hatte das Gefühl, dass dies der richtige Zeitpunkt war, um eine ganz bestimmte Frage zu stellen. „Wer ist Fynn?“ Zen lächelte. „Schön, dass du dich noch an den Namen erinnerst. Es ist dein eigener.“ Das Mädchen blickte den Engel an als hätte er chinesisch gesprochen. „Ich... ich bin Fynn?“ Der blonde Junge nickte. „Dies ist dein Seelenname. So wie mein Seelenname Zen lautet. Behüte ihn gut...“ Dann verblassten die winzigen Umrisse Zens zu einem kleinen Licht und er war verschwunden. Natsuki wusste nicht ganz sicher, ob sie sich den Engel nicht doch nur eingebildet hatte. „Ich bin Fynn“, murmelte sie. Sie verstand noch nicht ganz. Irgendetwas gab es, an das sie sich nicht erinnerte, und von dem sie das Gefühl hatte, dass es sehr wichtig war. Das Mädchen schloss die Augen. Sie musste... ja, sie musste schnell nach Hause und ihrer Mutter den Reis bringen! Es war doch dringend gewesen, nicht wahr? Natsuki blinzelte und blickte auf ihre Armbanduhr. Es war schon nach elf! Sie hatte sich soeben unbewusst zurück in Natsuki verwandelt. Sie war nicht mehr Shirotenshi, wie Zen gesagt hatte. War alles nur Einbildung gewesen? Kamikaze. Die Fünfzehnjährige schüttelte den Kopf. Nein. Sie hatte sich den Engel nicht eingebildet, ebenso wenig wie sie sich den Dämon eingebildet hatte. Es war kein Traum gewesen. Verrückt. Schnell zog das Mädchen ihr Handy aus der Tasche. Sie wählte die Notruf-Nummer und gab die Adresse der Kunstgalerie an. Jemand musste sich schließlich um den armen Ren-kun kümmern, der immer noch ohnmächtig war. Nein, Natsuki hatte ihm noch nicht verziehen. Aber sie verstand nun. Vielleicht ergab sich in Zukunft noch einmal eine Gelegenheit, um sich auszusprechen. Hoffentlich. Dann nahm die Fünfzehnjährige ihre Einkaufstüte und verließ das Gebäude, noch bevor der Rettungswagen angekommen war. Sie musste dringend nach Hause. Die sollten alleine klarkommen mit Ren-kun. Was Natsuki die ganze Zeit nicht bemerkt hatte war, dass das große Gemälde, das in der Eingangshalle der Galerie in einer Vitrine aufgestellt gewesen war, nun fehlte. ~~~~~~~~~~ Info: Demnächst wird kein Kapitel folgen, das die Hauptgeschichte weitererzählt. Zuerst kommt ein Spezial, in dem Shinji im Mittelpunkt steht. Dieses Spezial enthält Spoiler zum siebten Band des "Jeanne"-Mangas. Wenn ihr den siebten Band des Mangas noch nicht gelesen habt, würde ich euch empfehlen, das Spezial erst zu lesen, wenn "Yoru no tenshi" Kapitel 16 hochgeladen wird. Das Spezial wird am 14.11.2011 folgen. Auf Wiedersehen und bis bald =) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)