Ad Hominem von mystique (Über Aufstieg und Fall - JoeyxSeto) ================================================================================ Kapitel 2: Eskalation des Unverständlichen ------------------------------------------ Noch ein kurzer Hinweis: Zeitangaben zu Beginn des Kapitels gehen immer von der eigentlichen Gegenwart im Prolog aus. 3 Monate Vorher Gelangweilt zappte Joey Wheeler durch die Fernsehprogramme. Talkshow. Werbesendung. X-beliebiges Casting. Möchtegern-Talkshow. Dauerwerbesendung. Frustriert warf er die Fernbedienung beiseite und legte den Kopf in den Nacken. Das Programm war sogar noch schlimmer als in Japan. Dort hatte man wenigstens bei all den überdrehten Sendungen das Gefühl vermittelt bekommen, etwas zu lernen. Sein Blick wanderte zu dem Schreibtisch am anderen Ende des Raumes. Er wusste, dass dort Arbeit auf ihn wartete. Ebenso wie er wusste, dass der Briefkasten seines Mail-Postfaches mittlerweile wieder gut gefüllt war und provozierend blinkte. „Noch fünf Minuten.“ Er schloss die Augen. Im Hintergrund erklang das hysterische Gekreische eines aufgetakelten Soon-to-be-Models und Joey unterdrückte ein frustriertes Aufstöhnen. „Amerikaner“, murmelte er, gleichzeitig wissend, dass Japaner nicht weniger nervig sein konnten. Im Gegensatz zu den meisten kannte er beide Seiten. Das Klingeln des Telefons beendete jeglichen Versuch, sich für einige Momente zu entspannen. Joey rappelte sich auf und schlurfte zu seinem Arbeitsplatz. Er fuhr sich durch die Haare, die er dadurch weniger bändigte denn mehr zerzauste und griff nach dem Hörer. „Wallstein Inc. Wheeler am Apparat. Sie sprechen mit dem bestaussehenden Mitarbeiter der Firma.“ „Man hat mich schon wieder mit diesem Verrückten verbunden. Dabei habe ich doch ausdrücklich nach meinem Sohn verlangt.“ „Joe.“ „Ich werde meine Sekretärin feuern lassen, wenn sie mich noch einmal so reinlegt.“ „Du würdest Sophie niemals feuern. Ohne sie würdest du den Weg nach Hause nicht finden.“ „Und das, wo ich doch praktisch in meinem Büro wohne? Ich glaube nicht.“ „Wie reserviert man die First Class Tickets nach Übersee? Wo wird deine Wäsche gereinigt? Wann muss der Rhododendron gegossen werden?“ „Du hast recht. Ohne Sophie wäre ich aufgeschmissen.“ „Hör auf deinen Sohn. Er ist nicht so blond, wie er aussieht.“ „Deine Haare hast du von mir.“ „Ich weiß.“ „Und deine Augen von –“ „Meiner Mutter. Serenity hat die gleichen. Es ist mir nicht entgangen, weißt du.“ Ein kurzes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Dann erklang ein Seufzen am anderen Ende der Leitung. „Solltest du nicht bei dem Abteilungsmeeting sein?“ „Solltest du nicht überrascht sein, dass ich nicht dort bin?“ „Joseph.“ „Nenn mich nicht so! Das hat Téa auch immer gemacht, wenn ich nicht das getan habe, was sie am besten für mich hielt.“ „Dann muss ich ihr bei nächster Gelegenheit dafür danken.“ „Joe! Wenn du mich belehren willst, dann lass dich nicht immer von mir vom Thema ablenken.“ „Oh.“ Joey verdrehte die Augen. „Wir haben echt noch viel Nachzuholen mit der Vaterschaft.“ „Joey, du bist längst volljährig. Ich kann dir nichts mehr vorschreiben, was nicht mit firmeninternen Dingen zu tun hat.“ „Und wie jeder weiß, ist es aus diesem Grund grausam, den eigenen Vater zum Chef zu haben.“ Joe schwieg und Joey registrierte mit einem gequälten Stöhnen, dass er seine Worte ernst genommen hatte. „Das war ein Scherz, Joe.“ „Oh.“ Joey setzte sich auf seinen Bürostuhl und begann, vor und zurück zu rollen. „Was kann ich für dich tun, Joe?“ „Vielleicht sollten wir das nicht über das Telefon besprechen. Es geht um deinen weiteren Werdegang.“ Joey schloss die Augen und lehnte sich zurück. Ein leidiges Thema. Nach einigen Monaten des Einlebens in den Vereinigten Staaten hatten Joey und sein Vater sich zusammengesetzt und ein Gespräch über seine Zukunft geführt. Kein typisches „Sohn, aus dir soll mal etwas werden“-Gespräch. Joe war genauso neu in seiner Vaterrolle wie Joey in der eines Sohnes, dessen Wohl im Sinne seines Vaters war. Joe hatte ihm erklärt, dass er außer Joey keinen Erben besaß. Er hatte ihm deutlich gemacht, dass er von Joey nicht erwartete, eines Tages seine Firma zu übernehmen. Er wollte ihn aber in allem unterstützen. Joey gestand, sich bisher keine wirklichen Gedanken über seine künftige Berufswahl gemacht zu haben, da seine Noten keinen großen Raum für Träume gelassen hatten. Sie überlegten lange hin und her, bis Joey vorschlug, es zumindest zu versuchen. Joe hatte er damit ein belustigtes Lächeln entlockt. „Was deine Noten betrifft“, hatte er Joey zwinkernd gesagt, „mach dir keine Gedanken. Du wirst hier ganz neu anfangen können.“ Joey gefiel es eigentlich nicht, durch Joes Einfluss voranzukommen, doch er nahm sich vor, nur dieses eine Mal Nutzen daraus zu ziehen. Alles andere würde er sich selbst erarbeiten. Natürlich hatte Joey nicht angenommen, Anwalt zu werden wäre leicht. Im Gegenteil, er hatte eine gewisse Hochachtung vor allen, die das Studium schafften und je mehr er sich darüber informierte, desto unsicherer wurde er, ob er es jemals schaffen würde. Dank Joe bekam er die Möglichkeit, an einem Aufnahmetest der Universität in Chicago teilzunehmen. „Joey?“ Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. „Was?“ „Ich sagte, dass du besser in mein Büro kommst.“ „Klar. Gib mir einen Moment.“ Er legte auf und streckte sich. Dann stand er auf und durchquerte den Raum. Die Fernbedienung lag auf dem Glastisch vor der Sofagarnitur. Er erhaschte einen Blick auf ein Bild von Kaiba in den Nachrichten. Bevor die Moderatorin zum Sprechen ansetzen konnte, schaltete er den Fernseher aus und wandte sich ab. Das Übliche: Kaiba hatte wahrscheinlich wieder etwas total Beeindruckendes getan – wohlmöglich war er als erster CEO zum Mond geflogen ... Wenige Minuten später war er im Büro von Joe Wallstein. Sophie hatte ihm im Vorbeigehen zugewinkt und dann weiter gearbeitet. Sie war in ihren Mittvierzigern (was man ihr, wie Joey fand, nicht wirklich ansah) und arbeitete bereits mehr als zehn Jahre für seinen Vater. Sie hatte schon am ersten Tag der Wallstein Inc. an diesem Platz gesessen. „Joey.“ Sein Vater lächelte und Joey setzte sich in den Besuchersessel. „Und?“ „Ich will ehrlich zu dir sein, Joey.“ Kein guter Anfang für ein Gespräch. Ein beschissener Anfang, wenn er ehrlich war. „Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, unbedingt dieses Studium zu beginnen.“ Joe hatte die Hände ineinander verschränkt und seine Miene war die gleiche wie bei einem ernsten Klientengespräch. Joey würde ihn später darauf hinweisen, dass er an seiner Als-dein-Vater-rate-ich-dir-folgendes-Miene zu arbeiten. „Ich habe das Gefühl, als hätte ich dich dazu genötigt. Wenn auch nur indirekt. Du musst wissen, dass du mir in keinster Weise zu irgendetwas verpflichtet bist.“ Joey stieß einen langen Atem aus. Er kam nicht umhin, Joes Zweifel nachzuvollziehen. Auch er fragte sich schon seit mehreren Monaten immer öfter, ob das Jurastudium die richtige Entscheidung war. Er hatte sich allerdings nie von Joe in diese Richtung gedrängt gefühlt – im Gegenteil: Er hatte den Entschluss alleine gefasst. Vor etwas mehr als drei Jahren. „Joe“, begann er und suchte nach den richtigen Worten. „Vielleicht brauche ich einfach noch etwas mehr Zeit. Ich weiß doch noch gar nicht wirklich, wie dieses Jurastudium eigentlich ist.“ Noch vor drei Jahren hatte Joey geglaubt, Anwalt zu werden bedeutete, sich in ein Jurastudium zu stürzen und es einfach zu absolvieren (wobei einfach hier ein relativer Begriff war). Doch stellte sich bald heraus, dass die Vereinigten Staaten im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern vor Beginn eines Jurastudiums einen Abschluss eines anderen Studiums forderten. Nach einigem Hin und Her und auf den Rat seiner Schwester hin, bewarb Joey sich für Soziologie an der Universität von Chicago. Nachdem er den Aufnahmetest durch wochenlanges Lernen und die tatkräftige Unterstützung von Serenity bestanden hatte, begann das Soziologiestudium. Es war der Horror. Joey hatte während seiner Schulzeit nie wirklich feststellen können, was ihm gut lag oder welche Talente er fördern konnte. Er hatte sich zu sehr auf das Duellieren konzentriert, um an etwas Anderes denken zu können. Tatsächlich hatte er sogar angenommen (oder vielmehr befürchtet), eines Tages als gewöhnlicher Arbeiter zu enden, so wie der Großteil der japanischen Bevölkerung. Amerika war anders: Hier nahmen die Menschen es nicht einfach hin - hier wollten sie offenbar nicht wie alle anderen werden und dem allgemeinen kollektiven Wohl der Gesellschaft durch tagtägliches, monotones Arbeiten ihren Beitrag leisten. Aber dies alles mal beiseite: Soziologie war nicht das, was Joey sich unter dieser Freiheit vorstellte. Drei Jahre hatte er es versucht, hatte sich eingeredet, eines Tages ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, aber es blieb aus. Mit Mühe schaffte er den Abschluss und bewarb sich an der School of Law an der gleichen Universität, um endlich den nächsten Schritt zu tun, doch nach mittlerweile zweieinhalb Monaten war seine Motivation dem Nullpunkt zum Greifen nah. Wenn er jetzt jedoch aufhörte, kam das einer Niederlage gleich und Joey war nicht bereit, alles hinzuwerfen. „Joey, es wird in den nächsten vier Jahren nicht einfacher werden.“ Joe musterte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen. Joey kannte diese Mimik mittlerweile gut genug, um die Sorge in ihr zu erkennen. „Denkst du ich merke nicht, wie schwer es dir jetzt bereits fällt, dich zu motivieren? Wie wird das in einem Jahr aussehen? Muss ich dich zwingen, zur Universität zu gehen? Werde ich dich am Ende der Semesterferien davon überzeugen können, überhaupt wieder dorthin zu gehen? Joey.“ Er seufzte und beugte sich vor. „Niemand verlangt das von dir. Ich habe dich nicht zu mir geholt, nur um dich zu meinem Nachfolger zu machen. Du sollst für dich entscheiden können, was du machen willst. Und wenn du als Duel Monsters spielender Wallstein-Erbe durch die Vereinigten Staaten ziehst. Das soll mir nur recht sein, solange du es gerne machst.“ Er schmunzelte. „Allerdings wäre es in diesem Fall gut, wenn du wenigstens gewinnst. Das kann ich von meinem Sohn erwarten.“ Joey hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und blickte lächelnd an die Decke. Tatsächlich war Joe mit seinen letzten Worten einer geheimen Vorstellung schon ziemlich nahe gekommen. „Wir könnten auch eine Vater-Sohn-Show daraus machen. Ich bringe dir bei, wie man sich duelliert und wir reisen durch die Staaten.“ „Dafür bin ich wohl leider schon zu alt.“ „Lass das nicht Sophie hören. Sie schickt dir wieder den Yoga-Trainer, damit du nicht abbaust.“ Sie sahen sich an und begannen zu lachen. Eine halbe Stunde später war Joey wieder in seinem Büro. Es war eine Art Arbeitszimmer, das Joe ihm für die Zeiten zwischen Universitätsvorlesungen zur Verfügung gestellt hatte. Außerdem diente es dem Zweck, Joey einen besseren Überblick über die Kanzlei gewinnen zu lassen. Joey hatte in den letzten Jahren gerne Zeit hier verbracht. Ebenso sehr hatte er es schätzen gelernt, sich mit einem Kaffee in die Lobby zu setzen und die Leute zu beobachten. Er begegnete dort Menschen, die auf der Suche nach Hilfe aus scheinbar aussichtslosen Situationen waren. Mit einigen von ihnen unterhielt er sich, andere schwiegen und beachteten ihn nicht weiter, wieder andere erweckten den Eindruck als würden sie nur darauf warten, dass man ihnen die Möglichkeit gab, ihr Herz auszuschütten. Joey hatte schon viele Geschichten gehört und hatte festgestellt, dass die Menschen – egal ob in Japan, Amerika oder irgendwo anders in der Welt – doch alle gleich waren und die gleichen Probleme hatten. Diese Bereitschaft zur Betrachtung seiner Mitmenschen hätte ihn eigentlich für das Soziologiestudium zugute kommen sollen, aber bei jeder erneuten Lesung in der Universität war Joey nicht umhin gekommen zu bemerken, dass nichts von dem, was die Dozenten von ihren Blättern ablasen, auch nur ansatzweise die Emotionen in den Augen einer Ehefrau einfing, die sich nichts sehnlicher wünschte, als dass das Dahinscheiden ihres bereits seit sieben Jahren komatösen Mannes nicht noch mehr in die Länge gezogen wird. Oder das Beben in der Stimme eines Zweiundzwanzigjährigen, dem die einzige Behandlungsmöglichkeit seiner Krankheit durch ein veraltetes Gesetz der Ärztekammer verwehrt wurde. Wenn Joey in den letzten drei Jahren etwas gelernt hatte, dann dass Menschen sich an der Universität nicht verallgemeinern ließen – besonders nicht, wenn es um ihre Schicksale ging. Er füllte ein Glas mit Wasser und setzte sich auf sein Sofa, schaltete den Fernseher wieder an und stellte ihn auf lautlos. Dann nahm er einen Schluck und starrte abwesend in das halb volle Glas. Joe hatte recht. Auf lange Sicht würde das Jurastudium ihm nichts bringen. Selbst wenn er es beenden würde, was wären seine weiteren Optionen? Als Anwalt bei Wallstein Inc. beginnen und für den Rest seines Lebens vor Gericht Einspruch gegen irgendwas erheben? Vor einem Monat hatte er noch mit dem Gedanken gespielt, sich auf Familienrecht zu spezialisieren. Nach dem Sorgerechtsprozess um Serenity hatte er sich die Frage gestellt, wie viele Familien es noch schwerer hatten als sie und ebenfalls einen Anwalt brauchten, der ihnen half. Doch so sehr es ihn auch stolz machen würde, den Menschen damit einen Gefallen tun zu können, wusste er doch genauso, dass er auf Dauer nicht wirklich glücklich würde. Es würde ihn zermürben, bei einem besonders schweren Fall vielleicht sogar auffressen. Das war nicht er. Er hatte mit Yugi, Téa, Tristan und sogar Duke schon über ähnliche Themen gesprochen. Im Gegensatz zu ihm schienen sie alle Pläne zu haben, die funktionierten. Keiner von ihnen stand kurz davor ein Studium, auf dessen Realisierung sie drei Jahre hingearbeitet hatten, einfach abzubrechen. Frustriert stöhnend presste er sich das Glas gegen die Stirn. Er fühlte sich wie in einer Midlife Crisis. Was soll noch aus meinem Leben werden? Was habe ich bisher aus meinem Leben gemacht? Immer dieselben Fragen und er war erst vierundzwanzig! Nach schier endlosen Sekunden öffnete er die Augen und sah zum Fernseher. Und sein Blick traf wiederholt auf das Bild von Kaiba. Er schnaubte. „Ich wette, du musstest dir auch nie solche Fragten stellen, nicht wahr, reicher Pinkel?“ Der Umstand, dass er durch seinen Vater mittlerweile sicher genauso reich war, änderte nichts daran, dass Kaiba für ihn immer ein reicher Pinkel bleiben würde. Kaibas Bild neben der sprechenden Moderatorin wurde abgelöst von einem Film. Eine rasche Aneinanderreihung von schnellen Kameraeinstellungen, alle umrahmt von Mikrofonen, die Kaiba folgten. Etwas an dem Bild machte Joey stutzig. Es war nicht die typische Kaiba-Reportage. Hier ging es nicht um das Medieninteresse an einer neuen Software oder die Fanhysterie um einen erneuten Duel Monsters Titel. Da war kein Lächeln auf den Lippen der Nachrichtensprecherin und Kaiba war noch nie vor einer Kamera geflohen. Er rannte zwar nicht vor ihr weg, aber etwas an seiner Haltung verriet, dass es hier nicht um die simple Penetranz von irgendwelchen Reportern ging, die dem Firmenleiter Insider-Informationen entlocken wollten. Joey schaltete den Ton ein. „- vielleicht sogar Anzeige gegen Seto Kaiba erhoben worden sein. Er selbst verweigert jegliches Interview und seine Pressesprecher dementieren die Anschuldigungen. Bisher ist nicht viel über die derzeitige Situation bekannt, jedoch soll Mokuba Kaiba trotz der Missbrauchsvorwürfe gegen Seto Kaiba noch immer bei ihm wohnen. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis das Jugendamt auf die Anschuldigungen reagieren und nähere Untersuchungen in die Wege leiten muss. Wir werden Sie natürlich weiterhin über dieses brandaktuelle Thema auf dem Laufenden halten. Und nun zu den Nachrichten aus der Wirtschaft. Nach einem eher bescheidenen Anstieg des Wirtschaftswachstums im ersten Quartal, verzeichnen ...“ Doch Joey hörte längst nicht mehr zu. Er starrte auf den Bildschirm, ohne die nun laufenden Bilder wirklich wahrzunehmen. „Was zum –“, murmelte er, sprang regelrecht vom Sofa auf und war mit schnellen Schritten am Telefon. Er wählte ohne wirklich nachdenken zu müssen und nach zehn Sekunden meldete sich Yugis Stimme am anderen Ende, in Japan. Joeys erste Worte waren: „Wie ernst ist es mit Kaiba?“ Es stellte sich heraus, dass es sehr ernst war. Sogar scheißernst. Yugi erzählte Joey, dass etwa eine Woche zuvor zum ersten Mal das Wort Missbrauch im Zusammenhang mit Kaiba gefallen war. Zunächst hatte kaum jemand der Schlagzeile wirklichen Glauben geschenkt, da es in Japan schon vorgekommen war, dass Kaiba ähnlich schlimme Vergehen vorgeworfen worden waren. Von systematischer Zerstörung ganzer Existenzen bis hin zum penibel geplanten und befohlenen Auftragsmord. Es gab Aufmerksamkeitsheischende, die sich als Opfer von Kaibas Größenwahn präsentiert hatten (Joey fand einige von ihnen nicht einmal wirklich unglaubwürdig und hatte sich sogar vorstellen können, dass Kaiba sich ihnen gegenüber so verhalten hatte, wie sie es schilderten) und nicht zuletzt suchte die Boulevardzeitung immer nach Skandalen – meistens erfundene. Als jedoch in den Medien von bestärktem Verdacht auf Missbrauch und einer erdrückenden Beweislast berichtet wurde, wendete sich die Situation. Die Menschen begannen, den Nachrichten zu glauben und Kaiba zu verachten. Mehr und mehr. Aktien der Kaiba Corporation fielen ins Bodenlose, die Firma verlor Milliarden Yen. Am Dienstagabend war dann das Fatale geschehen: Eine Spekulation der Kaiba Corporation erwies sich als fatal, ein wichtiger Vertrag platzte und Partner wandten sich ab. Innerhalb von zweiundsiebzig Stunden hatte die Firma die Hälfte ihres Wertes verloren. Joey hörte Yugi schweigend zu. Er blinzelte immer wieder ungläubig und suchte mit dem Blick nach weiteren Schlagzeilen auf dem Bildschirm vor sich. Tatsächlich wurde eine Sondersendung zu dem Thema ausgestrahlt, die Kaibas Werdegang und bereits jetzt seinen Fall chronologisch schilderten. Schließlich sagte auch Yugi nichts mehr und Joey sah dies als Zeichen, dass er vorerst auf dem neuesten Stand war. „Scheiße“, murmelte er schließlich. Er hatte Kaiba zwar immer gehasst, aber dass es gleich so kam, hätte er nicht im Traum für möglich gehalten. Noch vor einigen Jahren hätte ihm die Nachricht von Kaibas Fall ein schadenfrohes Lachen entlockt, aber heute war da nur Gleichgültigkeit, ja sogar beinahe Mitleid. Was ihn jedoch nicht so kalt ließ waren die Missbrauchsvorwürfe. So sehr Kaiba ihn auch schikaniert hatte und so wenig Joey ihn auch hatte ausstehen können, sah er doch sogar, dass Kaiba Mokuba niemals etwas Derartiges antun würde. Dafür war er in der Vergangenheit viel zu bereit gewesen, alles für Mokuba aufzugeben, sogar sich selbst. „Was meinst du, was passieren wird?“ Yugi antwortete lange Sekunden gar nicht und Joey befürchtete bereits, dass die Verbindung nach Japan unterbrochen worden war (es wäre nicht das erste Mal gewesen), doch dann sagte er: „Ich bin mir nicht sicher. Es sieht nicht gut aus für ihn. Wenn es so weitergeht, wird seine Firma bankrott gehen. Und sie werden ihm Mokuba wegnehmen.“ „An Geld wird es ihm ja wohl nicht mangeln“, bemerkte Joey geringschätziger als er es gewollt hatte. Etwas von dem alten Kaiba-Hass schien noch da zu sein. „Er kann sich doch sicher hervorragende Anwälte leisten, die ihn da raushauen.“ Ein kleiner Teil von ihm hoffte, dass Kaiba bloß nicht auf amerikanischen Anwälte setzte, bis ihm einfiel, dass das rechtlich überhaupt nicht möglich war. „Hoffentlich hast du recht“, seufzte Yugi und klang nicht halb so überzeugt wie Joey sich fühlte. „Ach Yugi, du kennst Kaiba doch. Gib ihm ein oder zwei Monate und er schafft es glatt, seinen Mantel wieder weiß zu waschen und sein Image so aufzupolieren, dass ihm alle wieder zu Füßen liegen.“ Joey wusste ja gar nicht, wie sehr er sich irren sollte. Montag, 19. Juli Kaiba Corporations Fall noch nicht beendet. Fachleute sprechen von einem Rekordminus Donnerstag, 22. Juli Anschuldigungen gegen Seto Kaiba zwingen Jugendamt zum Handeln. Wird er das Sorgerecht behalten können? Dienstag, 27. Juli Beweise für Missbrauch von Mokuba Kaiba an Staatsanwaltschaft übergeben. In Kürze mögliche Anklage gegen Seto Kaiba Montag, 02. August Mokuba Kaiba vom Jugendamt von seinem Martyrium befreit! Skandal um die Kaiba Corporation – Seit Jahren falsche Werte in Gewinnbüchern Freitag, 06. August Seto Kaiba – Wie ähnlich ist er seinem Stiefvater? Dienstag, 10. August Kaiba Corporation am Ende! Verluste in Milliardenhöhe sowie Verdacht auf unsaubere Geschäfte bringen den Firmengiganten zu Fall Mittwoch, 11. August Seto Kaiba tritt Rückzug an. CEO der Kaiba Corporation legt sein Amt nieder Donnerstag, 12. August Verhandlungsbeginn im Misshandlungsfall von Mokuba Kaiba Anfang nächsten Monat angesetzt Freitag, 13. August Ehemaliger Angestellter von Seto Kaiba packt aus! Wie die Kaiba Corporation jahrelang die Öffentlichkeit täuschte Samstag, 14. August Ruin der Kaiba Corporation brachte hunderte um ihren Job. Forderungen nach Entschädigung werden laut Mittwoch, 25. August „Seto Kaiba ist nicht plötzlich so geworden. Er war es schon immer!“ Exfreundin von Kaiba im Interview Donnerstag, 2. September Verhandlungsbeginn im Fall Gebrüder Kaiba! Die Beweislast scheint erdrückend Montag, 6. September Schockierende Enthüllung im Fall Kaiba! Zeuge der Anklage belastet Seto Kaiba schwer! Joey ließ die Zeitung sinken. Es war keine Amerikanische, sondern eine japanische. Er hatte sich in den letzten Jahren angewöhnt, beide zu lesen. Er begegnete Serenitys prüfendem Blick. „Was ist es heute?“ „Das Übliche.“ Das Übliche bedeutete in etwa, dass die Medien sich wieder das Maul über Kaiba zerrissen. Selbst wenn man sich nicht dafür interessiert hätte, hätte man keine Möglichkeit gehabt, den Neuigkeiten zu Kaiba zu entrinnen. Die japanische Zeitung schien geradezu eine Extrarubrik dafür angelegt zu haben und selbst die amerikanischen Medien berichteten regelmäßig über die neuesten Enthüllungen im Fall Kaiba. Joey war es langsam Leid. Es war ekelerregend zu sehen, wie sich alle auf die Nachrichten stürzten, als warteten sie nur darauf, einen der Mächtigen fallen zu sehen. So tief und so schmerzhaft, dass sie sich einfach nur besser fühlen mussten. Joey wusste nicht, was ihn mehr anwiderte: Die Tatsache, dass die Menschen Kaibas Fall mit Schadenfreude und Faszination beobachteten oder die immer lächerlicher werdenden Schlagzeilen in den Medien. Im Internet war er durch Zufall auf einen Artikel gestoßen, der Kaiba tatsächlich unterstellte, Menschenhandel in Japan unterstützt zu haben. War man erst in die Ungnade der Gesellschaft gefallen, kannte sie kein Erbarmen mehr. Es war nur einen Frage der Zeit, bis man Kaiba für den Rückgang des japanischen Wirtschaftswachstums verantwortlich manchen würde. Oder für die Erderwärmung. Vielleicht sogar für die Kriege oder den Hunger auf der Welt. „Ihnen ist mittlerweile egal, ob er schuldig ist oder nicht“, sagte er zu Serenity und war überrascht, wie verächtlich er die Worte geradezu von sich drückte, als befürchte er, ihnen zu nahe zu kommen. „Kaiba trifft mittlerweile eine Kollektivschuld. Sie würden ihm alles ankreiden, selbst wenn er vor drei Jahren irgendwo eine Flasche Wasser gekauft und nicht passend sondern mit einem fünftausend Yen-Schein bezahlt hat.“ „Er mag ja in der Vergangenheit nicht immer freundlich gewesen sein, aber so etwas verdient niemand.“ Serenitys strich über die warme Kakaotasse. „Der Verlust seiner Firma trifft ihn bestimmt, aber wie muss er sich erst wegen Mokuba fühlen?“ Und das war das Problem. Joey hätte mit Gleichgültigkeit das langsame Dahinscheiden der Kaiba Corporation beobachten können. Er hätte nicht das geringste Bedürfnis verspürt, irgendetwas zu unternehmen, geschweige denn Kaiba zu helfen. Doch die Verwicklung von Mokuba änderte alles. Ein Ruin der Kaiba Corporation war zwar unwahrscheinlich gewesen, aber nicht unmöglich. In der Vergangenheit waren schon ebenso große Unternehmen untergegangen. Es war nicht diese Entwicklung, die Joey misstrauisch machte. Was ihn beschäftigte waren die Missbrauchsvorwürfe. Sie waren so realitätsfern, so abwegig, dass er das nagende Gefühl nicht los wurde, etwas an der ganzen Situation war mehr als nur falsch. Und damit meinte er nicht den Bankrott oder die Verhandlung, sondern den Ursprung der Vorwürfe. Wer war dafür verantwortlich? Die Wende kam elf Tage später. Joey hatte sich beinahe damit abgefunden, als stiller Beobachter unter Millionen, Zeuge eines unvergleichlichen Unterganges zu werden. Er hätte diesen Umstand mit einem unterschwelligen Gefühl der Unstimmigkeit akzeptiert. Dann schlug er die Zeitung auf und sah die Überschrift: Freitag, 17. September Seto Kaiba Sorgerecht entzogen! Gericht entscheidet zugunsten der Anklage Joey bemerkte erst Momente später, dass sein Griff um die Zeitung sich so stark verkrampft hatte, dass sie bereits Risse bekam. Nun war es vollkommen offensichtlich, dass jemand Kaiba systematisch zerstören wollte. Und der große Bruder in Joey entschied, dass er nicht zulassen würde, dies auf Kosten von Mokuba zu tun. [tbc] Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)