Sturmwetter von Ninjagirl ================================================================================ Kapitel 1: Unwetter Max ----------------------- Ich war zu spät. Viel zu spät, und dabei war ich noch nicht einmal in der Schule angekommen! An meinen üblichen fünf Minuten war ich auch längst vorbeigezogen, obwohl ich mich zur gleichen Zeit auf den Weg gemacht hatte wie jeden Tag. Mein Fahrrad war schuld, oder dieser dornige Strauch, den irgendjemand auf dem Gehweg entsorgt hatte, jedenfalls war ich natürlich darüber gefahren und hatte natürlich nur wenige Meter später das Quietschen platter Reifen vernommen. Meiner platten Reifen. Also hatte ich abspringen müssen und war mit dem Fahrrad an der Seite weitergerannt, weil keine Zeit war, sich zu ärgern. Mein Englischtest hatte schon begonnen und wenn ich überhaupt noch mitschreiben durfte, dann bräuchte ich schon unter normalen Umständen die ganze Stunde, um durchzukommen. Der Schulhof kam in Sicht. Ich legte einen letzten Sprint ein, mein Fahrrad sprang neben mir her über Wurzeln und Steine, die unter dem bunten Laub nicht zu sehen waren, und ich fluchte atemlos, als ich durch das Schultor rannte. Bei den Fahrradständern sah ich Dennis, der ganz ruhig ankam und gerade dabei war, sein Rad anzuschließen. Im Moment war mir ziemlich egal, dass ich seit fast einem Jahr kein Wort mit ihm gesprochen hatte, ich hatte nur die Stimme meiner Mutter im Hinterkopf, die mich über meine nächste Fünf in Englisch tadelte. Und dieses Ergebnis kam mit jeder verlorenen Sekunde näher. Ich rannte auf ihn zu. "DENNIS!" Als er aufsah, schrie ich: "SCHLIEßT DU MEINS MIT AN?" Er trug eine helle Mütze und dunkle Locken schauten darunter hervor und fielen ihm in die Augen, doch den verwirrten Blick konnte ich bereits spüren. Als ich bei ihm ankam, nickte er und wollte etwas sagen, doch ich ließ wortlos den Lenker los und sprang über die Fahrradständer, die mir auf dem Weg ins Gebäude im Weg standen. Als ich die Tür erreichte, hörte ich mein Rad zu Boden krachen. Ich riss die Tür auf und sprintete in den Englischraum. Ein Raum voller gesenkter Köpfe erwartete mich und einige schauten genervt auf, als ich in das Klassenzimmer wirbelte. "Maximilian, du bist zwanzig Minuten zu spät", knurrte mein stets schlecht gelaunter Englischlehrer. Ich nickte, nahm mir ein Aufgabenblatt von seinem Tisch und lief zu meinem Platz. Hektisch kramte ich einen Stift hervor und begann, die ersten Fragen durchzulesen. Dieser Tag hatte schonmal richtig schlecht begonnen. * Als es zum Unterrichtsende klingelte, waren einige Antwortfelder noch leer, aber viel mehr hätte ich mit mehr Zeit vermutlich auch nicht geschafft. Der Lehrer nahm mir mit einem skeptischen Blick die Zettel ab. Im nächsten Moment sprang Sven zu mir. "Alter!" sagte er, während er seinen Rucksack auf meinen Tisch schmiss. "Ich meine, pünktlich bist du ja nie, aber das! Und dann auch noch zum Test..." Er warf unserem Teufel von Lehrer einen ehrfurchtsvollen Blick zu. "Mein Rad hat 'nen Platten", erwiderte ich, an die Episode vom Morgen zurückdenkend. Dennis fiel mir ein, dem ich meinen Drahtesel in der Hektik ja nur hingeworfen hatte. Vermutlich sollte ich mit ihm absprechen, wann er heute nach Hause ging. Ein Glück hatte ich ihn überhaupt getroffen, denn mein Schloss war so rostig, dass ich kostbare Minuten vergeudet hätte, wenn ich es selbst angeschlossen hätte. "Ich muss Dennis suchen", erklärte ich Sven. "Wir sehn uns zu Mathe." Er warf mir einen seltsamen Blick zu, den ich nur noch ignorieren konnte. Nachdem in der zehnten Klasse herausgekommen war, dass Dennis schwul war, hatte in unserer Klasse kaum noch jemand etwas mit ihm unternommen. Und das, obwohl er die drei Jahre davor immer fester Bestandteil unserer Jungsabende gewesen war. Doch das war nun wirklich das Letzte, woran ich heute früh hatte denken können. Ich warf mir die Umhängetasche über die Schulter, während ich durch die Aula schritt auf der Suche nach ihm. Lucie fiel mir ins Auge. Lucie war nicht nur so bildhübsch wie eine Puppe, Dennis war noch dazu ihr bester Freund – ein Privileg, um das ihn die männliche Schulbevölkerung mehr als beneidete. Ich hatte noch nie einen Grund gehabt, mit ihr zu reden, bis jetzt. "Hey Lucie!" rief ich und ging zu ihr herüber. Sie saß auf einem schmalen Heizkörper nahe des Fensters und las in einem schmalen, abgegriffenen Buch. 'Das Leben des Galilei' stand darauf, ein Buch, das eigentlich erst in einem Jahr auf dem Plan stand. Als ich bei ihr ankam, sah sie auf, und helle graue Augen hefteten sich auf mein Gesicht. "Hast du eine Ahnung, wo Dennis ist?" fragte ich und lehnte mich an das Fenster neben ihr. Es war so undicht, dass ein kühler Zug über meinen Arm floss. Lucie prüfte ihre Uhr und kniff dann nachdenklich die Augen zusammen. Auf ihren Wangen konnte ich feine Sommersprossen erkennen, die gegen den grauen Himmel hinter uns seltsam nostalgisch wirkten. "Jetzt haben wir die Leistungskurse", murmelte sie, dann deutete sie auf die Treppen, die in die höheren Stockwerke führten. "Dann hat er Chemie oben im Labor." Ich dankte ihr lächelnd und sprintete zu den Stufen. Sven würde mich vermutlich killen dafür, dass ich ihn nicht für die Suche mitgenommen hatte, denn er war seit jeher in Lucie verknallt. Die Labore waren im dritten Stock, aber nach dem Spurt zur Schule heute Morgen fühlte ich mich topfit. Außerdem hatte ich heute noch Basketballtraining, die Aufwärmung würde mir gut tun. Im Chemielabor war ich schon fast ein Jahr nicht mehr gewesen. Es war das erste Fach, das ich abgewählt hatte. Vorsichtig steckte ich meinen Kopf in den Raum, der noch fast leer war. Drei Mädchen in weißen Kitteln standen am Chemikalienschrank und quatschten aufgeregt. In der letzten Reihe ruhte ein blonder Kopf auf der Bank, ein weiteres Mädchen saß vorne und lernte. "Suchst du mich?" hörte ich eine ruhige Stimme an meiner Seite. Dennis lächelte und ging dann an mir vorbei zur dritten Reihe, auf die er seine Tasche legte. "Tragt ihr hier immer Kittel?" fragte ich mit einem Deut auf die drei Mädchen. Er schüttelte den Kopf. "Heute wird experimentiert." Mehr schien Dennis nicht sagen zu wollen. Eigentlich war ich ja auch nicht für Smalltalk hier. Trotz der Episode vor einem Jahr, seit der wir nicht mehr gesprochen hatten, redeten wir nicht gezwungen, was mich etwas verwunderte. "Wann gehst du nach Hause? Ich möchte mein Fahrrad hier nicht unangeschlossen lassen, es werden ja schon angeschlossene Räder geklaut, da müssen wir es denen ja nicht noch einfacher machen." Dennis nahm bedächtig einen Hefter und ein Buch aus seiner Tasche. "Ich hab hier noch genug zu tun. Du hast doch heute deine AG, oder?" "Jap, 18 Uhr ist Schluss." "Ich warte einfach in der Aula auf dich und sprech das mit dem Hausmeister ab." "Super", grinste ich, "danke, dann sehen wir uns danach." * Der Unterricht zog sich wie Kaugummi, trotz Svens tatkräftigsten Versuchen, etwas Spaß einzubringen. Doch nach einer halben Stunde Mathe waren sämtliche Mitschüler um uns herum genervt und wir waren bereits zweimal von der Lehrerin ermahnt worden, weshalb wir uns jetzt nur noch aufs Quatschen beschränkten. "Heute soll noch ein riesiges Unwetter kommen", zischte Sven, während er so tat, als löse er die gestellten Aufgaben. "Hoffentlich wieder so wie dieser Sturm letztes Jahr." Ich erinnerte mich an das Unwetter 'Cynthia', wegen dem wir zwei Tage schulfrei hatten. Es wurde viel Panik gemacht, aber in unserer Region waren nur ein paar Bäume umgeknickt und Äste runtergekommen. Die freien Tage hatten wir in Svens Garten gezeltet, da hatte ich mit Dennis schon nichts mehr zu tun gehabt... Genervt hämmerte ich in die Tasten meines Taschenrechners. Es störte mich, dass ich heute so viel über Dennis nachdachte, nur weil er am Morgen mein Rad angeschlossen hatte. Wir waren früher sowas wie beste Freunde gewesen, bis er sich vor mir geoutet hatte. Vielleicht hatte ich noch ein schlechtes Gewissen von damals, es ließ mich einfach nicht los. Dass nun alle davon wussten hatte er leider Gottes auch mir zu verdanken, und das war nichtmal das Schlimmste an der Sache damals gewesen... "Warum hast du vorhin Dennis gesucht?" fragte Sven und malte gelangweilt ein paar Kringel in seinen Hefter. Ich grunzte nur schlecht gelaunt und schrieb eine Lösung auf, ohne eine Antwort zu geben. * Wir unternahmen öfter etwas zu zweit. Seine Gesellschaft war angenehm, nicht so gezwungen wie es mit den anderen Jungs manchmal war. Dann gingen wir ins Kino oder sahen uns zu Hause Filme an, denn historische Filme waren unser beider Schwäche. Er sah sie für die Geschichte und ich für die mittelalterlichen Schwertkämpfe. Als wir nach dem Film durch die Straßen schlenderten, raschelte feuchtes Laub unter unseren Füßen und leichter Nieselregen deckte uns ein. Es roch nach Regen und Rauch, weil in den Schrebergärten auf dem Weg die letzten Tapferen noch grillten. Dennis fror, weil er seine Handschuhe verloren hatte, wie er ständig irgendetwas verlor. Mir war selbst ohne Handschuhe und Schal noch warm. Ich nahm Dennis' Hand und lächelte ihm zu. * Die Pausenklingel schellte und ich war froh, den Erinnerungen zu entkommen. Sven lief plaudernd neben mir her in die Aula, wo wir immer unsere Freistunden verbrachten. "Ich hab Freikarten für das Devils-Spiel heute abend", sagte er gerade, als wir einen leeren Tisch in Beschlag nahmen. Er zog seinen Kalender hervor, der genau wie seine Hefter mit Kringeln übersät war, und schlug den heutigen Tag auf. "Um acht. Kommst du mit?" Ich gähnte leise und nickte. Um sechs sollte das Training vorbei sein und selbst mit Laufen wäre ich halb sieben zu Hause. "Hast du die Aufgaben in Bio gemacht?" fragte Sven. Ohne ein Wort kramte ich den Hefter hervor und gab ihn meinem Kumpel, dann starrte ich schläfrig aus dem Fenster. Der Schulhof und die Turnhalle mit dem großen Sportplatz davor waren zu sehen. Das Efeu, das sich über Jahrzehnte über die ganze Wand der Turnhalle geräkelt hatte, leuchtete mir nun in Rot- und Gelbtönen entgegen und wirkte wie ein Gemälde auf grauer Leinwand aus Stein. Die Wolken, die sich hinter dem Gebäude auftürmten, wirkten bedrohlich und mir fiel Svens Gerede von einer Sturmwarnung wieder ein. Die kam mir nun gar nicht gelegen, denn zum Training wollte ich auf jeden Fall gehen. * Dennis holte mich nach dem Training ab. Ich hatte ihn vollkommen vergessen und war eine halbe Stunde zu spät draußen, nur um festzustellen, dass es zu regnen begonnen hatte und dass mein bester Freund die ganze Zeit im Regen auf mich gewartet hatte. Er war komplett durchnässt, aber schaffte es trotzdem noch, mir zuzulächeln. Mein Mund wurde ganz trocken als ich ihn sah und mein Herz setzte einen Moment aus. Dennis hatte dunkle, lockige Haare und wenn er lächelte, dann schienen seine Augen zu glitzern. "Du hättest doch reinkommen können", sagte ich und lächelte entschuldigend. "Ich hab uns '300' geholt", sagte er und seine Augen glitzerten weiter. Wenn ich diesen Blick sah, dachte ich manchmal, dass er in unsere Treffen mehr hineininterpretierte. Aber ich wusste selbst nichtmal, was es bedeutete, wenn wir Arm in Arm auf der Couch lagen. Was es bedeutete, wenn dann jede Stelle kribbelte und warm wurde, an der wir uns berührten. * Während Bio konnte ich zusehen, wie die Wolken sich über der Schule verdichteten und beim Klingeln klatschten die ersten Tropfen gegen das Fenster. Draußen war es so dunkel als wäre es schon abends, dabei war es gerade erst vier Uhr. Sven wartete in der Aula auf mich und gemeinsam rannten wir über den Schulhof zur vom Efeu leuchtenden Turnhalle. Es tröpfelte bisher nur, aber je öfter Sven die Unwetterwarnung erwähnte, desto dunkler kam mir der Himmel vor. In der Halle allerdings war alles vergessen. Wir gingen in die Umkleiden und nur zwei Minuten später waren wir fertig und flitzten in die Turnhalle, um uns Bälle zu schnappen und uns aufzuwärmen. Langsam trudelte auch der Rest der AG ein und zuletzt Herr Müller, unser Trainer. Micha kam dazu und zu dritt rannten wir spaßend ein paar Runden, während wir uns die Bälle hin und her spielten. Basketball hatte ich schon als Kind gespielt und es bis in die Jugend-Bundesliga geschafft, aber mit dem Eintritt in die siebte Klasse hatte ich das aufgegeben. Zu viel Herumreisen, ich hatte schon Glück gehabt, mit diesen Noten aufs Gymnasium zu kommen. In der achten Klasse allerdings hielt ich es schon nicht mehr aus und gründete im Schnelldurchlauf eine AG, mitsamt Papierkram und allem. Die AG gab es jetzt schon vier Jahre und manchmal überredete ich Freunde aus meinem alten Team dazu, mit ihren neuen Teams anzureisen und gegen uns zu spielen. Unser Schulteam war zwar alles andere als gut, aber es machte fast so viel Spaß wie in der Jugendmannschaft damals. * "Du unternimmst in letzter Zeit ganz schön viel mit Dennis", sagte Micha mit einem kurzen Seitenblick, während wir uns von unseren verschwitzten Shirts befreiten. Ein Stein stürzte heiß und schwer in meinen Magen. Irgendwann mussten sie es ja merken. Diesen Tag fürchtete ich schon seit einigen Wochen, seit ich das erste Mal Dennis' Hand genommen hatte. Irgendwo in mir wusste ich, dass diese Freundschaft, oder was auch immer es jetzt war, von anderen nicht verstanden werden würde. Micha sah mich noch immer fragend an, also stotterte ich eine Antwort. "Mit dir mach ich doch auch viel." Er rollte die Augen und schüttelte dann den Kopf. "Ich mein ja nur. So oft, wie ihr in letzter Zeit zusammen hängt, könnte man meinen, ihr seid seit Neustem warme Brüder." "Pff", prustete ich nervös und zog mir eilig ein neues Shirt über, um mir dann meine Tasche überzuwerfen und zu gehen, denn Dennis wartete schon. * Während des Spielens konnte ich komplett abschalten. An nichts denken außer den Ball und den Korb. Deswegen hatte ich diesen Sport schon immer so genossen. Ich war sonst meist jemand, der über viele Dinge zu viel nachdachte und manche Sachen im Kopf schon kaputt machte, die eigentlich noch intakt waren. Manchmal lag ich auch richtig – das Ehe-Aus meiner Eltern hatte ich zwei Jahre zuvor vorhergesehen. Bei anderen Gelegenheiten war es allerdings dämlich, schon vorher alles zu kalkulieren und sich immer das Schlimmste auszumalen. Zu anderen Zeiten allerdings dachte ich kein Stück zu viel über eine Sache nach. Wenn es um den Schulweg ging zum Beispiel. Ich fuhr jeden Tag so los, dass ich genau fünf Minuten zu spät ankam. Naja, bis auf heute. Das viele Vorausdenken hatte mich zum Kapitän meines früheren Basketballteams gemacht. Alle Verantwortung, die ich jetzt noch übernahm, beschränkte sich auf die AG und die Schlüssel zur Turnhalle an manchen Nachmittagen. Als Herr Müller – oder Achim, wie wir ihn während des Trainings nennen durften – unser Übungsspiel abpfiff, war ich fast etwas verwirrt, weil die vergangene Zeit mir viel zu kurz vorkam als dass schon Schluss sein könnte. "Micha, werfen wir noch ein paar Körbe?" rief ich dem anderen zu. Er grinste und holte einen zweiten Ball. Gemeinsam postierten wir uns an der Linie und warfen abwechselnd. Es war eine gute Übung und perfekt um langsam wieder runterzukommen. Ich bekam oft Muskelkater, wenn ich mit warm gespielten Muskeln mit dem Sport aufhörte für den Tag. Es war besser, wenn ich stattdessen noch zehn Minuten locker lief oder wie jetzt Körbe warf. "Hast du von diesem Sturm gehört?" fragte Micha, warf seinen Ball und verfehlte den Korb um einen Meter. "Fang du nicht auch noch davon an", grummelte ich und versenkte einen Ball im Korb. Das Netz schaukelte rhythmisch hin und her. "Ich werde in ein paar Minuten von meinem Vater abgeholt, sollen wir dich mitnehmen?" Zu verlockend, aber vermutlich wartete Dennis nur wegen mir noch in der Schule. Es wäre ziemlich fies, ihn da jetzt hängen zu lassen. Noch dazu musste das Rad bald geflickt werden. "Nein, ich muss mein Fahrrad nach Hause schieben. Platter Reifen heute früh." "Ich hab schon von deiner fast geschwänzten Arbeit gehört", grinste Micha, versenkte seinen Ball und klemmte ihn sich dann unter den Arm. "Ich geh mich umziehen." Ich schoss noch einmal, traf nur den Korbrand und lief dem Ball dann hinterher, bevor ich dribbelnd zu dem Netz lief, in dem wir sie sammelten. * Sobald der Gedanke angestoßen war, wurde ich ihn nicht mehr los. 'Micha ahnt etwas' war der Gedanke. Noch am selben Tag war ich so sehr durch den Wind, dass ich völlig neben mir stand. Ich ging mit Dennis zu ihm, er wohnte nur zehn Minuten von der Schule entfernt, um wieder einmal einen Mittelalterstreifen zu sehen. Er schien selbst auch unruhig, vielleicht von mir angesteckt, aber als wir erst einmal wieder gemeinsam auf dem Sofa lagen, er an meiner Schulter, wirkte es wie die natürlichste Sache der Welt, als gehöre er einfach dorthin. "Ist heute irgendwas passiert?" fragte Dennis nach einer Weile, in der ich einen nervösen Takt auf meinen Oberschenkel getrommelt hatte. Er schaute auf und seine grünen Augen glommen im letzten Tageslicht. Ich nahm all meinen Mut zusammen und beugte mich langsam zu ihm. Ein Erzittern ging durch Dennis' Körper und ich spürte seinen warmen Atem auf den Lippen. Wir trafen uns in einem zarten Kuss, bei dem mein Mund zu kribbeln begann. Ganz automatisch wanderte meine Hand zu seinem Nacken und zwirbelte ein paar Locken um einen Finger, während ich ihn näher zog. Ich hörte nur unseren unruhigen Atem und das Rascheln von Kleidung, während wir unschuldige Küsse tauschten. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten wir uns voneinander. Dennis' Lächeln verstärkte das schwache Gefühl in meinem Bauch, das ich bei seinem Anblick so oft bekam. Meine Kehle wurde eng und ich spürte, wie ein Gefühl aufwallte, das mich mitzureißen drohte. Entsetzt von meinen plötzlichen Gedanken wand ich mich aus der Umarmung. Dennis wirkte verwirrt, doch ich konnte nicht mehr denken. Diese Gefühle waren viel zu groß, als dass ich sie in Worte fassen konnte. Panisch sprang ich auf, nahm meine Tasche und stürmte aus der Wohnung. Die Gedanken drohten, mich unter sich zu begraben. * Beim Umziehen dachte ich zurück an diesen Tag vor einem Jahr. In der Nacht darauf war ich stundenlang wach gewesen, hatte mich hin und her gewälzt und war den verfluchten Gedanken erlegen. Schwul? Unmöglich. Es ging einfach nicht. Nicht, dass Dennis nicht wirklich toll war und wir so gut miteinander auskamen wie sonst keiner, aber da war noch mehr. Die Basketball-AG... Im Jahrgang über uns gab es einen Schwulen, der Teil der Fußball-AG gewesen war, und nach seinem Outing war er so sehr gemobbt worden, dass er die AG verlassen musste, um in Frieden gelassen zu werden. Ich wollte Basketball nicht aufgeben. Die Profi-Karriere hatte ich vielleicht an den Nagel gehangen, aber nicht umsonst hatte ich diesen Club in der Schule gegründet, weil ich den Sport so sehr vermisste. All das war mir an dem Abend durch den Kopf gegangen und ich hatte mich selbst so in die Enge getrieben, dass ich frühmorgens, nach einer komplett durchwachten Nacht, nach meinem Handy griff und einigen meiner Freunde schrieb, Dennis sei schwul und habe mich angegraben. Er war danach für die Jungs ein Aussätziger gewesen – sie sprachen nur wenn nötig mit ihm, er wurde nicht mehr eingeladen, bei Projekten konnte er nur noch mit Mädchen arbeiten. Jetzt, nach der Zusammenführung der einzelnen Klassen in lose Kursverbände, schien es für ihn wieder bergauf zu gehen. Nur die Jungen meiner alten Klasse waren immer noch distanziert. Seit seinem unfreiwilligen Coming Out hatten Dennis und ich kein einziges Mal mehr geredet. Ich hatte mich entschuldigen wollen, aber gleichzeitig hatte ich Angst, dass er das gleiche Gerücht über mich verbreiten würde wie ich über ihn. Mit der Zeit hatte sich das schlechte Gewissen gelegt, doch nun wusste ich nicht, wie ich ihm gegenübertreten sollte. Unsere Räder waren zusammengeschlossen und unser Heimweg war zur Hälfte der gleiche. Wir würden also entweder zehn Minuten in peinlichem Schweigen nebeneinander her gehen, oder aber ein Gespräch war unumgänglich. "Hey, hör auf zu pennen!" rief Micha und stieß mich so hart an, dass ich fast von der Bank kippte, auf der ich mich mit einem Fuß abgestützt hatte. Ich schreckte auf und stellte meinen Fuß nun doch wieder auf die Sitzbank, um den Knoten des Schuhs zu lösen. Am liebsten wollte ich das Umziehen so lange hinauszögern wie möglich, aber Herr Müller hatte schon zweimal an den Umkleiden geklopft. Wenn es darum ging, uns zu trainieren, war er nicht so energisch... Schließlich griff ich nach meiner Tasche. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass sechs Uhr schon durch war. Als wir vor die Tür traten, wehte uns ein stechender Wind entgegen, vermischt mit harten Regentropfen. Einen kurzen Moment konnte ich gegen den pressenden Wind kaum Luft holen. Ein paar losgelöste Efeublätter wirbelten um uns herum und bildeten einen roten Schleier. "Du bist sicher, dass du nicht im Auto mitkommen willst?" fragte Micha noch einmal. Ich schüttelte den Kopf und nach einer knappen Verabschiedung rannte er durch den Sturm auf das Tor zu, wo bereits anheimelnde Scheinwerfer auf ihn warteten. Mit einem Seufzen schlug ich mir die Kapuze meines Pullovers über den Kopf. Hätte ich von diesem Sturm gehört, wäre ich vielleicht besser vorbereitet, aber Nachrichten waren nicht mein Ding und meine Mutter ging viel eher aus dem Haus als ich. Und ihrem einzigen Sohn einen guten Ratschlag zu geben, das hatte sie sich schon vor Jahren abgewöhnt. Ich stieß einen letzten Fluch aus, drückte dann meine Tasche an meinen Oberkörper und sprintete zum Schulgebäude. Der Himmel war grau und bedrohlich, der Wind so kalt, dass er in jede winzige Öffnung an meinem Pullover fuhr und ich noch während des Rennens zu zittern begann. Der Eingang rückte quälend langsam näher, doch schließlich hatte ich den Schulhof überquert, riss die Tür mit einem dejà-vu-artigen Gefühl auf und stolperte in die Schule. So froh war ich vermutlich noch nie gewesen, als ich das Schulgebäude betrat. Ich warf einen Blick hinter mich. Der Sturm, von dem den ganzen Tag lang geredet wurde, war bereits in vollem Gange und wütete über den Schulhof. Ein Ast wurde über den Boden gefegt als sei er nur ein Blatt. In die graue, düstere Masse draußen mischten sich rote und gelbe Efeublätter. Noch immer zitternd wandte ich mich ab und ging langsam zur Aula. Noch ein Ort, an dem ich nicht sein wollte. Im Moment wusste ich nicht, was mir mehr Unbehagen bereitete – der Sturm oder das Zusammentreffen mit Dennis. Die Aula war hell erleuchtet, auch wenn nur noch ein einzelner Tisch weiter hinten besetzt war. Ich sah den Lockenschopf nur von hinten, er hatte den Kopf gesenkt und schien so konzentriert, dass er mich nicht eintreten hörte. Unschlüssig blieb ich nahe der Tür stehen. "Dennis?" Er schreckte auf, blickte sich kurz zu mir um, und schob dann seine Sachen zusammen, um sie geschlossen in seine Tasche zu schieben. Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, was er bis eben getan hatte. "Na dann gehen wir mal", murmelte er, als er mich passierte. Ich stand noch immer wie festgewurzelt am Eingang und beobachtete ihn nur. "Hast du mal nach draußen gesehen?" Er warf einen Blick aus dem Fenster und hielt inne. Anscheinend hatte er seit zwei Stunden nicht mehr auf seine Umgebung geachtet, oder wie konnte man nicht mitbekommen, dass der Regen so laut wie eine Percussions-Gruppe gegen die Fenster trommelte und das Tageslicht komplett von Wolken verschluckt worden war? Zögerlich sah er mich an und im Licht der Aula erkannte ich das Grün seiner Augen wieder, nur dass es jetzt nicht so hoffnungsvoll funkelte. "Wir könnten zu den Rädern rennen", schlug ich vor. "Ich bring dich nach Hause und lauf dann zu mir." "Du könntest auch eine Weile bei mir bleiben, bis das Schlimmste vorbei ist." Unsere Blicke hafteten sekundenlang aufeinander, bis ich es nicht mehr aushielt. Zu viel passierte in meinem Magen und mit meinem Herzen, als dass das gesund sein konnte. "Vielleicht", sagte ich nur. Dennis gebot mir zu warten, während er in den Keller zum Büro des Hausmeisters ging. Ich schaltete das Licht der Aula aus und ging dann zur Ausgangstür. Draußen schien es noch dunkler geworden zu sein. Schemenhaft sah ich Äste und Blätter herumfliegen. Eine in der Luft hin und her gerissene Plastiktüte erinnerte mich an American Beauty. Den hatte ich mal mit den anderen Jungs gesehen, an einem Abend, als sie die Mädels eingeladen hatten. Die hatten diesen Film ausgesucht... Ich versuchte, unsere Räder durch den Regenschleier zu erkennen, doch ich konnte keine Formen ausmachen. Die tiefe Stimme kündigte unseren Hausmeister an und an Dennis' Seite sah ich seinen Kopf die Treppe hoch wippen. Er war in einen dicken Mantel eingepackt, bereit zu gehen, und schien nur darauf gewartet zu haben, endlich abschließen zu können. Kaum waren wir draußen, schloss er hinter uns ab und winkte uns dann nochmal knapp zu. Ich streifte mir wieder die Kapuze über, Dennis kramte seine Mütze aus der Jackentasche und zog sie bis weit über die Ohren. Seine Locken blinzelten fröhlich darunter hervor. "Bereit?" fragte ich und er nickte ernst. Dann sprangen wir die Treppen zum Hof herunter und stürmten auf die Fahrradständer zu. Der Regen schoss mir hart und kalt ins Gesicht, traf zielsicher Augen und Mund, Dennis keuchte neben mir. Wind riss an meiner Kapuze und ich hielt sie mit einer Hand fest, die andere wieder an meine Tasche gekrallt. Ich hörte kaum etwas gegen das laute Rauschen. "Scheiße!" schrie Dennis gegen den Wind an. Erst dachte ich, es sei nur allgemeines Ärgern gewesen, bis ich merkte, dass er stehen geblieben war. Vornübergebeugt sprang ich die wenigen Meter zu ihm und drehte den Rücken zum Wind. Ich zitterte vor Kälte und hatte Angst, gleich von einem herumwirbelnden Ast erschlagen zu werden. Dennis deutete auf den Boden und nachdem ich seinem Blick folgte, fluchte auch ich. Da lag ein geknacktes Schloss. Warum hatte er so ein billiges 08/15-Schloss?! Ich drehte mich einmal im Kreis, um festzustellen, dass tatsächlich kein einziges Rad mehr um uns herum stand. Scheiße! Nasse Blätter klatschten in mein Gesicht, was meine Laune nicht heben konnte. "Was jetzt?" rief er. Ich beugte mich näher, damit wir uns besser hören konnten. "Erstmal wieder zurück?" schlug ich vor, ein Nicken, dann liefen wir in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Die Tür war verschlossen. Frustriert rüttelte ich daran, während Dennis sich seufzend an der Wand nach unten rutschen ließ. Der Eingang mitsamt Treppenabsatz war überdacht, aber der Wind stürmte so stark, dass wir selbst in der Ecke neben der Tür noch etwas Regen abbekamen. Ohne nachzudenken rückte ich nah an Dennis, denn nicht nur ich zitterte wie Espenlaub. Dann konnte ich schließlich das erste Mal über die Situation nachdenken. Wie es aussah standen mir nicht nur zehn Minuten peinliches Schweigen bevor sondern so viel Zeit wie es dauerte, bis wir uns nach Hause wagten. "Wie lange bleiben wir?" fragte ich, um keine schwere Stille zuzulassen. "Bis der Sturm etwas nachgelassen hat, würde ich denken. Wer weiß, was da heute noch so runterkommt..." Fröstelnd betrachtete ich den Schulhof, über den sich bereits diverse Äste und Laubhaufen ergossen hatten. Niemand hatte erwähnt, wie lange das Unwetter bleiben würde... * Nach einer halben Stunde war es sogar noch dunkler geworden und wäre das Licht am Eingang nicht bis in die Nacht an, würden wir schon im Dustern hocken. Dennis setzte sich etwas auf und zog seine Tasche hinter seinem Rücken hervor, um darin herumzuwühlen. Er brachte etwas Filz zusammen mit Nadel und Faden zum Vorschein und begann seelenruhig, zu nähen. Entgeistert starrte ich auf – was auch immer es war – in seiner Hand. Es sah aus wie ein Lebkuchenmann. Nach einigen qualvoll stillen Minuten – na gut, still, wenn man den Sturm ausblendete – nahm ich mir ein Herz und fragte: "Was tust du da?" Dennis sah auf und deutete ein Lächeln an, das meine Kehle zuschnürte. "Ein Geschenk für Lucie. Sie zwingt mich praktisch hierzu." Er drehte die kleine Figur und ich sah, dass sie aus zwei Schichten braunem Filz bestand, die er gerade zusammennähte. "Wie hast du dich eigentlich mit Lucie angefreundet?" Dennis lächelte in sich hinein, hielt die Augen aber auf den kleinen Lebkuchenmann geheftet. "Mädchen haben diese komische Vorstellung vom besten, schwulen Freund." Ich schluckte trocken und spürte das schlechte Gewissen. "Nachdem das rauskam, wollten sie plötzlich alle mit mir befreundet sein. Und jetzt, wo alle Mädchen so sehr auf mich abfahren, bin ich bei den Jungs plötzlich auch wieder beliebt." Wie beliebt?, wollte ich fragen. Hatte er vielleicht jemanden gefunden? Hatte er einen Freund? Im letzten Moment hielt ich mich zurück und fragte doch nicht, weil ich merkte, wie eifersüchtig es klingen würde. Oh man, war ich vielleicht wirklich eifersüchtig? "Und was wird das?" fragte ich, um mich und ihn abzulenken. "Da kommt Watte rein und dann ist es sowas wie ein kleines Kuscheltier. Hab ich im Internet gefunden. Lu wollte was Selbstgemachtes und etwas Besseres ist mir nicht eingefallen." "Es ist doch schön", sagte ich vorsichtig. "Findest du?" fragte er skeptisch. Es sah... ganz in Ordnung aus. Ich meine, es war ein Lebkuchen-Kuschel-Zwerg, nicht unbedingt etwas, was ich mir wünschen würde, aber Mädchen würden es bestimmt mögen. Dennis schaute auf und musterte mich. Alles was ich tun konnte war, in seine Augen zu starren und zu überlegen, wie sich unser Kuss damals angefühlt hatte, und mich im nächsten Moment ganz weit weg zu wünschen. Und dann war es wie in den Filmen, als ob wir zwei entgegengesetzte Magnete wären. Ganz langsam zog es mich zu ihm und Dennis reckte sich mir entgegen. Wir bewegten uns in Zeitlupe, bis unsere Nasen sich fast berührten. Mein Handy klingelte. Mit weiten Augen starrte ich Dennis an, als mir klar wurde, was ich fast getan hätte. Ich zuckte zurück und suchte dann nach meinem Handy, das aus den Untiefen meiner Umhängetasche auf sich aufmerksam machte. Sven. "Ja?" fragte ich und fuhr mir mit einer Hand über die Augen. Dennis schien sich wieder gefangen zu haben und nähte seelenruhig weiter. "Bist du noch da draußen oder was?!" fragte mein Kumpel. Langsam holte mich der heulende Wind wieder ein, den ich bis eben perfekt ausgeblendet hatte. Noch dazu knisterte die Leitung stark, offensichtlich war der Empfang gerade richtig mies. "Ich bin noch bei der Schule... mein Rad wurde geklaut." "Rühr dich bloß nicht von der Stelle. Ich wollte dir gerade wegen des Spiels heute Abend absagen. Die Hauptstraßen stehen unter Wasser und ein paar Bäume hat's umgehebelt. Und es soll noch schlimmer werden." Ich seufzte tief. "Was sollen wir denn machen? Die Schule ist zu und wenn es noch stärker stürmt, dann erfrieren wir hier." Sven war eine Weile still, dann sagte er: "Okay, ich sollte davon eigentlich niemandem erzählen, aber der Kellereingang ist unter der Woche offen. Krause hat's mir gesagt." Er beschrieb mir den Weg zum Eingang, doch bevor er fertig war, wurde die Verbindung unterbrochen. Ich wusste trotzdem, welchen Eingang er meinte. "Komm mit", sagte ich nur und richtete mich mühsam auf. Meine Beine waren taub und ich humpelte einige Schritte vor der Tür hin und her, um nicht im Sturm gleich zu stürzen. Dann ging ich Dennis voran zu dem Eingang, den Sven mir beschrieben hatte. Wir drückten uns nahe der Wand entlang auf die andere Seite des Schulgebäudes, während wir auf dem Weg einem angeflogenen Wahlplakat auswichen, das uns zu köpfen drohte. Der Regen war stärker geworden und am Fuß der Treppe, zu dem sich die hoffentlich offene Tür befand, hatte sich knöchelhohes Wasser angesammelt. Was ich natürlich erst merkte, als ich hinein stieg und es mir eiskalt in die Schuhe floss und sich im Eiltempo in den Stoff meiner Jeans nach oben saugte. "Warte kurz", wies ich Dennis an, der noch einige Stufen weiter oben stand und vom Fußbad verschont blieb. Ich drückte die Klinke herunter und warf mich mit aller Kraft gegen die Tür. Sie schob sich mit einem gänsehautverursachenden Kreischen auf. Über eine kleine Stufe kam ich ins Innere. "Hier, wenn du springst, landest du nicht im Wasser." Er nahm meine dargebotene Hand und war mit einem Satz neben mir. Als ich die Tür wieder schloss, standen wir in vollkommener Dunkelheit, und das beste: Regen und Wind waren ausgesperrt. Nachts allein in der Schule. Das war fast so gut wie nachts allein im Kaufhaus – welcher Schüler hatte noch nicht davon geträumt? Fröhlich tastete ich nach Dennis und nahm ihn dann beim Ellbogen, um ihn hinter mir her zu ziehen. * Wir erkundeten die Schule etwas, aber es war doch nicht so spannend, wie ich es mir erhofft hatte. Am Ende landeten wir in der Aula und überlegten, was wir tun könnten. Zuerst entledigte ich mich meiner Schuhe und Socken, die vor Wasser trieften. "Am besten suchen wir uns einen Raum mit laufender Heizung", schlug ich vor. "Die Labore sind abgeschlossen, genauso wie das Computerkabinett", zählte Dennis auf. "Die Räume der Sprachen könnten offen sein." "Aber bloß nicht in den Englischraum", erwiderte ich und verzog das Gesicht. Dennis ging vor und führte mich in einen Lateinraum. Wir schalteten das Licht an und ich ging zu einem der Heizkörper, drehte ihn auf und legte Schuhe und Socken darauf. "Tja, was nun?" fragte ich ratlos und schaute nach draußen, wo mittlerweile nichts mehr zu erkennen war. Manchmal hörte man es noch fern scheppern, dann war da wieder nur das Rauschen des Regens. "Wir könnten uns einen der Fernseher mit DVD-Player herholen. Ich hab ein paar Filme dabei." Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Auf so eine Idee wäre ich nicht gekommen. "Du bist echt der Beste", sagte ich überschwänglich und tänzelte auf den Gang, um mich dort umzusehen. Dennis folgte mir zögerlich und erst als er direkt vor mir stand, achtete ich wirklich auf ihn. Er roch nach Zimt und Regen und mein Herz begann, immer schneller zu schlagen. "Damals dachte ich, alle wussten es, weil du dich geoutet hast. Und gesagt hättest, wir wären zusammen oder so etwas." "Zusammen?" murmelte ich. Daran hatte ich damals gar nicht gedacht. Wir hätten zusammen sein können? "Es tut mir leid, dass ich das gemacht hab... ich war..." "In Panik?" schlug Dennis vor und schmunzelte. "Ein Arsch, wollte ich sagen. Es war falsch. Sorry." Der Moment der gespannten Nähe war verflogen, als der andere an mir vorbei in Richtung Lehrerzimmer ging. In weniger ernstem Ton fuhr er fort: "Ich hab dir doch erklärt, dass jetzt wieder alles so ziemlich wie früher ist. Die Mädels fliegen auf mich und die Jungs... halten sich nicht mehr fern." "Pff, als ob die Mädchen davor auf dich standen", grinste ich seinen Rücken an. Er warf mir ein Lächeln zu, dann probierte er das Lehrerzimmer. Abgeschlossen. Doch einige Unterrichtsräume hatten auch DVD-Player, also machten wir uns weiter auf die Suche. Die Schule war ziemlich kühl und ich fröstelte, während wir über die Gänge huschten. Es hatte etwas Grusliges, ganz allein mit Dennis zwischen Türen entlang zu laufen, aus denen normalerweise Schüler strömten, oder hinter denen man sonst Lehrer reden hörte. Fast schon beängstigend war es, nichts zu hören außer unseren leisen Schritten. "Das ist das erste Mal, dass ich barfuß durch die Schule gehe", nuschelte ich, um die schwere Stille zu durchbrechen. Dennis lachte leise – ein Schauer rieselte meinen Rücken herunter – und öffnete eine Tür, nur um sie wieder zu schließen und zur nächsten zu gehen. Einige Klassenzimmer später wurden wir fündig und holten den Fernseher, mitsamt Kabeln und Rollgerüst darunter, um ihn in den Latein-Raum zu schieben, den wir uns ausgesucht hatten. Nachdem ich die Geräte angeschlossen hatte – zum Glück gab es keinen Stromausfall – sah ich, dass Dennis seine Jacke und meinen Pullover auf dem Boden ausgebreitet hatte, sodass sie ein kleines Lager bildeten. Mein Herz wummerte, als er zu mir kam, einen Stapel DVDs in der Hand. Wir sahen sie durch und wählten eine alte Verfilmung von Robin Hood. Nachdem er den Film eingelegt und alles angeschaltet hatte, drehte Dennis sich zögerlich zu mir um. Ich nahm seine Hand. Obwohl es mittlerweile halbwegs warm war, zitterte er, genau wie ich. Ich leitete ihn zu den Jacken, wo wir uns nebeneinander legten. Es war, als wäre ich vor einem Jahr nicht geflüchtet, sondern als wären wir nahtlos zu diesem Tag übergegangen. Während Regen und Äste gegen das Fenster schepperten, hatten wir nur Augen füreinander und küssten einander blind, bis wir nichts mehr vom Sturm und vom Film mitbekamen, sondern nur den anderen hörten, schmeckten, rochen... Alle meine Sinne spürten nur noch ihn. Sehr lange lagen wir auf dem Boden des Klassenzimmers und umschmeichelten unsere Zungen miteinander, ließen Finger über brennende Haut fahren, Beine und Finger verschlungen. Dennis' Seufzer schickten jedes Mal heiße und kalte Schauer über meinen Rücken. Erst als der Abspann des Films lief, nahm ich meine Umwelt wieder wahr. Dennis' Augen waren verhangen und so wie ich mich fühlte musste mein Gesicht glühen. "Es tut mir ehrlich leid..." murmelte ich, als wir uns noch einmal für wenige Sekunden lösten. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass ich von nun an je die Hände von ihm lassen könnte. "Die Vergangenheit interessiert mich nicht", erklärte Dennis freimütig und drückte den Kopf gegen meine Schulter. "Aber du wirst genug Zeit haben, es wiedergutzumachen." So schliefen wir ein, das Tosen des Sturmes vergessend, und mein Gewissen, das mich den Tag über malträtiert hatte, konnte sich endlich eine Auszeit gönnen. Selbst die Gedanken wurden von der betörenden Wärme von Dennis vertrieben und ich schlief ohne Zweifel oder Sorgen. * Gefunden wurden wir am nächsten Tag von einer Lehrerin, die trotz schulfrei wegen anhaltendem Sturm noch etwas abholen wollte. Sie fand uns umeinander gewickelt auf dem Boden des Klassenzimmers, das zwar nicht unbedingt bequem, aber ausreichend warm gewesen war. Sie weckte uns und schickte uns nach Hause. Den Weg durch die überfluteten Straßen schlugen wir in staunendem Schweigen ein, denn um uns herum waren die Folgen des Unwetters nur zu deutlich. Umgestürzte Bäume, beschädigte Autos, knöcheltiefes Wasser. Vieles war zerstört. Doch inmitten des tosenden Sturmes war auch etwas repariert worden. Vorsichtig nahm ich Dennis' Hand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)