Death is just another chapter. von MotherWar (So let's rip out the pages of yesterday.) ================================================================================ Kapitel 1: Death is only a horizon. ----------------------------------- Das harsche Schließen der Haustür schallte durch die leeren Flure bis hinauf in mein Zimmer und schreckte mich aus meinem Schlaf, als es an meine Ohren drang. Irritiert kniff ich die Augen zusammen und knurrte leise. Gerade als ich dabei war mich erneut auf die Tiefschlafphase einzustellen, machte sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend breit. Ungut, und nur allzu vertraut. Ruckartig riss ich die Augen auf und ließ meinen Blick zu dem Analogwecker auf meinem Nachttisch schnellen. „Shit.“, presste ich mit schlaftrunkener Stimme zwischen meinen Zähnen hervor und kämpfte mich aus meiner Bettdecke frei, um mit panischen Schritten ins Badezimmer zu taumeln. Als ich meine Blase entleert und mich mit ein einer Handvoll kalten Wassers halbwegs wach gerüttelt hatte, rauschte ich durch mein Zimmer, auf meinem Weg Schulzeug in meine Tasche werfend und auf der Suche nach frischen Klamotten. Gerade als ich meinen Schrank nach einem halbwegs ansehnlichen T-shirt, das nicht seit zwei Wochen in dem geordneten Chaos meines Zimmers dahin gammelte, suchte, spürte ich eine kalte Brise auf meinem nackten Oberkörper und fröstelte. Verwundert suchte ich nach der Quelle des fröstelnden Durchzugs und bemerkte mein sperrangelweit geöffnetes Fenster. „Was zum..?“ Verwundert schloss ich es und starrte es irritiert an. Ich schlief nie mit geöffnetem Fenster, meine Gesundheit war dafür schon angeschlagen genug. Wahrscheinlich hatte meine Mum es geöffnet, nachdem sie spät von ihrer Arbeit als Stewardess gekommen war und den Mief meines lang nicht geputzten, geschweige denn aufgeräumten, Zimmers bemerkt hatte. Achselzuckend wand ich mich von dem Fenster ab und beschloss diese Angelegenheit in meinen Hinterkopf zu rücken und mich lieber darauf zu konzentrieren nicht allzu spät zur Schule zu kommen. Dienstags hatten wir die ersten beiden Stunden Mathe und Gott allein wusste, warum Jemand Mutes genug war Herrn Johnson Teenager unterrichten, nein, auf sie los zu lassen. Der Mann hatte den sanftmütigen Charakter einer Bulldogge und die Methoden eines Gefängniswärters. Unter seiner Fittiche wurden selbst die großschnauzigsten Muskelprotze zu glubschäugigen Chihuahuas. Ich fröstelte erneut, doch diesmal nicht von der Kälte. Ich zog mir ein schwarzes T-shirt meiner Lieblingsband Iron Maiden über und schlüpfte in eine Röhrenjeans, bevor ich meine Schultasche über die Schulter warf und die Treppen hinunter in die Küche stürmte. Mit der Absicht mir hastig einen Munterwacher zum Mitnehmen zu machen schaltete ich die Kaffeemaschine ein und stopfte mir ein paar Kekse in den Mund, die meine Mutter auf der Theke abgestellt hatte. So wie sie schmeckten scheinbar schon vor ein paar Tagen, ohne das ich sie bemerkt hatte. In der Woche verbrachte ich tagsüber kaum Zeit bei mir Zuhause, meistens lungerte ich bei meinem besten Freund Ray herum und wir spielten Left For Dead bis in die Nachtstunden und ernährten uns von geliefertem Junkfood. Unnötig zu erwähnen, dass darunter auch meine Schulnoten litten. Nicht selten flatterten hübsch verpackte Ermahnungszettel meiner Schule in den Briefkasten, da meine Mutter jedoch kaum daheim war, war es ein Leichtes diese verschwinden zu lassen, bevor sie sie in die Finger bekam. Als ich das frisch gebrühte, schwarze Gebräu in eine Thermoskanne füllte bemerkte ich einen blauen Zettel, der mit einem gelben Entenmagneten an den Kühlschrank geheftet war. Vorsichtig schüttete ich Milch in die Thermoskanne nach, als ich den Zettel in die Hand nahm und rasch überflog. Leise stöhnte ich und knüllte den Zettel zusammen, um ihn daraufhin achtlos hinter mich zu schmeißen. Es war eine Nachricht meiner Mutter, die besagte, dass sie für ein paar Tage auf Geschäftsreise sein würde. Mal wieder. Umso besser, das heißt weniger Rumgejammer und mehr Left For Dead,dachte ich mir mit einem bitteren Gesichtsausdruck, der meine Freude ein wenig überschattete. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal ein Gespräch mit meiner Mutter geführt hatte, das aus mehr als einer Begrüßung und Verabschiedung bestand. Die Thermoskanne in der Hand ging ich in den Flur und zog mir eine Jacke über, zwar war es Frühling, aber das hatte in New Jersey wenig zu bedeuten. Hier schien alles auf ewig trübe und grau zu sein, so auch die frischen Frühlingstage, die die Sonne nur selten hervorlockten. Während ich in meine roten Chucks schlüpfte überprüfte ich kurz mein Aussehen in dem großen Spiegel, der über der Flurkommode hing. Mit raschen Fingern versuchte ich meinen durcheinandergebrachten Halbiro zu glätten, versuchte ihn sogar mit ein wenig Speichel zu bändigen, doch gab es nach einer Weile auf und trat seufzend vor die Haustür. Ich schloss ab, nahm ein Schluck von meinem Kaffee und joggte los. Während ich schnellen Schrittes den Weg zur Schule ging fingerte ich meine Zigarettenschachtel aus meiner Tasche, klopfte eine Zigarette heraus und schob sie mir zwischen die Lippen. Gerade als ich sie anzünden wollte, hörte ich das vertraute, ratternde Geräusch eines Busses hinter mir. Verwundert drehte ich mich um und sah tatsächlich das gelbe Gefährt herannahen. Nicht lange zögernd rannte ich die wenigen Meter zur Bushaltestelle und kam schwer atmend an, als der Bus schnaufend neben mir hielt. Quietschend öffnete sich die Vordertür und ich ging schwer atmend die Treppen hinauf. „Haste aber Glück gehabt, Junge. Gab'n Unfall vorne an der Kreuzung.“ Ich nickte abwesend und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Danke.“, sagte ich, noch immer leise keuchend, ein leichtes Stechen in meinen schwachen Lungen spürend. „Nu' aber rein, sind schon spät genug dran.“, brummte der gealterte, übergewichtige Mann hinter dem Steuer unter seinem Schnurrbart und schloss die Tür hinter mir. Mit wackelnden Schritten bahnte ich mir einen Weg durch die Gänge und musste mich kurz an einem der Sitze abstützen, als der Bus zur Weiterfahrt ansetzte. Als ich mich auf einen der freien Sitze begeben wollte, sah ich eine mir allzu vertraute Haarpracht im hinteren Teil des Busses und kurz darauf ein freches Grinsen, das sich auf dem zu der Mähne gehörenden Gesicht breit machte. Meinerseits mit einem leichten Lächeln auf den Lippen ging ich weiter den Gang hinunter und ließ mich erschöpft neben den Jungen mit der beträchtlichen Frisur fallen. „Morgen, Frankie.“, begrüßte er mich grinsend und hielt mir eine geballte Faust entgegen. Ich berührte sie kurz mit meinen tätowierten Fingerknöcheln und antwortete: „Morgen, Ray-ray.“ Ray verzog sein Gesicht kurz aufgrund des verhassten Kosenamen, aber entspannte sich schnell wieder. „Spät dran, mh?“, fragte er mich, während er nebensächlich eine Zeitschrift über Schlagzeuge durchblätterte. „Yea, ziemlich. Mein Wecker hat nicht geklingelt.“, murmelte ich, während ich meine Tasche auf meinen Schoß verlegte und es mir etwas gemütlicher machte. Während ich an meinem Kaffee nippte, sagte Ray: „Na ja, diesmal hast du echt Schwein gehabt.“ „Hab es schon gehört, Unfall, eh?“ Rays Gesicht leuchtete sofort auf und er begann mir in einem überschwänglichen Tonfall und in den kleinsten Details den Unfall zu beschreiben. Terror, Zerstörung und Gemetzel - die Welt des Ray Toro. Na ja, solang es sich dabei um Videospiele auf seinem Fernseher handelte. Sonst war er eine der nettesten und mitfühlendsten Personen, die ich je kennengelernt hatte. Und der Einzige mit dem man über die Misfits und Horrorfilme diskutieren konnte ohne dämliche Antworten zu bekommen. Während Ray mir über die Positionen der einzelnen Autoteile berichtete schweifte ich ein wenig ab und sah mit einem verträumten Lächeln aus dem Fenster. Nachdenklich betrachtete ich die Menschen, die wie verwischte Farbkleckse an den Fenstern des Busses vorbeizogen. Ein paar kindische auf und ab hüpfende Highschoolmädchen in kurzen Röcken, alternde Männer mit grauen Bärten, Grundschüler, die in Gruppen den neuen Schulweg zusammen liefen... Alle waren sie gleich. Und doch so anders als ich. Schon immer habe ich mich von der Masse abgehoben, schon immer war ich anders als alle, die ich kannte. Nicht, weil ich wollte. Nicht, weil ich rebellieren wollte. Einfach, weil ich es.. war. Es war ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass man nicht zu der tristen Masse der Allgemeinheit gehörte, dass man seine eigenen Gedanken und Gefühle haben konnte. Eine der unerwünschten Nebenwirkungen der Individualität war das Alleinsein. Ich war allein, manchmal mehr, manchmal weniger. Das Gute daran war, dass man sich daran gewöhnte. Irgendwann gewöhnte man sich an die Blicke, das angeekelte Geflüster hinter deinem Rücken, die nassen Papierkugeln in deinen Haaren. Der Hass kam mit dem Anderssein. Ich hatte gelernt ihn zu ignorieren, ihn wie einen unerwünschten Mitesser zu ignorieren, bis er irgendwann vorbei ging, verheilte. Ich seufzte leise und schreckte zusammen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. „Hey, Frankie, alles klar?“ Ruckartig hob ich meinen Blick und sah in die besorgten, schokoladenbraunen Augen meines besten Freundes. Schnell schob ich die tristen Gedanken beiseite und rang mit ein Lächeln ab. „Yea, alles in Ordnung.“ Ray beäugte mich skeptisch. Wir gingen nun seit zwei Jahren in dieselbe Klasse und waren seitdem erst gute und später beste Freunde. In diesem Zeitraum hatten wir die Stärken und Schwächen des Anderen kennengelernt, wussten, wann der Jeweilige etwas zu verbergen hatte, und wann er log. Das wusste er genauso gut, wie ich. Ich seufzte und rieb mir die bleiernen Augen. „Nah, nur ein paar trübe Gedanken, nichts Weltbewegendes.“ Ich hörte Ray ebenfalls seufzen und bemerkte, als ich aufsah, dass sein besorgter Blick sich vertieft hatte. Ich kannte den Grund dafür und versuchte ihn mit einem laschen Wedeln meiner Hand davon abzubringen. „Oh komm schon, es ist alles okay.“ Noch immer sah er etwas skeptisch aus, widmete sich aber wieder seiner Zeitschrift, trotzdem blieben mir seine Seitenblicke nicht unbemerkt. Ich schüttelte leicht den Kopf und ließ mich zurück in das Sitzpolster fallen. Vor etwa einem Jahr durchlebte ich eine harte Periode meines jungen Teenagerlebens. Ich litt unter starken Depressionen und mein Alltag bestand lediglich aus wilden Feiern und Drogenexzessen. Bis meine Mutter meinen Zustand nicht mehr ignorieren konnte und mich mithilfe Rays in eine Entzugsklinik einweisen ließ in der ich die grausamsten Tage meines Lebens verbrachte. Das Unding an diesem, meinem Zustand war, dass ich mich nicht an den Grund dafür erinnern konnte. Es war, als ob mich Jemand in ein tiefes Loch gestoßen hatte ohne mir einen Grund für sein Tun zu nennen. Vor den Erinnerungen an meinen Absturz war ein tiefes, schwarzes Loch, dessen Ursache ich nicht erkennen konnte. Ich wusste, dass es einen Grund geben musste, ich war nicht die Sorte Mensch, die ihr Leben behandelten, wie ein nutzloses Stück Dreck und es achtlos verschwendeten. Da ich zu diesem Zeitpunkt noch keinen engen Kontakt mit Ray hatte wie heute und meine Mutter nur am Rande ihres Arbeitsalltags von meinem Tun erfuhr, konnte mir auch niemand sonst auf die Sprünge für die fehlende Erinnerungen helfen. Irgendwann hatte ich damit abgeschlossen, es aufgegeben mir das Hirn zu zermartern und einfach die Einsicht erlangt, dass ich mir die Menge an Koks und Wodka meine Erinnerungen wahrscheinlich genommen hatten. Wieder ließ ich meinen Blick aus dem Fenster schweifen, der Bus hielt gerade an einer Haltestelle und ich konnte die tiefe Stimme des Busfahrers hören, der eine zeternde, ältere Dame entschuldigend über den Grund der Verspätung informierte. Auf die Weiterfahrt wartend ließ ich meinen Blick erneut an Ray vorbei über die Menschenmassen außerhalb des Busses wandern und ließ in Gedanken ein paar Kommentare über diesen oder jenen Kleidungsstil ab. Während ich so über die bunt gekleideten Leiber blickte fiel mir aus dem Augenwinkel ein schwarzer Punkt auf. Neugierig konzentrierte ich mich genauer und bemerkte einen Jungen, komplett in schwarz gekleidet, der den Fußweg in langsamen, dennoch irgendwie elegant anmutenden Schritten entlang lief. Etwas an ihm ließ meinen Blick sich nicht von ihm abwenden, wie gebannt folgte ich dem schlanken Jungen und nahm jedes mir erkennbare Detail auf. Er war unglaublich blass, seine Haut schien fast zu leuchten, hervorgehoben durch die halblangen, schwarzen Haare, die seicht im Wind wehten. Sie schienen wirr durcheinander, als wäre er gerade eben erst, wie ich selbst, aus dem Bett aufgestanden und wollte sich nicht die Mühe machen sie zu richten. Dennoch hatten sie einen sanften, weichen Schimmer, der in mir das Bedürfnis erweckte, sie zu berühren, meine Finger durch die kohlschwarzen Strähnen fahren zu lassen. Ich errötete aufgrund dieses Gedanken etwas und spürte meinen Herschlag beschleunigen, dennoch konnte ich meinen Blick noch immer nicht von dem Jungen weichen lassen. Etwas an ihm ließ ihn von der Masse hervorstechen, auch wenn er nicht weiter auffallend war. Nichts an seiner Kleidung oder seinem Aussehen ließ ihn von der Masse abheben, aber hätte er einen pinken Overall getragen und einen Moonwalk über den Fußweg hingelegt, er wäre nicht weniger auffällig für mich gewesen. Waren es vielleicht seine weichen, fast femininen Gesichtszüge, die spitze Nase, die ihn fast feenartig, märchenhaft, wirken ließen? Ich konnte es nicht sagen, und dennoch... dennoch war Etwas an diesem Fremden mir seltsam vertraut, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Als wären wir uns bereits begegnet, vielleicht in der Mall, vielleicht waren wir bereits unbeteiligt aneinander vorbeigegangen, nur einen kurzen Blick teilend? Eigentlich war es mir egal, ich wollte mich nur weiterhin auf die hübschen Züge und den weichen Gang des mysteriösen Jungen konzentrieren, bevor der Bus weiterfuhr und ich ihn aus den Augen verlieren würde. Als er eine Kreuzung überqueren wollte, stockte sein Gang etwas und ich kniff die Augen zusammen, um sehen zu können, was ihn plötzlich aufgeschreckt hatte. Als er seinen Blick ohne Vorwarnung in die Richtung des Busses wand. Ich atmete scharf ein, als ich bemerkte, dass er nicht nur in die Richtung des Busses schaute, sondern direkt in meine Augen. Es war ein Ding der Unmöglichkeit, dass er bemerkt hatte, wie ich ihn aus der Ferne bewundert hatte, geschweige denn, dass er wusste woher es kam. Dennoch waren unsere Blicke fest miteinander verankert, es war mir unmöglich meinen Blick abzuwenden, als er ihn einmal gefangen hatte. Er stand ungefähr zehn Meter von mir entfernt, trotzdem spürte ich die Schamesröte unter meine Wangen kriechen, als ich die Intensität seines Blickes mit jeder Sekunde förmlich steigen fühlen konnte. Ich zuckte heftig zusammen, als der Motor des Busses aufjaulte und zur Fahrt ansetzte. Oh nein,dachte ich ohne direkt zu wissen, warum. Schnell sah ich wieder zu dem Jungen und bemerkte, dass er weiterhin in meine Richtung blickte und ich spürte eine tiefe Bitterkeit keimen, als er von Mal zu Mal mehr meiner Sicht entschwand. Ich hatte das Bedürfnis auszusteigen, zu ihm zu gehen und einfach.. bei ihm zu sein. Davon abgesehen, dass ich in einem fahrenden Bus saß, wäre das wahrscheinlich eine peinliche und ziemlich dumme Aktion gewesen. Trotzdem konnte ich nichts gegen den Drang tun zu ihm zu gehen, ihn kennenzulernen, bei ihm sein zu wollen. Eine kleine Fröhlichkeit durchflutete mich, als ich sah, wie der fremde Junge langsam vorwärts ging, den Blick weiterhin auf mich gerichtet. Ich schwor beinahe dasselbe Verlangen in seinem Blick zu sehen, das Bedürfnis zu bleiben und mich nicht gehen zu lassen. Ich beugte mich nach vorne, um jede Sekunde unseres Blickkontaktes genießen zu können. Zu spät sah ich das Auto. Zu spät bemerkte er, dass er sich in unserer blick verschmolzenen Trance direkt auf eine befahrene Straße begeben hatte. Mit Horror sah ich das Auto mit der grazilen Figur des Jungen kollidieren und hörte beinahe seine zarten Knochen brechen. Der Bus in dem ich saß war noch immer in Bewegung und ich bemerkte Rays Stimme an meinem Ohr, die mir besorgt etwas zuflüsterte. Ich konnte ihn nicht verstehen, seine Stimme kam von hoch über einer Wasseroberfläche zu mir zu gedrungen, während ich in Schockstarre im Wasser trieb, der Druck auf meinen Ohren mich taub machend. Erst als der schwarze Haufen aus Stoff, weißer Haut und, zu meinem tiefen Schrecken, roten Farbtupfern meiner Sicht verschwand kehrte all mein Verstand auf einen Schlag zu mir zurück und ich schrie so laut ich konnte, mit gebrochener Stimme: „STOP!“ Alle im Bus Anwesenden wandten ihre geschockten, erschreckten und verwirrten Blicke zu mir, es war mir egal. Es war mir egal, als ich meine offene Thermoskanne aus meinen Fingern gleiten ließ und ihr Inhalt sich über den Gang ergoss, es kümmerte mich nicht, als meine Tasche von meinem Schoß fiel, als ich mich ruckartig erhob und entwand mich Rays schlüpfrigen Fingern, die nach mir griffen und seinen Worten, die hohl nach mir riefen. Ich lenkte all meinen Verstand, all mein Denken und Handeln darauf zu dem verletzten Jungen zu kommen und ihm zu helfen. Warum hatte niemand sonst den Unfall gesehen? Warum waren alle noch so ruhig und taten nichts? Es war mir egal, ich würde ihm helfen, ich musste. Wie von Sinnen stürmte ich zur Kabine des Busfahrers und spürte Ärger in mir aufsteigen, als ich bemerkte, dass er den Bus noch immer nicht angehalten hatten. „Hören sie nicht?! Ich habe gesagt 'Stop'! Halten Sie an!“ Ich klammerte mich an eine der grau lackierten Stangen und lehnte mich zu dem alten Mann herunter, mein Blick ihn förmlich aufspießend. Verwirrt ließ er seinen Blick zwischen mir und der Straße hin und her wandern. „Junge, bist du von Sinnen? Was ist denn los?“, fragte er mich mit großen, glasigen Augen. „Dahinten ist ein Unfall passiert! Ein Junge ist verletzt, wir müssen ihm helfen!“, in meiner Verzweiflung erhob sich meine Stimme um ein paar Oktaven und ich klang wie ein Teenager am Rande seines Stimmenbruches, obwohl ich diese Hürde schon längst überwunden hatte. Der Busfahrer ließ einen schnellen Blick zum Seitenspiegel des Busses wandern. „Verdammt.“, flüsterte er, machte dennoch keine Anstalten den Bus zum Stehen zu bringen. Ich wartete ein paar Momente, bevor mir klar wurde, dass er dies auch nicht vor hatte. „W-was tun sie denn? Wir müssen ihm helfen!“, meine Stimme zitterte stark unter meiner Aufregung und ich spürte meine Lunge unter dem Druck schmerzen, es war mir egal. Der Busfahrer sah mir kurz besorgt und ein wenig schuldig in die Augen, dann wieder auf die Straße. „Hör mal, Junge. Ich bin spät genug dran, ich bin kein Unmensch, aber die Ambulanz wird jeden Moment hier sein und-“ „Lassen sie mich raus.“ Ich schnitt seinen Satz mit meinen wütendenden, durch meine Zähne geknurrten Worten ab. Erstaunt sah der alte Mann mich an. „Was redest du denn d-“ „Sie haben richtig gehört, lassen sie mich raus!“ Ich wurde ungeduldig und dadurch lauter. In der Zeit in der wir hier diskutieren könnte der Junge sterben!, dachte ich mir verzweifelt und spielte unruhig mit meinem metallenen Lippenring. Das tat ich immer, wenn ich aufgeregt oder nervös war. Im Moment war ich beides, dazu wütend und besorgt. „Shit verdammt, jetzt machen sie schon!“ Verdattert und leicht besorgt sah der Busfahrer mir ins Gesicht, drückte dann jedoch wortlos einen Knopf und öffnete die Tür hinter mir. Ich sprang die Treppen hinunter auf die Straße, noch bevor sie ganz geöffnet war. Ich schwörte Rays Rufe hinter mir zu hören, ignorierte sie aber. Jetzt wo ich draußen war, kannte ich nur ein Ziel. Hastig sah ich mich um, der Unfallort lag ein paar Meter zurück, aber ich konnte anhand ein paar Menschen, die versammelt standen, erkennen wo genau. Ohne Rücksicht auf Verluste oder meine schmerzenden Lunge sprintete ich los. Ich war noch nie so schnell gerannt, wie in diesem Moment. Ich war unübertrieben ein fauler Mensch, ich mied jede Sportstunde und bezeichnete mein Bett als meine halbe Welt. In diesem Moment jedoch hätte ich locker die Silbermedaille bei den olympischen Spielen gewinnen können. Meine Sicht war gestochen scharf und ich wich jedem stehenden Auto gekonnt aus, auch wenn ich einmal kurz stocken musste, als ein Auto mich selbst fast überrollt hätte. Ich hörte meinen eigenen, pfeifenden Atem in meinen Ohren, achtete jedoch nicht weiter darauf, sondern nur auf das Ziel vor meinen Augen. Nach ein paar Metern erkannte ich das bereits vertraute Bündel schwarzen Stoffes auf dem Boden und zog während des Rennens besorgt die Augenbrauen zusammen. Ein paar weitere Momente gazellenartigen Sprints vergingen, bis ich schließlich an den Ort des Geschehens ankam. Ich drückte mich durch ein paar hoch gebaute Leiber hindurch zu dem Mittelpunkt des Schauplatzes. Ich wollte sie alle am Liebsten zu Boden werfen, sie ins Gesicht schlagen und brüllen Warum starrt ihr nur nutzlos? Warum tut ihr nichts, Idiotenpack?? Doch dafür war mein Verstand in diesem Moment nicht klar genug. Als ich in den Kreis trat und verzweifelt versuchte meinen Atem zu artikulieren wurde mir für einen Moment schwummrig vor den Augen und ich musste mich auf meinen Knien aufstützen. Ich schnappte wie ein Ertrinkender nach Sauerstoff, bis der Schweiß auf meiner Stirn halb getrocknet war und ich mich nicht mehr fühlte, als müsste ich mich vor allen Augen übergeben. Als meine Gedanken wieder auf den Jungen zurück kamen, schöpfte ich neue Kraft und taumelte auf gallertartigen Beinen in die Richtung des schwarzhaarigen Jungen. Ich hörte gedämpftes Murmeln hinter und neben mir, doch ich ignorierte es. Ich war gut darin geworden Tratschereien und Beleidigungen auszublenden und sie durch schöne Gedanken zu ersetzen. Mein einziger Gedanke war in diesem Moment der geheimnisvolle, schöne Fremde, der jetzt blutend und verletzt wenige Meter von mit entfernt lag. Wie seine bloße Anwesenheit mich in bloßes Erstaunen versetzen konnte, seine seltsame Vertrautheit... Ich taumelte weiter vorwärts und erkannte am Rande meines leicht verschwommenen Blickfelds ein Büschel rabenschwarzer Haare, und zuckte leicht zurück, als ich das dunkel glänzende Blut darin wahrnahm. Meine Schritte festigten sich und ich überbrückte die letzten Meter zu dem Jungen. Bevor ich ihn komplett erreicht hatte, hob ich meinen Blick, und gefror in all meinen Bewegungen. Mein Atem stockte in meiner Kehle und meine blutunterlaufenen Augen weiteten sich in Erstaunen und tiefem Schock. Trotz des tiefsitzenden Erstaunens blickte ich näher darauf. Als mein Entsetzen sich gelegt hatte, hob ich kurz meinen Blick und sah in die Gesichter der ungefähr zehn Menschen, die um mich und den Jungen versammelt standen und mich allesamt anstarrten. Doch warum sahen sie mich an? Sahen sie sie nicht? Ich wand meinen Blick zurück auf das, was mein Erstaunen geweckt hatte und noch immer Unglaube in mir verursachte. Diesmal war es nicht der Junge, der mich fesselte, nicht sein Aussehen, seine perfekte Haut oder sein weiches Haar. Es waren seine Flügel. In diesem Moment völliger Verwirrtheit und dem Gemisch anderer Gefühle, die mein Herz zum Klopfen brachten, war das Einzige, was mir in den Kopf schoss: Wie konnte ich sie vorhin nicht bemerkt haben? Übersehen haben konnte ich sie nicht. Sie waren, nun ja... riesig. Sie schienen direkt aus den Schulterblättern des auf dem Bauch liegenden Jungens zu kommen und erstreckten sich gut je drei Meter zu beiden Seiten seines Körpers. Sie sahen aus wie die normalen Flügel eines Vogels, nur in größerer Ausstattung. Oder wie die eines Engels., sagte ich mir selbst ohne großartigen Grund und blinzelte über die Unsinnigkeit meiner Gedanken. Natürlich, ein Engel. Natürlich war es völlig sinnvoll, dass ein Engel auf die Erde kam und kurz darauf von einem Auto überfahren wurde. Wo bleibt da all diese Göttlichkeit? All die... Engelmagie? Engel wurden nicht einfach von Autos überfahren. Wäre es nicht so unheimlich und verwirrend, hätte ich über mich selbst gelacht. Doch in diesem Moment konnte ich meinen Blick nicht von den weißen, fast silbern schimmernden, Federn abwenden und vergaß fast den verletzten, blutenden Jungen, der zu den weißen Schwingen gehörte. Ich schüttelte ruckartig meinen Kopf und ging auf die Knie, ich beschloss zunächst alle Gedanken bezüglich der Flügel auszublenden und mich vorrangig auf die Versorgung des schwarzhaarigen Engel... Jungen zu konzentrieren. Verdammt. ---------------------------------- Ende 1. Kapitel - Death is only a horizon. To be continued. Hope you liked. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)