Ad Hominem von mystique (Über Aufstieg und Fall - JoeyxSeto) ================================================================================ Prolog: Über Aufstieg und Fall ------------------------------ Titel: Ad Hominem Pairing: JoeyxSeto Summary: Joey Wheeler findet heraus, dass sein vermeintlicher Vater nicht sein leiblicher Vater war. Er geht nach Amerika, um dort ein Leben als Joey Wallstein mit seiner tatsächlichen Familie zu beginnen. Drei Jahre später tauchen in den Medien Vorwürfe gegen Seto Kaiba auf, die ihn des Missbrauchs an seinem Bruder bezichtigen. Es folgt ein beispielloser Niedergang der Kaiba Corporation. Joey Wallstein und Seto Kaiba sehen sich nun in vertauschten Positionen wieder. Disclaimer: Nix mir, nix Geld. Prolog: Über Aufstieg und Fall „Kaiba?“ Joey rechnete nicht wirklich mit einer Reaktion. Tatsächlich hoffte er, Kaiba würde ihn ignorieren. Doch wieder einmal schien Kaiba zu wissen, wie er Joey das Leben schwer machen konnte: Er drehte sich um. Joey wünschte sich, er hätte es nicht getan. Kaiba sah fürchterlich aus. Joey wollte nicht wissen, wie viele Nächte er nicht mehr geschlafen hatte. Doch das Schlimmste an ihm waren nicht seine ungekämmten Haare oder die unnatürliche Blässe seines Gesichts. Es waren seine Augen. „Wie geht es dir?“, fragte Joey, um die fürchterliche Stille zu durchbrechen. Noch ehe er den Mund wieder schloss, hätte er sich am liebsten in den Hintern getreten. Kaibas Augenbrauen zogen sich zusammen. „Wie soll es mir gehen, Wheeler? Erwartest du von mir, dass es mir in irgendeiner Hinsicht gut geht? Bist du wirklich so beschränkt?“ Wenigstens eine halbwegs lebendige Reaktion. Auch, wenn sie sich gegen ihn richtete. „Natürlich nicht“, erwiderte Joey. „Aber ich dachte –“ „Es interessiert mich einen Dreck, was du dachtest, Wheeler. Falls es dir nicht aufgefallen ist, ich bin machtlos! Ich kann nichts tun, bin regelrecht ins Exil gegangen.“ „Ein bisschen übertrieben, findest du nicht auch? Du bist kein Diktator, den man entmachtet hat.“ Kaiba hatte sich längst abgewandt. „Lass mich in Ruhe, Wheeler.“ „Damit du wieder in düsteren Gedanken versinkst?“ „Das kann dir egal sein.“ Doch so sehr es Joey auch frustrierte, dass war es nicht. Mit wenigen Schritten war er bei Kaiba, packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich um. „Du scheinst vergessen zu haben, dass mich das ganze genauso viel angeht.“ Kaibas Lippen waren nur noch eine schmale Linie. Als er sprach zitterte seine Stimme vor zurückgehaltener Wut. „Ich habe dich nie um Hilfe gebeten.“ „Und wo wärst du jetzt ohne meine Hilfe?“, entgegnete Joey nicht minder gereizt. Er registrierte nur am Rand, dass seine Stimme an Lautstärke gewann. „Was wäre, wenn ich nicht gewesen wäre?“ Kaibas Schultern sanken. Joey wünschte sich, er hätte die letzten Worte nicht gesagt. Er hasste es, Kaiba so zu sehen. „Was willst du hören?“ Kalte Augen richteten sich auf ihn, durchbohrten ihn. „Dass ich versagt habe? Dass ich nichts tun konnte? Dass ich Mokuba im Stich gelassen habe?!“ Kaiba schlug Joeys Hand beiseite. „Schön. Ich habe Mokuba seinem Schicksal überlassen. Ich habe ihn enttäuscht. Ich konnte ihn nicht beschützen!“ Joey machte einen Schritt auf ihn zu, Kaiba wich zurück. „Nein, du hast ihn nicht enttäuscht. Fang bloß nicht an, dir das einzureden.“ Doch Kaiba hörte ihm nicht mehr zu. „Ich konnte bloß zusehen, als sie ihn abholten. Ich konnte sie nicht daran hindern!“ Joey schloss die Augen. Er wollte den Schatten vor sich, der einmal Kaiba gewesen war, wenigstens für einen Moment nicht mehr sehen müssen. „Ich konnte ihm nicht einmal versprechen, dass alles wieder gut wird.“ Er konnte das Beben in Kaibas Stimme nicht länger ignorieren. Das Verlangen, jemanden zu schlagen, wurde beinahe unerträglich. „Ich habe nichts mehr“, sagte Kaiba und es klang so absolut, dass Joey schlecht wurde. Er hatte sich viel zu sehr auf das alles eingelassen. Er war selbst von dem Strudel verschlungen worden. War bereits viel zu sehr in seinem Sog, um jetzt noch umzudrehen und zu gehen. Er traute seiner eigenen Stimme kaum, als er zum Sprechen ansetzte: „Kaiba, mach dir keine Sorgen. Es wird sich alles wieder zum Besseren wenden.“ Leere Worte. Schlecht getarnte Lügen. „Du wirst deine Firma wiederbekommen.“ Unrealistische Wünsche und sinnlose Beschönigungen. Kaibas Blick ging an ihm vorbei. „Was kümmert mich meine Firma.“ „Was?“ „Was kümmert mich mein Geld. Ich konnte Mokuba nicht beschützen. Es ist sinnlos. Ich habe nicht mehr die notwenige Macht dazu.“ Joeys Körper reagierte, bevor er einen konkreten Gedanken fassen konnte. Er stand vor Kaiba und seine Hände vergruben sich in dem Kragen seines Hemdes. Seine Augen suchten die des anderen, zwangen den ehemaligen Frimenleiter dazu, ihn anzusehen. „Aber ich habe sie.“ Dann küsste er Kaiba. Kapitel 1: Katharsis im Regen ----------------------------- Dreieinhalb Jahre vorher „Wenn du bei Nacht zum Himmel emporschaust, dann werde ich auf dem schönsten 
der vielen, vielen Sterne sitzen und zu dir herab winken.“ Joeys Blick war starr auf die dunkle Öffnung im Boden vor sich gerichtet. Das Holz darin war schwarz, es glänzte und Tropfen fielen auf seine lackierten Oberfläche, perlten ab und flossen nach unten. Ein schlichter Sarg. Er hörte den Worten des Pfarrers nur mit halbem Ohr zu, was auch daran liegen mochte, dass er Englisch sprach und Joey in den Jahren auf der Mittel- und Oberschule nie gut darin gewesen war. „Ich werde dir Trost und Licht senden, damit du mich in deiner Welt sehen kannst und nicht vergisst.“ Serenity presste sich eine Hand auf den Mund, um ein Schluchzen zurück zu halten. Mit der anderen umklammerte sie Joeys Arm. Ihre Schultern bebten, während sie leise weinte. Joey zwang sich dazu, nicht zu ihr zu sehen, stattdessen haftete er seinen Blick wieder auf den Sarg. „Traurig sollst du aber nicht mehr sein, denn schau nur: Ich habe jetzt einen eigenen Stern!“ Joey musste unweigerlich lächeln. Seine Mutter hätte diese Vorstellung bestimmt gemocht. oOo „Scheiße.“ Joey presste sich die Hand auf die brennenden Augen. - bedauern wir es, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Mutter, Susan Wheeler, geborene Carter, vergangenen - „Scheiße, Scheiße.“ Wie ein Mantra wiederholte er die Worte. Bloß um zu verhindern, jetzt zusammen zu brechen. verstorben ist. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Nicht hier. Nicht hier. - Ihnen unser herzlichstes Beileid. Die Verlesung des Testaments erfolgt - Nichthiernichthiernichthier. Joey biss sich auf die Lippe. Die Hand, die den Brief hielt, verkrampfte sich. Das Papier bekam Knicke. - Beisetzung findet im Kreis der Verwandten auf dem Faith Memorial Friedhof in Woodland, Kalifornien, statt. Hierzu senden Sie uns Ihre - Die erste Träne fiel auf das Papier und er wischte sich rasch mit dem Ärmel seiner Jacke über die Augen. Er stieß seinen Kopf mehrmals nach hinten gegen die Wand, um sich zu kontrollieren. Der Schmerz war eine willkommene Ablenkung von der Übelkeit, die sich in seinem Magen gebildet hatte. Nur ein Wort, ein Name, der jeden seiner Gedanken einnahm. Serenity. Schritte näherten sich und Joey öffnete die Augen. Eine halb vertraute Gestalt trat in sein Blickfeld. Eine Nachbarin von oben. Ihr Blick wanderte ungerührt über Joey, dann war sie an ihm vorbei und erklomm die nächsten Stufen. Bevor sie um die Ecke verschwand, trafen sich ihre Blicke, dann konnte er nur noch ihre Schritte hören. Joey unterdrückte ein bitteres Lachen. Die Gleichgültigkeit der Menschen war wirklich unermesslich. Sie war bereits die dritte Person, die an ihm vorbei gegangen war, ohne ihn weiter zu beachten. Sie taten so als würden sie ihn nicht sehen, um sich nicht kümmern zu müssen. Entschuldigt mich, während ich hier auseinander falle. Serenityserenityserenity. Was war mit ihr? Er wollte sich nicht vorstellen, wie es ihr ging. Kümmerte sich jemand um sie? Er sollte jetzt bei ihr sein! Und was tat er? Er saß vor der verschlossenen Eingangstür seines Appartements im kalten Treppenflur und blickte einer weiteren schlaflosen Nacht entgegen. Es war nicht das erste Mal, dass sein Vater ihn ausgeschlossen hatte. Aber es war kein gutes Zeichen, dass es zu Beginn des Monats schon so oft passiert war. Mit zitternden Händen faltete Joey den Brief wieder zusammen und stieß den angehaltenen Atem aus. So kalt wie es hier war, würde es ihn nicht wundern, über kurz oder lang seinen Atem sehen zu können. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke bis oben hin zu. Er hoffte bloß, dass die Flurbeleuchtung die ganze Nacht an war. Er wollte hier nicht in völliger Finsternis hocken. Seine Sicht verschwamm und fluchend wischte er sich wieder über die Augen. Nichthiernichthier. Wie lange hatte er seine Mutter nicht mehr gesehen? Seit der Augenoperation von Serenity vor vier Jahren. Und dennoch ... Bilder erschienen vor seinem Geist. Bilder von Susan, wie sie Serenity mitgenommen hatte. Sie hatte ihn nicht zurücklassen wollen, das hatte sie ihm später zu erklären versucht, sie hatte auch ihn mitnehmen wollen, es aber nicht gekonnt. Doch er hatte nicht zuhören wollen. Er war viel zu verletzt gewesen. Er hatte nicht verstanden, warum sie ihn und seinen Vater verlassen hatte. Warum sie einfach so das Glück mitgenommen hatte. Nachdem sie gegangen war, war nichts so wie vorher. Sein Vater wurde wütender, wurde verzweifelter. Seine Arbeit litt darunter, er gab sich die Schuld. Er fühlte sich dadurch nicht besser und gab ihr die Schuld. Als das nicht reichte, gab er Joey die Schuld. Als Joey ihm nicht widersprach, sah er sich in diesem Gedanken bestätigt. Joey wusste mittlerweile, dass es nicht seine Schuld war. Dass hatte seine Mutter ihm immer wieder gesagt. Das hatte Serenity ihm wieder und wieder versichert. Im Alter von neun bis dreizehn Jahren hatte er geglaubt, sein Vater hätte recht. Dann hatte er Tristan kennen gelernt und in den Jahren der Straßenkämpfe festgestellt, dass die Menschen selbst für das verantwortlich waren, was ihnen widerfuhr. Dass ihn demnach vielleicht keine Schuld am Gehen seiner Mutter traf. Und als er Yugi begegnete, war sich ganz sicher gewesen, dass sein Vater ihn zu unrecht beschuldigte. Das machte vieles leichter. Das Leben mit seinem Vater nicht. Er war dankbar dafür, dass sein Vater gute Kontrolle über sich hatte. Er hatte Joey noch nie geschlagen. Doch Joey wusste, dass er den Tag nicht erwarten konnte, an dem Joey volljährig wurde und er ihn aus der Wohnung werfen durfte. So lange er es nicht konnte, hatte er andere Mittel, seinem Sohn zu zeigen, dass er nicht willkommen war. Indem er ihm an manchen Tagen nicht öffnete oder die Tür von innen verschloss, sodass Joey selbst mit einem Hausschlüssel nicht hineinkam. Joey hatte gelernt, damit zu leben. Er empfand nichts mehr wirklich für diesen Mann, den er einmal Vater genannt hatte. Bis zu seinem dreizehnten Geburtstag hatte er ihn geliebt. Er hatte gehofft, dass sich alles ändern würde. Dass seine Mutter und Serenity eines Tages vor ihrer Wohnungstür stehen und wieder bei ihnen wohnen würden. Dass alles wieder normal werden würde. Als dies nicht passierte, hatte er gehofft, sein Vater würde über die Scheidung hinwegkommen. An Weihnachten vor seinem dreizehnten Geburtstag verreiste sein Vater und ließ ihn tagelang alleine. Eine Nachbarin kümmerte sich um Joey und wollte das Jugendamt informieren. Joey flehte sie an, es nicht zu tun. Sie tat es nicht. Er war sich sicher gewesen, dass sich alles noch ändern würde, wenn er nur fest genug daran glaubte. Nichts änderte sich. Zu seinem Geburtstag hatte er sich nichts mehr gewünscht als ein Lächeln oder eine Umarmung. Er bekam die erste Nacht vor verschlossener Wohnungstür. Danach hatte er erkannt, dass sich nichts ändern würde. Er spielte mit dem Gedanken wegzulaufen. Und traf Tristan. Er rannte nicht weg. Stattdessen verbrachte er weniger Zeit Zuhause und mehr Zeit auf der Straße. Er machte mit Tristan das Viertel unsicher und an dem Abend als zwei Beamte der Polizei ihn nach Hause eskortierten und er nur um Haaresbreite einer Anzeige entkam, stand sein Vater kurz davor, ihn zu schlagen. Er tat es nicht und Joey schwor sich, der Toleranzgrenze nie wieder so nahe zu kommen. Jahre verstrichen, das Leben mit seinem Vater blieb das gleiche, doch Joey hielt es kaum noch aus. Die Nächte vor verschlossener Tür wurden häufiger. Tristan riet ihm, sich beim Jugendamt zu melden. Joey stand kurz davor, den Rat anzunehmen. Dann lernte er Yugi kennen. Und plötzlich wollte er auf keinen Fall in ein Heim oder eine Pflegefamilie irgendwo anders in Japan. Er hatte einen Freund, für den er bereit war, hier zu bleiben. Aus einem Freund wurden zwei, dann drei und mittlerweile konnte er an zwei Händen Gründe aufzählen, für die er diesen Ort niemals verlassen würde: Yugi, Téa, Tristan, Bakura, Duke, Mai. Sie gaben ihm die Ausdauer, bis zu seiner Volljährigkeit zu warten. In zwei Monaten würde er einundzwanzig und erlangte damit die japanische Volljährigkeit. Dann dürfte er gehen und müsste seinem Vater nie wieder unter die Augen treten. Es waren angenehme Aussichten gewesen, bis heute dieser Brief gekommen war. Er hatte heute die späte Schicht bei Burger World übernommen und sein Vater schien den Briefkasten seit Tagen nicht mehr geleert zu haben. Der Brief hatte zur Hälfte dringesteckt und Joey hatte gesehen, dass er an ihn und seinen Vater adressiert war. Einen Moment lang hatte er sogar angenommen, in dem Brief könnte irgendetwas Positives stehen. Stattdessen .... Joey schreckte auf und wusste nicht zu sagen, wie lange er geschlafen hatte. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass er weg gedöst war. Er hörte Geräusche hinter der Wohnungstür und schwache Hoffnung regte sich in ihm, dass ihm nun vielleicht doch die Tür geöffnet wurde. Sekunden verstrichen, schließlich Minuten, und nichts geschah. Joey schalt sich einen Idioten, weil er wirklich so naiv gewesen war, anzunehmen, sein Vater hätte ein Einsehen mit ihm. Langsam rappelte er sich auf, ignorierte das Zittern seiner müden Glieder und ließ die Wohnung hinter sich. Und wieder musste er Yugi um einen Platz zum Schlafen bitten. Diese Nacht war bei Weitem zu kalt, um sie vor der Tür zu verbringen. Er wusste, dass Yugi immer einen Platz für ihn hatte. Er wusste auch, dass Téa, Tristan und Duke ihn jederzeit aufnehmen würden, doch er wollte seinen Freunden nicht zur Last fallen. Er verbrachte nur einen Teil der Nächte, in denen er ausgesperrt wurde, bei ihnen, denn es war ihm viel zu unangenehm, immer nur zu nehmen und ihnen nie etwas zurückgeben zu können. Er erreichte den Treppenabsatz und drückte die Eingangstür des mehrstöckigen Gebäudes auf. Die Luft draußen war unwesentlich kälter als im Treppenhaus. Er wandte sich nach rechts und schlug den nur allzu bekannten Weg zu Großvater Mutos Spielladen ein. Er vergrub die Hände in den Taschen und seine Finger streiften den gefalteten Zettel. Augenblicklich ballte sich die Übelkeit zu einem brennenden Knäuel in seinem Magen zusammen und seine Schritte wurden schneller. Er hatte keine Zeit, in Trauer zu ertrinken. Sobald er bei Yugi war, würde er ihm sämtliches Geld geben, was er gerade bei sich hatte und ihn um einen Anruf nach Amerika bitten. Dann würde er in Erfahrung bringen, wie es Serenity ging, danach sein Konto auflösen und sich ein Flugticket nach Amerika kaufen. Vielleicht müsste er sich zusätzlich Geld von seinen Freunden leihen, denn sein Nebenjob hatte ihm nie viel Geld gebracht. Er würde sich einen weiteren suchen müssen, um die Schulden zurückzuzahlen und später sein Studium noch halbwegs finanzieren zu können. Wenn er dann in Amerika wäre, müsste er sichergehen, dass für Serenity gesorgt war. Er müsste eine Unterkunft für sie finden, denn sie war noch nicht volljährig. Alles wäre besser für sie, solange sie nicht zurück zu ihrem Vater musste. Joey würde eigenhändig dafür sorgen, dass sie nicht zu ihm geschickt würde. Dann das Begräbnis. Es musste alles organisiert werden – der Termin stand offensichtlich schon fest. Jemand musste das Begräbnis bezahlen. Joey bezweifelte, dass ihr Vater es tun würde. Er wusste ja nicht einmal von dem Tod seiner Ex-Frau, denn Joey war den Brief vor ihm in die Hände gefallen. Er wusste auch nicht zu sagen, wie er darauf reagieren würde, wenn er davon erfuhr. Es war das Letzte, was ihn im Moment kümmerte. Er würde dafür sorgen müssen, dass ihre Mutter ein anständiges Begräbnis bekam. Das bedeutete noch mehr Schulden. Vielleicht doch kein Studium. Wahrscheinlich kein Studium. Noch ein Job mehr, um alles zu finanzieren. Serenity. Sie brauchte eine Familie, die sie unterstützte. Sie wollte doch Menschen helfen. Und nun befand sie sich in einer weiteren schwierigen Phase ihres Lebens und Joey war nicht bei ihr, um sie zu beschützen! Wieder hatte er als Bruder versagt. Joey hatte kaum bemerkt, dass er zu rennen begonnen hatte. Es wurde ihm erst bewusst als er schwer atmend und schwitzend vor Yugis Tür zum Stehen kam. Minuten verstrichen, während denen er regungslos auf das Geschlossen-Schild des Spielladens starrte. Dann wurde hinter der Tür eine Lampe eingeschaltet. Die Tür öffnete sich mit dem leisen Läuten der Glocken am oberen Rahmen. „Joey?“ Er löste sich aus seiner Starre. Zu lächeln erforderte beunruhigend viel Kraft und missglückte dennoch. „Hi Yugi.“ „Was ist los?“ Eine Sorgenfalte hatte sich auf Yugis Stirn gebildet. Joey hasste diese Falte. Besonders wenn er der Auslöser war. Er wollte Yugi versichern, dass alles in Ordnung war, dass es ihm gut ging, dass er stark war und Serenity beschützen würde, wenn sie seine Hilfe brauchte, doch er brachte die Lügen nicht über seine Lippen. Er schaffte es nicht einmal, den Mund zu öffnen. Stattdessen brannten seine Augen auf unerträglichste Weise. Schmerz schien sein Herz zusammenzudrücken, als sein Verstand endlich die volle Wahrheit zuließ und Joey den ganzen Zusammenhang zum allerersten Mal begriff. Seine Mutter war tot. Und dieses Mal konnte er die Tränen nicht zurückhalten. oOo „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist da. Dein Stecken und Stab trösten mich.“ Joeys Blick löste sich von dem Grab und wanderten zum Rand des Friedhofs. Er konnte die Reporter von hier aus immer noch sehen. Sie besaßen zwar den Anstand, nicht am Rand der Wiese auf sie zu warten, doch auch aus der Distanz erinnerten sie Joey an Aasgeier. Eine Hand legte sich auf seine Schulter und er musste nicht hinsehen, um zu wissen, zu wem sie gehörte. Joe ging es bestimmt genauso wie ihm. Sie beide verabschiedeten sich von einer Frau, die sie einst aufrichtig geliebt, jedoch seit Jahren nicht mehr wirklich gekannt hatte. Es war ein Abschied mit bitterem Beigeschmack. oOo „Ja, ihr Name ist Serenity. Serenity Wheeler. Carter. Nein, Wheeler. Wissen Sie was, versuchen Sie es einfach mit beiden Namen.“ Er erwischte sich dabei, wie er ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch klopfte. Die nächste Antwort unterbrach den Takt. „Aber sie muss doch zu finden sein! Sie hat bei ihr- unserer Mutter gelebt, bis sie vor einer Woche verstorben ist.“ Bei den folgenden Worten ballte er die Faust. „Ich verstehe. Danke für ihre Mühe.“ Die Verbindung wurde getrennt. Joey ließ das Telefon sinken und presste sich eine Hand auf die Augen, die vor Müdigkeit brannten. Er hatte die vergangenen Nächte kein Auge zugetan. „Wieder nichts?“ Er hatte gar nicht bemerkt, dass Yugi das Zimmer betreten hatte. Er hob den Kopf und schenkte ihm die billige Entschuldigung eines Lächelns. „Nein.“ „Sie kann nicht verschwunden sein.“ Wieder die Falte auf Yugis Stirn. Er machte sich genau so große Sorgen wie Joey. „Nein. Trotzdem ist sie es.“ Er hatte es überall probiert. Dort, wo Serenity und seine Mutter lebten. In ihrer Schule. Im Rathaus ihrer Stadt. Niemand konnte sie im Moment erreichen. „Duke ist dran.“ Téa war in der offenen Zimmertür erschienen, ihr Handy am Ohr. „Er sagt, er hat einige Verbindungen spielen lassen, bei Freunden, die er in den Staaten hatte.“ Sie verdrehte die Augen. „Ja, Duke. Freunden, die er noch immer hat“, korrigierte sie sich. „Wir sollen nicht denken, er hätte es sich bei ihnen verspielt. Duke, komm zur Sache. Aha. Weißt du was?“ Mit wenigen Schritten war er bei Joey. „Sprich selbst mit ihm.“ Joey nahm das Mobiltelefon entgegen. Sein Blick blieb an einem Anhänger inmitten der vielen an dem Mobiltelefon hängen. Es war ein kleiner Pinguin, den Serenity Téa bei ihrem letzten Treffen geschenkt hatte, um ihr zur bestandenen Aufnahmeprüfung der Tanzschule in Amerika zu gratulieren. „Joey? Hey Joey, hörst du mir zu?“ Joey riss sich von dem Anblick los. „Ja, Duke?“ „Hör mal, ich hab hier ganz seltsame Dinge gehört. Nichts Schlimmes, keine Sorge.“ Joey hatte sich bereits verspannt. „Ein alter Bekannter hat Nachforschungen angestellt – nichts Illegales, er hat sich einfach in der Stadt umgehört - und hat von einigen Anwohnern erfahren, dass vor ein paar Tagen eine schwarze Limousine bei dem Haus deiner Schwester vorgefahren ist. Das hat sich wohl wie ein Lauffeuer rumgesprochen, stand wohl sogar irgendwo im Lokalblatt – natürlich ohne brauchbare Informationen. Einen Tag später das gleiche.“ „Und?“ „Wer immer ihr einen Besuch abgestattet hat, muss ein hohes Tier gewesen sein.“ Joey kannte nur ein hohes Tier. „Kaiba?“ Im selben Moment war ihm klar, wie idiotisch die Frage war. „Red keinen Quatsch. Kaiba ist hier in Japan. Es gibt außerdem noch andere, auch wenn er uns immer gerne das Gefühl gegeben hat, der einzige seines Kalibers zu sein.“ Joeys Finger hatten begonnen, den vorher unterbrochenen Takt wieder aufzunehmen und trommelten auf den Tisch. „Ist das alles?“ „Entschuldige, aber ich habe keine Verbindung zum FBI. Alles, was ich herausfinden konnte ist diese oberflächliche Information. Aber wenn du mich fragst ist das auf die Distanz von Japan nach Amerika trotzdem schon viel. Joey, Serenity wurde nicht entführt und sie würde sie niemals etwas an-“ Duke unterbrach sich und Joey schluckte schwer. „Sie würde dich nie im Stich lassen, Joey.“ „Danke Duke“, sagte Joey rasch und klang dabei viel zu distanziert. Aber er wollte diese Gesprächsrichtung nicht mit Duke einschlagen. Er wusste, dass Duke sich seinerseits genug Sorgen um Serenity machte. „Das Ganze ist – du weißt ...“ Er unterdrückte ein Fluchen angesichts seiner mangelnden Ausdrucksweise. „Danke“, sagte er schließlich noch einmal und hoffte, Duke merkte, wie erst er es meinte. „Schon gut. Ich werde mich weiter umhören.“ Er legte auf und reichte Téa das Telefon. Schritte erklangen auf der Treppe und Tristan kam mit einem Tablett voll dampfender Tassen zurück. Er stellte es auf dem Tisch ab und klopfte Joey auf die Schulter. „Yugi, dein Großvater sagt, wir sollen nicht vergessen, etwas zu essen. Am besten sollten wir uns etwas bestellen. Und Joey, Alter, du musst etwas essen.“ „Ich weiß.“ Joey warf einen Blick auf die Uhr. Es war viel zu spät und er musste morgen früh raus. Vorher würde er versuchen, ein letztes Mal in die Wohnung seines Vaters zu kommen, um einige Sachen zu packen und um ihm den Brief hinzulegen. Nach allem verdiente er es immer noch, zu erfahren, dass seine Ex-Frau gestorben war. „Leg dich etwas hin, Joey“, sagte Téa schließlich sanft. „Du hast kaum geschlafen. Ich habe die Flugtickets gekauft und alle Unterlagen ausgefüllt.“ Selbst unter Schlafmangel fiel Joey auf, dass sie im Plural gesprochen hatte. „Tickets?“, wiederholte er und schüttelte den Kopf. „Nein, es reicht, dass ich Schulden bei euch gemacht habe, da müsst ihr nicht noch extra –“ „Joey“, unterbrach ihn Yugi und setzte sich neben ihn. „Deine Mutter ist gestorben und du suchst deine Schwester. Wir werden dich dabei nicht alleine lassen.“ „Aber das Geld! Verdammt, Yugi, ich will nicht, dass ihr wegen mir noch mehr Unkosten habt!“ „Ich muss ohnehin in die Staaten“, sagte Téa leise und setzte sich ebenfalls an den Tisch. „Das Studium fängt bald an und ob ich nun diese oder nächste Woche fliege, macht keinen Unterschied.“ Joey lachte trocken, denn er wusste, dass sie log. Sie war einfach ein zu guter Mensch. „Und wir wollten Amerika ohnehin mal sehen“, scherzte Tristan und raufte ihm durch die Haare. „Also mach dir deswegen keinen Kopf.“ Joey seufzte. Diese Freunde waren der Grund, warum er die ganzen letzten Jahre geblieben war. Und sie waren das Beste, was ihm passiert war. „Danke, Leute. Danke.“ Beinahe hätte er wieder geheult. Doch dieses Mal gewann das Lächeln. oOo „Aus der Erde sind wir gekommen, zur Erde sollen wir wieder werden. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Joey hörte auch jetzt kaum zu. Serenity hatte ihm gesagt, ihre Mutter wäre nicht christlich gewesen, aber sie hatten nicht den Drang verspürt, darauf zu beharren. Susan kümmerte es nicht, was ein fremder Mann an ihrem Grab erzählte. Stattdessen suchte er Yugis Blick und lächelte ihn müde an. Er war froh, dass seine Freunde noch da waren. Téa würde heute noch weiter reisen, denn die Tanzschule, die sie ab Januar besuchen würde, lag in New York. Sie würde versuchen, sich dort einzuleben und über Weihnachten wieder nach Japan kommen. Yugi und Tristan mussten irgendwann in den nächsten Tagen zurückfliegen. Joe hatte angeboten, einen Flug für sie zu organisieren. „Sie dürfen sich jetzt persönlich von Susan verabschieden“, sagte der Pfarrer und trat zurück, um den Angehörigen ihre Privatsphäre zu geben. Joey beobachtete Serenity, die unter Schluchzern und traurigem Lachen mit ihrer Mutter scherzte. Er ertrug es gerade einmal zehn Sekunden, dann lenkte er seine Konzentration auf den Pfarrer und beschäftigte sich mit der Frage, wie vielen Beerdigungen er wohl am Tag beiwohnte. „Joey.“ Joe gab ihm einen sachten Stoß und zeigte ihm damit, dass er an der Reihe war. Unbeholfen trat er an den Rand des nassen Lochs in der Erde. Er spürte die Blicke der Anwesenden auf sich und wurde sich vollends der Tatsache bewusst, dass er sich bis zu diesem Moment keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie es sein würde, am Grab seiner Mutter zu stehen. Als ihm nach einer quälend langen Minute keine Worte in den Sinn kamen, beschloss er, stattdessen alle Zweifel und Fragen hier bei ihrem Sarg zu lassen. Es machte keinen Sinn, sich mit diesen Fragen aufzureiben. Als er eine Rose in das Grab warf, schloss er mit dem Teil seiner Vergangenheit ab. oOo Joey hatte mit vielem gerechnet. Bloß nicht damit, am Ausgang des Flughafens in San Francisco von einer Limousine erwarte zu werden. Im ersten Moment hatte er die Befürchtung, Pegasus hätte Wind davon bekommen, dass sie in Amerika waren oder Kaiba hätte sie verfolgt und wollte sie nun zum nächsten wahnsinnigen Duel Monsters Turnier schicken. Dann öffnete sich die hintere Tür und Joey hörte seine Freunde nach Luft schnappen, als ein Mann ausstieg, der Joey zu ähnlich sah, um irgendwer zu sein. An diesem Tag begegnete Joey seinen leiblichen Vater zum ersten Mal. Danach hatte er zwei Optionen: Alles hinnehmen und glauben, was man ihm soeben erzählt hatte oder lachen und den geschmacklosen Scherz, der Kaibas Handschrift trug, mit einem Schulterzucken abtun. Letzteres schien ihm die angebrachtere Reaktion zu sein, doch etwas an Joe Wallstein hinderte ihn daran. Vielleicht war es der Blick, mit dem er Joey bedachte, seit er ihn zum ersten Mal am Flughafen gesehen hatte. Oder der scharfe Zug um seine Mundwinkel, der den Eindruck erweckte, es fiele ihm Schwer, Joey die Fakten so sachlich zu präsentieren. Oder die ineinander gefalteten Hände, die er immer wieder rieb, als müsste er sich mit aller Macht daran hindern, sie auszustrecken und seinen Sohn zu berühren. Doch nach allem, was Joe Wallstein ihm in den letzten Minuten verkündet hatte, war es nicht der tatsächliche Wahrheitsgehalt der Geschichte, der Joey interessierte. Alles, was er wissen wollte, war eine Sache: „Warum erst jetzt?“ Und Joe Wallstein fragte nicht, was er meinte, denn er verstand sofort, hatte die Frage vielleicht schon früher erwartet. Er öffnete eine Mappe, die bis dahin unberührt auf dem Tisch vor ihm gelegen hatte und griff nach einem voll beschriebenen Blatt Papier. Er reichte es Joey. „Den habe ich vor einer Woche erhalten. Zwei Tage nach ihrem Tod. Sie wollte mich offenbar schon lange kontaktieren. Warum sie ihn nie selbst abgeschickt hat, weiß ich nicht.“ Joey erkannte die Handschrift seiner Mutter nicht, denn er hatte niemals etwas Geschriebenes von ihr gesehen. Das einzige, das ihm bekannt vorkam, war ihre Unterschrift. Er fragte nicht nach, ob der Brief echt war. Es gab keinen Grund, warum er gefälscht sein sollte. Seine Augen überflogen die Zeilen und seine Brauen zogen sich mit jedem gelesenen Satz weiter zusammen. Schließlich ließ er den Brief sinken und suchte Joes Blick. „Du wusstest bis vor einer Woche nicht, dass du einen Sohn hattest.“ „Das ist wahr.“ „Scheiße.“ Téa stieß ihm einen Ellbogen in die Rippen. Joes Mundwinkel hoben sich zum ersten Mal. „Aber angesichts der Ähnlichkeit scheint es mir lächerlich, einen Vaterschafts-Test anordnen zu lassen.“ Joey schmunzelte. „Das ist wohl wahr. Außerdem sprechen die Namen für sich.“ „Ja. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass sie einmal im Scherz meinte, sollte sie einen Sohn bekommen, würde sie ihn nach mir benennen. Ich hatte ihr davon abgeraten, aber sie hatte schon immer ihren eigenen Willen.“ Joey legte den Brief auf den Tisch und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Und ihr hattet in all den Jahren keinen Kontakt?“ „Doch, den hatten wir. Anfangs. Dann lernte sie deinen V-“ Er unterbrach sich. Dann schüttelte er den Kopf. „Es tut mir leid, natürlich ist er dein Vater. Das ganze hier ändert nichts daran.“ „Er ist nicht mein Vater“, sagte Joey und sah Joe dabei fest in die Augen. „Er hat sich seit zwölf Jahren nicht mehr wie einer verhalten.“ Joes Züge erstarrten, dann verzogen sich seine Lippen zu einer dünnen Linie. „Joey, er ...“ Er schien Probleme mit den letzten Worten zu haben. Joey wurde bewusst, dass er eins und eins zusammengezählt hatte und nun zögerte, die Summe auszusprechen. „Er hat mich nicht misshandelt“, stellte er klar. „Ich bin kein Opfer. Es gibt Kinder, die weitaus schlimmer dran waren als ich. Ich habe immer Essen bekommen und wurde nicht geschlagen. Ich habe auf andere Arten zu spüren bekommen, dass ich nicht erwünscht war. Wirklich subtiler waren sie dadurch aber auch nicht. Aber ich hatte gute Freunde, die mir immer zur Seite standen.“ Er lächelte die anderen an. Joe nickte. „Das erleichtert mich, auch wenn es trotz allem fürchterlich ist, dass deine letzten Jahre so aussehen mussten. Glaub mir, wenn ich davon gewusst hätte, hätte ich mich dafür eingesetzt, dich zu mir zu holen. Für mich ist es schockierend, so unerwartet zu erfahren, Vater zu sein, doch was mich viel mehr erschüttert, ist, dass ich mehr als zwanzig Jahre nichts von deiner Existenz wusste. Das tut mir sehr leid, Joey.“ „Das muss es nicht. Du konntest nichts dafür.“ „Ich weiß. Und ich verstehe nicht, warum Susan es mir nie gesagt hat. Vor allem nach ihrer Scheidung.“ Joey nickte. Diese Tatsache verletzte ihn am meisten. Seine Mutter hatte ihn jahrelang bei einem Mann leben lassen, der nicht sein leiblicher Vater war. Hatte sie angenommen, es wäre besser für ihn, weil sein wirklicher Vater nur ein Fremder für ihn gewesen wäre? Oder hatte es sie nicht interessiert? Aber wie konnte er ihr egal gewesen sein, wenn er ihr Sohn gewesen war? Oder war er vielleicht doch der Auslöser für die Scheidung gewesen und sie hatte ihn deswegen gehasst und zurückgelassen? Jemand berührte seinen Arm. Er sah auf und begegnete Yugis mitfühlendem Blick. Und der nur allzu verhassten Falte auf seiner Stirn. „Du wirst viele Antworten vielleicht nicht mehr bekommen, Joey. Aber es bringt auch nichts, sich von ihnen auffressen zu lassen.“ „Ich weiß“, erwiderte Joey und seine Stimme war für sein Empfinden viel zu brüchig. „Aber es tut weh, es nicht zu wissen.“ „Damit musst du leben.“ „Joey“, begann Joe vorsichtig und räusperte sich. „Ich kann dir nichts vorschreiben. Alles, was ich tun kann, ist dir ein Angebot zu machen. Bis zu deiner Volljährigkeit ist es nicht mehr lange, dann hast du ohnehin volle Entscheidungsmacht über dich selbst. Bis dahin und darüber hinaus, biete ich dir an, hier zu bleiben. Wir werden mit dem Jugendamt in Japan sprechen und mit den Ämtern dieses Landes. Bis sie etwas erreichen, wird - so wie ich die Behörden kenne - ohnehin genug Zeit vergangen sein, sodass du längst volljährig bist. Joey.“ Er beugte sich vor. „Ich möchte dich kennen lernen. Du bist mein Sohn. Es ist nicht mehr als ein Angebot.“ Joey schluckte und blickte von seinen Freunden zu Joe. Sie lächelten und nickten ermunternd. Wenn er Joes Angebot annahm, würde er hierbleiben müssen. Er wollte seine Freunde nicht zurücklassen. Doch etwas anderes in ihm war stärker: Der Wunsch, seinen Vater kennen zu lernen. Ehe er den Mund öffnete, spürte er sich bereits nicken. Und damit bekam Joey Wheeler einen Vater. oOo „Ihr wisst, wie es läuft?“ Joe war anzusehen, dass er die Stimmung nur ungern durch seine Worte weiter dämpfte. Aber es war klar, dass sie sich über kurz oder lang damit befassen mussten. Die Traube vor dem Friedhofstor war in den letzten zehn Minuten noch größer geworden. „Sie werden euch Fragen stellen. Persönliche Fragen, vielleicht auch Fragen, die falsche Unterstellungen beinhalten. Das ist eine Taktik, um euch zu einer Reaktion zu bewegen - ganz gleich welche. Ignoriert das. Der Wagen wartet draußen auf uns, etwa zehn Meter vor dem Tor. Bleibt einfach dicht hinter mir und geht nicht auf die Reporter ein.“ Synchrones Nicken folgte seinen Worten. Joey legte einen Arm um Serenity. „Ich weiß, dass wird jetzt nicht leicht“, sagte er leise zu ihr und strich ihr über die nasse Wange. „Aber ich bin die ganze Zeit bei dir. Und die anderen halten dir den Rücken frei.“ Er zwinkerte ihr zu. „Lass deinen großen Bruder nur machen.“ Serenity nickte und presste sich an ihn. Joey hielt den Schirm etwas tiefer. Er würde damit den Blick auf seine Schwester so weit wie möglich verdecken. „Bereit?“ Für jeden anderen klang es, als würden sie gleich ein Schlachtfeld betreten. Als das Friedhofstor geöffnet wurde und sie beinahe im selben Moment von der blitzenden, lauten, penetranten Masse verschluckt wurden, erkannte Joey, dass der Vergleich der Realität viel zu nahe kam. oOo Drei Stunden nach der ersten Begegnung mit seinem leiblichen Vater traf er Serenity. Joe hatte sie besucht, nachdem er den Brief bekommen hatte, denn es war die einzige Adresse, an die er sich wenden konnte. Er hatte festgestellt, dass Serenity außer ihrer Mutter niemanden in den Staaten hatte, der sich um sie kümmerte und hatte ihr angeboten, sie vorerst zu sich zu nehmen. Sie hatte zunächst abgelehnt, doch als Duke sie (viele amerikanische Beziehungen und Recherche später) schließlich erreicht und ihr mitgeteilt hatte, dass Joey bereits im Flugzeug nach Los Angeles saß, hatte Serenity Joe Bescheid gegeben. Das Treffen mit Serenity war gleichsam erfreulich wie schmerzlich. Joey sah, wie tief die Trauer um den Verlust ihrer Mutter saß. Für sie war ihre Mutter ihre ganze Familie gewesen. Lange hielt er seine Schwester einfach in den Armen und versuchte, sie zu trösten. Als die Tränen versiegten, setzten sie sich und sprachen miteinander. Über ihre Mutter, über ihren Vater und über Joe. Er erfuhr, dass Joe Serenity angeboten hatte, die Vormundschaft für sie zu beantragen, wenn sie es wollte. Er hatte ihr erklärt, dass er sie nicht einfach zurücklassen würde, bloß weil sie nicht seine leibliche Tochter war. Joes Fürsorge galt beiden Kindern von Susan. Dieser Umstand machte den Aufenthalt für Joey nur angenehmer. Nun konnte er bei seiner Schwester bleiben und noch dazu schien es, als würde in Zukunft gut für sie gesorgt werden. Eine Frage stellte sich Joey dennoch: Wer war Joe? Dass er nicht irgendwer war, hatte er in dem Moment gewusst, in dem Joe am Flughafen aus der Limousine gestiegen war. Er hatte verdammt noch mal ausgesehen wie Kaiba! Außerdem wohnte Joe in einer Villa, die mit Sicherheit genauso groß war wie die von den Kaiba-Brüdern. Wer Joe tatsächlich war, erfuhr Joey zwei Tage später, als er zum ersten Mal seit seiner Ankunft amerikanisches Fernsehen sah. Er betrat das Wohnzimmer, in dem Serenity auf dem Sofa saß und stumm weinend ein Fotoalbum durchblätterte. Joey setzte sich zu ihr und strich ihr tröstend über den Rücken, während er sich von ihr die Geschichten zu den Bildern erzählen ließ. Serenitys erster Schultag. Ihre erste eins in Mathe. Ihr erstes Fahrrad. Ihr erster Besuch der Ostküste ... Sie sprachen über vieles, von dem Joey nicht gewusst hatte, weil er einfach kaum Gelegenheit gehabt hatte, mit ihr darüber zu reden. Schließlich betrachteten sie die Bilder schweigend. Im Hintergrund lief der Fernseher. Joey horchte auf, als der Name Joe Wallstein fiel. Mit immer größer werdenden Augen verfolgte er den Beitrag. Als der Bericht endete schluckte Joey schwer und suchte Serenitys Blick. Ihre Augen waren noch immer leicht gerötet, doch angesichts Joeys fassungslosem Blick erhellte ein belustigtes Lächeln ihre Züge. „Hast du es etwa nicht gewusst?“ Joey schüttelte den Kopf. Serenity kicherte. Wäre er nicht so konfus gewesen, hätte er sich darüber gefreut, denn es war das erste seit Tagen. „Ja, Joe ist der CEO der Anwaltskanzlei Wallstein Inc. Ja, es ist eine der erfolgreichsten Kanzlein der Vereinigten Staaten. Ja, dieser Mann ist dein Vater.“ Joeys Gehirn hatte bereits nach dem ersten Satz ausgesetzt. oOo Der Abschied von Téa war tränenreich. Sie umarmte ihn einmal, zweimal, dann noch einmal und verlangte unter Drohungen, dass sie in Kontakt bleiben sollten und er sie verdammt noch mal gefälligst besuchen sollte, wenn er schon einen stinkreichen Vater hatte. Joey drückte sie lächelnd und versprach ihr alles, was sie hören wollte, denn niemand war wahnsinnig genug, Téa zu widersprechen. Der Abschied von Tristan und Yugi, zwei Tage später, tat weh. Joey wusste nicht, wann sie sich das nächste Mal wieder sehen würden. Joe hatte ihm versichert, er dürfe jederzeit zurück nach Japan. Joey zweifelte nicht daran, dass Joe einen Privatjet besaß, doch bei dem Gedanken daran, ihn zu benutzen, wurde ihm ganz komisch. Er hatte sich noch immer nicht damit abgefunden, wer Joe in Amerika war. Er umarmte Tristan unbeholfen, klopfte ihm auf die Schulter und wünschte ihm alles Gute. Er versprach, sich regelmäßig zu melden und als Tristan ihm nahe legte, den Straßen von Amerika zu zeigen, wer Joey Wheeler war, konnte er die (natürlich vollkommen männlichen) Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie fielen sich in die Arme und heulten wie Schlosshunde. Im Nachhinein würde jeder von ihnen bestreiten, sich auch nur umarmt, geschweige denn geflennt zu haben. Yugi schmerzte der Abschied nicht weniger als Joey. Er umarmte seinen besten Freund mit einem unwohlen Gefühl. Er hatte Angst, ihn nicht mehr wieder zu sehen. „Pass gut auf dich auf, Joey“, murmelte Yugi gegen seine Schulter. „Ich bin so froh für dich.“ Niemandem glaubte er diese Worte so vorbehaltlos wie Yugi. „Danke, Yugi. Wegen euch hab ich das durchgehalten. Danke.“ Sie lösten sich voneinander. Yugi lächelte. „Du hast jetzt wieder eine richtige Familie, Joey. Ich hoffe, sie wird so, wie du dir das vorgestellt hast.“ Joey grinste. „Ich hab eigentlich keine Vorstellungen. Das kann nur ein Vorteil sein.“ Er sah ihnen hinterher, als sie eincheckten. Dann, mit einem letzten Winken, waren sie weg. Joey atmete tief ein und stieß den Atem dann wieder aus. Er drehte sich um und ließ das Terminal hinter sich. *-* Am selben Tag erhielt Joey sein vorläufiges Aufenthaltsvisum. Joe musste einige Beziehungen spielen gelassen haben, um es so schnell zu bekommen. *-* Einen Monat später begannen offiziell die Verhandlungen, Serenitys Vormundschaft auf Joe Wallstein zu übertragen. Es würde ein langes, nervenaufreibendes Unterfangen sein, in dem Joey gegen seinen Vater aussagen müsste, um seine Unfähigkeit als Vormund nachzuweisen. Ein halbes Jahr später beschloss Joey, volljährig wie er zu diesem Zeitpunkt längst war, die doppelte Staatsbürgerschaft zu beantragen, um in den Vereinigten Staaten bleiben zu können. Dreieinhalb Jahre später hörte er zum ersten Mal davon, dass Seto Kaiba seinen Bruder misshandelte. Joey Wallstein, der den Namen seines leiblichen Vaters angenommen hatte - als letzten Schritt in sein neues Leben - wusste sofort, dass mit der Nachricht etwas nicht stimmte. [tbc] Kapitel 2: Eskalation des Unverständlichen ------------------------------------------ Noch ein kurzer Hinweis: Zeitangaben zu Beginn des Kapitels gehen immer von der eigentlichen Gegenwart im Prolog aus. 3 Monate Vorher Gelangweilt zappte Joey Wheeler durch die Fernsehprogramme. Talkshow. Werbesendung. X-beliebiges Casting. Möchtegern-Talkshow. Dauerwerbesendung. Frustriert warf er die Fernbedienung beiseite und legte den Kopf in den Nacken. Das Programm war sogar noch schlimmer als in Japan. Dort hatte man wenigstens bei all den überdrehten Sendungen das Gefühl vermittelt bekommen, etwas zu lernen. Sein Blick wanderte zu dem Schreibtisch am anderen Ende des Raumes. Er wusste, dass dort Arbeit auf ihn wartete. Ebenso wie er wusste, dass der Briefkasten seines Mail-Postfaches mittlerweile wieder gut gefüllt war und provozierend blinkte. „Noch fünf Minuten.“ Er schloss die Augen. Im Hintergrund erklang das hysterische Gekreische eines aufgetakelten Soon-to-be-Models und Joey unterdrückte ein frustriertes Aufstöhnen. „Amerikaner“, murmelte er, gleichzeitig wissend, dass Japaner nicht weniger nervig sein konnten. Im Gegensatz zu den meisten kannte er beide Seiten. Das Klingeln des Telefons beendete jeglichen Versuch, sich für einige Momente zu entspannen. Joey rappelte sich auf und schlurfte zu seinem Arbeitsplatz. Er fuhr sich durch die Haare, die er dadurch weniger bändigte denn mehr zerzauste und griff nach dem Hörer. „Wallstein Inc. Wheeler am Apparat. Sie sprechen mit dem bestaussehenden Mitarbeiter der Firma.“ „Man hat mich schon wieder mit diesem Verrückten verbunden. Dabei habe ich doch ausdrücklich nach meinem Sohn verlangt.“ „Joe.“ „Ich werde meine Sekretärin feuern lassen, wenn sie mich noch einmal so reinlegt.“ „Du würdest Sophie niemals feuern. Ohne sie würdest du den Weg nach Hause nicht finden.“ „Und das, wo ich doch praktisch in meinem Büro wohne? Ich glaube nicht.“ „Wie reserviert man die First Class Tickets nach Übersee? Wo wird deine Wäsche gereinigt? Wann muss der Rhododendron gegossen werden?“ „Du hast recht. Ohne Sophie wäre ich aufgeschmissen.“ „Hör auf deinen Sohn. Er ist nicht so blond, wie er aussieht.“ „Deine Haare hast du von mir.“ „Ich weiß.“ „Und deine Augen von –“ „Meiner Mutter. Serenity hat die gleichen. Es ist mir nicht entgangen, weißt du.“ Ein kurzes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Dann erklang ein Seufzen am anderen Ende der Leitung. „Solltest du nicht bei dem Abteilungsmeeting sein?“ „Solltest du nicht überrascht sein, dass ich nicht dort bin?“ „Joseph.“ „Nenn mich nicht so! Das hat Téa auch immer gemacht, wenn ich nicht das getan habe, was sie am besten für mich hielt.“ „Dann muss ich ihr bei nächster Gelegenheit dafür danken.“ „Joe! Wenn du mich belehren willst, dann lass dich nicht immer von mir vom Thema ablenken.“ „Oh.“ Joey verdrehte die Augen. „Wir haben echt noch viel Nachzuholen mit der Vaterschaft.“ „Joey, du bist längst volljährig. Ich kann dir nichts mehr vorschreiben, was nicht mit firmeninternen Dingen zu tun hat.“ „Und wie jeder weiß, ist es aus diesem Grund grausam, den eigenen Vater zum Chef zu haben.“ Joe schwieg und Joey registrierte mit einem gequälten Stöhnen, dass er seine Worte ernst genommen hatte. „Das war ein Scherz, Joe.“ „Oh.“ Joey setzte sich auf seinen Bürostuhl und begann, vor und zurück zu rollen. „Was kann ich für dich tun, Joe?“ „Vielleicht sollten wir das nicht über das Telefon besprechen. Es geht um deinen weiteren Werdegang.“ Joey schloss die Augen und lehnte sich zurück. Ein leidiges Thema. Nach einigen Monaten des Einlebens in den Vereinigten Staaten hatten Joey und sein Vater sich zusammengesetzt und ein Gespräch über seine Zukunft geführt. Kein typisches „Sohn, aus dir soll mal etwas werden“-Gespräch. Joe war genauso neu in seiner Vaterrolle wie Joey in der eines Sohnes, dessen Wohl im Sinne seines Vaters war. Joe hatte ihm erklärt, dass er außer Joey keinen Erben besaß. Er hatte ihm deutlich gemacht, dass er von Joey nicht erwartete, eines Tages seine Firma zu übernehmen. Er wollte ihn aber in allem unterstützen. Joey gestand, sich bisher keine wirklichen Gedanken über seine künftige Berufswahl gemacht zu haben, da seine Noten keinen großen Raum für Träume gelassen hatten. Sie überlegten lange hin und her, bis Joey vorschlug, es zumindest zu versuchen. Joe hatte er damit ein belustigtes Lächeln entlockt. „Was deine Noten betrifft“, hatte er Joey zwinkernd gesagt, „mach dir keine Gedanken. Du wirst hier ganz neu anfangen können.“ Joey gefiel es eigentlich nicht, durch Joes Einfluss voranzukommen, doch er nahm sich vor, nur dieses eine Mal Nutzen daraus zu ziehen. Alles andere würde er sich selbst erarbeiten. Natürlich hatte Joey nicht angenommen, Anwalt zu werden wäre leicht. Im Gegenteil, er hatte eine gewisse Hochachtung vor allen, die das Studium schafften und je mehr er sich darüber informierte, desto unsicherer wurde er, ob er es jemals schaffen würde. Dank Joe bekam er die Möglichkeit, an einem Aufnahmetest der Universität in Chicago teilzunehmen. „Joey?“ Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. „Was?“ „Ich sagte, dass du besser in mein Büro kommst.“ „Klar. Gib mir einen Moment.“ Er legte auf und streckte sich. Dann stand er auf und durchquerte den Raum. Die Fernbedienung lag auf dem Glastisch vor der Sofagarnitur. Er erhaschte einen Blick auf ein Bild von Kaiba in den Nachrichten. Bevor die Moderatorin zum Sprechen ansetzen konnte, schaltete er den Fernseher aus und wandte sich ab. Das Übliche: Kaiba hatte wahrscheinlich wieder etwas total Beeindruckendes getan – wohlmöglich war er als erster CEO zum Mond geflogen ... Wenige Minuten später war er im Büro von Joe Wallstein. Sophie hatte ihm im Vorbeigehen zugewinkt und dann weiter gearbeitet. Sie war in ihren Mittvierzigern (was man ihr, wie Joey fand, nicht wirklich ansah) und arbeitete bereits mehr als zehn Jahre für seinen Vater. Sie hatte schon am ersten Tag der Wallstein Inc. an diesem Platz gesessen. „Joey.“ Sein Vater lächelte und Joey setzte sich in den Besuchersessel. „Und?“ „Ich will ehrlich zu dir sein, Joey.“ Kein guter Anfang für ein Gespräch. Ein beschissener Anfang, wenn er ehrlich war. „Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, unbedingt dieses Studium zu beginnen.“ Joe hatte die Hände ineinander verschränkt und seine Miene war die gleiche wie bei einem ernsten Klientengespräch. Joey würde ihn später darauf hinweisen, dass er an seiner Als-dein-Vater-rate-ich-dir-folgendes-Miene zu arbeiten. „Ich habe das Gefühl, als hätte ich dich dazu genötigt. Wenn auch nur indirekt. Du musst wissen, dass du mir in keinster Weise zu irgendetwas verpflichtet bist.“ Joey stieß einen langen Atem aus. Er kam nicht umhin, Joes Zweifel nachzuvollziehen. Auch er fragte sich schon seit mehreren Monaten immer öfter, ob das Jurastudium die richtige Entscheidung war. Er hatte sich allerdings nie von Joe in diese Richtung gedrängt gefühlt – im Gegenteil: Er hatte den Entschluss alleine gefasst. Vor etwas mehr als drei Jahren. „Joe“, begann er und suchte nach den richtigen Worten. „Vielleicht brauche ich einfach noch etwas mehr Zeit. Ich weiß doch noch gar nicht wirklich, wie dieses Jurastudium eigentlich ist.“ Noch vor drei Jahren hatte Joey geglaubt, Anwalt zu werden bedeutete, sich in ein Jurastudium zu stürzen und es einfach zu absolvieren (wobei einfach hier ein relativer Begriff war). Doch stellte sich bald heraus, dass die Vereinigten Staaten im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern vor Beginn eines Jurastudiums einen Abschluss eines anderen Studiums forderten. Nach einigem Hin und Her und auf den Rat seiner Schwester hin, bewarb Joey sich für Soziologie an der Universität von Chicago. Nachdem er den Aufnahmetest durch wochenlanges Lernen und die tatkräftige Unterstützung von Serenity bestanden hatte, begann das Soziologiestudium. Es war der Horror. Joey hatte während seiner Schulzeit nie wirklich feststellen können, was ihm gut lag oder welche Talente er fördern konnte. Er hatte sich zu sehr auf das Duellieren konzentriert, um an etwas Anderes denken zu können. Tatsächlich hatte er sogar angenommen (oder vielmehr befürchtet), eines Tages als gewöhnlicher Arbeiter zu enden, so wie der Großteil der japanischen Bevölkerung. Amerika war anders: Hier nahmen die Menschen es nicht einfach hin - hier wollten sie offenbar nicht wie alle anderen werden und dem allgemeinen kollektiven Wohl der Gesellschaft durch tagtägliches, monotones Arbeiten ihren Beitrag leisten. Aber dies alles mal beiseite: Soziologie war nicht das, was Joey sich unter dieser Freiheit vorstellte. Drei Jahre hatte er es versucht, hatte sich eingeredet, eines Tages ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, aber es blieb aus. Mit Mühe schaffte er den Abschluss und bewarb sich an der School of Law an der gleichen Universität, um endlich den nächsten Schritt zu tun, doch nach mittlerweile zweieinhalb Monaten war seine Motivation dem Nullpunkt zum Greifen nah. Wenn er jetzt jedoch aufhörte, kam das einer Niederlage gleich und Joey war nicht bereit, alles hinzuwerfen. „Joey, es wird in den nächsten vier Jahren nicht einfacher werden.“ Joe musterte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen. Joey kannte diese Mimik mittlerweile gut genug, um die Sorge in ihr zu erkennen. „Denkst du ich merke nicht, wie schwer es dir jetzt bereits fällt, dich zu motivieren? Wie wird das in einem Jahr aussehen? Muss ich dich zwingen, zur Universität zu gehen? Werde ich dich am Ende der Semesterferien davon überzeugen können, überhaupt wieder dorthin zu gehen? Joey.“ Er seufzte und beugte sich vor. „Niemand verlangt das von dir. Ich habe dich nicht zu mir geholt, nur um dich zu meinem Nachfolger zu machen. Du sollst für dich entscheiden können, was du machen willst. Und wenn du als Duel Monsters spielender Wallstein-Erbe durch die Vereinigten Staaten ziehst. Das soll mir nur recht sein, solange du es gerne machst.“ Er schmunzelte. „Allerdings wäre es in diesem Fall gut, wenn du wenigstens gewinnst. Das kann ich von meinem Sohn erwarten.“ Joey hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und blickte lächelnd an die Decke. Tatsächlich war Joe mit seinen letzten Worten einer geheimen Vorstellung schon ziemlich nahe gekommen. „Wir könnten auch eine Vater-Sohn-Show daraus machen. Ich bringe dir bei, wie man sich duelliert und wir reisen durch die Staaten.“ „Dafür bin ich wohl leider schon zu alt.“ „Lass das nicht Sophie hören. Sie schickt dir wieder den Yoga-Trainer, damit du nicht abbaust.“ Sie sahen sich an und begannen zu lachen. Eine halbe Stunde später war Joey wieder in seinem Büro. Es war eine Art Arbeitszimmer, das Joe ihm für die Zeiten zwischen Universitätsvorlesungen zur Verfügung gestellt hatte. Außerdem diente es dem Zweck, Joey einen besseren Überblick über die Kanzlei gewinnen zu lassen. Joey hatte in den letzten Jahren gerne Zeit hier verbracht. Ebenso sehr hatte er es schätzen gelernt, sich mit einem Kaffee in die Lobby zu setzen und die Leute zu beobachten. Er begegnete dort Menschen, die auf der Suche nach Hilfe aus scheinbar aussichtslosen Situationen waren. Mit einigen von ihnen unterhielt er sich, andere schwiegen und beachteten ihn nicht weiter, wieder andere erweckten den Eindruck als würden sie nur darauf warten, dass man ihnen die Möglichkeit gab, ihr Herz auszuschütten. Joey hatte schon viele Geschichten gehört und hatte festgestellt, dass die Menschen – egal ob in Japan, Amerika oder irgendwo anders in der Welt – doch alle gleich waren und die gleichen Probleme hatten. Diese Bereitschaft zur Betrachtung seiner Mitmenschen hätte ihn eigentlich für das Soziologiestudium zugute kommen sollen, aber bei jeder erneuten Lesung in der Universität war Joey nicht umhin gekommen zu bemerken, dass nichts von dem, was die Dozenten von ihren Blättern ablasen, auch nur ansatzweise die Emotionen in den Augen einer Ehefrau einfing, die sich nichts sehnlicher wünschte, als dass das Dahinscheiden ihres bereits seit sieben Jahren komatösen Mannes nicht noch mehr in die Länge gezogen wird. Oder das Beben in der Stimme eines Zweiundzwanzigjährigen, dem die einzige Behandlungsmöglichkeit seiner Krankheit durch ein veraltetes Gesetz der Ärztekammer verwehrt wurde. Wenn Joey in den letzten drei Jahren etwas gelernt hatte, dann dass Menschen sich an der Universität nicht verallgemeinern ließen – besonders nicht, wenn es um ihre Schicksale ging. Er füllte ein Glas mit Wasser und setzte sich auf sein Sofa, schaltete den Fernseher wieder an und stellte ihn auf lautlos. Dann nahm er einen Schluck und starrte abwesend in das halb volle Glas. Joe hatte recht. Auf lange Sicht würde das Jurastudium ihm nichts bringen. Selbst wenn er es beenden würde, was wären seine weiteren Optionen? Als Anwalt bei Wallstein Inc. beginnen und für den Rest seines Lebens vor Gericht Einspruch gegen irgendwas erheben? Vor einem Monat hatte er noch mit dem Gedanken gespielt, sich auf Familienrecht zu spezialisieren. Nach dem Sorgerechtsprozess um Serenity hatte er sich die Frage gestellt, wie viele Familien es noch schwerer hatten als sie und ebenfalls einen Anwalt brauchten, der ihnen half. Doch so sehr es ihn auch stolz machen würde, den Menschen damit einen Gefallen tun zu können, wusste er doch genauso, dass er auf Dauer nicht wirklich glücklich würde. Es würde ihn zermürben, bei einem besonders schweren Fall vielleicht sogar auffressen. Das war nicht er. Er hatte mit Yugi, Téa, Tristan und sogar Duke schon über ähnliche Themen gesprochen. Im Gegensatz zu ihm schienen sie alle Pläne zu haben, die funktionierten. Keiner von ihnen stand kurz davor ein Studium, auf dessen Realisierung sie drei Jahre hingearbeitet hatten, einfach abzubrechen. Frustriert stöhnend presste er sich das Glas gegen die Stirn. Er fühlte sich wie in einer Midlife Crisis. Was soll noch aus meinem Leben werden? Was habe ich bisher aus meinem Leben gemacht? Immer dieselben Fragen und er war erst vierundzwanzig! Nach schier endlosen Sekunden öffnete er die Augen und sah zum Fernseher. Und sein Blick traf wiederholt auf das Bild von Kaiba. Er schnaubte. „Ich wette, du musstest dir auch nie solche Fragten stellen, nicht wahr, reicher Pinkel?“ Der Umstand, dass er durch seinen Vater mittlerweile sicher genauso reich war, änderte nichts daran, dass Kaiba für ihn immer ein reicher Pinkel bleiben würde. Kaibas Bild neben der sprechenden Moderatorin wurde abgelöst von einem Film. Eine rasche Aneinanderreihung von schnellen Kameraeinstellungen, alle umrahmt von Mikrofonen, die Kaiba folgten. Etwas an dem Bild machte Joey stutzig. Es war nicht die typische Kaiba-Reportage. Hier ging es nicht um das Medieninteresse an einer neuen Software oder die Fanhysterie um einen erneuten Duel Monsters Titel. Da war kein Lächeln auf den Lippen der Nachrichtensprecherin und Kaiba war noch nie vor einer Kamera geflohen. Er rannte zwar nicht vor ihr weg, aber etwas an seiner Haltung verriet, dass es hier nicht um die simple Penetranz von irgendwelchen Reportern ging, die dem Firmenleiter Insider-Informationen entlocken wollten. Joey schaltete den Ton ein. „- vielleicht sogar Anzeige gegen Seto Kaiba erhoben worden sein. Er selbst verweigert jegliches Interview und seine Pressesprecher dementieren die Anschuldigungen. Bisher ist nicht viel über die derzeitige Situation bekannt, jedoch soll Mokuba Kaiba trotz der Missbrauchsvorwürfe gegen Seto Kaiba noch immer bei ihm wohnen. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis das Jugendamt auf die Anschuldigungen reagieren und nähere Untersuchungen in die Wege leiten muss. Wir werden Sie natürlich weiterhin über dieses brandaktuelle Thema auf dem Laufenden halten. Und nun zu den Nachrichten aus der Wirtschaft. Nach einem eher bescheidenen Anstieg des Wirtschaftswachstums im ersten Quartal, verzeichnen ...“ Doch Joey hörte längst nicht mehr zu. Er starrte auf den Bildschirm, ohne die nun laufenden Bilder wirklich wahrzunehmen. „Was zum –“, murmelte er, sprang regelrecht vom Sofa auf und war mit schnellen Schritten am Telefon. Er wählte ohne wirklich nachdenken zu müssen und nach zehn Sekunden meldete sich Yugis Stimme am anderen Ende, in Japan. Joeys erste Worte waren: „Wie ernst ist es mit Kaiba?“ Es stellte sich heraus, dass es sehr ernst war. Sogar scheißernst. Yugi erzählte Joey, dass etwa eine Woche zuvor zum ersten Mal das Wort Missbrauch im Zusammenhang mit Kaiba gefallen war. Zunächst hatte kaum jemand der Schlagzeile wirklichen Glauben geschenkt, da es in Japan schon vorgekommen war, dass Kaiba ähnlich schlimme Vergehen vorgeworfen worden waren. Von systematischer Zerstörung ganzer Existenzen bis hin zum penibel geplanten und befohlenen Auftragsmord. Es gab Aufmerksamkeitsheischende, die sich als Opfer von Kaibas Größenwahn präsentiert hatten (Joey fand einige von ihnen nicht einmal wirklich unglaubwürdig und hatte sich sogar vorstellen können, dass Kaiba sich ihnen gegenüber so verhalten hatte, wie sie es schilderten) und nicht zuletzt suchte die Boulevardzeitung immer nach Skandalen – meistens erfundene. Als jedoch in den Medien von bestärktem Verdacht auf Missbrauch und einer erdrückenden Beweislast berichtet wurde, wendete sich die Situation. Die Menschen begannen, den Nachrichten zu glauben und Kaiba zu verachten. Mehr und mehr. Aktien der Kaiba Corporation fielen ins Bodenlose, die Firma verlor Milliarden Yen. Am Dienstagabend war dann das Fatale geschehen: Eine Spekulation der Kaiba Corporation erwies sich als fatal, ein wichtiger Vertrag platzte und Partner wandten sich ab. Innerhalb von zweiundsiebzig Stunden hatte die Firma die Hälfte ihres Wertes verloren. Joey hörte Yugi schweigend zu. Er blinzelte immer wieder ungläubig und suchte mit dem Blick nach weiteren Schlagzeilen auf dem Bildschirm vor sich. Tatsächlich wurde eine Sondersendung zu dem Thema ausgestrahlt, die Kaibas Werdegang und bereits jetzt seinen Fall chronologisch schilderten. Schließlich sagte auch Yugi nichts mehr und Joey sah dies als Zeichen, dass er vorerst auf dem neuesten Stand war. „Scheiße“, murmelte er schließlich. Er hatte Kaiba zwar immer gehasst, aber dass es gleich so kam, hätte er nicht im Traum für möglich gehalten. Noch vor einigen Jahren hätte ihm die Nachricht von Kaibas Fall ein schadenfrohes Lachen entlockt, aber heute war da nur Gleichgültigkeit, ja sogar beinahe Mitleid. Was ihn jedoch nicht so kalt ließ waren die Missbrauchsvorwürfe. So sehr Kaiba ihn auch schikaniert hatte und so wenig Joey ihn auch hatte ausstehen können, sah er doch sogar, dass Kaiba Mokuba niemals etwas Derartiges antun würde. Dafür war er in der Vergangenheit viel zu bereit gewesen, alles für Mokuba aufzugeben, sogar sich selbst. „Was meinst du, was passieren wird?“ Yugi antwortete lange Sekunden gar nicht und Joey befürchtete bereits, dass die Verbindung nach Japan unterbrochen worden war (es wäre nicht das erste Mal gewesen), doch dann sagte er: „Ich bin mir nicht sicher. Es sieht nicht gut aus für ihn. Wenn es so weitergeht, wird seine Firma bankrott gehen. Und sie werden ihm Mokuba wegnehmen.“ „An Geld wird es ihm ja wohl nicht mangeln“, bemerkte Joey geringschätziger als er es gewollt hatte. Etwas von dem alten Kaiba-Hass schien noch da zu sein. „Er kann sich doch sicher hervorragende Anwälte leisten, die ihn da raushauen.“ Ein kleiner Teil von ihm hoffte, dass Kaiba bloß nicht auf amerikanischen Anwälte setzte, bis ihm einfiel, dass das rechtlich überhaupt nicht möglich war. „Hoffentlich hast du recht“, seufzte Yugi und klang nicht halb so überzeugt wie Joey sich fühlte. „Ach Yugi, du kennst Kaiba doch. Gib ihm ein oder zwei Monate und er schafft es glatt, seinen Mantel wieder weiß zu waschen und sein Image so aufzupolieren, dass ihm alle wieder zu Füßen liegen.“ Joey wusste ja gar nicht, wie sehr er sich irren sollte. Montag, 19. Juli Kaiba Corporations Fall noch nicht beendet. Fachleute sprechen von einem Rekordminus Donnerstag, 22. Juli Anschuldigungen gegen Seto Kaiba zwingen Jugendamt zum Handeln. Wird er das Sorgerecht behalten können? Dienstag, 27. Juli Beweise für Missbrauch von Mokuba Kaiba an Staatsanwaltschaft übergeben. In Kürze mögliche Anklage gegen Seto Kaiba Montag, 02. August Mokuba Kaiba vom Jugendamt von seinem Martyrium befreit! Skandal um die Kaiba Corporation – Seit Jahren falsche Werte in Gewinnbüchern Freitag, 06. August Seto Kaiba – Wie ähnlich ist er seinem Stiefvater? Dienstag, 10. August Kaiba Corporation am Ende! Verluste in Milliardenhöhe sowie Verdacht auf unsaubere Geschäfte bringen den Firmengiganten zu Fall Mittwoch, 11. August Seto Kaiba tritt Rückzug an. CEO der Kaiba Corporation legt sein Amt nieder Donnerstag, 12. August Verhandlungsbeginn im Misshandlungsfall von Mokuba Kaiba Anfang nächsten Monat angesetzt Freitag, 13. August Ehemaliger Angestellter von Seto Kaiba packt aus! Wie die Kaiba Corporation jahrelang die Öffentlichkeit täuschte Samstag, 14. August Ruin der Kaiba Corporation brachte hunderte um ihren Job. Forderungen nach Entschädigung werden laut Mittwoch, 25. August „Seto Kaiba ist nicht plötzlich so geworden. Er war es schon immer!“ Exfreundin von Kaiba im Interview Donnerstag, 2. September Verhandlungsbeginn im Fall Gebrüder Kaiba! Die Beweislast scheint erdrückend Montag, 6. September Schockierende Enthüllung im Fall Kaiba! Zeuge der Anklage belastet Seto Kaiba schwer! Joey ließ die Zeitung sinken. Es war keine Amerikanische, sondern eine japanische. Er hatte sich in den letzten Jahren angewöhnt, beide zu lesen. Er begegnete Serenitys prüfendem Blick. „Was ist es heute?“ „Das Übliche.“ Das Übliche bedeutete in etwa, dass die Medien sich wieder das Maul über Kaiba zerrissen. Selbst wenn man sich nicht dafür interessiert hätte, hätte man keine Möglichkeit gehabt, den Neuigkeiten zu Kaiba zu entrinnen. Die japanische Zeitung schien geradezu eine Extrarubrik dafür angelegt zu haben und selbst die amerikanischen Medien berichteten regelmäßig über die neuesten Enthüllungen im Fall Kaiba. Joey war es langsam Leid. Es war ekelerregend zu sehen, wie sich alle auf die Nachrichten stürzten, als warteten sie nur darauf, einen der Mächtigen fallen zu sehen. So tief und so schmerzhaft, dass sie sich einfach nur besser fühlen mussten. Joey wusste nicht, was ihn mehr anwiderte: Die Tatsache, dass die Menschen Kaibas Fall mit Schadenfreude und Faszination beobachteten oder die immer lächerlicher werdenden Schlagzeilen in den Medien. Im Internet war er durch Zufall auf einen Artikel gestoßen, der Kaiba tatsächlich unterstellte, Menschenhandel in Japan unterstützt zu haben. War man erst in die Ungnade der Gesellschaft gefallen, kannte sie kein Erbarmen mehr. Es war nur einen Frage der Zeit, bis man Kaiba für den Rückgang des japanischen Wirtschaftswachstums verantwortlich manchen würde. Oder für die Erderwärmung. Vielleicht sogar für die Kriege oder den Hunger auf der Welt. „Ihnen ist mittlerweile egal, ob er schuldig ist oder nicht“, sagte er zu Serenity und war überrascht, wie verächtlich er die Worte geradezu von sich drückte, als befürchte er, ihnen zu nahe zu kommen. „Kaiba trifft mittlerweile eine Kollektivschuld. Sie würden ihm alles ankreiden, selbst wenn er vor drei Jahren irgendwo eine Flasche Wasser gekauft und nicht passend sondern mit einem fünftausend Yen-Schein bezahlt hat.“ „Er mag ja in der Vergangenheit nicht immer freundlich gewesen sein, aber so etwas verdient niemand.“ Serenitys strich über die warme Kakaotasse. „Der Verlust seiner Firma trifft ihn bestimmt, aber wie muss er sich erst wegen Mokuba fühlen?“ Und das war das Problem. Joey hätte mit Gleichgültigkeit das langsame Dahinscheiden der Kaiba Corporation beobachten können. Er hätte nicht das geringste Bedürfnis verspürt, irgendetwas zu unternehmen, geschweige denn Kaiba zu helfen. Doch die Verwicklung von Mokuba änderte alles. Ein Ruin der Kaiba Corporation war zwar unwahrscheinlich gewesen, aber nicht unmöglich. In der Vergangenheit waren schon ebenso große Unternehmen untergegangen. Es war nicht diese Entwicklung, die Joey misstrauisch machte. Was ihn beschäftigte waren die Missbrauchsvorwürfe. Sie waren so realitätsfern, so abwegig, dass er das nagende Gefühl nicht los wurde, etwas an der ganzen Situation war mehr als nur falsch. Und damit meinte er nicht den Bankrott oder die Verhandlung, sondern den Ursprung der Vorwürfe. Wer war dafür verantwortlich? Die Wende kam elf Tage später. Joey hatte sich beinahe damit abgefunden, als stiller Beobachter unter Millionen, Zeuge eines unvergleichlichen Unterganges zu werden. Er hätte diesen Umstand mit einem unterschwelligen Gefühl der Unstimmigkeit akzeptiert. Dann schlug er die Zeitung auf und sah die Überschrift: Freitag, 17. September Seto Kaiba Sorgerecht entzogen! Gericht entscheidet zugunsten der Anklage Joey bemerkte erst Momente später, dass sein Griff um die Zeitung sich so stark verkrampft hatte, dass sie bereits Risse bekam. Nun war es vollkommen offensichtlich, dass jemand Kaiba systematisch zerstören wollte. Und der große Bruder in Joey entschied, dass er nicht zulassen würde, dies auf Kosten von Mokuba zu tun. [tbc] Kapitel 3: Rückkehr und Entbehrung ---------------------------------- Vorwort(e): Danke für die Kommentare und eure Eindrücke. Ich hoffe, ich erreiche bis März noch die Vorgesehene Mindestmarke an Wörtern für die Qualifikation zum Wettbewerb, aber ich möchte auch nicht, dass unter dem Druck die Qualität der Geschichte leidet. Im Notfall würde ich sonst aber darauf verzichten. Viel Spaß mit dem neuen Kapitel! @ DarkTiger: Ich habe im letzten Kapitel die Zeitangabe vor dem auf deine Bemerkung hin korrigiert. Du hattest recht, ich habe nicht aufgepasst. Jetzt müsste es passen ^ ^ 3 Wochen vorher Ein Ruck ging durch die Maschine, als die hinteren Reifen aufsetzten. Joey setzte sich aufrechter hin und beobachtete durch das Fenster neben sich die nur allzu vertraute Fassade von Domino. Er war mehr als einem halbes Jahr nicht mehr hier gewesen. Das letzte Mal war er anlässlich Tristans erster Beförderung in seinen Semesterferien gekommen und hatte sich mit ihm ein Wochenende gemacht, dass sie für viele Jahren nicht würden vergessen können. Sie hätten es nicht ganz so übertrieben, wenn sie gewusst hätten, dass zu Beginn der folgenden Woche jedes Detail ihrer Feier im Boulevardteil der japanischen Zeitungen nachzulesen gewesen wäre. Selbst nach dreieinhalb Jahren in seinem neuen Leben hatte Joey sich nicht ganz an die damit verbundenen Umstände seiner plötzlichen Bekanntheit gewöhnt. Nachdem seine Mutter gestorben und er von Joe aufgenommen worden war, hatte es etwa ein halbes Jahr gedauert, bis die japanischen Medien die ganze Geschichte aufgearbeitet und gedruckt hatten. Joey hatte sich immer gefragt, wie Kaiba sich in seiner Blütezeit wohl gefühlt hatte, umringt von Reportern und Kameras, die sich mit allem zufrieden stellen ließen, solange es nur von ihm kam. Doch spätestens als Joey seiner ersten Kamera gegenüberstand und ein Statement zu der gewonnenen Gerichtsverhandlung im Fall um Serenitys Sorgerecht abgeben sollte, war ihm klar, dass er dieser ganze Bekanntheit niemals etwas abgewinnen würde. Er war nicht Kaiba – er war nicht damit aufgewachsen, er musste sich auch nicht in der Öffentlichkeit beweisen. Das ganze schreckte ihn vielmehr ab und weckte den Wunsch an alte Zeiten, in denen außer seinen Freunden kaum jemand seinen Namen kannte. Joey nahm den Blick nicht von der Skyline, die im Hintergrund an ihm vorbeizog und immer langsamer wurde. Wenige Minuten später verließ er das Flugzeug mit seiner Sporttasche (mehr als das brauchte er nicht, auch wenn Serenity sicher eine halbe Stunden lang versucht hatte, ihn von der Nützlichkeit eines Koffers zu überzeugen). Er verließ den Bereich, in dem das Gepäck abgeholt wurde und noch bevor er in die Eingangshalle des Terminals hinaustrat, sah er die Reporter und blieb stehen. Sie hatten ihn offenbar noch nicht gesehen. Es überraschte ihn nicht, dass sie von seiner Reise nach Japan wind bekommen hatten. Ein Räuspern neben ihm lenkte seine Aufmerksamkeit nach rechts. Ein Sicherheitsmann mit Sonnenbrille deutete auf eine Seitentür mit der Aufschrift Nur für Befugte und nickte Joey zu. Joey lächelte dankbar und nahm die Möglichkeit eines stillen Rückzugs dankbar an. Während er einem steril beleuchteten Flur folgte, griff er nach seinem Mobiltelefon und rief Yugi an, um ihm bescheid zu geben, dass er nicht unter den anderen Gästen war und verabredete sich mit ihm vor dem Gebäude. Die Wiedersehensfreude war groß. Ständige Telefonate konnten nichts an dem Umstand ändern, dass ein ganzer Ozean zwischen ihnen lag und auch wenn es kitschig klang, so war es doch auf Dauer mehr als nur deprimierend, seinem besten Freund so fern zu sein. Als sie sich voneinander lösten und Joey sich räusperte, um die Emotionalität des Moments auf ein erträgliches Maß runterzuschrauben, begegnete er Yugis belustigtem Blick. „Was?“ „Drei Jahre. Und auch wenn man meint, du hättest dich kaum verändert, merke ich es doch immer, wenn wir uns mal wieder gegenüber stehen.“ „Tatsächlich?“ Yugis Worte halfen sehr, denn Joey hatte nach dreieinhalb Jahren in Amerika das Gefühl, irgendwo auf der Strecke stehen geblieben zu sein. Um ihn herum gingen seine Freunde alle ihres Weges, nur er dümpelte irgendwo auf dem Ozean der Möglichkeiten herum und kam nicht voran. Und jetzt fing er sogar an, in Metaphern zu denken! „Deine Ausstrahlung ist zwar nach wie vor die von Joey Wheeler, aber alleine der Grund, weswegen du jetzt hier bist, zeigt, wie sehr du dich weiterentwickelt hast.“ Joey kratzte sich verlegen am Kopf. „Yugi, hör auf mir Honig ums Maul zu schmieren, sonst platzt mein Ego gleich.“ Yugi lachte, dann bedeutete er Joey, ihm zu folgen. Sie überquerten den Parkplatz. „Du fehlst uns hier wirklich, Joey. Auch wenn wir genug Zeit hatten, um uns an die Situation zu gewöhnen. Es ist nach wie vor seltsam, dich nicht hier zu haben.“ „Ich bin doch nicht der einzige“, gab Joey zu bedenken. „Téa ist auch in den Staaten und genauso weit weg.“ „Ja, aber Téa hat von Anfang an deutlich gemacht, dass sie plant, nach Amerika zu gehen. Wir ... ich“, korrigierte sich Yugi und wich seinem Blick aus, „habe immer angenommen, dass gerade du hier bleiben würdest.“ Joey blieb stehen. Er merkte, wie unangenehm Yugi diese Worte waren. „Alter. Yugi. Ich nehm dir deine Worte jetzt nicht übel, klar? Ich verstehe, was du meinst.“ Yugi war ebenfalls stehen geblieben und sah ihn nun überrascht an. Tatsächlich schien er befürchtet zu haben, Joey würden seine Worte kränken. Joey kramte nach seiner Brieftasche. „Von uns allen hätte ich mich als Letzten heute irgendwo anders als in Japan gesehen. In meiner Vorstellung hätte ich wahrscheinlich noch nicht einmal Urlaub außerhalb Japans gemacht - mal ganz davon abgesehen, dass ich es mir wahrscheinlich nie hätte leisten können.“ Er griff nach seinem Ausweis und betrachtete ihn abwesend, dann zeigte er ihn Yugi. „Und jetzt sieh mich an. Ich bin amerikanischer Staatsbürger. Ich meine, wie wahnsinnig ist die Welt, dass sie mich zum Amerikaner macht? Als ob Japan mit mir nicht schon genug zu tun hätte!“ Damit entlockte er Yugi ein Lächeln. „Aber bis jetzt sind beide Länder noch heil.“ „Bis jetzt.“ Sie setzten ihren Weg fort. Schließlich erreichten sie Yugis Honda. Joey bewunderte den neuen Kleinwagen, woraufhin Yugi ihm einen leichten Stoß in die Seite gab und anmerkte, dass Joey in den Staaten bestimmt einen fünfmal teuren Wagen fuhr. Murrend stieg Joey ein und warf seine Tasche auf die Rückbank. „Also ob ich Kaiba wäre und mit Geld um mich werfen müsste“, murmelte er aus der Gewohnheit heraus, hin und wieder über Kaiba her zu ziehen. Dann erinnerte er sich daran, dass der Vergleich jetzt wahrscheinlich gar nicht mehr angebracht war. Was ihn zurück zu dem eigentlichen Grund für seinen Besuch brachte. Joey war nicht blauäugig an die Sache herangegangen. Ganz und gar nicht. Er hatte mit Serenity argumentiert, hatte aufwühlende, ungewohnt ernste Gespräche mit seinem Vater geführt und nicht zuletzt lange mit sich selbst gerungen, bevor er sich entschieden hatte: Er würde nicht zulassen, dass jemand auf Mokubas Kosten Kaiba systematisch zerstörte. Mokuba würde nicht wieder in ein Heim kommen. Dieser Gedanke war noch vor etwas einer Woche nicht mehr als ein Beschützerreflex gewesen, ausgelöst durch seine eigene Rolle als großer Bruder. Er hatte tatsächlich nicht mit der Entschlossenheit gerechnet, die hinter diesem Reflex schlummerte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Serenitys berechtigte Zweifel (nicht, weil sie Joey nicht verstand, sondern vielmehr, weil sie seine Entscheidung als schwer bis unmöglich zu realisieren einstufte) seinen Entschluss ins Wanken bringen würde. Er war davon ausgegangen, dass Joes Rationalität und Erfahrung jeglichen Ansatz eines Plans noch in seinen gröbsten Zügen unterbinden würde. Letztendlich hätte es seine eigene Intuition sein müssen, die ihm von all dem hätte abraten sollen. Nur, dass dem nicht so war. Nichts dergleichen trat ein. Indem er Serenity darlegte, aus welchen Gründen Mokuba in einem Heim alles andere als angemessen aufgehoben war und mehr Schaden davontragen würde als tatsächlich gerettet zu werden, beseitigte er seine eigenen übrigen Zweifel. Dadurch, dass er Joe sein zukünftiges Vorgehen Schritt für Schritt darlegte und es sogar mit Zahlen und Statistiken decken konnte, überzeugte er nicht nur seinen Vater, sondern auch sich selbst von der Tauglichkeit seines Vorhabens. Zu diesem Zeitpunkt sagte ihm seine Intuition schon lange, dass er keine Zeit mehr verlieren sollte. Joey war zwar theoretisch Laie auf dem Gebiet des Familienrechts, er hatte jedoch in den vergangenen Jahren ähnliche Fälle der Wallstein Inc. verfolgt, hatte alte Fallakten gemeinsam mit Serenity durchgearbeitet und hatte nicht zuletzt durch seinen Vater die Adresse einer hervorragenden japanischen Anwältin erhalten, die auf diesen Bereich spezialisiert war. Er war so gut vorbereitet, wie er sein konnte. In der Theorie. Er wusste, dass all diese Vorbereitung nur ein Bruchteil dessen war, was er brauchte. Das alles war nichtig, wenn Mokuba nicht bereit war, mit zu kommen. Er konnte ihn zu nichts zwingen. Es war nicht schwer gewesen, herauszufinden, in welches Heim Mokuba vorübergehend gebracht worden war. Mit der richtigen Wortwahl hatte Joey noch viel weniger ein Problem damit gehabt, einen Besuchstermin zu bekommen. Auch wenn es ihm widerstrebte, sich den Einfluss, den sein Name mir sich brachte, zu Nutzen zu machen, so hatte er in diesem Fall eine Ausnahme gemacht. Hier ging es immerhin nicht um ihn. „Das klingt nach einem soliden Plan“, sagte Yugi, während er sie durch den Nachmittagsverkehr in Domino steuerte. „Natürlich können wir nicht auf alles vorbereitet sein.“ Joey nickte und beobachtete abwesend aus dem Beifahrerfenster, wie vertraute Straßenzüge an ihnen vorbei zogen. Er erinnerte sich daran, wie Yugi von Anfang an klar gestellt hatte, dass er Joey mit seinem Entschluss nicht alleine lassen würde. Er bestand sogar darauf, dass Joey ihn in seine Pläne mit einbezog. Und er wurde es nicht müde, zu wiederholen, wie stolz er auf Joey war. Auch wenn sie gleich alt waren, bedeuteten Joey diese Worte doch ungemein viel. Yugi war immer sein Vorbild gewesen. Sowohl beim Duellieren als auch im wahren Leben. Diese Worte von ihm zu hören erleichterten ihn ungemein. Wie albern er doch immer noch war. Vielleicht hatte Kaiba damals nicht unbedingt unrecht gehabt, als er ihn als Yugis Schoßhund bezeichnet hatte. Joey war ihm tatsächlich immer gefolgt und in gewissem Sinne hatte er stets auf Lob von Yugi gehofft. Oder auf das Lob vom Pharao. „Wann genau hast du den Termin im Heim?“ „Um vier.“ „Das ist in einer halben Stunde.“ „Wir sind doch schon auf dem Weg.“ „Joey, wir kommen kaum voran. Bei dem Verkehr brauchen wir fünfzig Minuten.“ „Echt?“ „Wenn ich etwas schneller fahre, schaffen wir es in vierzig“, bemerkte Yugi schmunzelnd und fuhr bei diesen Worten über eine Ampel, die unter großzügiger Betrachtung noch gelb gewesen war. Joey lachte und öffnete das Fenster. „Ich schwör dir Yugi, genau das hat mir gefehlt.“ „Mir auch Joey. Mir auch.“ Kinderheim zur freudigen Hoffnung „Weißt du, was ich glaube? Die Namensgeber für solche Orte machen sich über die Menschen lustig.“ Joey hatte die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben und verzog den Mund, während er die japanischen Kanji auf dem Eingangsschild betrachtete. „Immer diese Beschönigungen. Und in Amerika ist es sogar noch schlimmer! Da wir dann nur das meiste mit biblischen Worten ergänzt.“ „Aber was sollen sie machen? Wenn schon der Name Hoffnungslosigkeit ausstrahlt, was bleibt den Kindern dann noch?“ Yugi durch und durch. Immer besorgt. Immer rücksichtsvoll. Joey lächelte. „Das stimmt wohl auch.“ „Joseph Wallstein?“ Die Pforte des Tores öffnete sich und eine Frau etwa um die fünfzig stand vor ihnen. Sie verneigte sich höflich. Yugi und Joey erwiderten die Geste. „Joey Wallstein“, stellte Joey sich vor. „Sind Sie Yumiko-san?“ „Ja. Wir hatten telefoniert. Bitte kommen Sie doch herein.“ Erneut verbeugte sie sich und trat beiseite, um sie hinein zu lassen. In den letzten Jahren hatte Joey sich nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten schnell an das Verhalten der Amerikaner gewöhnt. Sie verneigten sich nicht und tauschten Visitenkarten aus, sondern schüttelten sich die Hände. Unter den Männern galten zusätzlich unausgesprochene Regeln für die Stärke des Händedrucks. Japaner nannten stets den Nachnamen zuerst, wenn sie sich vorstellten, Amerikaner den Vornamen. Der größte Unterschied bestand wohl darin, dass in Japan niemals offen Kritik geäußert und in förmlichen Gesprächen nicht direkt verneint wurde. In Amerika war es anders. Es galt zwar die allgemeine Höflichkeit, jedoch sagten die Menschen dort ihre Meinung - sei sie positiv oder negativ - offen heraus und unverblümt. Etwas, das in Japan undenkbar wäre. Und jedes Mal, wenn Joey für kurze Zeit zurück nach Japan kam, spürte er, wie er sich weiter an das Verhalten seines neuen Heimatlandes gewöhnt hatte. Zwar saßen die alten Verhaltensweisen noch, doch immer häufiger erwischte er sich dabei, wie seine Verbeugungen steifer und der Reflex, die Hand des anderen zu greifen, stärker wurde. In Amerika hatte er vor dreieinhalb Jahren schiefe Blicke geerntet, als er sich an der Universität seinen Kommilitonen mit einer Verneigung vorgestellt hatte. Heute hatte er das Gefühl, in Japan zunehmend als Ausländer betrachtet zu werden. Sie folgten einem Kiesweg zum Eingang des Heims. Von hier aus konnten sie bereits die Stimmen von Kindern hören. Joey nahm an, dass sie hinter dem Haus in einem Garten spielten. Sie tauschten ihre Schuhe im Eingangsbereich gegen Hausschuhe und wurden durch eine Mehrzahl verschachtelter Flure geführt. Schließlich erreichten sie das Büro des Heimleiters. „Miyamori-san erwartet Sie bereits.“ Yugi und Joey tauschten einen letzten Blick, dann betraten sie das Büro. oOo Roland war der Familie Kaiba stets ein loyaler Angestellter gewesen. Im Alter von zweiundvierzig Jahren wurde er von Seto Kaiba eingestellt, nachdem dieser die engsten Vertrauten Gozaburo Kaibas entlassen hatte. Roland konnte von sich also behaupten, der erste wirkliche Angestellte der neuen Kaiba Corporation gewesen zu sein. Er hatte gesehen, wie Seto Kaiba sie aus den Trümmern der alten Firma errichtet und zu dem gemacht hatte, was sie heute war. Was sie bis vor kurzem gewesen war, korrigierte er sich wehmütig. In der Zeit seiner Anstellung hatte Roland die Entwicklung seines Vorgesetzten direkt beobachten können. Die Nachwirkungen von Gozaburos Erziehung waren zwar mitunter noch heute spürbar, doch waren sie in den letzten zehn Jahren kontinuierlich schwächer geworden. Einen deutlichen Einschnitt hatte es durch Yugi Muto gegeben. Sein Eintritt in das Leben des jungen Firmenleiters hatte wesentlich zu seiner zukünftigen Entwicklung beigetragen und das erste Duell gegen Yugi Muto war, das hatte Roland schnell festgestellt, von wegweisender Bedeutung gwesen. Seto Kaiba wusste es nicht, aber nach dem ersten Battle City Turnier vor sieben Jahren, hatte Roland sich persönlich dafür bei Yugi Muto bedankt. Für ihn war die Familie Kaiba mehr als nur sein Arbeitgeber. Er hatte Mokuba aufwachsen und Seto sich zum Besseren verändern sehen. Er war dabei gewesen, als das erste Kaiba Land eröffnet wurde. Er war Zeuge des offenen, ehrlichen Stolzes gewesen, den Seto Kaiba im Angesicht der sich in die Höhe erhebenden Ballons in Tokyo gezeigt hatte. Er hatte Mokuba durch den Park begleitet, hatte ein Auge auf ihn gehabt, während er die Attraktionen testete und selten hatte der jüngere Kaiba annähernd gestrahlt. Er hatte auch der Eröffnung des zweiten und dritten Kaibalands beigewohnt. Das dritte und vierte Battle City Turnier hatte er maßgeblich mit organisiert. Das zehnjährige Bestehen der neuen Kaiba Corporation vor vier Monaten hatte ihm schließlich bewusst gemacht, dass er nicht vorhatte, die Familie Kaiba freiwillig zu verlassen. Und nun wurde er Zeuge eines Niedergangs, wie es ihn selten gegeben hatte. Und es tat ihm in der Seele weh. Nicht der Ruin der Firma war es, der ihm zusetzte. Nicht die vielen Menschen, die ihren Anstellung verloren hatten. Nicht der Umstand, dass er nunmehr kein Gehalt bekam und selbst offiziell ohne Arbeit war. Es war der Anblick von Kaiba, der ihn die Zeitung verwünschen und den Verursacher des ganzen zutiefst verlassen ließ. Seto Kaiba hatte stets seine Fassung behalten. Als der Wert der Kaiba Corporation drastisch fiel, hatte er die Notfallmaßnahme eingeleitet - einen Plan, der zwar den Wertverlust nicht aufhalten, jedoch eine Verschuldung verhinderte. Er hatte scheinbar unberührt zugelassen, dass seine zuvor unantastbare Führung immer mehr an andere abgegeben wurde und hatte schließlich ganz auf sie verzichtet. Es war nicht der Verlust seiner Firma, der ihm Sorge bereitet hatte. Sein Geist, sein ganzes Wesen, war bei Mokuba gewesen. Mokuba, der als Opfer von Missbrauch dargestellt wurde, der ihm entglitt und immer mehr in unerreichbare Ferne rückte. Eine Entwicklung, deren bloße Beobachtung Roland so unbeschreiblich wütend machte. Er hatte nichts tun können. Hatte nur stumm beobachten können, wie die Schlagzeilen der Zeitung mit jedem Tag haarsträubender und unverschämter wurden. Hatte zusehen müssen, wie schließlich das Jugendamt der Villa einen unangekündigten Besuch abstattete und Kaiba die schwerwiegenden Anschuldigungen darlegten, die es nicht länger ignorieren konnte. Hatte schweigend zulassen müssen, dass sie Mokuba mitnahmen, der fluchte und Hilfe suchend den Blick seines Bruders suchte. Einen Blick, den er nicht gefunden hatte. Denn Seto Kaiba hatte sich abgewandt und drehte sich auch nicht um, als Mokuba aus dem Haus und in den schwarzen, verdunkelten Wagen geführt wurde, als wäre er ein Häftling. Roland hatte nie mit Kaiba darüber gesprochen. Aber hatte ihn gehört, während er die Tür hinter den Amtsmännern geschlossen hatte. Hatte gehört, wie es hinter den verschlossenen Türen des Empfangsraumes polterte und schließlich klirrte. Hatte die wuterfüllte Stimme gehört, die Worte, die Flüche. Und schließlich die Stille. Die alles erschütternde Stille, die die Luft verschlag und das Haus erzittern ließ. Roland hatte es nicht gewagt, Kaiba in diesem Moment zu stören. Er wusste, er war in seinem Leben einem Nervenzusammenbruch niemals näher gewesen. Er wusste, dass ein falsches Wort, eine missverstandene Geste, alles nur unumkehrlich schlimmer gemacht hätte. Darum ließ er ihn alleine. Darum ließ er sich von ihm am nächsten Tag mit einer Stimme, die das Beben nicht ganz zurückdrängen konnte, den Auftrag geben, ein Auge auf Mokuba zu haben. Roland hatte Seto Kaiba noch nie enttäuscht. Er hatte alte Beziehungen wieder aufleben lassen, um herauszufinden, wo Mokuba sich derzeit aufhielt. Man hatte ihn nicht zum jungen Kaiba gelassen, aber man konnte ihn nicht daran hindern, das Heim zu beobachten. Er kam sich zwar vor, wie ein Privatdetektiv aus dem Film, aber er hatte bisher jede Aufgabe gewissenhaft und akkurat ausgeführt. So auch diese. Und so kam er jeden Tag hierher und harrte in dem unauffälligen Leihwagen aus. Kehrte abends zurück zum dem Hotel, in dem Seto Kaiba derzeit wohnte, da die Presse seine Villa belagerte. Erstattete Bericht. Und nahm am nächsten Tag seinen Platz wieder ein. Er schien seinen Job gut genug zu machen, denn bisher hatte niemand Verdacht geschöpft. Er hatte noch keine misstrauischen Blicke geerntet. Manchmal setzte er sich in ein Restaurant an der Straßenecke. Die Inhaberin hielt ihn wahrscheinlich schon für einen Anwohner ohne Beschäftigung, so oft, wie er mittlerweile dort war. Aber sie sprach ihn nicht darauf an, denn solange er zahlen konnte, war alles gut. Dann waren da die Gerichtsbesuche. Jeder Tag zehrte an ihren Nerven. Jeden Tag wirkte Kaiba müder, blasser, besiegbarer. Er versuchte, seine Fassung zu bewahren. Er ignorierte Reporter und Journalisten, ließ seinen Pressesprecher für sich reden. Er schloss sich in seinem Hotelzimmer ein, verließ es nur für jeden weiteren Gerichtstermin. Er hielt den Kopf erhoben und reagierte auf keine der Anschuldigungen mit einem verräterischen Zucken. Ruhig trug er seine Seite vor. Scheinbar gleichgültig ließ er den hochstaplerischen Zeugen der Anklage Lügen über sich verbreiten und dementierte sie mit schier endloser Geduld. Das Urteil akzeptierte er mit einem starren Blick und schmalen, aufeinander gepressten Lippen. Den langen, nutzlosen Entschuldigungen seines viel zu teueren Anwalts hörte er nicht zu. Roland entließ den Anwalt und begleitete Kaiba zum wartenden Auto. Sie drängten sich durch die Reportermassen, zwängten sich in den Wagen und fuhren los. Den ganzen Weg über sprach Kaiba kein Wort. Ebenso wenig den nächsten Tag. Roland konnte nichts tun und in seiner Hilflosigkeit konzentrierte er sich doppelt so stark auf die Aufgabe, die ihm anvertraut worden war. Er fing an, sich die Überwachung zu gewöhnen. Morgens losfahren, einen Parkplatz am Straßenrand suchen. Nicht zu nah und nicht zu weit weg. Warten. Beobachten. Sichergehen, dass niemand von denen, der hierfür verantwortlich waren, Mokuba abholte. Der Umstand, dass sie nicht wussten, wer es war, machte das ganze nicht leichter. Die mögliche Liste war lang. Aber Roland hatte eine Ahnung, nach welchem Typ er Ausschau halten musste. Weiter beobachten. Warten. Schließlich zurück zum Hotel fahren. Kaiba informieren. Dann nach Hause. Schlafen. Sieben Tage nach dem Urteil war Roland an der gleichen Stelle, in einem anderen Wagen. Genauso unauffällig, aber mit einer anderen Farbe. Er trank einen Kaffee aus dem Becher und hörte die Nachrichten. Stellte sie ab als der Sprecher Seto Kaiba erwähnte. Bald war mittag. Er würde wieder das Restaurant aufsuchen. Die Inhaberin grüßte ihn immer freundlich, sie hatten sich sogar schon unterhalten. Sie war etwas jünger als er und hatte das Restaurant von ihrem Vater geerbt. Routiniert wanderte sein Blick die Straße hinauf und hinab. Und blieb an einem dunkelgrauen Honda hängen, den er nicht kannte. Der Wagen hielt vor dem Heim. Roland leerte den Becher und stellte ihn beiseite, und beugte sich vor, auch wenn er wusste, dass er dadurch nur unwesentlich mehr erkennen würde. Es war nicht das erste Mal, dass ein Auto vorfuhr. Tatsächlich herrschte in dem Heim viel Betrieb. Die Betreuer kamen früh und diejenigen, die nicht dauerhaft mit den Kindern im Heim wohnten, kamen Morgens und wurden abends abgelöst. Dann waren da die Paare, die das Heim besuchten. Einmal hatte Roland gesehen, wie sie mit einem kleinen Mädchen hinaus kamen. Es musste ein seltener Anlass gewesen sein, dass wusste er. Es wurde nicht alle Tage ein Kind adoptiert. Die Türen des Hondas öffneten sich. Zwei Personen stiegen aus. Und hätte Roland noch Kaffee getrunken, er hätte sich an ihm verschluckt. Denn selbst aus der Entfernung konnte er erkennen, um wen es sich handelte. Niemals hätte er damit gerechnet, Yugi Muto und Joey Wheeler hier zu sehen. oOo „Es ehrt mich wirklich sehr, dass Sie unser bescheidenes Heim besuchen, Herr Wallstein.“ Joey bemühte sich um ein höfliches Lächeln. Aus den Augenwinkeln sah er jedoch, wie der Heimleiter die Fingerspitzen aneinander legte. Kein gutes Zeichen. „Und wir sind noch erfreuter darüber, dass Sie in Erwägung ziehen, eines unserer Kinder zu sich zu nehmen. Diese armen Wesen sind vom Schicksal wahrlich benachteiligt worden und wir wünschen uns für sie nichts mehr als eine glückliche Zukunft in einer Familie.“ Die Zeigefinger der Hände begannen in einem monotonen Takt gegeneinander zu klopfen. Ein schlechtes Zeichen. „Aber ich rate ihnen doch, sich nicht von vornherein festzulegen. Sie sollten die Kinder erst kennen lernen. Mokuba Kaiba - nun, Sie kennen seine Geschichte vielleicht. Er ist ein gezeichneter Junge. Er hat viel durchgemacht.“ Viel durchgemacht, dachte Joey und unterdrückte ein Schnaube. Ja, aber nicht so, wie du denkst. Mokuba war bereits mehrmals entführt worden, um als Druckmittel für Kaiba herzuhalten. Er hatte in jungen Jahren mehr miterlebt als andere Kinder in seinem Alter, hatte aber stets die Lebensfreude behalten. Wer immer Mokuba jemals hatte lachen sehen, wusste, dass er ein glücklicher Junge gewesen war, dem sein großer Bruder alles bedeutete. „Mokuba ist, nun ... Er ist kompliziert. Er will sich nicht eingliedern, er rebelliert. Für sein Alter ist es nicht ungewöhnlich und für seine Situation auch nicht. Er hat jedoch bereits mehrfach versucht, wegzulaufen, müssen Sie wissen. Ich möchte Ihnen Mokuba keinesfalls schlecht reden, Herr Wallstein, dass müssen Sie mir glauben. Aber berücksichtigt man seine seelische Verfassung, lege ich Ihnen doch nahe, sich die anderen Kinder ebenfalls anzusehen und sie kennen zu lernen.“ Joey seufzte. Dann versuchte er es mit dem Geschäftslächeln, dass er sich von Joe abgeschaut hatte. „Das werde ich auch machen, Miyamori-san, aber ich würde vorher gerne mit Mokuba sprechen. Um mir selbst ein Bild zu machen. Wenn er bereit ist, mit mir zu sprechen, versteht sich.“ Joeys Familienname hing zwischen ihnen wie ein schweres Gewicht. Sein Lächeln tat das Übrige und der Heimleiter nickte. „Yumiko-san wird sie in das Besuchszimmer begleiten.“ „Danke.“ „Bitte gedulden Sie sich einen Moment. Ich werde Mokuba darüber informieren, dass er Gäste hat.“ „Bitte richten Sie ihm aus, dass ein alter Freund seines -“ Joey unterbrach sich. Mokubas Bruder zu erwähnen, der das Sorgerecht wegen angeblicher Kindesmisshandlung verloren hatte, war in Gegenwart von Yumiko-san bestimmt keine weise Entscheidung. „Sagen Sie ihm, Yugi würde sich freuen, ihn wieder zu sehen.“ „Das mache ich.“ Damit verließ sie den Raum. Yugi musterte ihn von der Seite. „Warum nennst du nur mich?“ „Yugi, wer kann dich nicht leiden? Wenn er das hört, muss er ganz einfach herkommen.“ „Und bei dir würde er sich weigern?“ „Na ja, Kaiba und ich waren nie wirklich ... freundlich zueinander. Oder respektvoll. Oder überhaupt irgendwie sozial.“ „Aber früher oder später wirst du ihm sagen müssen, was du vorhast.“ „Natürlich. Aber wir wollen nichts übereilen, okay? Für ihn ist das alles sicher schon schwer genug. Ich will nicht -“ Stimmen erklangen von draußen. Laute, aufgeregte Stimmen. Dann näherten sich schnelle Schritte. Joeys Worte verloren sich, als die Tür geöffnet wurde. Yumiko-san trat in dem Raum. Sie war blass und schien um ihre Fassung bemüht. „Herr Wallstein, es tut mir furchtbar leid, aber ...“ Sie rang nach Worten. Yugi und Joey waren aufgestanden. „Was ist passiert?“ „Ist alles in Ordnung?“ „Miyamori-san hat Sie sicher über Mokubas ... rebellierendes Verhalten informiert.“ „Ja.“ „Es ist kompliziert, Herr Wallstein. Derzeit befindet Mokuba sich auf dem Dach dieses Gebäudes. Er hat die Tür von außen irgendwie versperrt und weigert sich, mir überhaupt zuzuhören. Ich kann nicht zu ihm durchdringen. Er hat viel durchgemacht und ehrlich gesagt weiß ich nicht -“ Sie unterbrach sich und presste die Lippen aufeinander. Dann setzte sie erneut zum Reden an und es war klar, dass sie Wissen mit ihnen teilen würde, dass für gewöhnlich nicht für Besucher bestimmt war: „In seiner Situation und im Anbetracht der Lage ist es möglich, dass er sich vielleicht etwas antut.“ [tbc] Kapitel 4: Von Rebellion und Weitsicht -------------------------------------- 3 Wochen vorher (Der gleiche Tag) Mokuba war es leid. Er war alles so leid. Er hatte es satt, behandelt zu werden, als würde seine Meinung einen Dreck zählen. Er hatte die Nase voll von Erwachsenen, die meinten zu wissen, was das Beste für ihn war. „Haltet die Klappe!“, fuhr er die geschlossene Tür vor sich an und wich einige Schritte zurück. Er hatte eine lose Eisenstange des Dachzauns benutzt, um sie zu blockieren. Nicht kreativ, nicht schön, aber effektiv. „Ihr habt keine Ahnung! Lasst mich in Ruhe!“ Er hörte gedämpfte Stimmen von drinnen, aber seine Geduld war aufgebraucht. Er hatte lange genug versucht, vernünftig mit ihnen zu reden. Mit jedem von ihnen, verdammt nochmal! Er hatte hundertmal gesagt, dass die Vorwürfe gegen Seto Unsinn waren. Er hatte es den Leuten vom Jugendamt gesagt, danach einem Psychologen, anschließend dem Staatsanwalt und schließlich dem Richter. Und hatte zuhören müssen, wie der Psychologe seine Zurechnungsfähigkeit infrage stellte und der Staatsanwalt ihm bescheuerte Fragen stellte, die er nicht beantworten konnte. Er hatte versucht, ihnen die Wahrheit zu sagen. Sie hatten ihm nicht zugehört, ihn behandelt wie ein dummes Kind! Er hatte versucht, zu argumentieren. Sie hatten ihn nicht ernst genommen. Er hatte sie angeschrien. Sie hatten ihn ignoriert. Er war kein Opfer! Wenn jemand in dieser Situation ein Opfer war, dann Seto, weil man ihm diese Verbrechen angehängt hatte! Und jetzt war er hier - in einem verfluchten Heim! Er stieß mit dem Rücken gegen den Maschendrahtzaun, der das Dach umrahmte und rutschte an ihm hinab. Er zog die Beine an und umschlang sie mit den Armen. Er hasste das Heim. Es war der Beweis dafür, dass Seto besiegt worden war. Mokuba hatte keine schlechten Erinnerungen an seine Kindheit im Heim. Tatsächlich hatte er sich nach der Adoption durch Gozaburo Kaiba oft gewünscht, mit Seto in ihr Heim zurück zu kehren, wenn er seinen großen Bruder dadurch endlich wieder lachen sehen konnte. Doch die Situation hatte sich geändert, nachdem Seto die Firma übernommen hatte. Es war kontinuierlich besser geworden und Seto hatte tatsächlich wieder lächeln können, wenn auch nicht annähernd so oft wie zu ihrer Zeit im Heim. Mokuba hatte gelernt, damit zu leben und es war ein gutes Leben gewesen. Er hatte eine normale Schule besuchen können, hatte Freunde gefunden und war glücklich gewesen. Und er hatte gewusst, dass Seto auch glücklich war. Bis vor zwei Monaten, als plötzlich diese falschen Gerüchte Schlagzeile machten. Und aus irgendeinem Grund verpufften die Anschuldigungen nicht, sie wurden immer deutlicher und bedrohlicher. Mokuba wusste, dass irgendjemand seinem großen Bruder gezielt schaden wollte. Hier ging es nicht um ihn. Er war bloß ein weiteres Mittel, um Seto zu schaden. Wenn auch das stärkste, das wusste er. Er verdrängte die Erinnerungen, die bei dem Gedanken in ihm hochkamen. Das Jugendamt, das ihn abholte. Seto, der ihn nicht ansah. Ihn nicht ansehen konnte. Er wusste nicht, ob er Setos Gesicht in diesem Moment hätte sehen wollten. Er wusste nicht, was er dort gesehen hätte. Es war nicht das erste Mal, dass man ihn als Mittel benutzte. Er hatte noch heute Albträume von der Zeit, in der er von Pegasus gefangen gehalten worden war. Düstere Träume von schwarzen Welten ohne Licht. Kälte und Einsamkeit. Aber er war jetzt älter, er war beinahe erwachsen! Und immer noch wurde er benutzt, als wäre er ein hilfloser zehnjähriger. Das machte ihn so ungeheuer wütend! Und das schlimmste war, dass er nicht wusste, wie er Seto von hier aus helfen konnte. Niemand hörte ihm zu, niemand glaubte ihm. Verdrängung nannten sie sein Verhalten. Verblendete Liebe zu seinem Bruder. Wenn er ihnen nur sagen könnte, wer wirklich verblendet war! Die Tür bebte, als jemand von innen gegen sie hämmerte. Mokuba presste sich die Hände auf die Ohren. Er hatte genug leere Phrasen und sinnlose Beschwichtigungen gehört. Er wusste nicht, wie lange er dort saß, aber irgendwann wurde es still und er ließ die Hände sinken. Hinter der Tür war es ruhig. Kein Hämmern. Keine Stimme. Vielleicht hatten sie endlich Ruhe gegeben. Er rappelte sich auf und überquerte das Dach, bis er vor der schweren Eisentür stand. Er beugte sich vor und presste in Ohr gegen das Metall. Stille. „Mokuba.“ Er zuckte zusammen und stolperte zurück. Verlor das Gleichgewicht und landete rücklings auf dem Boden. Was zum - Hatte er sich das eingebildet?! Er kannte diese Stimme! oOo „Yugi, bitte!“ „Nein.“ „Bitte.“ „Joey, du kennst meine Antwort: Nein.“ „Warum nicht?“ „Es ist dein Plan. Du hast vor, ihn zu dir zu nehmen also musst du den ersten Schritt tun.“ „Was, wenn er mich nicht erkennt? Vielleicht mache ich alles nur schlimmer! Sprich du mit ihm.“ „Joey, er steht nicht auf dem Dach, um sich etwas anzutun.“ „Aber Yumiko-san hat gesagt - “ „Versetz dich in seine Lage, Joey: Man hat ihn von Seto getrennt. Er hat das sicher nicht schweigend zugelassen. Er wird versucht haben, ihnen zu sagen, dass es falsche Anschuldigungen sind. Und trotzdem wurde er ins Heim gebracht. Niemand hat ihm zugehört. Sie behaupten, er rebelliert, obwohl er nur versucht, ihnen die Wahrheit zu sagen.“ „Das klingt nach einer ziemlich verzweifelten Situation, Yugi.“ „Was würde er dadurch gewinnen? Du weiß genau, wie wichtig ihm sein großer Bruder ist! Und er weiß genau, dass er es nur noch schlimmer für ihn machen würde, wenn er sich jetzt etwas antäte. Nein, Joey, Mokuba ist nicht suizidgefährdet. Diese Behauptung ist nur eine weitere Ausrede, seinen Worten keine Beachtung zu schenken. Das einzige, was Mokuba will, ist das ihm irgendjemand glaubt.“ Joey schluckte. Er hatte sich zwar ausgemalt, wie es für Mokuba sein musste, aber die Vorstellung, wieder und wieder zu versuchen, die Leute um sich herum von der Wahrheit zu überzeugen und nur ignoriert zu werden, war schrecklich frustrierend. „Du glaubst ihm doch, oder Joey?“ Yugis Augen erinnerten ihn in diesem Moment sehr an die des Pharaos früher. Auch Yugi hatte sich weiter entwickelt. Er wurde dem Pharao auf seine Art immer ähnlicher. „Natürlich glaube ich ihm.“ Yugi lächelte. „Das ist alles, was für Mokuba im Moment zählt.“ Joey fühlte sich noch immer nicht zu hundert Prozent überzeugt. Aber Yugis Lächeln konnte er nicht ignorieren. Er trat hinter die Tür. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Wenn Mokuba noch länger auf dem Dach blieb, würde der Heimleiter Sicherheitsleute bestellen, die die Tür aufschweißten. Eine drastische Maßnahme, allerdings ging die Heimleitung auch davon aus, Mokuba könnte sich etwas antun. Joey legte eine Hand an die Tür. Es war eine Feuerschutztür, kühl und dick. Er wusste nicht einmal, ob Mokuba ihn überhaupt hören könnte. „Mokuba?“ Keine Antwort. Er wartete. Dann wiederholte er den Namen etwas lauter:
„Mokuba.“ Und hörte etwas. Jemanden. „Hier ist Joey. Joey Wallstein. Wheeler", korrigierte er sich, um Mokuba nicht zu verwirren. „Erinnerst du dich?“ Er überlegte, ob er auf eine Antwort warten sollte, entschied sich jedoch dagegen. Er hatte Mokubas Aufmerksamkeit vielleicht nicht für lange Zeit. „Es ist lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich lebe jetzt in Amerika. Ich bin für kurze Zeit nach Japan zurück gekommen. Ich weiß, was hier passiert ist. Ich weiß, was man deinem Bruder vorwirft. Ehrlich gesagt ist das überhaupt erst der Grund, weswegen ich nach Japan gekommen bin. Ich glaube den Medien nicht. Ich weiß, dass Kaiba sowas nie tun würde. Was ich dir eigentlich nur sagen will, ist -“ Er warf einen Blick über die Schulter. Yugi nickte ihm ermutigend zu. „Ich glaube dir, Mokuba.“ Es kam keine Antwort. Joey fluchte leise. Yugi hätte mit Mokuba reden sollen. Er hatte geahnt, dass er es vermasseln würde. „Danke, Joey.“ Im ersten Moment glaubte er, sich verhört zu haben. Doch es war Mokubas Stimme. Tiefer, als er sie vom letzten Mal in Erinnerung hatte, aber eindeutig Mokubas Stimme. „Mokuba!“ „Bist du allein?“ Die Worte waren nur schwach durch die Tür zu hören und Joey musste sein Ohr fest gegen sie drücken, um Mokuba zu verstehen. „Ja, die anderen laufen in schierer Panik durch das Heim.“ „Das sieht ihnen ähnlich.“ „Yugi ist auch hier.“ Hinter der Tür knarrte und kratzte es. Joey trat einen Schritt zurück. Dann senkte sich die Klinke und Licht flutete den Flur. Joey erkannte erst jetzt, wie viel die letzten Jahre ausgemacht hatten. Vor ihm stand ein Junge, der mittlerweile beinahe genauso groß war, wie er selbst und der Yugi nun ebenfalls um mehr als zwei Köpfe überragte. Aber was hatte er erwartet? Mokuba war jetzt siebzehn. Joey hatte sich diesen Moment zwar schon oft vorgestellt, aber nicht so. Und genau genommen hatte er sich nur die Situation ausgemalt, aber nicht, was er tun würde, wenn er Mokuba persönlich gegenüberstand. Umso hilfloser wirkte der amerikanische Reflex, die Hand zu heben, um Mokubas zu schütteln. Doch der jüngere Kaiba nahm ihm die Entscheidung ab, indem er die wenigen Meter zwischen sich und Joey überbrückte und ihm um den Hals fiel. Joey entwich ein überraschter, atemloser Laut. Er hatte mit einigem gerechnet, aber nicht mit dieser Reaktion. Mokuba wirkte plötzlich wieder wie der dreizehnjährige Junge, den Joey zuletzt vor mehr als vier Jahren gesehen hatte. „Danke, Joey!“ Er hob die Arme und erwiderte die Umarmung von Mokuba unbeholfen. Er musste Yugi nicht ansehen, um zu wissen, dass er lächelte. Für einen schrecklichen Moment befürchtete er, Mokuba würde weinen, doch als dieser sich von ihm löste und einen Schritt zurücktrat, waren seine Augen trocken und um seinen Mund war ein angespannter Zug, den Joey bis dahin nur von Kaiba kannte. Kein siebzehnjähriger sollte so einen Gesichtsausdruck haben. Andererseits kannte er Mokubas Bruder ausschließlich mit diesem Ausdruck und als sie sich kennen gelernt hatten, war Kaiba so alt gewesen, wie Mokuba heute. Vielleicht lag es also auch nur in der Familie ... Joey bemerkte erst, dass er gestarrt hatte, als Yugi sich neben ihm leise räusperte. Schlagartig wurde er sich der ganzen Situation wieder bewusst. „Wir sollten uns hinsetzen und reden“, schlug er vor. Es gab so viel zu besprechen. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. „Es wäre vielleicht besser, zuerst die Heimleitung zu informieren, dass es Mokuba gut geht“, sagte Yugi. „Bevor sie den Sicherheitsdienst rufen.“ Es war eine nervenaufreibende Angelegenheit, den Heimleiter erst zu beruhigen und dann zu überreden, die Unterhaltung mit Mokuba wie geplant anzusetzen. Joey verdankte es Yugis schier unermesslicher Gelassenheit und Geduld, die einen gestressten Mann in dem Mitfünfzigern in nicht weniger als dreizehn Minuten von der Notwenigkeit des Gesprächs überzeugten. Mokuba entschuldigte sich mit zusammengebissenen Zähnen für sein Verhalten (Joey verstand nur zu gut, wie schwer dies für Mokuba war, denn immerhin bedeutete es, Fehler einzuräumen, die nicht ihm anzulasten waren) und Joey tat das einzige, was er tun konnte, um Bonuspunkte zu sammeln: Er lächelte und verneigte sich dankbar vor dem Heimleiter. Er war gerade mal drei Stunden in Japan und hatte das ganze Gehabe um seine Person und seinen Namen bereits satt. Wie hatte Kaiba das nur jahrelang ausgehalten und sogar begrüßt?! Die Tassen mit frischem Tee dampften einladend, doch keiner von ihnen rührte sie an. Stattdessen wartete Mokuba darauf, dass einer von ihnen sprach. „Es sieht folgendermaßen aus“, begann Joey schließlich. „Ich glaube dem Presserummel um deinen Bruder nicht. Wer immer diese Gerüchte in die Welt gesetzt hat, wollte ihm eindeutig schaden und hat es geschafft. Aber er muss Hilfe gehabt haben, denn es gab schon ähnliche Gerüchte, die aber einfach verpufft sind. Das bedeutet, eine einflussreiche Person hat die Finger mit im Spiel oder ist sogar Drahtzieher.“ Mokuba hatte sich vorgebeugt. Bei Joeys Worten hatte er zwischendurch immer wieder genickt. „Ich weiß, dein Bruder und ich hatten nie die beste ... Beziehung zueinander. Verdammt, normalerweise wär ich der erste gewesen, der demjenigen die Hand schüttelt, der Kaiba mal richtig einen auswischt. Aber versteh mich nicht falsch, ich hatte mir nie sowas ausgemalt. Eine Niederlage bei Duel Monsters oder eine kleine Fernsehverarsche, das wär okay gewesen, aber nicht etwas, das so ein Ausmaß annimmt.“ „Joey ...“ Yugis vorsichtige Mahnung machte ihn darauf aufmerksam, dass er abschweifte. Mokubas Blick war starr und er hatte die Fäuste geballt. Der Klumpen in Joey Magen war nun glühend heiß. Er zwang sich zum Weitersprechen: „Aber das beiseite. Etwas an der ganzen Sache stinkt zum Himmel. Und noch viel schlimmer ist es, dass man dich als Mittel für Kaibas Niedergang benutzt! Das hast du nicht verdient - das hat niemand verdient. Ich ... Wir können im Moment nicht viel tun - zumindest nicht, solange wir nicht genau wissen, was hier vor sich geht und wer es kontrolliert, aber ich kann dir soviel anbieten: Ich nehme dich auf. So lange, bis wir eine Lösung finden. Damit du nicht hier im Heim bleibst, damit niemand deine Situation ausnutzt. Aber das ist nur ein Angebot. Du entscheidest, was du willst. Man hat dir in den letzten Wochen schon so oft etwas vorgeschrieben und nicht darauf gehört, was du willst, aber diese Entscheidung ist deine, Mokuba.“ Joey hatte die Worte so schnell gesprochen, dass er tief Luft holen musste, nachdem er den Mund geschlossen hatte. Die Anspannung war nach wie vor da und sie wuchs mit jeder Sekunde, in der Mokuba nichts sagte. Hatte er die falschen Worte gewählt? Hatte es zu aufgesetzt geklungen? Er hatte es von Anfang an gewusst: Es wäre viel besser rüber gekommen, wenn Yugi es gesagt hätte! „Würde das klappen?“, fragte Mokuba und riss Joey völlig aus den wirren Gedanken. „Was?“ „Ist es möglich? Dass ich mit zu dir komme? Könntest du das durchsetzen?“ „Mit den richtigen Anwälten. Ich habe einen zuverlässigen Namen von meinem Vater bekommen. Wenn alles optimal läuft, dann bist du in ein paar Tagen hier raus.“ Hoffe ich. Aber diese Worte sprach er nicht aus. Mokuba sah Joey nun direkt an und in seinen Augen lag etwas, dass Joey zum letzten Mal gesehen hatte, als seine Schwester ihn vor sechs Jahren aus dem Wasser im Hafenbecken gezogen hatte, in dem er dank Marik beinahe ertrunken wäre. Ein Blick, der sagte, dass man bereit war, alles für seine Familie zu geben. „Ja. Ich nehme dein Angebot an, Joey.“ Und Joey hätte nicht mit der Intensität der Erleichterung gerechnet, die er jetzt verspürte. Sie überraschte ihn und machte ihm bewusst, wie tief er bereits mit drinsteckte. Und das, wo alles doch gerade erst anfing ... oOo
 Rolands Hände umklammerten das Lenkrad, während er beobachtete, wie Yugi Muto und Joey Wallstein das Heim verließen und davonfuhren. Zwei Stunden, nachdem sie angekommen waren. Roland glaubte nicht an derartige Zufälle. Die beiden konnten nur wegen Mokuba hier gewesen sein. Was hatten sie gewollt? Und woher wussten sie, wo Mokuba sich aufhielt? Er selbst wusste es nur, weil er gute Bekannte in den richtigen Positionen hatte, die ihm noch etwas schuldeten. Den Medien war die Nachricht um Mokubas Aufenthalt verschwiegen worden. Das bedeutete - und Roland fand diese Schlussfolgerung alles andere als nachvollziehbar - dass die beiden ebenfalls Nachforschungen angestellt haben mussten. Und nicht nur oberflächlich, sondern gezielt und in den richtigen Reihen. Was wiederum zu der Annahme führte, dass sie etwas planten. Doch was? Er startete den Wagen. Für diesen einen Tag war bereits genug geschehen. Er bezweifelte, dass noch irgendetwas Nennenswertes vorfallen würde. Und außerdem - sollte sich sein Verdacht bestätigen - dann bedeutete das vielleicht ... dass es Hoffnung gab? Als er das Heim hinter sich ließ und auf die Hauptstraße bog, dachte Roland an die Nachrichten, die er über Joey Wheeler gehört hatte. Er hatte Einfluss und Macht. Und er zeigte Interesse an Mokubas Situation. Vielleicht hatte er die nötigen Mittel ... Roland schüttelte den Kopf. Er sollte sich nichts vormachen. Die ganze Situation war zu verfahren, um sie wie durch Zauberhand zu lösen. Dazu brauchte es schon mehr als einen reichen, amerikanischen Millionärssohn. Und dennoch ... schaffte seine Rationalität es nicht, den Funken Hoffnung, der in seinem Brust glomm, zu ersticken. Er war eben, selbst nach all den Jahren, insgeheim ein hoffnungsloser Optimist. oOo „Das reicht.“ Yugi zuckte zusammen, als Joey unvermittelt stehen blieb. Er war die vergangenen zehn Minuten vor ihm auf und ab gegangen und Yugi hatte sich bereits an den Rhythmus seiner Schritte gewöhnt. Die plötzliche Unterbrechung verdoppelte seinen Herzschlag. „Ich hab genug. Es steht mir bis hier!“ Zur Verdeutlichung seiner Worte hielt Joey sich die Hand über den Kopf. „Eine verdammte Woche, und nichts hat sich getan! Wir haben die beste Anwältin Dominos und sie schafft es nicht, den Vorgang zu beschleunigen!“ „Du musst Geduld haben, Joey“, sagte Yugi zum gefühlt neunundfünfzigsten Mal. Seine Kehle schnürte sich bei den Worten zu, als wollte sie ihn am Aussprechen hindern. Und seine Stimme hatte längst die Überzeugung verloren, die sie noch vor zwei Tagen besessen hatte. Er wünschte sich, Téa wäre hier, um ihn zu unterstützten. „Geduld?“, wiederholte Joey und Yugi erlebte ein Déjà-vu. Die gleich Unterhaltung hatten sie bereits vor einer Stunde geführt. Sie hatte damit geendet, dass Joey fluchend den Raum verlassen und etwas zu Essen bestellt hatte. „Ich bin bis jetzt geduldig gewesen, aber es hat uns keinen Schritt weiter gebracht. Ich habe versucht, höflich zu sein, aber es hat sie einen Dreck interessiert. Alles, was sie tun, ist angeblich nur ihre Arbeit und Dienstvorschrift. Weißt du, was ich glaube, Yugi?“ Ehrlich gesagt, hatte Yugi schon viel früher damit gerechnet, dass Joey das Interesse an dem offiziellen Vorgehensweg verlor. Dass Joey so lange ausgeharrt hatte und verständnisvoll gewesen war, machte ihn schon in gewissem Sinne stolz. Denn auch er musste zugeben, dass es das Warten leid war. Selbst die mahnende Stimme in seinem Kopf, die der des Pharaos so ungemein ähnlich war und ihm riet, ruhig und objektiv zu bleiben, war in den letzten Stunden immer leiser geworden. „Was glaubst du, Joey?“, fragte er deswegen und war tatsächlich an den nächsten Worten interessiert. Joey verschränkte die Arme und grinste. Es erinnerte Yugi schmerzlich an vergangene Zeiten, in denen sie die Nachmittage in Dominos Spielhalle oder in einer Duel Monsters Arena verbracht hatten ... „Wir müssen das ganze auf eine niedrigere Stufe ziehen. Jetzt werden die schmutzigen Tricks angewendet.“ Er krempelte sich die Ärmel seines weißen Hemdes hoch. Es war beeindruckend, wie er es so lange in einem Anzug ausgehalten hatte. Die dazu gehörende Anzugjacke hing schon lange über dem nächstbesten Stuhl. „Dreckige Mittel? Was hast du dir vorgestellt?“ Yugi sah Joey vor seinem geistigen Auge den zuständigen Beamten zu einem Duell herausfordern. Dann wurde ihm bewusst, dass Joey die ganze Zeit nicht aufgehört hatte, zu grinsen. Und er erinnerte sich an Zeiten, in denen diese Mimik bedeutete, dass sie entweder kurz vor einem Desaster standen oder schon mitten in Schwierigkeiten waren. Dann dämmerte Yugi, was Joey plante, um das ganze zu beschleunigen. Er schüttelte den Kopf. Erst langsam, dann immer schneller und kräftiger. „Nein. Nein, Joey. Du wirst niemanden erpressen!“ Und er ärgerte sich darüber, dass er diese Worte seinem besten Freund sagen musste. Beste Freunde sollten sich das nicht sagen müssen. Es hatte sich von selbst zu verstehen, dass man die Bürokratie nicht auf diese Weise in die eigene Hand nahm! Auch nicht, wenn man mehr Einfluss besaß, als andere. Und auch nicht, wenn das ganze einem guten Zweck diente - das versuchte Yugi zumindest, sich einzureden. „Ich doch nicht“, protestierte Joey und stemmte die Hände in die Hüften, wobei diese Geste bei Téa eindrucksvoller gewirkt hätte. „Wie kommst du darauf?“ „Aber, ich dachte -„ „Dafür gibt es andere.“ „Oh.“ Sie sahen sich an. Yugi beugte sich vor. Und verstand plötzlich. „Oh.“ „Genau, Alter.“ „Nein!“ „Du weißt genauso gut wie ich, dass es nicht viele gibt, die so gut recherchieren können.“ „Aber ist das notwendig?“ „Yugi.“ Joeys Blick war ohne jeden funken Belustigung. Er meinte es bitterernst. „Auch wenn wir uns lange nicht gesehen haben, sind wir in gewissem Sinne immer noch Freunde und er hat immerhin nicht aufgelegt, als ich ihm die Situation geschildert habe.“ „Du hast schon mit ihm gesprochen?“ „Ich habe Vorkehrungen getroffen und ihn vor meiner Reise angerufen. Für diese Aufgabe allerdings muss ich erst noch mit ihm sprechen, damit er weiß, was er tun soll.“ Yugi lehnte sich zurück und strich sich über die Stirn. Sein Blick hatte etwas Melancholisches. „Es ist lange her, dass wir Marik gesehen haben“, murmelte er, während Joey nach seinem Handy kramte. Er hatte es sich vor einigen Tagen gekauft, da sein amerikanisches Modell in Japan nicht funktionierte. Er fluchte, als ihm einfiel, dass er Mariks Nummer noch nicht auf seinem neuen Telefon hatte. „Er war es, der uns vorgewarnt hat, als die Medien in Japan vor zweieinhalb Jahren planten, euch über mich auszuhorchen.“ Joey hatte die Nummer gefunden und tippte sie ein. „Hätte er nicht Wind davon bekommen, hätten Sie euch belagert. Aber so konnte ich ihnen ein Angebot für ein Interview machen und sie beruhigen. Es ist schrecklich, dass man mit den Medien zusammenarbeiten muss, um seine Ruhe zu haben.“ „Marik hat für mich die Konkurrenz des Spieleladens unter die Lupe genommen“, gestand Yugi und wich Joes überraschtem Blick aus, als habe er etwas verbrochen. „Ich wollte nur wissen, ob es ehrliche Rivalen sind.“ „Du musst dich nicht rechtfertigen, Yugi.“ „Ich weiß. Aber ich habe ein schlechtes Gewissen. Auch, wenn Marik für mich nicht gegen das Gesetz verstoßen musste, um die Informationen zu erhalten, kommt man sich vor, als heuere man Spione an.“ „Marik kommt einfach am besten mit Computern klar. Er ist geschickter als wir und hat ein einmaliges Gespür, wenn es um Recherche geht. Der einzige Grund, weswegen die Situation eine etwas ... illegale Ausstrahlung verliehen bekommt, ist die Anwesenheit von Bakura.“ Tatsächlich war es mehr als nur erstaunlich, dass von ihnen allen ausgerechnet Marik Ishtar, ehemaliger Grabwächter, ein beinahe schon unheimliches Verständnis für Computer und das Aufspüren der unmöglichsten Informationen im Internet entwickelt hatte. Vielleicht lag es daran, dass er sich von seiner Vergangenheit distanzieren wollte ... In gewissem Sinne bewunderte Joey ihn dafür, sich von den Erwartungen, die an ihn gerichtet worden waren, losgesagt zu haben und seinen Weg gegangen zu sein. Wenn auch auf ... unkonventionelle Weise. „Arbeitet Marik jetzt gerade wohl?“ Joey hörte das Freizeichen und wartete. „Die Bibliothek hat die ganze Woche über geöffnet. Ich frage mich eher, ob er jemals nicht arbeitet.“ oOo Marik Ishtar hatte einen schlechten Tag hinter sich. Heute Vormittag hatte eine besonders schlimme Klasse einen Ausflug in die Bibliothek unternommen. Er hatte ständig darauf achten müssen, dass niemand ein Kaugummi unter einen der Tische klebte oder eins der Bücher beschädigte. Normalerweise benahmen sich die meisten Klassen sehr gesittet, doch immer wieder gab es auch Ausnahmen. Ausgerechnet heute hatte es eine Ausnahme sein müssen. Es war ihm schwer gefallen, ruhig zu bleiben, während er die Klasse durch die Bibliothek führte und das Desinteresse der Kinder im Angesicht der wertvollen Bücher hatte ihn innerlich brodeln lassen. Sie hatten einfach keinen Sinn für den Wert alter Schriften! Marik erinnerte sich an altägyptische Texte, die ihn stets fasziniert hatten und nahm mit wachsendem Unmut zu Kenntnis, dass einige der Jugendlichen während seiner Worte gelangweilt mit ihren Handys spielten. Er wünschte, die Bibliothek hätte ein Störsignal, das sämtlichen Empfang unmöglich machte. Vielleicht sollte er selbst dafür sorgen. Es wäre sicherlich einen Gedanken wert und so schwierig konnte es nicht sein, einen Störsender zu programmieren ... Er schüttelte den Kopf und verwarf den Gedanken. Er hatte sich geschworen, die Arbeit in der Bibliothek nicht mit seinen Freizeitbeschäftigungen – wie er die anderen Aufgaben beschönigend bezeichnete – zu verbinden. Dafür schätzte er die Bibliothek einfach zu sehr. Die Erleichterung, die er am Ende der Führung verspürte war so groß wie selten. Zum ersten Mal an diesem Tag gönnte er sich eine Pause, kochte sich einen Kaffee und setzte sich mit einer Zeitung an ein Fenster in die Sonne. Er wusste, dass jemand anderes ein Auge auf die Bücher hatte und Besucher betreute. Zumindest für zehn Minuten. Mit kritischem Blick überflog er die Schlagzeilen, übersprang dann den Wirtschaftsteil, und blätterte direkt zur Börse. Er hatte früh gelernt, dass diese Zahlen mehr verrieten als die meisten Artikel. Und er behielt recht. In den Artikeln wurde über die Situation von Seto Kaiba debattiert und die ganze, dreckige Story ausgeschlachtet, aber die Zahlen der Kaiba Corporation sagten etwas anderes. Nachdem sie zu Beginn der Gerüchte stetig an Wert verloren hatte, und schließlich regelrecht bankrott gewesen war, hatten sich ihre Werte nach dem Rücktritt von Kaiba stabilisiert. Jeder hätte gesagt, es läge daran, dass sie nun von jemandem geleitet wurde, dem kein Kindesmissbrauch vorgeworfen wurde, aber Marik hatte an der Universität gelernt, dass das allein nichts änderte. Aktien erholten sich nicht ohne Weiteres von heute auf morgen in diesem Ausmaß, bloß weil die Kaiba Corporation eine andere Führung hatte. Jemand anderes beeinflusste die Zahlen. Unbeachtet von der Bevölkerung, dank des Trubels um Kaiba und des schwindenden Interesses an dem, was hinter der Fassade der Kaiba Corporation vor sich ging. Hätte sich Joey Wheeler nicht vor einigen Wochen bei ihm gemeldet, wäre ihm diese Entwicklung vielleicht entgangen. Insofern musste er Joey also dankbar sein, denn es hatte Mariks Interesse geweckt und es war lange her, dass etwas die schier endlose Langeweile, die sich mehr und mehr in seinem Leben ausbreitete, unterbrochen hatte. Er legte die Zeitung beiseite und leerte seinen Becher. Dann kehrte er zurück in den Aufenthaltsraum der Mitarbeiter und stellte ihn die Spülmaschine. Als er die Klappe schloss, hörte er ein Klopfen gegen Glas hinter sich. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es war. Er hoffte nur, dass er sich irrte. Natürlich war dem nicht so. Draußen vor dem Fenster, im ersten Stock des Gebäudes, hockte Ryou Bakura und grinste ihn an. Marik korrigierte sich: Es war nicht Ryou. Er konnte sich nicht einmal wirklich daran erinnern, wann er Ryou das letzte Mal gesehen hatte. Vor einem Jahr? Vor zwei? Es interessierte ihn auch nicht. Er verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Heute Abend sollte er vielleicht Ishizu einen Besuch absttatten. Sie würde sich bestimmt freuen. Dann würde er Odion auch wieder sehen können ... In seiner Hosentasche begann sein Handy zu klingeln. Er griff danach und klappte es auf. „Ishtar?“ „Marik, Joey hier.“ „Joey.“ Er blieb stehen. „Ich muss dich um einen Gefallen bitten, Marik. Es geht um Kaiba.“ „Das war aber nicht nett“, sagte eine ganz andere Stimme auf einmal hinter ihm und Marik verdrehte die Augen, drehte sich jedoch nicht um. „Genau genommen“, sprach Joey unbeirrt weiter, „geht es um Mokuba Kaiba. Weißt du noch, was ich dir bei unserem ersten Gespräch erzählt habe?" „Ich erinnere mich“, antwortete Marik, duckte sich unter dem Versuch eines Schwitzkastens hinweg und ignorierte das Fluchen zu seiner Rechten. „Und ich erinnere mich auch, dass ich noch nicht zugestimmt habe, dir zu helfen.“ Auf der anderen Seite der Leitung war es still. Marik fragte sich bereits, ob die Verbindung unterbrochen war, da sagte Joey: „Und? Hilfst du uns?“ „Nenn mir einen Grund.“ „Der alten Zeiten willen.“ „Nenn mir einen Grund, Joey.“ Ein Seufzen. Marik wünschte sich plötzlich, er hätte nicht so darauf beharrt. „Hör mal, ich hatte echt nicht vor, wieder darauf rumzuhacken, aber wenn du mir keine Wahl lässt ... Ich bitte dich darum, weil du mir nach dem, was damals beim Battle City Turnier passiert ist, noch etwas schuldig bist.“ Marik schluckte. Ob Joey es wohl gehört hatte? Und schaffte es nicht, die Bilder zurück zu drängen, die bei diesen Worten vor seinem geistigen Auge erschienen waren. Joey und Téa, ihr Blick leer, ihr Geist bereit, von seinen Befehlen gefüllt zu werden. Ein viel dunkler Teil von ihm, der die Kontrolle übernahm und ihn zu einem hilflosen Zeugen der künftigen Grausamkeiten machte, die nach wie vor von seinen eigenen Händen ausgeübt wurden, aber nicht seinem Willen entsprach ... Joey Wheeler, umzüngelt von den Flammen des Ra, ihn die Knie gehend, für immer verloren im Reich der Schatten und dennoch selbst im letzten bewussten Augenblick lächelnd. Schuld. Reue. Hilflosigkeit. Selbsthass. „Marik?“ Ein Stoß in die Seite holte ihn in die Gegenwart zurück. Und versetzte ihn gleichzeitig wieder zurück in die Zeit des Battle City Turniers, als er diesen Augen vor sich zum ersten Mal begegnet war. Es waren die Augen von Bakura, dem Geist des Millenniumsringes, der es geschafft hatte, einen Teil seines Wesens in Ryous Körper zu versiegeln und dort zu wachsen, zu erstarken, bis er schließlich der Seele des Jungen ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen war. „Du siehst aus, als wäre dir Anubis persönlich begegnet“, bemerkte Bakura mit einem selbstgefälligen Grinsen auf den Lippen, das Marik ihm am liebsten mit Gewalt von selbigem entfernt hätte. „Sei still.“ „Wiebitte?“, fragte Joey am anderen Ende. „Nicht du“, erwiderte Marik und rieb sich die Schläfe. „Okay, du hast mich so weit, Joey. Ich helfe dir. Danach sind wir quitt, verstanden?“ „Roger.“ „Was soll ich tun?“ „Ich muss eine bürokratische Angelegenheit beschleunigen. Stark beschleunigen, wenn nicht sogar überspringen. Dabei würde es mir helfen, wenn ich etwas gegen jemanden in der Hand hätte.“ Es überraschte Marik, diese Worte von Joey Wheeler ... Joey Wallstein zu hören. Aber er sagte nichts dazu und nahm an, dass er seine Gründe dafür hatte. Er gebot Bakura mit einer eindeutigen Geste, ihn jetzt nicht zu stören. Widerwillig leistete der Grabräuber Folge. Als Marik fünf Minuten später auflegte und das Mobiltelefon zuklappte, war es einzig und allein der Glanz in seinen Augen, der Bakura davon abhielt, sich über das abweisende Verhalten zu beschweren. „Gibt es was zu tun?“ Und zum ersten Mal an diesem zermürbenden Tag zeigte sich ein aufrichtiges Lächeln auf Mariks Zügen. „Wir dürfen wieder etwas Dreck aufwirbeln, Bakura.“ oOo Seto Kaiba glaubte, sich soeben verhört zu haben. „Bitte?“ Roland saß ihm gegenüber auf der anderen Seite des Schreibtisches und eine tiefe Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Er hatte die Hände verschränkt, arrangierte den Griff jedoch alle paar Sekunden wieder neu. Der Blick seines Vorgesetzten machte ihn unruhig, obwohl er mit der Reaktion gerechnet haben musste. „Ich kann nur wiederholen, dass es sonst keine anderen, auffälligen Besucher im –“ Seto Kaiba hob die Hand und Roland verstummte. Als würde das Wort, dass er im Begriff gewesen war auszusprechen, Kaiba körperliche Schmerzen zufügen. „Warum erfahre ich erst jetzt davon?“ „Weil ich nicht wusste, wie es sich entwickelt.“ „Und dass ist ein legitimer Grund, mir nicht zu sagen, dass Wheeler und Muto sich eingemischt haben?!“ Roland hatte lange nicht mehr so viele Emotionen in Kaibas Stimme gehört. In gewisser Weise war er froh, nicht mit Gleichgültigkeit und Apathie konfrontiert zu werden. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, seinen Vorgesetzten darauf hin zu weisen, dass Joey nun Wallstein und nicht mehr Wheeler hieß. „Es erschien mir angebracht, Sie nicht zu beunruhigen.“ „Beunruhigen?“ Roland bildete sich das Beben der Schulter nicht ein. Auch der kurze Moment des Wankens in der Stimme war alles andere als eine Täuschung. „Beunruhigen.“ Ein kurzes höhnisches Lachen zerriss die Luft. Dann schwieg Kaiba. Roland wäre es lieber gewesen, wieder beschimpft zu werden. Die Stille dehnte sich schier endlos aus, dann hielt er es nicht länger aus und verlagerte seine Haltung. Seto Kaiba schien jäh aus seinen düsteren Gedanken gerissen zu werden. Sein Mund war eine schmale Linie und unter seinen Augen waren dunkle Schatten. Sie wirkten noch viel tiefer in dem fahlen Licht, das lediglich vom Monitor des Computers auf dem Schreibtisch stammte. „Und warum erfahre ich es dann heute?“ Es lag kein Vorwurf mehr in der Stimme. Tatsächlich schien jedes Leben aus ihr gewichen zu sein. Roland wusste nicht, wie seine nächsten Worte sich auswirken würden. Letztendlich entschied er, dass alles besser war als jetzt. „Weil es eine Wende gegeben hat, die ich nicht erwartet hätte.“ Keine Reaktion. Nicht einmal ein Zucken. „Joey Wallstein hat heute das vorläufige Sorgerecht für Master Mokuba erhalten.“ Und Seto Kaibas letzter, gut gehüteter Rest Beherrschung fiel vor Rolands Augen in sich zusammen. [tbc] Kapitel 5: Ungehörte Kakophonie ------------------------------- Anmerkung: Als kurze Erinnerung: Nach wie vor beziehen sich die Zeitangaben im Kapitel auf den Zeitpunkt, zu dem der Prolog stattfindet. Der Prolog ist somit die Gegenwart der Geschichte, alles weitere ist (auf den Prolog bezogen) abgeschlossene Vergangenheit. 3 Wochen vorher „Herr Kaiba, Sie verstehen sicher, dass wir das hier nicht gerne machen. Aber es ist im Sinne von Mokuba. Das Urteil ist eindeutig.“ „Seto?“ „Wir wünschen uns, dass Sie mit uns kooperieren. Sollten Sie das nicht tun, sind wir leider gezwungen, weitere Maßnahmen gegen Sie einzuleiten.“ „Seto?!“ „Wir sind nicht befugt, Ihnen zu sagen, wo Mokuba hingebracht wird. Es ist Teil des Urteils, dass sein Aufenthaltsort Ihnen nicht mitgeteilt wird. Es ist nur zu Mokubas Besten.“ „Seto, bitte!“ In dem Moment, in dem er sich – anders als es tatsächlich abgelaufen war – umdrehen wollte, wachte er jedes Mal auf. Die Stimme seines kleinen Bruders in den Ohren, das Brennen des Versagens in der Brust. Unfähig. Schwach. Im ersten Moment wusste er nie, wo er war. Die Realität vermischte sich mit Erinnerungen an die Einkerkerung durch Pegasus in einer dunklen, hoffnungslosen Welt und an das manische Lachen von Gozaburo Kaiba. Dann ertastete seine Hand den Anhänger um seinen Hals und sein Bewusstsein kehrte jedes Mal schmerzvoll in die Wirklichkeit zurück. Er zitterte. Besiegt. Am Boden. Seine Hand tastete über den Nachttisch, nach den Tabletten. Doch er zitterte so stark, dass er sie versehentlich über die Kante stieß. Er presste sich die Knöchel seiner Hände gegen die Augen, konzentrierte sich auf seine Atmung und verdrängte die hämischen Stimmen in seinem Kopf, die ihn diffamierten und verspotteten. Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen, verdammt! Doch was für einen Sinn hatte es noch? Er hatte Ruhe bewahrt, als er vor Gericht beschuldigt worden war. Man hatte ihm trotzdem das Sorgerecht entzogen. Er hatte sich beherrscht, als das Jugendamt vor seiner Tür gestanden und Einlass gefordert hatte. Sie hatten Mokuba nichtsdestotrotz mitgenommen. Er hatte sich geschworen, nicht klein bei zu geben. Man hatte ihm alles genommen. Was blieb noch übrig? Nahm man ihm seine Firma und seinen Einfluss, wurde aus Seto Kaiba Seto. Nahm man ihm Mokuba – seine Familie - was blieb dann noch? Gar nichts. Weniger als nichts. Kein Sinn, keine Perspektive, nur ein klaffendes Loch, das einmal seine Existenzgrundlage gewesen war. Vor mehr als zehn Jahren hatte er Gozaburo Kaiba im Schach besiegt und sich und Mokuba eine Zukunft geschaffen. Vor acht Jahren hatte er die Kaiba Corporation übernommen und sich von den Fesseln der Erziehung befreit. Mokuba war die Familie, die er je gebraucht hatte. Keinen Stiefvater, der ihn nur aufgrund seiner Intelligenz tolerierte, ihn jedoch letztendlich nur als Ersatz für seinen eigenen, verschiedenen Sohn sah. Mokuba war die einzige Familie, von der Seto offen zugegeben hatte, sie zu brauchen. Für die er bereit gewesen war, alles zu tun. Doch jetzt konnte er nichts mehr tun. Schwächling. Versager. Er hatte Mokuba nicht beschützen können. All der Einfluss, als die Macht, die er über die vergangenen Jahre angesammelt hatte, um Mokuba und sich ein gutes Leben zu ermöglichen – um Mokuba die Kindheit zu geben, die er selbst nicht haben konnte – waren in seinen Händen zerfallen. Waren ihm durch die Finger geronnen wie Sand. Die anfängliche Schwärze seiner Umgebung war einer Welt aus Grau gewichen, als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er stand auf und ließ das Bett hinter sich. Er verließ sein Schlafzimmer und durchquerte den Flur. Erkannte beinahe zu spät, wo seine Füße ihn hintrugen und machte einen scharfen Schwenk, der ihn beinahe stolpern ließ. Er lief und lief, ohne Ziel, nur mit dem einen Mantra – nicht das Zimmer, bloß nicht das Zimmer. Als er zum ersten Mal in gefühlten Stunden stehen blieb, fand er sich in seinem Büro wieder. Und wusste – ohne es in der Dunkelheit sehen zu müssen - dass er vor dem Bilderrahmen stand, der ihn und Mokuba vor dem ersten Kaibaland zeigte. Ihm wurde schlecht. Er machte kehrt und lief weiter. Weg, bloß weg. Und endete dort, wo er unter keinen Umständen hingewollt hatte. Nicht hin durfte. In Mokubas Zimmer. Seine Hand tastete nach dem Lichtschalter neben der Tür. Er war kalt. Kalt und tot. Tot, wie dieses Zimmer. Seto schaltete das Licht ein. Der Anblick war zuviel. Rückwärts stolperte er nach draußen, bis sein Rücken an die gegenüberliegende Wand stieß. Seine Beine gaben nach, er sank nach unten. Vergrub die Hände in den Haaren und schloss die Augen. Nicht hinsehen, niemals hinsehen, nie wieder hinsehen. Der Gipfel seines Versagens, seiner Niederlage – direkt vor ihm, zum Greifen nahe. Wie fühlt es sich an, Kaiba, wenn man den einzigen Menschen, der einen je brauchte, im Stich gelassen hat? Was ist das für ein Gefühl, langsam zu verschwinden? Wenn die Existenz kontinuierlich zerfällt? Wofür existierst du noch? Er saß dort solange, bis die Sonne längst aufgegangen war. Die ganze Zeit hatte er sich nicht bewegt, die ganze Zeit hielt er die Augen geschlossen. Und erst als das Sonnenlicht, das durch die Flurfenster schien, sein Gesicht erreichte, öffnete er die Augen und ließ sich dankbar blenden. Während er sich aufrichtete und schließlich das Zimmer hinter sich ließ, blickte er nicht ein einziges Mal zurück. 2 Wochen vorher Joey blickte aus den Augenwinkeln zum gefühlt deinundzwanzigsten Mal zu Mokuba. Es war lächerlich, wo sie doch gerade einmal seit zehn Minuten in der Maschine saßen, aber etwas nagte an ihm und er wusste es erst seit wenigen Stunden zu benennen. Genau genommen seit dem Moment, in dem Mokuba bei der Gepäckauflage gestanden und nichts bei sich gehabt hatte, abgesehen von dem, was er trug und dem Anhänger um seinen Hals, den er fest mit einer Hand umklammert hielt. Dieses Bild hatte Joey gezeigt, wie verlassen Mokuba nicht nur ohne seinen Bruder wirkte, sondern tatsächlich auch war. Wie sehr er hoffte, ihn wieder zu sehen. Und wie groß die Bereitschaft war, alles dafür zu tun. Er verzichtete auf seine Habseligkeiten, hatte sich geweigert, die Sachen, die ihm das Heim zur Verfügung gestellt hatte, mitzunehmen. Er trug die gleiche Kleidung, wie an dem Tag, an dem ihn das Jugendamt abgeholt hatte. Seit dem Moment, in dem Joey dies alles mit erschreckender Deutlichkeit bewusst geworden war, hatte er die Sorge, Mokuba könnte jeden Moment verschwinden, um alleine zu seinem großen Bruder zurück zu kehren. Immerhin, das musste Mokuba auch mehr als bewusst sein, würden sie nun eine Distanz zwischen sich und Kaiba legen, die auf dem Papier weitaus größer war als die vorherige. Joey fand es nur allzu verständlich, wenn Mokuba das nicht aushalten würde. Aber wenn er eines in den letzten Tagen gelernt hatte, dann dass Mokuba alles anderes als der kleine Junge von damals war, der Seto Kaiba brauchte, um ihn zu beschützen. Mokuba besaß eine schnelle und einzigartige Auffassungsgabe. Er hatte es wirklich verstanden, als Joey ihm klar gemacht hatte, dass sie erst in die Staaten reisen mussten, um die bürokratischen Hindernisse ganz zu beseitigen und die beantragte Vormundschaft gültig zu machen. Er hatte mit ernster Mine zugehört, als Joey ihm versichert hatte, im Anschluss wieder nach Japan zurück zu kehren, um mit Kaiba Kontakt aufzunehmen. Er hatte es nachvollzogen, auch wenn es ihm sichtlich schwer gefallen war, dass er seinen großen Bruder vorher nicht würde Kontaktieren dürfen, weil es der Staatsanwaltschaft mehr Material für eine Anklage gegeben hätte, wenn Kaiba gegen die Auflagen verstieß. Joey wusste, dass Mokuba in einigen Momenten am liebsten kehrt gemacht und einfach nur weggerannt wäre. Er wusste, dass Mokuba nichts sehnlicher wollte, als zu seinem Bruder zurück zu können. Aber sein Blick sagte ihm jedes Mal, dass der jüngere Kaiba verstanden hatte und die Bedingungen akzeptierte. Denn er sah das große Ganze und wusste, hoffte, dass es ihm Seto zurückgeben konnte. Domino City wurde unter ihnen immer kleiner und verschwand unter den Wolken. Joey schloss die Augen und lehnte sich zurück. Er zuckte zusammen, als eine Hand sich auf seine legte und fest drückte. Mokuba blickte starr aus dem Fenster, als könne er Domino noch immer sehen. Seine andere Hand hielt den Anhänger um seinen Hals wie einen Talisman. Joey erwiderte den Druck der Hand. Erst als sie Japan hinter sich gelassen hatten und der Ozean unter ihnen lag, ließ Mokuba ihn wieder los. oOo Wheeler. Das Königreich der Duellanten. Ein Junge, der sich ihm in den Weg stellte. Ein Junge, der ihn zum Duell herausforderte und kläglich unterging. Ein Junge, dessen Feuer nicht durch die vernichtende Niederlage erlosch, sondern aufloderte und Revange versprach. Das Battle City Turnier. Ein junger Mann, der es bis ins Finale schaffte. Ein junger Mann, der an einem Wahnsinnigen scheiterte und zu Boden ging, bis zum letzten Augenblick kämpfend, niemals aufgebend. Ein junger Mann der zurück kehrte und ihn herausforderte, weiterkämpfte, einem Sieg näher kam als je zuvor und dennoch wie erwartet verlor. Ein junger Mann, dessen Ergeiz keine Grenzen besaß, dessen Mundwerk keinen Respekt zeigte und dessen Starrsinn unzerstörbar war. Eine Nervensäge. Ein Großmaul. Eine verfluchte Plage. Wheeler. Joey Wheeler. Yugi Mutos Schatten. Wheeler. Die Tasse mit Kaffee, die ihm Roland zusammen mit einem Abendessen auf den Tisch gestellt hatte, war mittlerweile kalt. Das Essen nicht angerührt. Seine Hände umklammerten die Zeitung so fest, dass sie zu reißen drohte. Sein Blick fixierte die Schlagzeile. Gedruckte Worte vermischten sich mit der Erinnerung an Roland vor wenigen Tagen. Verdrängte Erinnerungen, die nun unhaltbar hervorströmten. Sich nicht länger zurückhalten, nicht länger ignorieren ließen. Joey Wallstein hat heute das vorläufige Sorgerecht für Master Mokuba erhalten. Wheeler. Wallstein, korrigierte eine andere Stimme ihn. „Wheeler“, sprach er selbst den Namen aus, an den seine Stimme sich kaum erinnerte. Sich kaum erinnern durfte, denn Wheeler war nichts weiter gewesen, als ein nerviger, unwürdiger Duellant. Wallstein. Wollte sich die Welt über ihn lustig machen? War das ein abgekartetes Spiel der Presse? Er zerknüllte die Zeitung und warf sie beiseite. Hätte sie am liebsten verbrannt. Ein Witz. Eine Farce. Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, verharrte und schloss die Augen. Unmöglich. Sie irrten sie. Sie mussten sich irren. Niemals würde Wheeler ... Er wirbelte herum und sein Blick fiel auf Wheelers zerknittertes Gesicht auf der Titelseite der zerknüllten Zeitung. Ein Lächeln, das ihn verhöhnte. Eine Pose, die ihn auslachte. Unbändige, kalte Wut, die ihn plötzlich verschlang. Mit einer kalkulierten, raschen Bewegung fegte er das Abendessen vom Tisch und betrachtete mit Gleichgültigkeit, wie das Geschirr auf dem Boden zerschellte. Spürte weder Genugtuung noch Erleichterung. Nur Leere. Dann war die Wut ganz verzogen, so schnell, wie sie gekommen war, und er spürte, wie seine Beine unter ihm nachgaben. Einmal zu oft, wie schon das letzte Mal. Er fluchte, kämpfte dagegen an und versagte. Sank zu Boden, und war weder Kaiba noch Seto. Verstand seine Niederlage, seinen Niedergang und die Ironie der Situation. Wheeler, den er immer verspottet hatte, niemals erst genommen, stets unterschätzt und beleidigt hatte, war an seine Stelle getreten. Mit Geld, Einfluss und Macht. Die Dinge, die er selbst eins besaß und nun verloren hatte. Mit einer Familie. Mit Mokuba. Keine Wut, keine Leere. Blanke Verzweiflung, die er bisher unterdrückt hatte, überschwemmte seine brüchigen Widerstände, wie schon vor einigen Tagen, als Roland die verheerenden Worte ausgesprochen hatte. Aber er hatte sie nicht glauben wollten, hatte Roland einen Lügner geschimpft, ihn des Zimmers verwiesen. Doch nun war da die Zeitung, die das gleiche behauptete, doch Zeitungen logen, verbreiteten Unwahrheiten und Gerüchte, aber irgendwann, irgendwann ... konnte er sich selbst nichts mehr vormachen. Musste die Wahrheit einsehen. Konnte sie nicht länger ignorieren. Wheeler hatte ihm alles genommen. Wheeler besaß das eine ... das einzige, für das er bereit war, alles zu geben. „Mokuba ...“ Nicht mehr Herr seiner Sinne. Nicht mehr im Besitz der Kontrolle. Zum ersten Mal in seinem Leben gezwungen zu erleben, wie es war, nur noch zu fühlen. „Mokuba! “ Vernichtende, widerliche Schwäche. Das einzige, war ihm geblieben war. Kein Entkommen. Nur ein Wunsch, ein Flehen. Nimm mein Geld, meine Macht, aber nicht ihn. Nicht ihn! Etwas in ihm, weder Seto noch Kaiba, begehrte auf, verschaffte sich Gehör. Fluchte, schimpfte, schrie das leere Zimmer an und erwartete doch keine Reaktion. Die ganze Zeit über lächelte Wheelers Bild ihn an. Es war mehr als er ertrug. oOo Mit einem Seufzen ließ Joey sich rücklings aufs Sofa fallen. Er hatte die vergangenen Stunden damit verbracht, über Antragsformularen und anderen Bescheinigungen zu brüten. Er war es leid ... „Joey?“ Er öffnete die müden Augen und begegnete Joes nicht minder erschöpftem Blick. Das rang ihm ein Lächeln ab. „Hast du bis jetzt noch gearbeitet?“ „Es ist ein besonders ... komplizierter Fall, der mich beschäftigt.“ Joey hob einen Ordner Papiere vom Sofa und legte ihn auf den Tisch vor sich. Joe setzte sich neben ihn und reichte ihm eine Tasse Kaffe. „Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.“ „Das sagt der richtige“, murmelte Joey, bemerkte jedoch, wie sein Körper auf den frischen Geruch reagierte. „Danke.“ Schweigend tranken sie den Kaffee. Joe war der erste, der die Stille durchbrach. „Wie geht es voran?“ „Schleppend aber gut. Dank der Hilfe eines guten Freundes konnten wir die offiziellen Wege in Japan etwas beschleunigen.“ Joey musste nicht hinsehen, zu wissen, dass Joes Blick skeptisch war. „Wir haben nichts Illegales gemacht, Joe. Nur ein bisschen nachgeholfen. Mit einer Portion Druck durch die richtigen Informationen.“ „Joey, findest du nicht, dass du dir schon genug Umstände machst. Du solltest nicht –“ „Ich weiß.“ Joey ließ die Papiere sinken, die er gerade überflogen hatte. „Aber wenn du an meiner Stelle gewesen wärst, hättest du genauso gehandelt. Joe, Mokuba hätte über kurz oder lang selbst gehandelt, wenn es noch länger gedauert hätte. Er hat viel Geduld bewiesen, aber wenn du wüsstest, wie wichtig ihm sein großer Bruder ist, dann wüsstest du auch, dass es nicht eine Frage von Tagen, sondern von Stunden war, bis er die Warterei leid gewesen wäre. Und dann hätte er vielleicht überstürzt gehandelt und ihm hätte etwas passieren können oder nachher hätte er noch vor Gericht gestanden oder –“ „Joey.“ Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn verstummen. Joe musterte ihn ernst, aber seine Züge waren, anders als in der Öffentlichkeit, viel offener und weniger hart. „Ich verstehe dich. Um ehrlich zu sein, gab es während der Gerichtsverhandlungen um Serenitys Sorgerecht Momente, in denen ich bereit gewesen wäre, genauso zu handeln.“ „Wirklich?“ „Ich habe doch auch mit bekommen, wie sehr die Verhandlung dir und ganz besonders ihr zusetzte. Ich wollte euch nicht länger belastet, sondern glücklich sehen. Und da es dir mit Mokuba scheinbar genauso geht, kann ich nachvollziehen, wie du dich fühlst.“ Joey seufzte. „Es ist nicht nur das. Ich muss das hier schnell abschließen, damit ich zurück nach Japan kann.“ Nun zeichnete sich eine sichtbare Falte auf Joes Stirn ab. Er ließ die Hand sinken. „Joey, darf ich offen mit dir reden?“ Er kannte die Tonlage. Sie verhieß nichts Gutes. „Du hast bereits viel für die Familie Kaiba getan. Mehr als jeder andere. Du hast das Sorgerecht für Mokuba vorläufig erhalten. Joey, ich bin nicht blind. Auch ich sehe, dass jemand ganz eindeutig darauf hingearbeitet hat, dass Seto Kaiba seine Firma und seinen Bruder verliert. Ich teile deine Ansicht und ich finde es ehrenvoll, was du getan hast. Aber vergiss nicht, dass derjenige, der das ganze steuert, offensichtlich sehr viel Einfluss hat. Du hast dich bereits deutlich genug in seine oder ihre Pläne eingemischt. Wenn du so weitermachst, bist du vielleicht bald auch in ihrem Visier.“ „Was willst du damit sagen?“ „Dass du besser nicht zurück nach Japan gehen solltest.“ Diese Worte waren für Joey wie ein Schlag ins Gesicht. „Was?!“ „Joey, ich versuche hier rational zu bleiben, was mir wirklich nicht leicht fällt, da es hier um meinen Sohn geht. Aber wenn jemand systematisch dafür sorgen konnte, dass Seto Kaiba, einer der einflussreichsten Unternehmer Japans, alles verliert, dann vergiss nicht, dass du ein viel leichteres Ziel bist. Hier in Amerika kann dein Name dich vor dieser Person schützen. Aber Japan ist etwas Anderes. Und das weißt du. Also bitte, Joey, überleg dir gut, ob du wieder zurückgehen solltest. Du würdest der Person damit regelrecht auf die Nase binden, dass du ein nicht einkalkulierter Faktor bist. Ein möglicherweise störender Faktor. Es geht mir hier um deine Sicherheit, Joey. Bitte denk nicht von mir, dass ich dich daran hindern will. Ich mache mir nur Sorgen.“ „Ich auch.“ Serenity war hinter das Sofa getreten und beugte sich über sie. Sie trug einen Schlafanzug und hatte ihre Haare in einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In Joeys Augen sah sie damit so jung aus, als wäre sie noch ein Teenager. Das würde er ihr aber nie sagen, denn er wusste, wie sehr sie sich darüber aufregen würde. „Joe hat recht, Joey. Es könnte gefährlich sein, wenn du so schnell wieder nach Japan gehst.“ „Serenity, du auch?“ Dachten sie alle so? Dachten sie beide, er würde es nicht schaffen? Vertrauten sie ihm nicht? Als hätte Serenity seine Gedanken gehört, fügte sie hinzu: „Es geht hier nicht darum, ob wir dir nicht zutrauen, dass du etwas bewirken könntest. Ich bin sicher, dass du eine ganze Menge schaffen kannst, wenn du es willst. Du hast einen Plan gefasst, der funktioniert hat, Joey. Du hast Mokuba zu uns geholt. Aber Joe hat recht mit seinen Bedenken. Wenn jemand Seto Kaiba zu Fall bringt, dann ist die Person gefährlich. Und ich will nicht, dass du dich in Gefahr begibst. Warte doch wenigstens, bis etwas Zeit vergangen ist.“ „Aber Mokuba –“ „Weiß, wie viel du für ihn getan hast“, unterbrach Serenity ihn und griff nach seiner Hand. Er ließ zu, dass sie sie mit ihren Händen umschloss und liebevoll drückte. „Und auch, wenn er Seto unvorstellbar vermisst und ihn unbedingt wiedersehen möchte, weiß er doch, dass es nicht sofort möglich ist. Denkst du, ich habe in den letzten Tagen nicht mit ihm gesprochen? Mokuba ist zwar erst siebzehn, aber er denkt wie ein Erwachsener. Er würde dir keine Vorwürfe machen.“ Joey vernahm ihre Worte, ihre Stimme, sah, wie sich ihre Lippen bewegten, doch alles, was er hörte, war: Er denkt wie ein Erwachsener. Er zwang sich dazu, zu nicken und sie anzulächeln. „Ich verstehe.“ Nein, sie waren es, die nicht verstanden. Mit jedem Tag, den sie verschwendeten, würde Mokuba mehr von seiner Kindheit verlieren. Er stand auf, umrundete das Sofa und umarmte Serenity. „Was würde ich nur ohne euch tun?“ „Über den Formularen einschlafen, weil du dir keinen Kaffee geholt hättest“, sagte Joe und stand ebenfalls auf. Joey löste sich von seiner Schwester. „Das ist wohl wahr. Vielleicht sollte ich tatsächlich für heute Schluss machen.“ Er verabschiedete sich von ihnen und wünschte ihnen eine gute Nacht. Dann verließ er das Wohnzimmer. Einen Flur weiter wäre er beinahe über Mokuba gestolpert, der am Boden hockte und schuldbewusst zu ihm aufsah, als Joey versuchte, sein Gleichgewicht zu halten. „Tut mir leid.“ Joey wusste, dass er damit nicht den Beinahe-Sturz meinte. Er setzte sich neben Mokuba und lehnte sich an die Wand. „Wie viel hast du gehört?“ „Genug.“ Joey strich sich über das Gesicht. Er war müde und hatte Kopfschmerzen aber er wusste, das war nichts im Vergleich damit, wie Mokuba sich fühlen musste. Im Exil, mehrere tausend Kilometer entfernt von seinem Bruder, nicht in der Lage, ihm auch nur eine Nachricht zu kommen zu lassen. „Stimmt das, was Serenity mir gesagt hat? Siehst du es auch so?“ Mokuba nickte, doch sein Gesicht war selbst im Halbschatten des nur spärlich beleuchteten Flures unnatürlich angespannt. Außerdem wich er Joeys Blick aus. „Ich bin dankbar dafür, dass du mir geholfen hast. Es ist nicht selbstverständlich. Du und Seto, ihr wart nie ... die besten Freunde.“ Nicht einmal ansatzweise Freunde, dachte Joey, schwieg jedoch. „Ich habe Serenity gefragt, warum du das gemacht hast. Warum du selbst so viel riskiert hast. Sie hat es mir erklärt, aber ich verstehe es trotzdem nicht. Warum hilfst du uns, Joey?“ Joey hatte sich diese Frage schon oft selbst gestellt. Und es gab viele Antworten, die in seinen Augen jedoch nur Halbwahrheiten waren. Weil du es nicht verdient hast, als Druckmittel benutzt zu werden. Weil Kaiba, auch wenn er sich oft wie ein Arsch benommen hat, nicht verdient hat, alles zu verlieren. Weil eine Familie nicht auseinander gerissen werden sollte. Es gab nur eine ehrliche Antwort auf die Frage. Und es war bereits ein Risiko sie auszusprechen, denn er wusste nicht, wie Mokuba darauf reagieren würde. Aber er hatte sich geschworen, ehrlich zu sein, sollte Mokuba ihn danach fragen und er war niemand, der in so einer Situation einen Rückzieher machte. „Warum?“, wiederholte Mokuba die Frage, nachdem Joey sekundenlang geschwiegen hatte. „Weil es niemand sonst getan hätte“, antwortete er aufrichtig und beobachtete, wie sich erst Überraschung, dann schiere Fassungslosigkeit auf Mokubas Gesicht ausbreitete. Damit hatte er gerechnet. Jeder würde nun davon ausgehen, dass er lediglich aus Mitleid gehandelt hätte. Aber es war kein Mitleid, das ihn antrieb. Es war diese Aussage. Wenn er nicht geholfen hätte, hätte es niemand getan. Und wenn niemand jemandem half, wurde auch niemandem geholfen. Doch entgegen seinen Erwartungen war Mokubas Blick nicht empört oder gar wütend, stattdessen legte sich eine einzigartige Mischung aus Verständnis und Dankbarkeit auf seine Züge. Sein Kinn begann zu zittern und zum ersten Mal, seit er Mokuba vor zehn Tagen mit Yugi im Heim besucht hatte, sah Joey aufrichtige, offene Emotionen durch die Barrieren brechen, die Mokuba seit dem Beginn dieses Albtraums um sich aufgebaut hatte. Als die ersten Tränen über seine Wangen rannen strecke Joey einen Arm aus und zog ihn an sich. Er spürte, wie sich Hände in sein Oberteil gruben und das Hemd an einer Stelle, dicht an seinem Hals, feucht wurde. „Danke, Joey ...“ Mokubas Schultern bebten und Joey spürte, wie seine Augen ebenfalls zu brennen begannen. Weil es sonst niemand getan hätte. Es mochte eine scheinbar einfache Aussage sein, aber sie bedeutete ihm selbst doch so viel mehr. Sie beinhaltete, dass er nicht länger mit zusehen konnte, wie eine kleine Familie so brutal entzwei gerissen wurde. Sie sagte, dass er Mokuba nicht leiden sehen wollte. Und Mokuba hatte alles sofort verstanden. Was Joey schmerzlich zeigte, wie erwachsen er schon war. Er hob nun auch den anderen Arm und presste Mokuba stärker gegen sich. „Ich vermisse ihn so!“, flüsterte Mokuba schließlich, während seine Stimme von stillen Schluchzern unterbrochen wurde. „Ich mache mir solche Sorgen, Joey!“ Wie sollte er noch länger warten, wenn Mokuba mit jedem weiteren Tag mehr zerbrach? Sahen Serenity und Joe denn nicht, dass Mokuba nur nach außen hin gefasst wirkte? „Ich gehe so schnell wie möglich zurück nach Japan, Mokuba“, murmelte er gegen die schwarzen Haare in seinem Gesicht. „Dann finde ich deinen Bruder. Und irgendwie ... schaffen wir das. Es wird besser werden.“ Er hoffte, dass es besser werden würde. Für Kaiba, für sich, aber ganz besonders für Mokuba. Denn es war nur eine Frage der Zeit, wie lange er es noch aushielt. [tbc] Kapitel 6: In bornierter Räson ------------------------------ 12 Tage vorher „Fuck.“ Joey hatte sein Telefon eingeschaltet und sah sich mit einunddreißig Anrufen in Abwesenheit konfrontiert. Sowohl von Serenity, als auch von Joe. Er hätte das Telefon am besten ausgeschaltet lassen sollen. Doch früher oder später musste er sich damit auseinander setzen. Er hatte ihnen nicht gesagt, dass er wieder nach Japan fliegen würde. Er kannte ihre Meinung dazu. Sie hatten ihm vorgestern unmissverständlich klar gemacht, wie sie dachten. Doch dieses Mal hatte er nicht auf sie hören können. Wenn er im Sinne von Mokuba handeln wollte, dann konnte er keine zwei oder drei Monate warten, bis Gras über die Sache gewachsen war. Er musste so schnell wie möglich zurück nach Japan. Macht euch keine Sorgen um mich, tippte er in sein Mobiltelefon ein. Ich weiß, was ich tue. Und schickte die Nachricht an seine Schwester und Joe. Er hoffte, sie würden ihn verstehen. Seufzend verstaute er das Telefon in der Innentasche seiner Jeansjacke. Dann schulterte er den Rucksack und folgte den Schildern zu Gepäckaufnahme. Dieses Mal hatte er mehr dabei. Er wusste noch nicht, wie lange er hier bleiben würde, deswegen hatte er vorsorglich für mehrere Wochen gepackt. Ein Hotelzimmer war ebenfalls bereits reserviert. (Er wollte Yugi nun wirklich nicht schon wieder zur Last fallen. Es reichte, dass er beim letzten Mal bei ihm wohnen durfte.) Nachdem er seinen Koffer zurück hatte, verließ er das Terminal. Draußen empfing ihn das japanische Klima mit gnadenloser Härte, doch Joey hatte zu viele Jahre hier gelebt, um sich davon überraschen zu lassen. Er stemmte sich gegen die unmenschliche Luftfeuchtigkeit und hielt nach einem Taxi Ausschau. Und zuckte zusammen, als mit qietschenden Reifen ein Wagen vor ihm hielt, der eindeutig kein Taxi war. Schluckend wich Joey einen Schritt zurück. Die schwarze Limousine weckte Erinnerungen. Aber es war unmöglich, dass Kaiba ihn vom Flughafen abholte. Erstens bezweifelte Joey, dass er sich eine Limousine überhaupt noch leisten konnte und zweitens wusste niemand davon, dass Joey wieder hier war. Die letzte Wagentür auf der linken Seite öffnete sich und Joey sah hinter sich, um sich zu vergewissern, dass auch wirklich er gemeint war. Doch er begegnete lediglich den überraschten Gesichtern einiger Passanten, die sofort höflich wegsahen, als sich ihre Blicke kreuzten. Er machte noch einen Schritt zurück, hörte dabei ausgerechnet die Stimme seiner Mutter in seiner Erinnerung: Merke dir, Joeseph, steige nie bei fremden Personen ins Auto. Unvermittelt stieß er mit seinem Rücken gegen ein Hindernis. Als er sich umdrehte stand dort ein Chauffeur, von dem Joey nicht wusste, wie er es unbemerkt hinter ihn geschafft hatte. Der Mann griff an Joey vorbei nach dem Koffer, öffnete dann den Kofferraum und verstaute das Gepäckstück. „Was zum -“, murmelte Joey und beobachtete das Geschehen fassungslos. Dann wurde ihm bewusst, dass er jetzt einsteigen musste, wenn er seinen Koffer je wiederhaben wollte. Zögerlich trat er an die offene Tür heran, beugte sich vor, doch er konnte nicht genug erkennen. Schließlich gab er sich einen Ruck und steig ein. Die Tür schloss sich hinter ihm, ohne dass er sie zugezogen hatte. Im ersten Moment sah er gar nichts. Draußen war es schon dunkel, deswegen fiel nur etwas künstliches Licht durch die verdunkelten Fensterscheiben. Es gab auch keine Innenbeleuchtung. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Joeys Magen verkrampfte sich, als er realisierte, dass er alleine war. Dann erklang eine fremde Stimme: „Joseph Wallstein, es freut mich, dass Sie meiner Einladung nachgekommen sind.“ Ein Schauer lief seinen Rücken hinab, denn die Stimme war weder menschlich noch real. Sie kam aus den Lautsprechern des Wagens. Eine dunkle Scheibe trennte den hinteren Teil des Wagens von der Fahrerkabine und Joey war sich sicher, dass es nicht der Chauffeur gewesen war, der gesprochen hatte. „Wollen Sie vielleicht etwas trinken? Ihr Flug war sicher lang und ermüdend.“ Neben ihm öffnete sich eine Klappe und ein Tablett mit Getränken schob sich in sein Blickfeld. „Nein danke“, antwortete er. Sein Blick wanderte durch den Innenraum des Wagens, auf der Suche nach einer Kamera. Er fand keine und verschränkte die Arme. Er würde sich seiner Nervosität nicht anmerken lassen. „Ich bin nicht durstig.“ „Ganz wie Sie wünschen.“ Das Tablett verschwand wieder. Einige Sekunden kehrte Stille ein und Joey überlegte fieberhaft, wie er am besten aus dieser Situation entkam. Es machte keinen Sinn, den Wagen an einer roten Ampel zu verlassen, denn die Zentralverriegelung war sicher aktiviert. Außerdem brauchte er seinen Koffer ... „Ich will offen mit Ihnen sein, Joseph“, setzte die Stimme wieder an. Auch wenn keine Emotionen in ihr lagen, konnte Joey sich seinen Teil lebhaft vorstellen. „Aber ich bin besorgt um Sie. Ich weiß zu schätzen, dass Sie sich so für die Familie Kaiba eingesetzt haben. Das ist beispielhaft. Aber Sie sollten dennoch vorsichtig sein. Es stecken Einflüsse hinter den Entwicklungen, die Sie nicht begreifen können. Die weit über Ihnen stehen. Verstehen Sie mich nicht falsch, Sie sind ein einflussreicher Mann aus einer mächtigen Familie. Aber nicht hier in Japan.“ „Wollen Sie mir drohen?“ Joey beugte sich vor und ließ die Arme sinken. Er hatte die Fäuste geballt, um das Zittern seiner Hände zu verbergen. „Natürlich nicht, Joseph. Ich gebe Ihnen nur einen gut gemeinten Rat. Wir tolerieren Ihr bisheriges Handeln. Sie haben im Sinne von Mokuba Kaiba gehandelt und das ehrt Sie. Aber jede weitere Einmischung bringt auch gefahren mit sich. Sie könnten sich in Situationen wieder finden, die alles andere als angenehm sind. Es geht mir hier nur um Ihre Sicherheit, Joseph. Machen Sie es sich nicht schwerer, als es ist.“ „Ich denke, ich kann ganz gut selbst einschätzen, was meine Kompetenzen übersteigt und was nicht.“ Eine Pause. Dann erklang ein verzerrtes Lachen aus den Lautsprechern. „Mein lieber Joseph, Sie sind wirklich faszinierend. So entschlossen und unbestechlich. Aber seien Sie vorsichtig, dass Ihnen diese Eigenschaften nicht zum Verhängnis werden. Wir wollen doch nicht, dass Sie sich überschätzen.“ Der Wagen fuhr rechts ran und hielt. „Wir sind da“, informierte ihn die Stimme. „Ich rate Ihnen, über meine Worte nachzudenken, Joseph. Es ist nur zu Ihrem Besten.“ „Ich nehme den Hinweis zur Kenntnis.“ Die Tür ging auf und Joey stieg aus. Sein Koffer stand bereits auf dem Bürgersteig. Als er danach griff schlug die Tür hinter ihm zu und die Limousine fuhr los. Joey sah ihr nach und merkte sich das Nummernschild. Dann griff er nach seinem Mobiltelefon und speicherte die Nummer. Als er seine Hand sinken ließ, wurde ihm bewusst, dass er am ganzen Körper zitterte. Das Adrenalin, das ihn die letzten Minuten so ruhig gehalten hatte, verließ ihn langsam und er spürte sein rasendes Herz und seinen beschleunigten Atem. Es war genau das eingetreten, wovor Joe ihn gewarnt hatte. Joey war denjenigen aufgefallen, die hinter all dem steckten, was zu Kaibas Fall geführt hatte. Und nun war Joey mehr als nur eine Fliege für sie, die sich ignorieren ließ. Er hatte sich zu einer Biene entwickelt. Sie hatten ihn direkt vor dem Hotel abgesetzt, in dem er ein Zimmer reserviert hatte. Sie wussten, wo er wohnte. Joey nahm seinen Koffer und winkte ein Taxi heran. Er würde ganz bestimmt nicht mehr hier wohnen. Und auch, wenn sie vielleicht schon jemanden auf ihn angesetzt hatten, würde er sich ein anderes Hotel suchen, um das beklemmende Gefühl der Überwachung wenigstens für eine kurze Zeit los zu werden. Dann würde er Marik anrufen. Wenn er schon so tief mit drin steckte, machte es keinen mehr Sinn, jetzt noch einen Rückzieher zu machen. oOo Gleich am nächsten Tag mietete Joey sich ein Auto und fuhr damit zur Bibliothek von Domino. Er hatte Yugi am Telefon bereits am Abend zuvor alles berichtet und sich der sorgenvollen Tirade seines besten Freundes widerstandslos ergeben. Doch selbst danach war Yugi nach wie vor auf seiner Seite, wenn auch mit deutlicher Besorgnis. „Soll ich dich begleiten?“ Joey hätte Yugi alleine für dieses Angebot mit einer Umarmung erdrücken können. Er wusste, das Yugi derzeit im Stress war, weil die Ferien angefangen hatten und der Spielladen in dieser Zeit besonders überfüllt war. Dass Yugi ihm trotzdem anbot, auf einen profitablen Tag zu verzichten, bedeutete ihm viel. „Danke, aber das schaffe ich Yugi. Ich komme danach vorbei und helfe dir, wenn es sehr voll wird.“
„Das musst du nicht, Joey. Großvater hilft schon genug, außerdem bist du nicht hier, um Aushilfe im Laden zu spielen.“ „Alter, du weißt, wie ich diese Arbeit liebe!“ „Das tue ich. Und du bist hier immer willkommen.“ Nach dem Anruf hatte er das Handy in seiner Tasche verstaut und den geparkten Wagen verlassen. Der Parkplatz der Bibliothek war bereits jetzt schon gut gefüllt. Die Ferien wurden von vielen Schülern zum Lernen genutzt und die Bibliothek war eine der ersten Anlaufstellen für lerneifrige junge Japaner. Auf dem Weg die Stufen zum Eingang hinauf, begann sein Telefon zu klingeln. Joey warf einen Blick auf das Display und seufzte. Serenity. Und so sehr es ihn auch schmerzte, musste er den Anruf wegdrücken, denn er wusste, welche Worte ihn erwarten würde. Sie verstand nicht, warum er das tat. Und Joey war nicht so dumm, ihr zu sagen, dass er bereits in das Fadenkreuz von Kaibas Widersachern geraten war. „Sorry, Schwesterherz.“ „Hm.“ „Marik. Mach es bitte nicht mystischer, als es ist. Nenn mir einen Preis, ich zahle. Aber zieh es nicht künstlich in die Länge.“ „Künstlich in die Länge“, äffte der Ägypter und taxierte Joey abschätzig. „Es hat absolut nichts damit zu tun. Es hängt vielmehr damit zusammen, dass das ganze sich hier zu einer verdammten Verschwörung entwickelt, die meine Kompetenz übersteigt.“ „Hört, hört“, murmelte Bakura zwischen zwei Bissen. Marik ignorierte ihn. „Ich möchte doch nur den Besitzer des Nummernschildes in Erfahrung bringen“, sagte Joey und tippte mit Nachdruck auf die Notiz, die er Marik gemacht hatte. „Und ich möchte, dass Bakura den essentiellen Ansatz von Ordnung versteht, aber bekommen wir immer, was wir wollen? Natürlich nicht. Und warum? Weil wir der Welt am Arsch vorbeigehen.“ Joey brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass seine eigenen Augenbrauen aus Mariks Sicht unter seinem Pony verschwunden waren. Er hatte nicht erwartet, dass Marik sich so sehr verändert hatte. Äußerlich wirkte der Ägypter wie vor etwa fünf Jahren, als sie sich zuletzt gegenüber gestanden hatten, doch seine ganze Art war anders. Joey hatte gesehen, wie er sich Besuchern gegenüber verhielt: Höflich und hilfsbereit. Doch kaum war er mit Joey alleine gewesen, hatte sich seine gesamte Wortwahl verändert. Höfliche Floskeln wichen einem ruppigen Ton und das kundenfreundliche Lächeln wurde durch einen genervten Zug um seine Mundwinkel ersetzt. Joey hatte den Verdacht, dass Bakura auf Marik abfärbte. „Okay, lassen wir das ganze ,Die Welt interessiert sich einen Dreck um uns‘ mal außen vor. Es muss doch etwas geben, was ich dir im Austausch für die Information anbieten kann.“ „Tatsächlich gibt es etwas.“ Joey horchte auf. Doch Mariks nächste Worte erstickten seine Hoffnung im Keim. „Aber wenn du nicht zufällig Gott persönlich bist, dann wird es wohl leider nicht funktionieren, bedauere. Denn ich nehme nicht an, dass du den da“, Marik nickte in Richtung Bakura, „für mich loswerden kannst?“ „Marik.“ Joey startete einen letzten Versuch. „Es ist mir hier ziemlich ernst. Es passiert mir nicht jeden Tag, dass man mich mit gut gemeinten Ratschlägen bedroht. Und hier geht es nicht um irgendeine Kleinigkeit, es geht hier verdammt nochmal um ganze Existenzen! Irgendjemand hat Kaiba ruiniert und ihm Mokuba weggenommen. Irgendjemand will sein Vermächtnis nicht nur brennen sehen, sondern Kaiba gleich mit anzünden. Und so leid es mir auch tut, du bist der einzige, den ich kenne, der mir dabei helfen kann, herauszufinden, wer dahinter steckt!“ Er merkte erst, dass er die Stimme gehoben hatte, als er nichts mehr zu sagen hatte und der Raum mit einem Mal unnatürlich still war. Bakura, die Hand in der offenen Chipstüte, hatte im Kauen innegehalten. Dann schluckte er und füllte seinen Mund mit einer weiteren Portion Chips. „Das war schon irgendwie imposant“, sagte er mit vollem Mund und kratzte sich mit der freien Hand am Kopf. „Bist du der gleiche Joey Wheeler, der Kaiba früher noch gehasst hat?“ „Das hier ist nicht mehr unsere Schulzeit und hier geht es nicht um einen Groll, den ich gegen ihn habe. Hier kommen Menschen zu schaden.“ „Sagte der edle Ritter, bevor er auf seinem weißen Ross in die aussichtslose Schlacht ritt, von einem verirrten Pfeil tödlich getroffen wurde und irgendwo im Dreck verrottete, ohne je gefunden zu werden.“ Marik hatte eindeutig zu viel Zeit zwischen den Büchern verbracht. „Ich will ehrlich zu dir sein, Joey. Dein Verhalten mag ja ehrenvoll und großzügig sein, aber findest du nicht, dass du Kaiba schon einen ziemlich großen Gefallen getan hast, indem du dich um seinen Bruder kümmerst? Ich meine, was hast du vor? Willst du seine Firma und sein Geld retten, seinen Namen rein waschen und ihn mit Blumen vor allen Kameras erwarten, wenn er sich aus der Asche erhebt?“ Joey schwieg. Marik schien dies Antwort genug zu sein. „Das hatte ich mir gedacht. Dir muss klar sein, dass der Zustand, wie er vor all dem war, nicht wieder hergestellt werden kann. Das ist Vergangenheit. Kaibas Ruf ist ruiniert. Selbst wenn -“ „Das ist nicht wahr.“ „Bitte?“
 „Es stimmt nicht. Wenn den Menschen klar gemacht wird, dass alles nur Teil einer Intrige war, dann werden Sie ihre Meinung über Kaiba ändern. Sie werden verstehen, dass nichts von dem, was sie dachten, der Wahrheit entsprach.“ „Joey, du bist zu alt, um noch so naiv zu sein.“
 „Das hat nichts mit Naivität zu tun! Wenn erst einmal klar wird, dass jemand Kaiba systematisch -“ „Du scheinst etwas Essentielles nicht zu begreifen.“ 
Dieses Mal hatte Bakura gesprochen und seine plötzliche Einmischung sicherte ihm sämtliche Aufmerksamkeit. Die Chipstüte war leer. Bakura knüllte sie zusammen und warf sie achtlos hinter sich, ignorierte das Zucken von Mariks rechter Hand. „Wer immer hinter dieser Intrige steckt, ist mächtig genug, Kaibas Existenz zu vernichten. Er hat dich gestern am Flughafen erwartet und wusste, in welchem Hotel du ein Zimmer reserviert hast. Er weiß vielleicht sogar, dass du in diesem Moment hier bist. Wie willst du bei diesem Gegner irgendjemanden davon überzeugen, dass Kaiba das Opfer einer Verschwörung geworden ist? Du übersiehst die einfache, klare Tatsache, dass das Ganze drei Nummern zu groß für dich ist.“ „So ungern ich es auch nur ausspreche, aber der Primat hat recht.“ Ein wölfisches Grinsen erschien bei Mariks Worten auf Bakuras Zügen. „Versuch es nicht, Joey. Flieg zurück nach Amerika und freu dich darüber, dass du wenigstens Mokuba helfen konntest.“ Joey hätte damit rechnen müssen, dass sie nicht begriffen, warum er das tat. Dass sie dachten, er hätte Kaiba schon genug geholfen. Er schüttelte den Kopf. „Ich erzähle euch etwas. Ich bin gestern losgeflogen, mitten in der Nacht in Amerika, ohne meiner Schwester und meinem Vater etwas von meinem Entschluss zu berichten, weil sie genau das gleiche gesagt hätten, wie ihr. Bevor ich abgeflogen bin, habe ich mich von Mokuba verabschiedet. Wisst ihr, was er getan hat?“ Er griff unter den Kragen seines Shirts und zog an dem Lederband, das vorher kaum zu sehen gewesen war. Hervor kam ein Anhänger, der Marik und Bakura vertraut sein musste, denn es gab nur zwei Personen, die ihn trugen. Er hatte die Form einer Duel Monsters Karte. Joey öffnete den Anhänger und begegnete dem offenen, unbeschwerten Blick eines jungen Seto Kaibas. „Es ist das einzige, was er mitnehmen konnte, als ihn das Jugendamt abholte, weil er nur das behalten durfte, was er zu dem Zeitpunkt am Körper trug. Es ist die einzige Erinnerung an seinen Bruder. Das einzige, was ihn noch mit ihm verbindet. Und was tut er? Er gibt es mir. Er gibt mir seinen wertvollsten Besitzt und ich schwöre euch, es hat ihm verdammt nochmal weh getan, das zu tun. Aber das war ihm egal, weil er mir damit zeigen wollte, wie viel Hoffnung er mir übertragen hat. Mokuba mag siebzehn Jahre alt sein, aber abgesehen von Kaiba hat er niemals eine Familie gehabt. Und ich soll zulassen, dass er diese Familie verliert? Ich soll unberührt dabei zusehen, wie irgendjemand sich das Recht heraus nimmt, diese Familie zu zerstören und alles, was sie ausmacht, mit Füßen zu treten?!“ Er riss seinen Blick von dem Anhänger los und fixierte Marik. „Ich habe einen guten Eindruck bekommen, wie ernst diese Situation ist. Ich bin vor ein paar Tagen in einem dunklen Flur unseres Hauses beinahe über Mokuba gestolpert, der sich an eine Wand presste und nicht wusste, wo er war, nachdem er aus einem Albtraum aufgeschreckt und wirr durch durch die Flure geirrt war. Ich musste ihn daran erinnerte, dass er sich in Amerika und nicht in Japan befand. Ich musste ihm gestehen, dass ich nicht wusste, ob es seinem Bruder gut ging, denn er hätte es verdammt nochmal gemerkt, wenn ich ihn angelogen hätte! Und er hat mich angelächelt und sich dafür bedankt, dass ich mich um ihn kümmere. Dass ich ihn zehntausend Kilometer mehr von seinem Bruder entfernt habe, als das Jugendamt. Dass ich einen verdammten Ozean zwischen sie gepackt habe. Mokuba weiß nicht, ob er Kaiba jemals wieder sehen wird, alles was er hat, ist die Hoffnung, dass er es eines Tages kann. Und wenn es ihm so dreckig geht, was ist dann mit Kaiba? Ihr habt ihn vielleicht im Königreich der Duellanten nicht erlebt, aber er war bereit, alles zu tun, um seinen kleinen Bruder zu retten. Wie fühlt er sich jetzt wohl? Und glaubt ihr, Mokuba kann sich nicht vorstellen, wie es ihm geht? Meint ihr nicht, dass es ihm dadurch noch schlechter geht als ohnehin schon? Glaubt mir, ich weiß, dass das alles hier kein Spiel ist. Aber ich bin bereit, das zu akzeptieren, wenn dadurch Mokuba nicht noch brutaler aus seiner Kindheit gerissen wird, als es schon der Fall ist. Nennt mich sentimental, nennt mich von mir aus auch idiotisch, aber ich bin alles andere als naiv. Ich tue das gleiche, was ich für meine Familie tun würde! Und warum? Weil es niemand sonst tut!“ Er suchte nach Spott in Mariks Blick, nach einem Zeichen dafür, dass der Ägypter ihn nicht ernst nahm, doch die erwartete Reaktion blieb aus. Stattdessen hob Marik eine Hand und presste sich Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenwurzel. „Ich schwöre dir, Joey Wheeler ... Wallstein, du bist eine elende Plage. Verschwindest als kindischer Unruhestifter für Jahre in die Staaten und kommst dann als verdammter Mann zurück.“ „Der beweist, dass er Eier hat.“ Marik warf Bakura einen äußerst giftigen Blick zu. „Was habe ich dir bezüglich deiner Vulgärsprache gesagt?!“ „Dass ich sie mir in den Arsch schieben kann, um dich zu zitieren?“ „Und warum tust du das nicht?!“ „Weil du den Anblick nicht ertragen würdest.“ 
„Könntet ihr das später klären?“, fuhr Joey dazwischen und sie verstummten. Marik schien sich wieder daran zu erinnern, was er sagen wollte. „Okay, Joey. Wir sind dabei.“ „Dann hilfst du mir mit dem Nummernschild?“
 „Joey.“ Marik hatte die Arme verschränkt. „Ich sagte: Wir sind dabei. Das bedeutet, wir helfen dir. Nicht nur mit dem Nummernschild, sondern mit dieser ganzen verrückten, selbstmörderischen Sache.“ Joey öffnete den Mund, doch nur ein undeutlicher Laut verließ seine Kehle. Bakura unterdrückte ein Lachen. „Warum“?, fragte Joey schließlich, als er seine Fassung wieder einigermaßen zurück erlangt hatte. Er hatte gehofft, Marik würde ihm bei dem Nummernschild helfen. Aber das? Er hatte nie vorgehabt, den Ägypter für seinen Plan zu gewinnen. „Humanitäre Gründe. Beschränkte Weitsicht. Mangelnder Selbsterhaltungstrieb. Verdammter Wahnsinn. Such es dir aus. Schieb es von mir aus auf deine überzeugende Rede, um dein Ego zu pushen, ist mir egal.“ „Ich würde sagen, es ist Adrenalinsucht“, schlug Bakura vor und streckte sich. Einige Gelenke knackten. „Marik braucht den Kick.“ „Ach und du nicht?“ „Das habe ich nicht behauptet. Aber Marik würde es bei mir liebend gerne auf beschränkte Weitsicht schrieben.“ „Worauf du dich verlassen kannst. Und jetzt räum diesen Saustall hier auf! Das ist eine Bibliothek - Eigentum der Stadt. Du bist hier nicht zuhause, du verdammter -“ Während Joey der Auseinandersetzung fassungslos folgte, stellte er zum wiederholten Mal fest, dass Bakura eindeutig zu stark auf Marik abgefärbt hatte. Doch wenn genau das dazu geführt hatte, dass Marik ihm nun half, dann würde Joey es dankbar hinnehmen. Und Bakura dafür eine Packung Pralinen kaufen. Marik beobachtete, wie Joey die Stufen zum Parkplatz hinunter lief und schließlich in seinen Leihwagen einstieg. Es war ein ziemlich kleines, unscheinbares Fahrzeug. Trotz seines Vermögens schien Joey Wallstein nicht dem Luxuswahn verfallen zu sein. Was vermutlich der einzige Vorteil war, den sie in der ganzen Situation vorzuweisen hatten. „Worauf haben wir uns da bloß eingelassen?“ „Tu nicht so, als würde es dich nicht reizen“, bemerkte Bakura und durchwühlte die Taschen seiner Jacke nach Süßigkeiten. Er fand nur ein altes Bonbon und Marik beobachtete angewidert, wie es unbeeindruckt in den Mund steckte. „Das ist eine Verschwörung auf hohem Niveau. Bisher haben wir nur kleine Spitzelaufträge bekommen. Endlich können wir uns mal an einem ordentlichen Gegner messen.“ „Tu dir keinen Zwang an. Wenn du richtige Gegner willst, dann geh meinetwegen zur Mafia. Dann bin ich dich wenigstens los.“ „Die Mafia ist viel zu offensichtlich, Marik. Außerdem wüssten die überhaupt nicht, was sie an mir hätten.“ „An einem vierundzwanzigjährigen, der gerade einmal seinen Schulabschluss vorweisen kann und keine Ausbildung hat?“ „An einem ehemaligen Grabräuber, der mehr Lebenserfahrung im kleinen Finger hat, als ein ganzer Mafiaclan zusammengerechnet.“
„Für die bist du nichts weiter, als ein Psycho.“
„Dann sollen sie mich gerne unterschätzen. Das gibt mir nur einen Vorteil mehr. Siehst du denn nicht, was für eine Chance das für uns ist? Wir können allen beweisen, dass wir ein verdammt gutes Team mit einzigartigen Fähigkeiten sind.“ „Meinst du wie Bonny und Clyde?“, feixte Marik. „Ich dachte eher an ein Meisterhirn und seinen unersetzbare, ausführende Hand.“ Marik schwieg. Nach einigen Sekunden sagte er: „Du hast wieder heimlich die Spionagebücher gelesen, oder?“ „Was soll ich sonst mit meiner ganzen Freizeit tun? Über Ägypten kann ich kaum noch etwas erfahren, was ich nicht selbst erlebt habe.“ 
„Wie wäre es zur Abwechslung mit arbeiten? Du bist hier immerhin für die Sicherheit angestellt. Oder tu von mir aus, was Grabräuber eben tun. Aber versuch nicht, dir Möchtegernliteratur anzueignen.“ „Das werde ich ohnehin erst einmal nicht mehr tun können, da wir jetzt einen Auftrag haben.“ „Wenn es um das Nummernschild geht, das ist meine Aufgabe.“ „Und was soll ich dann tun?“ Marik machte eine abwinkende Handbewegung. „Sprich mit deinen Kontakten und finde heraus, wer sich in den letzten Monaten auffallend oft nach Kaiba erkundigt hat. Diejenigen, die hinter all dem stecken, werden ihre eigenen Vorbereitungen getroffen haben. Das können sie nur schwer geschafft haben, ohne zumindest ein wenig aufzufallen.“ „Geht klar.“ Und damit war Bakura durch das offene Fenster verschwunden. Marik verdrehte die Augen. „Ernsthaft, was ist so schwer daran, eine Tür zu benutzen?“ Er bekam keine Antwort. Das hob seine Stimmung in einem beträchtlichen Maße an. oOo Als Joey den Spielladen erreichte, war dort bereits die Hölle los. Schüler jeder Schulform drängten sich um die neuesten Duel Monsters Karten und Joey beobachtete amüsiert, wie sie ehrfürchtig Yugis Urkunden bestaunten, die sämtliche Siege seiner Laufbahn widerspiegelten und neben der Kasse an der Wand hingen. Joey hatte Yugi, nachdem er den Laden von seinem Großvater vor einigen Jahren übernommen hatte, dazu drängen müssen, seine Urkunden rahmen zu lassen. Yugi war viel zu bescheiden, um mit seinen Erfolgen hausieren zu gehen. „Joey!“ Sein bester Freund stand hinter der Ladentheke und gab gerade einem schüchtern lächelnden Mädchen ihr Wechselgeld. Er winkte ihm zu und zwängte sich an einigen heftig diskutierenden Jungen vorbei. „Ich schwöre dir, selbst wenn du noch so starke Drachenkarten hast, gegen ein Fallendeck hast du keine Chance!“ „Aber ich kenne einige Drachenkarten, die Fallenkarten nutzlos machen!“ „Das mag sein, aber ich habe von meinem Bruder gehört, der es von seinem Kumpel gehört hat, dass es eine Fallenkarte gibt, die sämtliche Drachenkarten -“ Joey schüttelte den Kopf und ließ die Diskussion hinter sich. Er hatte selbst zwar noch seine alten Karten, hatte sich aber zuletzt vor einem Jahr mit einem Kommilitonen duelliert, der einfach keine Ruhe gegeben hatte, bis Joey mit ihm den Boden gewischt hatte. Seitdem war er nicht mehr herausgefordert worden und hatte kein Duell mehr bestritten. Irgendwo vermisste er es schon, aber die Zeit als Duellant lag hinter ihm. Allerdings kribbelte es ihn immer noch in den Fingern, wenn er daran dachte, dass Yugi bis heute ungeschlagen war. Irgendwann vielleicht würde er ihn noch einmal herausfordern ... Aber dafür war er jetzt nicht hier. „Schön, dich zu sehen.“ Yugi gab ihm zu verstehen, dass er hinter die Theke kommen konnte. Joey legte seine Jacke über den Tresen, darauf bedacht, nichts aus der Auslage zu verschieben. „Wie ist es gelaufen?“ Er öffnete den Mund und stellte fest, dass es zu viel zu bereden gab und dass die Informationen zu empfindlich waren, um in einem überfüllten Laden ausgetauscht werden zu können. „Später“, formte er mit seinen Lippen, als eine Schülergruppe an die Kasse herantrat. Einer der Jungen verwickelte Yugi in ein ernstes Gespräch über den Nutzen von Ritualmonstern und Joey lauschte Yugis Ratschlag mit einem seltsamen Gefühl von Melancholie. Ein Vibrieren in seiner Tasche riss ihn aus alten Erinnerungen. Ein Blick auf das Display seines Handys ließ ihn die Stirn runzeln. Die Nummer war unterdrückt. Aber dies war sein japanisches Telefon, denn sein amerikanisches hatte hier keinen Empfang und es gab nur eine Hand voll Personen, die diese Nummer kannten. Es war höchstwahrscheinlich Serenity oder Joe und er wusste, dass er ihnen eine Erklärung schuldig war. Joey konnte sich dunkel ausmalen, was für Sorgen seine Schwester sich bereits gemacht hatte und lange zurückgehaltene Schuldgefühle regten sich in ihm. Er gab Yugi zu verstehen, dass er kurz telefonierte und zog sich in den Lagerraum hinter der Kasse zurück. Dann nahm er den Anruf entgegen und wappnete sich innerlich bereits gegen sämtliche Standpauken. „Ja?“ Er bekam keine Antwort. Stattdessen empfingen ihn die Stille und das gedämpfte Licht des Lagerraums. Nach mehreren Sekunden ohne eine Reaktion am anderen Ende, fühlte Joey sich genötigt, nachzuhaken: „Hallo? Serenity, bist du das?“ Wieder keine Antwort. Er nahm das Telefon von seinem Ohr und betrachtete das Display, doch die Sekunden wurden gezählt, die Verbindung stand und die Nummer war nach wie vor unterdrückt. Er versuchte es noch einmal: „Entschuldigung, aber wer immer dran ist, sollte jetzt sprechen, sonst lege ich auf.“ Und er war drauf und dran, die Verbindung zu kappen, da hörte er, wie jemand Luft holte. „Wheeler.“ Beinahe hätte er das Handy fallen lassen. Er umklammerte es mit beiden Händen, damit es seinen, mit einem Mal feuchten, Fingern nicht entglitt und presste es sich so stark gegen das Ohr, als befürchtete er, jeden Moment diese Verbindung zu verlieren, von der er niemals gerechnet hatte, sie so früh zu bekommen. „Kaiba?“ [tbc] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)