Sealed Souls I von astala7 (Uchihabrüder in Therapie) ================================================================================ Kapitel 16: Die letzte Illusion ------------------------------- Es war ein Sonntag und das Wetter war erschreckend schön. Im Stadion hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die sogar noch größer war als bei der Chunin-Prüfung. Man hatte die Bänke erst gar nicht abgebaut. Diesmal war das Objekt der allgemeinen Belustigung jedoch ein anderes. Die wenigsten Zuschauer waren gekommen, weil sie sehen wollten, wie Gerechtigkeit geübt wurde. Nein, unter den Daimyo und Feudalherren waren Hinrichtungen schon immer ein beliebter Zeitvertreib gewesen. Viele hofften aus purer Langeweile auf einen Befreiungs- oder Fluchtversuch. Itachi aber war ein S-Rang-Nuke, ein Akatsuki auf den ein Kopfgeld in Millionenhöhe ausgesetzt war. Das war natürlich ein ganz besonderes Ereignis. Man hatte ihm keinen letzten Wunsch gewährt und ich hatte auch nicht die Chance, noch einmal mit ihm zu reden. Hilflos saß ich auf meiner Bank und gaffte wie alle anderen, während vorne ein Jounin all die Verbrechen von einer Schriftrolle ablas, die Itachi angeblich begangen haben sollte. Meine Gedanken schweiften ab zu Sasuke. Es hatte mich zutiefst gerührt, dass er, obwohl er keine Ahnung vom Hintergrund seines Bruders hatte, ihn dennoch als Familie ansah. Heute saß der junge Uchiha neben mir, nicht als Rächer, der sich über den Tod des Mörders freute, sondern als Angehöriger. Ich war sehr stolz auf ihn. Obwohl es mir schier das Herz gebrochen hatte, hatte ich mein Versprechen Itachi gegenüber gehalten. Ich hatte Sasuke davon abgeraten, irgendwelche Dummheiten zu machen. Selbst für ihn würde es unmöglich sein, unbemerkt in die ANBU-Zentrale zu gelangen. Zumal Itachi ja gar nicht gerettet werden wollte. Doch allein, dass er daran gedacht hatte, bedeutete mir sehr viel und ich wünschte, Itachi wüsste es auch. Jetzt ging es los. Itachi wurde von einem Dutzend ANBU ins Stadion eskortiert. Den Oberkörper hatte man ihm entblößt, die Augen sicherheitshalber verbunden. Obwohl er ganz krank vor Schwäche sein musste, hielt er sich aufrecht und schritt den Weg zu seinem Henker stolz wie zu einer Preisverleihung. Ich warf einen Blick zu Sasuke. Dessen Miene war absolut unbewegt. Was mochte er jetzt wirklich fühlen? Wut? Freude? Trauer? Groll? Was machte ihm mehr zu schaffen, Itachis Tod oder dass nicht er selbst es war, der ihn herbeiführte? Die ANBU stießen den Verurteilten mitten im Stadion zu Boden. Die finale Aufgabe war Kakashi Hatake anvertraut worden. Welch Ironie! Sasuke würde zusehen müssen, wie sein Sensei seinen Bruder tötete. Wir mochte er sich dabei fühlen? Ob er Kakashi hasste, für das, was er tat? Ob er sich an seine Stelle wünschte? Der Jounin trat nun heran, ein blankes Katana in den Händen. Itachi hatte den Kopf gesenkt. Seine Haare fielen ihm offen über die Schultern und verbargen sein Gesicht. Der Ninja setzte die Klinge an, genau zwischen den oberen Wirbeln, auf das ihm das Schwert tief ins Rückgrat und ins Herz dringen konnte. Ich wollte mein Gesicht in meinen Händen verbergen, ich wollte das nicht sehen, ich wollte es nicht wahrhaben – und doch zwang mich, die Augen nicht vor der Wahrheit zu verschließen. Stille kehrte ein, eine schreckliche Stille. Das ganze Publikum schien gemeinsam den Atem anzuhalten. Das Schwert rammte sich in den blassen Körper. Blut spritze heraus, nur wenig, aber jeder Tropfen davon war zu viel. Itachi hatte ruckartig den Kopf erhoben, den Mund wie zu einem stummen Schrei geöffnet. Ich konnte es nicht fassen. Sie hatten es getan, sie hatten es wirklich getan! Oh Gott, wie konnte das sein, wie konnte es nur... Stumm rannen mir die Tränen über die Wangen. Ich hätte es verhindern müssen, ich hätte ihm eine Waffe zukommen lassen müssen oder dergleichen... Ich hätte auf Sasuke einreden sollen, oh warum saß er so stumm neben mir, so unberührt? Itachi sackte in sich zusammen, als Kakashi die Klinge herauszog. Da war ein großer roter Fleck auf seiner Brust, wo die Waffe ihn durchbohrt hatte. Einen Moment schwankte er noch, das ganze Stadion hielt den Atem an. Dann fiel er vornüber und landete mit dem Gesicht im Staub. Leblos. Leer. Ein leises Ploppen ertönte. Weißer Rauch hüllte Itachi ein und Blätter wirbelten auf. Kakashi wich einen Schritt zurück, überrascht. Ein Raunen ging durch die Menge. Was war da los? Vorsichtig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und beugte mich vor. Die Wolke lichtete sich und der blasse Körper war verschwunden. Kein Blut mehr. Kein Itachi. Sasuke lächelte. Und im Stadion brach die Hölle los. ~Flashback~ Sakura zog ihren weißen Sanitäter-Kittel aus, faltete ihn zusammen und legte ihn in ihren Spind im Krankenhaus. Es war fünf Uhr morgens und endlich war ihre Nachtschicht zuende. Gerade schlug sie die Tür des Schrankes zu, da fuhr sie erschrocken zusammen. Wie aus dem Nichts stand plötzlich Sasuke vor ihr. „Sasuke-kun!“, rief sie aus und sofort legten sich ein paar Finger über ihren Mund. Der Uchiha warf ihr einen warnenden Blick zu, bevor er sie losließ. Sie sollte gefälligst leise ein. „Sasuke-kun, was machst du hier... in der Mädchenumkleide?“, flüsterte Sakura zu gleichen Teilen entsetzt, wütend und verlegen. „Ich hab dich gesucht“, erwiderte er und das Mädchen wurde knallrot. „Tat-Tatsächlich?“ „Du musst mit mir kommen. Sofort. Es handelt sich um einen Notfall.“ Sasuke schien sich selbst unwohl in seiner Haut zu fühlen. Er sah sich sogar nach allen Richtungen um, obwohl er sicher schon überprüft hatte, ob jemand in der Nähe war, als er den Raum betreten hatte. Wann auch immer das gewesen war. Hoffentlich zu einem Zeitpunkt, als sie schon alle Kleidungsstücke wieder an hatte. „Ich... Ich weiß nicht, was du von mir willst, aber...“ Sakura holte tief Luft. Sie hatte sich schon oft ausgemalt, was sie diesem Typen, der ihr das Herz gebrochen hatte, alles an den Kopf werfen würde, sollte er sie jemals wegen irgendetwas um Hilfe bitten. „Ich... Verdammt, ich weiß gar nicht, wie du überhaupt hier ankommen konntest! Nicht ein Wort der Entschuldigung haben wir von dir gehört. Okay, du hast eine ganze Menge mieser Typen umgebracht und ganz Konoha lobt dich deswegen in den Himmel, aber ich habe nicht vergessen, was du mir angetan hast. Was du Naruto angetan hast. Uns allen, deinen Freunden. Wir hätten doch alles für dich getan!“ „Sakura, ich-“ „Nein, jetzt hörst du mir mal zu! Damals habe ich dich gebeten zu bleiben. Angefleht habe ich dich. Im Nachhinein betrachtet war ich vielleicht ein dummes und naives Mädchen, aber meine Gefühle waren echt. Du hattest einen ziemlich guten Grund für das alles, mag ja sein, aber ich kann dir nicht verzeihen, dass du in keinem einzigen Moment an uns gedacht hast!“ „Sakura, es geht hier nicht um mich!“, fuhr der Shinobi sie an. Er stützte sich mit einem Arm am Spind ab, versperrte ihr jeden Fluchtweg. Sein Blick war eindringlich. „Du magst ja Recht haben, es gibt vermutlich keinen Grund, warum du mir helfen solltest. Aber hier geht es um mehr als verletzen Stolz und wenn es nötig sein sollte, dann nehme ich dich auch mit Gewalt mit.“ Sakuras wütende Miene fiel in sich zusammen. Einen Moment lang schwiegen die beiden Jugendlichen. Dann flüsterte Sakura: „Es geht um Itachi, nicht wahr?“ Sasuke verzog keine Miene. Sie lächelte leicht. „Nur für ihn würdest du so weit gehen...“ Sakura schlug die Augen nieder. Auf einmal war ihr Zorn verraucht. Es ging nicht um Sasuke und es ging ihm auch nicht um sie. Wieder mal dachte er nur an seinen Bruder. „Okay. Ich mache mit.“ Sasuke nickte knapp. „Dann komm. Und nimm deine Werkzeuge mit.“ Der Shinobi führte sie aus dem Krankenhaus heraus. Sobald sie jedoch das Gebäude verlassen hatten, wählten sie den Weg über die Dächer. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und so waren sie für alle Bewohner praktisch unsichtbar. Es hatte etwas Kriminelles an sich, wie sie da herum schlichen und der Kunoichi war sehr unwohl dabei. Als sie dann auch noch das Dorf verließen, bekam sie ein richtig schlechtes Gewissen. An der Stadtmauer angekommen blieb sie stehen. „Sasuke-kun, wohin gehen wir?“, fragte sie beklommen. „Keine Ahnung“, antwortete er überraschenderweise. „Wie meinst du das?“ „Wir sind... Auf der Suche. Konoha hab ich schon abgegrast, also muss es irgendwo hier in der Nähe sein.“ Schon setzte der Ninja seinen Weg fort und sie sah sich gezwungen, ihm zu folgen. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis Sasuke aus seinem Trott ausbrach. Gerade war er auf einem hohen Zweig auf einem Baum gelandet, da stieß er sich ab und sauste in die Richtung davon, aus der er gekommen war. Seine Miene war hochkonzentriert und jetzt legte er ein Tempo vor, dem Sakura kaum noch folgen konnte. Schließlich blieb er genauso abrupt auch wieder stehen. „Bleib hier“, befahl er ihr, „bis ich dich rufe. Sei still und tu nichts Unbedachtes, damit du ihn nicht verjagst.“ Das klang seltsam, fast als würde er von einem wilden Tier reden, das es zu beruhigen galt. „Moment!“, sagte Sakura und fasste ihn beim Ärmel, als er bereits los wollte. „Sasuke-kun, sag mir nicht, dass.... Hast du etwa Itachi befreit!?“ Er zögerte einen Augenblick lang. „Nein, natürlich nicht!“ Dieser Augenblick war schon zu viel. „Sag mir die Wahrheit!“, verlangte die Rosahaarige. Er seufzte, offensichtlich unter Zeitdruck. „Ich... Ich bin hingegangen, okay? Zu seiner Zelle. Aber da war er schon verschwunden. Ich hab zwei ANBU gefesselt und geknebelt auf dem Boden gefunden, einem von ihnen wurde die Uniform geklaut. Die beiden müssen außerplanmäßig noch einmal vor der Hinrichtung bei ihm gewesen sein, er hat sie überwältigt und sich als ANBU getarnt aus dem Staub gemacht.“ „Aber dann würden doch überall im Dorf schon die Alarmglocken schrillen.“ „Nicht, wenn niemand es mitgekriegt hat... Ich hab ein Genjutsu über die beiden gelegt, damit sie vorerst nicht entdeckt werden. Dann habe ich einen Schattendoppelgänger dort gelassen, der sich in Itachi verwandelt hat. Wenn sie ihn abholen kommen, werden sie das nicht überprüfen, schließlich sollte er bei Weitem nicht genug Chakra für ein solches Jutsu haben. So hab ich jedenfalls etwas Zeit erkauft, in der ich ihn finden konnte.“ Sasuke riss sich von der Kunoichi los. „Du kannst mich nicht wirklich beschuldigen, irgendetwas Rechtswidriges getan zu haben. Der Einzige, der ihm etwas vorwerfen darf, bin ja wohl ich!“ Mit diesen Worten wandte der Shinobi sich ab und sprang von dem Ast herunter, auf dem sie gestanden hatten. Sakura folgte ihm mit ihren Blicken. Der Schwarzhaarige schien es auf einen besonders großen Baumriesen abgesehen zu haben. Bei dessen Wurzeln war ein Teil des Erdreichs aufgerissen worden und bildete eine Art kleine Schutzhöhle. Das perfekte Versteck. Vorsichtig kam Sakura entgegen des Verbots etwas näher, um die folgenden Geschehnisse genau beobachten zu können. Sasuke trat vor die dunkle Öffnung der Erdhöhle, hielt im letzten Moment jedoch inne. Er hatte sich noch gar nicht überlegt, wie er sich überhaupt verhalten sollte. Als was wollte er auftreten, als Rächer oder als Bruder? Wollte er Itachi Vorwürfe machen oder ihm helfen? Nichts von alledem, beschloss er, in erster Linie wollte er die Wahrheit erfahren. „Wie lange willst du noch da draußen warten?“, tönte eine kühle Stimme aus dem Inneren der Höhle. „Es ist nicht nötig, noch zusätzlich Wurzeln zu schlagen.“ Vorsichtig trat Sasuke näher, bis er im Dunkeln eine Gestalt ausmachen konnte. Sein Bruder trug noch immer die gestohlene ANBU-Uniform. Sasuke hatte sie schon so lange nicht mehr an ihm gesehen, dass er vergessen hatte, wie elegant er darin aussah, im Gegensatz zu dem weiten Akatsukimantel. Wie eine schleichende Raubkatze. Diese Aura war eines der Dinge, um das er ihn immer beneidet hatte. Die ANBU-Maske hatte Itachi abgenommen, sie lag zusammen mit einer schwarzen Augenbinde auf dem Boden. Das Katana jedoch hielt er fest in der Hand. Seine schmale Gestalt schälte sich aus dem Schatten, als er langsam einige Schritte auf ihn zu kam. Lässig hielt er die Waffe zu Boden gerichtet. Sasuke fühlte sich schmerzhaft an jene Nacht vor acht Jahren erinnert, als Itachi in genau der selben Weise und sogar in einer ähnlichen Uniform auf ihn zugekommen war. Damals hatten hinter ihm die Leichen seiner Eltern gelegen. „Ich habe auf dich gewartet, Nii-chan“, flüsterte Itachi. Die freundliche Bezeichnung 'Brüderchen' klang aus seinem Mund wie der Hauch eines Wahnsinnigen. Eine skurrile Verhöhnung. „Ich wusste, dass du es sein würdest, der mich finden würde.“ Die Spitze des Katanas schrammte über den Boden und hinterließ eine Furche, als sein Bruder auf ihn zu trat. „Was soll das, Itachi?“, fragte Sasuke wachsam. Der Schwarzhaarige sah wirklich nicht so aus, als wäre er bei klarem Verstand. Jetzt stieß er tatsächlich noch ein Lachen aus, ein freudloses, irres Lachen. „Das fragst du mich? Du kennst doch die Antwort, Sasuke-chan. Mir bleiben kaum noch drei Tage, dann wird meine Blindheit unumkehrbar sein. Du bist der Einzige, der mir helfen kann.“ Er legte den Kopf schief und hob in ironischem Tonfall die Stimme. „Diese Hilfe wirst du deinem Bruder doch nicht versagen, oder? Sei schön brav, Nii-chan.“ An seiner Schnelligkeit hatte sich nichts geändert. Im Bruchteil einer Sekunde spürte Sasuke kaltes Metall an seinem Hals. Er hatte keine Ahnung, wie Itachi mit diesen Augen seine Position herausgefunden hatte, doch er ließ sich geistesgegenwärtig zu Boden fallen und entging dem tödlichen Schlag damit nur knapp. Kaum am Boden beschrieb sein Bein einen Halbkreis und er ließ es mit einem Tritt die Füße seines Gegners wegschlagen. Itachi stürzte zu Boden, doch er rollte sich geschickt über die Schulter ab und war sofort wieder auf den Beinen. „Mach dich nicht lächerlich, Itachi!“, rief Sasuke wütend aus. „Du kannst weder Ninjutsu noch Genjutsu anwenden. Es ist vorbei!“ „Dann gib mir freiwillig, was ich haben will.“ „Ist das dein Ernst?“, fragte Sasuke grimmig. Es kam keine Antwort. Sasuke sprang ab und benutzte einen nahen Baum, um sich abzustoßen und die Richtung zu ändern. Somit wusste Itachi nicht, von wo er kam, als er ihn mit einem deftigen Tritt in die Magengegend traf. Sein Bruder wurde zurück in die Baumhöhle geschleudert und mit einem hässlichen Knirschen schlug er dort mit dem Kopf auf Felsen auf. Sasuke landete geräuschlos auf dem Boden. Misstrauisch trat er an den Ninja heran, der sich nicht mehr rührte. In diesem Moment fasste er einen Entschluss. Langsam kniete er sich neben dem schwarzhaarigen Shinobi nieder. Itachi musste auf seiner Flucht alle Energie verloren haben, denn er schien das Bewusstsein verloren zu haben. „Ein Tod durch Hinrichtung ist viel zu gut für dich“, flüsterte Sasuke und zog ein Kunai. „Weißt du, was das für ein Gift war, dass ich dir habe zukommen lassen? Es hätte nicht schnell gewirkt, oh nein. Langsam, qualvoll und elendig wärst du verreckt. Aber das können wir ja jetzt nachholen.“ Gerade wollte er die Klinge niederfahren lassen, da riss sein Bruder die Augen auf. Mit erstaunlich festem Griff packte er sein Handgelenk. In einer raschen Bewegung, und doch nicht so schnell, wie er es erwartet hatte, hob Itachi dabei die andere Hand. Zwei Finger streckten sich ihm entgegen und suchten seine Augenhöhlen. „Dein Licht... wird mir gehören!“, keuchte der Uchiha. Es wäre ein Leichtes gewesen, sich zu befreien. Itachi war langsam und kraftlos. Doch Sasuke rührte sich nicht, auch als er die Finger in seinem Gesicht spürte, als er fühlte, wie sie zudrückten. Er hätte ihm nur das Kunai endlich in den Leib treiben müssen, aber er tat es nicht. Da erkannte auch Itachi, was er vor hatte. Wie er ihn mit seiner Todesdrohung geschickt zum letzten Angriff gedrängt hatte. Itachis Hand fiel zu Boden und abermals stieß er ein heiseres Lachen aus. Sasuke erhob sich und wich einen Schritt von ihm zurück. Sein Plan war aufgegangen. Was war nur aus seinem Bruder geworden? Er war ein Abbild des Wahnsinns. Verkommen und verfallen. Es war so ungewohnt, ihm in die Augen zu sehen, ohne auf das Sharingan zu treffen. Keiner der Brüder unternahm nun noch einen Versuch des Angriffs. „Ich habe dich schon einmal besiegt, Itachi, und wie es aussieht, würde es mir nicht besonders große Mühen bereiten, es noch einmal zu tun. Also hörst du am besten auf das, was ich sage. Ich will die Wahrheit wissen, die ganze Wahrheit, über jene Nacht. Was du mir erzählt hast, stimmt vorne und hinten nicht mit deinen Taten überein. Noch vor ein paar Tagen hast du kaltblütig zugelassen, dass ich Kisame besiege und jetzt sieh dich an! Erzähl mir, was damals wirklich geschehen ist und aus welchem Grund. Sonst werde ich deinem Leben hier und jetzt ein Ende bereiten.“ Itachis Miene hatte sich verändert. Voller Faszination sah Sasuke, wie er seine Maske abstreifte. Wie der Wahnsinn von einer Sekunde auf die Andere aus seinen leeren Augen wich, wie sein vor Wut und Hass verzerrtes Gesicht sich glättete, wie er sich an der Höhlenwand in eine sitzende Position brachte und in einer beinahe vornehmen Geste die Hände im Schoß faltete. Ganz eindeutig hatte Itachi Sasuke dazu bringen wollen, ihn in einem letzten Handgemenge zu töten. Dies jedoch war nicht geschehen. Ja, Sasuke hatte sogar riskiert, dass Itachi ihm tatsächlich seine Augen nahm, nur um ihm zu beweisen, dass er durchschaut hatte, dass dies nicht sein wahres Ziel war. An diesem Punkt brachte es Itachi nichts mehr, auf seinen Lügengeschichten zu beharren. Naja. Einen Versuch war es wert gewesen. „Soll das heißen, du würdest mich am Leben lassen, wenn ich es dir verriete?“, fragte Itachi nun in beinahe geschäftsmäßigem Ton nach. An seiner Kälte hatte sich nichts geändert. Beinahe kam es Sasuke so vor, als wäre dies nur wieder die nächste Maske, die nächste Illusion. Hätte sein Bruder diese Illusion nicht bereits Jahre lang getragen. Hier konnte er nicht sicher sein, ob es wirklich gespielt war. „Es zeugt nicht gerade von überragender Strategie, einem Todgeweihten damit zu drohen, ihm das Leben zu nehmen. Letztes Mal hast du mir wenigstens einen schnellen Tod versprochen. Du musst noch eine Menge lernen, Sasuke“, meinte der Uchiha provozierend. „Wenn du dir so sicher bist, dass du sterben wirst, warum hast du dir dann überhaupt die Mühe gemacht, zu fliehen? Erzähl mir nicht, du wolltest Akatsuki kontaktieren. Das glaube ich dir nicht, nicht, nachdem du Kisame umgebracht hast.“ „Warum ich geflohen bin?“, wiederholte Itachi spöttisch und mit unglaublicher Arroganz. „Um zu beweisen, dass ich es kann.“ Wut kochte in Sasuke hoch. Dieselbe Antwort hatte sein Bruder ihm gegeben, als er ihn zum ersten Mal gefragt hatte, warum er den Clan ausgelöscht hatte. Um seine Stärke zu beweisen. „Als wir gekämpft haben, da hast du... Du hast am Ende gesagt, es würde kein nächstes Mal geben“, sagte Sasuke, als er seinen Zorn unter Kontrolle hatte. „Was hast du damit gemeint?“ Itachi antwortete nicht. „Du hast behauptet, Uchiha Madara sei es nicht wert, der Größte unseres Clans genannt zu werden und dass du diesen Platz einnehmen wolltest. Wenn du ihn so sehr verachtest, warum hast du mich dann auf ihn angesetzt? Mehr noch; du warst anscheinend die ganze Zeit über todkrank. Meine Augen hätten dir vielleicht deine Sehkraft, nicht aber deine Gesundheit wieder beschafft. Wie konntest du glauben, mich so besiegen zu können? Das alles war gespielt, genau wie deine Aktion eben gerade! Wenn ich von deinen letzten Worten ausgehe, dann scheint es mir, dass du von vornherein wusstest, dass es das letzte Mal sein würde. Unser letzter Kampf. Weil du danach tot sein würdest. Ich habe dich nicht umsonst vor unserem Kampf nach deinen Motiven gefragt. Ich brauchte diese Gewissheit, um mit allem was ich hatte gegen dich kämpfen zu können. Jetzt aber werden diese Motive wieder infrage gestellt.“ Auch hier erwiderte sein Bruder nicht. Sasuke beschloss, die ganz harten Geschützte auszufahren. „Sekina hat mir alles erzählt“, behauptete er. Der Uchiha verengte die Augen zu Schlitzen. „Was 'alles'?“ Sasuke dachte schnell nach, welche Vermutungen Sekina gehabt hatte. Schon bevor sie so apathisch geworden war. „Von der Verdorbenheit des Clans“, erwiderte er. Es kam ihm nur schwer über die Lippen: „Von deinen wahren Gründen.“ Kurze Stille. „Du bluffst“, erkannte Itachi, doch sein Tonfall war wachsam, angespannt. Also steckte etwas dahinter. Sasuke hatte keine Ahnung was genau, aber Itachi hatte Sekina etwas anvertraut, was diese nicht an ihn hatte weitergeben dürfen. Etwas, das mit einer Verdorbenheit des Clans zu tun hatte. „Ich habe alles erfahren“, betonte er, „aber ich will es von dir hören. Aus deinem Mund.“ Itachi warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „Du bist so leicht zu durchschauen. Selbst jedoch durchschaust du nichts. Wenn du alles wüsstest, warum solltest du es noch einmal von mir hören wollen?“ Ja, warum? Das kam natürlich auf die Wahrheit an, die er da aus seinem Bruder herauszulocken versuchte. Es führte wohl kein Weg daran vorbei, er musste alles auf eine Karte setzen und irgendeine Vermutung aussprechen. Warum sollte Itachi mit dieser Inbrunst sein Geheimnis wahren? Ein Geheimnis, für das er sterben wollte? Es konnten nicht, das musste er sich eingestehen, egoistische Motive sein. Dahinter steckte noch mehr. Wenn Itachi nicht für sich gehandelt hatte, dann hatte er es für jemand anderes getan. Dann war dieser hinterhältige, spöttische und kalte Killer vor ihm nur eine Maske, eine Rolle, die er spielte. Oder aber sie war es einst gewesen und war nun zu seiner zweiten Haut geworden, was ihm viel logischer erschien. Schließlich hatte Itachi mehrmals versucht, ihn zu töten. Wenn Letzteres der Fall sein sollte, sah er jedoch keine Möglichkeit für sich, an das Geheimnis heranzukommen, weil er ihm nichts mehr zu bieten hatte. Dagegen aber sprach, dass Itachi die Chance, die er ihm soeben geboten hatte, ihn zu töten, nicht ergriffen hatte. Wenn diese Person hier doch noch irgendwo Gefühle hatte, wenn sie zu einem Teil, wie klein er auch sein sollte, noch sein Nii-san war... Dann gab es etwas, dass Itachi sich von ihm wünschte, so sehr, dass er alles riskieren würde, nur um es zu bekommen, selbst wenn es für ihn selbst nur bedeutete, in Frieden zu sterben. Es fiel Sasuke unheimlich schwer, es auszusprechen. Beinahe unmöglich, würde er sagen. Es kam ihm so falsch vor, ein Verrat an seinen Eltern, seiner Familie, seinem Clan. Er tat es trotzdem. „Damit ich dir vergeben kann...“ Itachi zuckte zusammen, als hätte er ihm eine Ohrfeige verpasst. Er wich sogar ein Stück vor ihm zurück, so weit ihm das mit der Wand im Rücken möglich war. Unmöglich, waren das etwa... Andeutungen seiner Angst? Acht lange Jahre des Hasses schienen sich plötzlich in Luft aufzulösen. Sasuke trat noch einen Schritt auf seinen Bruder zu und kniete sich schließlich erneut nieder. Kein Akatsuki existierte mehr, kein Madara, kein Sharingan. Hier gab es nur noch ihn und seinen Nii-san. Nur für einen Moment, sagte sich Sasuke, nur um ihn zu täuschen, um die Wahrheit zu erfahren... Aber in Wirklichkeit fühlte er tatsächlich so. Etwas von der Hülle, die sein Bruder angelegt hatte, die eiskalte, herablassende Hülle, war zersprungen und in dem Bestreben, sie vollends niederzureißen, streckte Sasuke vorsichtig seine Hand nach ihm aus und berührte ihn, ganz leicht nur, an der Wange. Nicht einmal eine Sekunde, dann war es vorbei, aber Itachi zerstörte es vollkommen. Die Hoffnung, und sei es auch nur eine Spur davon, fegte ihn hinweg und vernichtete all seine sorgsam aufgebauten Schutzmechanismen. Er konnte nicht mehr. Es war einfach zu viel. Seine ganze Seele brach zusammen wie ein Kartenhaus. Während er sich noch verzweifelt bemühte, wenigstens seiner Miene keinen Gefühlsausdruck zu erlauben, entwich seinem blinden Auge bereits die erste Träne. In diesem Augenblick erinnerte sich Sasuke an diese schreckliche Szene vor acht Jahren, als sein Bruder ihn verlassen hatte. Auch damals hatten ihn seine Gefühle überkommen und in einem winzigen, schwachen Moment hatte sein Bruder eine einzelne Träne vergossen. Damals hatte er wenigstens noch in eine Zukunft blicken können, so finster sie auch war, hatte ein festes Ziel gehabt. Heute aber befand er sich in der Gewissheit des Todes und bekam die letzte Chance, etwas wieder gut zu machen, das sich im Nachhinein vielleicht als riesiger Fehler herausstellen würde. „Erzähl es mir“, bat Sasuke leise und diesmal war keine Wut mehr in seiner Stimme. Er hatte einen kurzen Blick hinter den Schleier erhaschen können. Dort lauerten weder Zorn noch Hass. Nur Trauer, so unendlich viel Trauer. Und Itachi erzählte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)