Die Zitrone und der Rabe von Magical_Yaku (und andere Geschichten) ================================================================================ Kapitel 1: Die Zitrone und der Rabe ----------------------------------- Die Zitrone und der Rabe I. Es war fast Mittag, als das Metall des Zuges die Sonne reflektierte und ein Junge heraus auf den Bahnsteig trat. Letzterer war eigentlich nur eine leichte Erhöhung neben der Straße im Zentrum der Stadt. Der Schatten des Fremden zog sich über die sandigen Steine und jeder, der seinen Besitzer erblickte, kannte sofort das Ziel der beiden, obgleich niemand sie je zuvor gesehen hatte. Der Junge schaute sich nur kurz um, ein Auge für die niedrigen, an der Straße aufgefädelten Häuschen, ein anderes für die Schatten, die scharf zugeschnitten waren und tiefschwarz, und ein nächstes fing die verschwindenden Dachspitzen und Kanten ein, welche sich in einen dichten Nebel aus Lichtstrahlen einhüllten wie jeden vergangenen Tag auch. Er lief die Straße hinauf. Die Menschen, die seinen Weg kreuzten, starrten ihm nach. Besucher waren ungewöhnlich. Er mochte vielleicht sechzehn oder siebzehn sein, die silbergrauen Haare trug er fast schulterlang, in der blassen Hand hielt er eine Reisetasche, die zweite steckte in der Tasche seiner Jacke. Er klopfte an eine Tür, sie öffnete sich, verschluckte ihn. Jetzt war es nur ein vorübergehender Augenblick, ein flüchtiges Schauspiel mit bemerkenswertem Hintergrund, welcher seinerseits doch zu alltäglich war, um ihm Beachtung zu schenken. Erst später erinnerte man sich wieder an die Ankunft Severins, wie er mit seinem eiskalten Gesicht über die in Mittagssonne getauchte Straße wanderte, seine Haare im Wind wehten, der ebenfalls von Hitze getränkt war. Doch nicht vermochte zu schmelzen. Der Junge kam aus dem Osten hierher, um seine Tante zu pflegen, der es seit einiger Zeit sehr schlecht ging. Er war vom Ehemann der Schwester geschickt worden, um zu helfen. Vom Ehemann, sein Vater, der Schwester, die bereits verstorben trotz ihres jungen Alters. Sie war achtzehn gewesen, als sie mit ihrer älteren Schwester einen Ausflug gen Osten machte und dort heiratete. Die Ältere kehrte ein Jahr später zurück, die Jüngere niemals, starb 157 Monate darauf an einer Krankheit, wie man behauptete, dieselbe, die nun die Schwester quälte, dieselbe, wie sie auch der Großvater Severins erlitten hatte. Die Bewohner der Stadt nannten sie den Fluch des Grauen Blutes, das Schicksal, das alle teilten, die vom Blut der Grauäugigen gekostet hatten, es in ihrem Körper produzierten. Der Junge zog bei seiner Tante ein, bei ihr und der Großmutter, und er ging zur Schule, in der er sehr gut war und dennoch nie ein Wort sagte. Kaum ein Mensch, den man draußen auf der Straße ansprach, hatte je seine Stimme vernommen. Aber man fand auch nicht alle Einwohner der Stadt auf der Straße. Manche drückten sich ebenso in den Schatten herum wie der Fremde selbst, nur konnte man sie nicht nach dem Klang seiner Stimme fragen, man begegnete ihnen nie. Die Luft war kühl geworden, denn die Nacht schlich heran, heimlich wie immer, doch offensichtlich. Wie immer. Er zündete sich eine Zigarette an, der Nebel stieg auf, und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Das war eine Bewegung, die er oft ausführte, obwohl sie nichts nützte. Die Haare fielen zurück. Gerade wenn er am Abend im Dunkeln saß und rauchte, den Kopf schief gelegt, zur Hälfte als schaue er in den Himmel, zur anderen als wende er sich ab von was auch immer. Mit Abscheu, Stolz, Angst, Verlegenheit. Zu keiner Zeit gab er Gründe zu erkennen. Ich saß neben ihm an der abgewandten Seite, die Knie angezogen, lauschte seinem Atmen. »Wie geht es deiner Tante?« Er sog die Luft tief ein und sagte dann, als hätte er nichts gesagt: »Sie stirbt.« Ein seltsamer Anflug von Vergnügen. »Wann?« »Übermorgen.« Ich war berauscht. Der Gedanke daran fesselte mich irgendwie. Ich konnte mir nicht erklären, warum. Ich kannte die Frau eigentlich nicht. Ich hatte sie nur wenige Male draußen gesehen, als es ihr noch besser ging, als ich noch klein war. Ich war nie in ihrem Haus gewesen, hatte Severin nicht einmal dort besucht, obgleich er schon drei Monate hier war. In der Schule war ich zwei Klassen unter ihm. Man bemerkte sich nicht. Erst hier waren wir uns begegnet. Und seitdem trafen wir uns auch fast nur an diesem Ort ohne Ohren, im Dunkeln, bis auf wenige Male auf den Bahnschienen. Tageslicht kam mit der Großstadt. Er ließ die Zigarette ins Gras fallen, wandte sich zu mir und blickte mich an. Seine Augen waren durchdringend und einerseits sehr bösartig. Er sah alles, alles, was man sich vorstellen konnte. Es gab nichts, das man vor ihm verbergen konnte. Man versuchte es erst gar nicht. Ein schamloser, durchdringender Blick. »In zwei Tagen fahr ich nach Hause zurück.« Seine Augen saugten sich an meinen fest. »Kommst du mit?« Ich strich mir eine schwarze Strähne von der Stirn. »Ich bin mit der Schule noch nicht fertig.« Er verzog keine Miene, unbeweglich wie üblich. Seine Hand war kalt. Eine Wolke schob sich vor den Mond. Die Grillen zirpten laut, glaubte ich zu hören. In Wirklichkeit verschloss ich die Ohren. Wie lagen im Gras, das nass war. Ich zupfte die Halme aus und verknotete sie. »Severin.« Er antwortete nicht. »Severin.« »Mir ist furchtbar langweilig hier.« Ich setzte mich auf, zog mir meine Sachen wieder über. »Wie ist deine Tante eigentlich?« Er machte eine abwertende Bewegung mit dem Kopf wie andere Menschen mit der Hand. Das war seine Art. Jede Geste war unmerklich klein, auf ein Minimum reduziert, aber wirkungsvoller als alles. »Was willst du andauernd mit der?« »Es gibt Gerüchte.« Er schielte zu mir rüber, lächelte. »Haha«, machte er und pflückte ein Kleeblatt, küsste die Blätter und schob sie in meinen Mund. Dann beugte er sich zu mir und flüsterte: »Du kannst nicht mal dem trauen, was deine Augen sehen. Wie kannst du Gerüchten Glauben schenken?« Und ich flüsterte zurück: »Ich höre sie nur.« Seine Hand glitt unter mein T-Shirt. »Ich werde sie töten.« »Warum?« »Ich mag sie nicht.« Der Mond legte einen Schimmer auf das silberne Haar, die weiße Haut, Gras, Gänseblümchen, nahe Dächer. Hinter einer Fensterscheibe wusste ich die Gestalt einer hageren Frau mit grauen Augen, die uns beobachtete. Wie immer. Ich blickte ihr ins Gesicht, ein kühler Ausdruck, vertraut. Eigentlich kannte ich sie nicht und durch das Glas sah man sie schlecht in Dunkelheit und Entfernung, doch schien ihr Gesicht das gleiche zu sein wie das, welches ich liebte, an diesem Körper jedoch verursachte es Abscheu. »Ja«, hauchte meine Stimme. »Ich auch nicht.« Die Zitrone und der Rabe II. Eigentlich hörte ich die Leute immer nur schlecht über ihn reden, überhaupt hatte die Familie nicht den besten Ruf. Aber vor allem lag es daran, dass er seither ein Fremder geblieben war, ein seltsamer Junge. Im Unterricht passte er selten auf, beschäftigte sich mit anderen Dingen wie Büchern und Bauwerken aus Radiergummi und Stiften, bei denen Gleichgewicht und Gravitation alles waren. Dennoch schrieb er stets die beste Arbeit. Er war ein begnadeter Maler, ein guter Klavierspieler, ein schneller aggressiver Sportler. Er hatte nur heimliche Bewunderer, die nicht einmal sich selbst eingestehen konnten, dass Interesse in welcher Richtung auch immer vorhanden war. Die einzigen, die im Haus der Kranken verkehrten und ihn im Umgang mit der Tante erlebten, waren der Arzt, der Pastor, der Postbote und die Großmutter, die jedoch nur mit ihrem alten Schädel wackelte. Der Pastor sprach nicht über die Dinge, die er sah, nicht offiziell, vielleicht heimlich in Anspielungen. Der Arzt war ein ehrlicher Mann, wie es schien. Über Patienten sprach er nur mit seiner Frau, die ihrerseits noch ehrlicher war, was aber nicht bedeutete, dass sie Geschichten nicht weitertrug. Sie dichtete bloß nichts dazu. Der Postbote dagegen war noch jung, er verstand sich gut mit allen Leuten und redete sogar mit den Eichhörnchen auf den Bäumen. Und er war es, der die wenigen guten Seiten des jüngsten Blutverkosters der grauen Welt mitteilte, vergaß er jedoch meistens die Wahrheit. »Guten Morgen, Azisan«, begrüßte er mich, als er mich auf dem Zaun der Weide am Stadtrand auffand. »Du bist ein elender Lügner, Postjunge.« Er lachte schallend, blinzelte mich an. »Soll ich es erst soweit kommen lassen, dass er sie totschlägt?« »Nein«, sagte ich. »Er wird ihr ein Messer in den Bauch stechen.« Seine Augen weiteten sich. »Über wen sprichst du?« Ich sprang vom Zaun, lief ein Stück. »Haha«, machte ich. Ich war mir sicher, er kannte es. »Nicht nur du kannst lügen, Postjunge.« Er schob seine Mütze ein Stück zurück. »Mein Name ist Régis.« »Und wenn schon. Postjunge. »Ich warf den Kopf in den Nacken. »Ich weiß, wer du bist. Ich kenne dich doch.« Ich tat, als lachte ich. Das war meine Art. * Er beugte sich aus dem Fenster. Auf dem Bett hinter ihm saß eine ausgehöhlte Frau, angelehnt an ein riesiges Kissen. Die Haare waren dünn, hatten eine seltsame Farbe zwischen U und I und waren geflochten. Ihre Lippen waren blass und das Gesicht lebte von harten Zügen. »Was willst du von diesem Mädchen? Sie ist nicht schön«, meinte sie bösartig. »Aber ihre Stimme ist süß wie Honig im Gegensatz zu deiner, alte Frau«, entgegnete er barsch. Sie legte den Kopf schief, zog ein schiefes Lächeln auf. »Wenn ich sterbe, wirst du gehen? Und was wird aus Schwiegermutter?« Er zuckte mit den Schultern. »Was soll aus ihr werden? Der Arzt wird sie zu sich nehmen. Er vermisst seine Mutter.« Einen Moment herrschte Stille. Die Luft wirbelte durcheinander. »Du nicht?«, fragte sie. Ihre Augen bohrten sich tief in sein Fleisch. Der Junge trat an das Metallgestell, beugte sich zu ihr, starrte sie an. »Nein«, sagte er dann in einem provozierenden Ton, einem, der meinte, es käme noch etwas nach ihm, doch wartete er vergeblich, sodass sich ein Gefühl der Unfertigkeit über dem Raum anhäufte. Die Tante sank nieder mit dem Kopf auf das Kissen. »Ich bin müde. Lass mich schlafen.« Er setzte sich auf den Stuhl am Tisch. »Ich will dir beim Schlafen zusehen.« »Weshalb?« Ihre Stimme zwickte abfällig. »Ich finde Gefallen an verwesenden Subjekten, die Faszination für das Tote, das sterbende Hässliche besonders. Vielleicht besteht die Möglichkeit, dass es sich in etwas Schönes verwandelt, wenn es endlich still ist.« Eine Geschichte, die er mir ebenfalls einmal erzählte. Der Rabe, der nicht hässlich war wegen seiner Farbe, eher die Stimme stieß ab. Gleichzeitig aber waren es die Menschen, die es hässlich hörten. Ihr war sehr unbehaglich in seiner Nähe einzuschlafen, aber irgendwann konnte sie sich selbst nicht mehr daran hindern. Er stand neben dem Bett, strich ihr über die eingefallene Wange. »Ich weiß, dass ich ein schlechter Mensch bin«, sagte er und mir lief draußen unter dem Fenster ein eisiger Schauer über den Rücken und mein Körper begann zu zittern. Seine Stimme drang tief in mich ein, schnürte mir die Kehle zu. Sein Schatten lag über dem Gesicht der Frau. Mir kamen die Tränen. Der Atem der Alten ging flach, aber regelmäßig, die Flecken auf ihren Händen waren hässlich geworden und über dem Feld schien die letzte warme Sonne. Das Schrillen der Türglocke zerriss mir das Herz. Severin verließ den kleinen Raum, ging durch das Wohnzimmer in den Flur, öffnete. Vor ihm stand der Postjunge mit seiner Mütze und seiner Tasche und der Jacke, die er selbst im Hochsommer trug. Sie blickten sich an, ernst, still. »Du sagtest ...«, begann der Ältere, doch der andere ließ ihn mit einem einzelnen winzigsten Zucken der Augenlider verstummen. »Nein«, sagte er. »Ich sagte nichts. Das weißt du am besten. Ich sagte niemals etwas.« Wie ein Hypnotiseur sprach er und es war vollkommen klar, dass er Recht hatte, und er schloss die Tür, trennte die Glocke vom Auslöser und kehrte zurück zu uns. Der Augenblick setzte sich fort. Er war geduldig, hatte gewartet und jetzt beendete er sich. Der Fremde küsste die Kranke auf die blassroten Lippen. »Die Menschen können genauso wenig unterscheiden zwischen hässlich und schön wie zwischen Ewigkeit und Stillstand. Du bist nicht schuld daran. Was menschliche Sinne wahrnehmen, ist stets Einbildung.« Er legte ein Kleeblatt auf ihre Hände, trat in das anliegende Zimmer. Die Tante war verstummt. Ihr Gesicht aber wirkte entspannter, die Haut war nicht mehr blass, eher natürlich gerötet, die Flecken waren zurückgegangen, die Lippen waren blutrot. Ich zitterte nur. In der Ferne entdeckte ich einen Farmer, der zu mir herüber blickte. Ich kauerte unter einem Fenster und er sah mich an und ich konnte nicht bemerken, dass es mir etwas ausmachte. Severin dagegen stand noch lange im dunklen Wohnzimmer. Die Großmutter saß in ihrem Schaukelstuhl und wackelte mit dem Kopf, auf einem Hocker neben dem Klavier saß ein weiteres Mädchen kerzengerade mit zwei blonden Schwänzen. Ein Stillleben, denn sie wirkten wie tot. Bis die Uralte auf einmal aufblickte und anfing ein Lied zu summen. Mit ihrer alten krächzenden Stimme, doch hässlich behauptete niemand. Da, was die Ohren hörten, das Gehirn anders aufnahm und vermischte mit anderen Informationen. Und deswegen sah er nicht, was vermutete die Wirklichkeit zu sein, und Raben und Kleeblätter und Zitronen tanzten durch den Raum. Die Zitrone und der Rabe III. Er hämmerte an die Tür, sinnlos, man hörte ihn nicht. Auch sein Gebrüll verhallte. Irgendwann, dachte er sich, muss es zu Ende sein. Also verharrte er dort bis es stiller wurde, klopfte erneut. Sein Sohn schloss die Tür auf, öffnete ihm. Sein Gesicht war fragend, verwundert, genervt. Ebenso wie das des Vaters. Der schüttelte nur den Kopf über seinen Jungen, welcher seine langen silbergrauen Haare mit einem hellblauen Tuch zusammen gebunden und auf seinen Schultern Kopfhörer zu liegen hatte, eine Silberkette mit seltsamen Gesichtern um den Hals, den Gürtel der weiten schwarzen Hose passend dazu, eine weiße Jacke mit abgerissenen Ärmeln und komischen Aufnähern trug, eine E-Gitarre in der Hand. Im Hintergrund ein weiterer Junge, ein Freund, mit blau-schwarzen Haaren, schwarzen Sachen und nackten Füßen. »Ich kann die Musik nicht leiser stellen«, sagte der Sohn wissend um die Bitte des Vaters. Die Poster an der Wand blickten eindringlich. »Wie soll ich mich so auf meine Arbeit konzentrieren?«, fragte der Ältere. »Wer verdient denn sonst das Geld?« Der andere schnitt eine Grimasse. »Immer dasselbe. Aber das ist unsere Art von kreativer Energie.« »Laute Musik ist doch nur Vertuschung. Ein Ausweichen. Stell dich.« Der Junge blickte den Vater fest an, fuhr mit seiner Hand über die Saiten. »Schweigen auch.« Einen Moment noch vibrierte die Luft, dann wandte der Sohn sich ab. »Wir können ja eine kleine Pause machen.« Und schloss die Tür. Der Vater kehrte zu seinem Atelier zurück. Er betrachte das Bild, das er gerade gemalt hatte. Es gefiel ihm nicht mehr. Es war seicht, drückte nichts aus. Jemand würde es kaufen, aber ihm gefiel es nicht mehr. Er kannte noch nicht einmal den Namen des Freundes. Ein leiser Windzug überfiel ihn von hinten. »Papa«, säuselte eine süße Stimme, »malst du mir einen Pierrot? Einen ganz bunten?« Der Mann legte den Kopf in den Nacken, an seiner Hand hing das kleine Mädchen mit den blonden Schwänzen. »Simone«, sagte er. Sie lachte ihn an. »Ist Nabu da?«, fragte sie und hüpfte herum. »Sie haben doch eben zusammen gespielt, oder? Es war doch laut vorhin? Nabu! Nabu!«, hallte es nach, als sie aus dem Raum stürmte zum Zimmer ihres Bruders. »Nabu! Nabu!« Sie fand sie nicht. Das Fenster stand weit offen. Kein Bruder, kein Freund. Die E-Gitarre lag auf dem Bett, lose Blätter daneben, auf denen Noten steppten und Buchstaben. Und sie machte einen Knicks und sagte: »Guten Morgen.« Und die düsteren Poster der Lieblingsband ihres Bruders blickten auf sie herab, ein Lächeln. Songtexte zwischen den schwarzen Papieren. Auf einem Regal CDs und Bücher, Videos und Bücher. Eigentlich hatte er tatsächlich sehr viele Bücher. Und eine Stereoanlage und. Schöne Schuhe. Aber Nabu war nicht da. Sie wandte sich fragend an die Gesichter über ihr. Keine Antwort. Sie senkte den Kopf, setzte sich auf das Bett, kuschelte sich in das Kissen. An der Wand ihr gegenüber, der zur Hälfte leeren, unmusikalischen, hing ein Bild, Aquarell, das Bild eines Raben, ein kleiner Rabe mit bläulich-violett schimmernden schwarzen Federn, ausgebreiteten Flügeln, einem Kleeblatt neben den Krallen. Er liebte Raben, der Bruder. Raben und Krähen, alles, was hässlich war auf dieser Welt, was von den Menschen nur Abscheu erhielt und Verachtung, nahm er in seinem Herzen auf. Simone blinzelte. Ihr Bruder saß neben ihr, hörte über die Kopfhörer Musik und las. »Wir wollten dich nicht aufwecken. Deswegen hat Nabu sich nicht verabschiedet«, sagte er ohne aufzublicken. Sie richtete sich auf, visierte seine grauen Augen an. »Du«, fragte sie, »bin ich auch ein Rabe?« Er nahm die Kopfhörer ab, klappte das Buch zu. Sie hatte grüne Augen wie ihre Mutter. Ein trübes Grün. »Nein. Eine Raupe.« Wer weiß schon heute, was einem am nächsten Morgen durch den Kopf geht, außer den Sternen. Sie sehen dir beim Schlafen zu und sie wissen was geschehen wird. Gibt es jemanden, der Sterne stiehlt? Simone, hörst du es? Das Licht, wie es summt? Summsumm summ. Summsumm. Das Geräusch der Grille, das Geräusch meines Herzens. Wenn es sich verdreht um sich selbst, sich erwürgt. Das Geräusch meiner Seele, wenn sie schreit. Ein flackerndes Licht, gestohlener Stern, die Zukunft geraubt ... Simone ... Der Morgen. * Meine Mutter war früher Kfz-Mechanikerin. Sie liebte Autos, noch immer. Ich habe ihre Leidenschaft übernommen. Sie arbeitete in einer großen Stadt an der Ostküste, mein Vater studierte in derselben Medizin. Er kehrte zurück in seinen Heimatort, sie ging mit, gab ihren Beruf auf, schuld war die kleine Tochter. Am Anfang machte es ihr nichts aus, erst heute nach fünfzehn Jahren. Azisan, sagt sie, geh doch mit ihm. Und ihre Haare sind ganz schwarz und unglücklich. Du sollst endlich anfangen zu leben. Sie hat Recht. Ich bin tot. Nur ein toter Zustand, nicht einmal ein Mensch. Etwas Hässliches, einzig deswegen spricht er mit mir. »Falsch«, sagte er und warf mir einen strafenden Blick zu. »Diese Stadt ist hässlich, ist abscheulich, aber niemand sieht es. Du dagegen bist nicht hässlich, doch alle denken es.« Ein müdes Lächeln erfasste mich. Er stand auf. Die mit blauer Tinte beschriebenen Blätter stürzten von seinem Schoß in Richtung Erde, nur der Nachtwind vermochte sie zu heilen und ihnen den Himmel zu schenken. »Lass mich«, hörte ich seine Stimme, »deine Entscheidung wissen. Morgen früh.« Mein Körper fiel ins Gras, die Füße zogen die Schuhe aus. Es war kühl. Außen. Innen pochte es heiß. Er schaute mich vergnügt an, meine Finger in seinen, summte er ein Lied. »Meine Tante sang es oft.« Seltsam waren die Augen. Der Mutter, der Tante, die grün waren oder grau je der Reihenfolge der Bezeichnungen nach. Die Großmutter und die Enkelin grün. Der Großvater grau, der Vater braun. Meine schienen blau zu sein und nicht von Bedeutung. Lesen wir ein Buch. Über den Raben und die Zitrone. Die Menschen verschmähen die Zitrone, weil sie sauer ist. Der hässliche Rabe wird angezogen von dem Gelb, will sie mitnehmen. Die Menschen beschimpfen und verscheuchen erst ihn, dann schmeißen sie die Zitrone weg. ‘Citric Acid’ heißen die Gesichter an der Wand. Morgen. Die Zitrone und der Rabe IV. Die Sonne erhob sich still über die Häuser, bedeckte sie mit dünnen Wolken. Die Straße entlang bewegte sich ein Schatten, sein Schatten. Silberne Haare, die inzwischen wieder bis über die Schultern reichten. Graue Augen. Heiter, kalt, zufrieden. Was auch immer. In einer Hand die Reisetasche, die andere in der Jacke. Ein leuchtend hellblaues Tuch um die Stirn gebunden. Feindselige Blicke begleiteten ihn auf dem Weg zur Bahnstation. Die Musik in seinen Ohren übertönte sie. Die Gleise glänzten im Licht, in der Ferne sah ich bereits den Zug heran rauschen. In meine Sinne schlich sich eine seltsame Stimme. »War sie wirklich deine Mutter?«, fragte ich ihn. Er warf den Kopf in den Nacken, lachte. »Ist das nicht egal? Sie sind beide tot. Aber ...« Er wandte den Blick zurück zu mir. »Auf deine solltest du aufpassen.« Die Bremsen quietschten laut. Die Türen der drei Wagons öffneten sich geräuschvoll. Niemand stieg aus, vier ein. Severin und sein Schatten küssten mich ein letztes Mal, wurden vom Metallgehäuse verschluckt wie auch die schwarzhaarige Frau und was zu ihr gehörte. Der Zug fuhr ab. Zurück blieb Wind, der alles durcheinander wehte. Das blonde Mädchen nahm meine Hand, lachte mich an. »Morgen«, sagte sie und ihr Gesicht war dasselbe wie das ihres Bruders, »stelle ich dir Nabu vor.« Eigentlich hätte jeder glücklich sein müssen, dass man das Graue Blut hatte vertreiben können. Aber gebissen hatte man aus Versehen in die gelbe Frucht. Trümmerhaufen. Kahle Bäume. Irgendetwas war verloren gegangen. Vielleicht lag es daran, dass der Rabe seine Flügel nutzte. Vielleicht machte es die Ankunft eines neuen Reisenden, der kälter war und härter und erbarmungsloser und alle Steine erfrieren ließ und jeden Knochen. Plötzlich erinnerte man sich zurück an diesen unglaublich heißen Tag, als seine schwarzen Schuhe den Staub jener Stadt berührten. [Die Zitrone und der Rabe] - Ende Epilog ⌠ORANGE CAFE⌡ „Sie wollte nur schön sterben“, erzählte er mir später, lachte und senkte gleichzeitig den beinah traurigen Blick. „Nichts weiter. Das ist das einzige, was unsere Augen sehen können. Schönheit und ihr Gegenteil. Oder umgekehrt“ Aus dem Raum nebenan tönte laute Musik. Man hörte sie selbst durch die dicken Mauern und sie hallte in dem leeren Zimmer wider, in dem wir uns befanden. Es kam mir groß und einsam vor wie damals auf der Bank am Stadtrand. Nur dass wir dieses Mal im Keller eines unbewohnten Hochhauses tanzten, mitten in der Stadt weit weg vom Hauptbahnhof, obgleich man ihn hören konnte, wenn man wollte, und das Meer. Wie das Klopfen an der Tür unbemerkt vorüber ging. Guten Morgen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)