Paranoia von Ryoko-chan ================================================================================ Kapitel 2: Schein und Sein -------------------------- Ihr Mund öffnete sich bereits zum Schrei, als Shiho seine Stimme vernahm. „Shiho? Warum hockst du denn da auf dem Boden?“ Erleichtert verbarg die junge Frau ihr Gesicht in den Händen und weinte. Augenblicklich war Shinichi neben ihr, hielt sie fest an sich gedrückt und strich ihr hilflos über’s Haar. „Was ist passiert? Was hast du denn!?“ Sie schlang die Arme um seinen Hals und presste sich wimmernd an ihn. Unkontrolliert bebte ihr Körper und es gelang ihr nur schwer, ein Wort zu sprechen. „Er war da, Shinichi! Er ist da draußen ... ich hab so Angst ...“ Sie krallte ihre Hand fest in seinen Hemdkragen. „Was?“ Stirnrunzelnd ließ er von Shiho ab und blickte ihr ins blasse Gesicht. Er sah die Panik in ihren Augen und in ihm begannen alle Alarmglocken zu schrillen. „Von wem sprichst du, Shiho?“ „Von ihm ... Gin ...“ Ihre Worte waren kaum hörbar, so sehr zitterte und schluchzte die junge Frau. Doch Shinichis Augen weiteten sich entsetzt beim Klang dieses einen Namens. Ohne ein weiteres Wort erhob er sich, riss die Tür auf und hastete nach draußen. „Nicht!“ Panisch lief sie ihm hinterher, erwartete bereits einen Schuss zu hören, doch Shinichi betrat unbeirrt die Straße. Niemand war zu sehen. Nichts deutete auf die Präsenz eines ehemaligen Organisationsmitgliedes hin. Angstvoll klammerte sich Shiho an Shinchi. Sie blickte hastig um sich, darauf gefasst, jeden Augenblick von ihm überrascht zu werden. Doch das grauenhafte Gefühl hatte sich so schnell wieder verzogen, wie es gekommen war. Sie konnte seine Anwesenheit nicht mehr spüren. Sie blickte zu Shinichi rauf, doch die ernste Miene verriet nichts über seine Gedanken. Wortlos legte er den Arm um sie und zog sie ins Haus zurück. Die auf dem Boden liegende Tasche im Flur ignorierte er völlig und betrat die Küche. Shinichi knipste das Licht an und drückte seine Freundin auf einen Stuhl. Ihre Angst legte sich langsam, doch sie zitterte noch immer am ganzen Körper und Shinichis Schweigen verunsicherte die Frau. Er griff in den Schrank und füllte ein Glas mimt Wasser. „Trink!“, sagte er tonlos und reichte es Shiho. Ohne den Blick von seinen tiefblauen Augen zu wenden, nippte sie an ihrem Glas. Es fiel ihr schwer nichts zu verschütten und so stellte sie es auf dem Tisch ab. Kurz herrschte eine unerträgliche Stille in der Küche. Shinichi strich sich über die Augen und plötzlich sah sie die Sorge in seinem müden Gesicht. „Hast du ihn gesehen?“, fragt er. Konfus schüttelte sie den Kopf. „Und warum glaubst du, dass er auf der Straße war?“ Es war keine rhetorische Frage, die er stellte. Sie senkte den Blick und biss sich auf die Lippe. Die Frage war mehr als berechtigt. Für sie gab es jedoch nur eine Antwort. „Ich hab’s gespürt ...“, antwortete sie leise. Sie sah den zweifelnden Blick und erhob abermals die Stimme. „Ich weiß einfach, dass er da war ... er war ganz nah! Hast du es vergessen ... ich wusste es immer, wenn sich einer von in unmittelbarer Nähe befand. Und ich habe mich nie geirrt ... nie ...“ Schon in jungen Jahren hatten sie diese Gabe zu schätzen gelernt, eine Gabe die sie als Mitglied der Organisation erhalten hatte. Für sie war diese Fähigkeit real, sie war ein Lebensretter. Doch Shinichi kannte dieses Gefühl nicht. Er konnte es nicht kennen, weil er nie ein Leben in ständiger Konfrontation mit dem personifizierten Tod geführt hatte. In ihrer Verzweiflung traten Shiho erneut die Tränen in die Augen. „Er wird zurück kommen, Shinichi! Vielleicht schon diese Nacht ... oder vielleicht auch später, aber ...“ Shinichi schüttelte heftig den Kopf, legte ihr einen Finger auf die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen und nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. „Sieh mich an und hör mir zu, Shiho!“ Stumm gehorchte sie seinen Worten und blickten ihn durch tränenverschleierte Augen an. „Er ist nicht hier, er kann nicht hier sein! Gin wäre ein Idiot, wenn er sich noch immer in Japan aufhalten würde. Das FBI sucht fieberhaft nach ihm und jede Polizeistelle im Land kennt sein Fandungsfoto. Für ihn wäre es viel zu riskant, dir nachzustellen.“ Er seufzte und sah sie eindringlich an. „Shiho ... ich bin mir sicher, du hattest eine Panikattacke. Mit Sicherheit hat sie dein Traum in der Nacht ausgelöst. Du bist sicher, du brauchst dir keine Sorgen vor seiner Rache zu machen. Er wird nicht zurück kommen.“ Seine Gesichtszüge wurden weicher und seine Stimme zärtlicher. „Wenn es dich beruhigt, rufe ich Jodie an und frage sie, ob es in letzter Zeit irgendwelche Hinweise bezüglich seines Aufenthalts gab.“ Shinichi strich ihr die Tränen von den geröteten Wangen. Erschöpft nickte Shiho, bevor sie ihre Arme wieder um ihn schlang. Konnte es sein? Hatten Shihos Nerven ihr einen Streich gespielt oder war es sogar wirklich nur eine Panikattacke? Aber dieses Gefühl ... es war doch eigentlich so ganz anders als die blanke Panik. „Du hältst mich für paranoid, nicht wahr?“, fragte sie nach einer Weile. „Nein, das tue ich nicht. Ich glaube einfach, dass du ... gewisse Dinge noch nicht verarbeitet hast. Es sind Dinge, von denen ich nichts weiß, weil du nie mit mir darüber geredet hast. Ich akzeptiere das, weil es für dich sicherlich nicht einfach ist, solche Sachen anzusprechen. Doch vielleicht solltest du anfangen, dir darüber Gedanken zu machen. Es muss aufhören, dass du Nachts schreiend erwachst oder dich ständig Panikattacken quälen. Ich will dich zu nichts zwingen, aber ich liebe dich und mache mir nur Sorgen.“ Starr sah die junge Frau zu Boden. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als das ihre Angst endlich vorbei ging. Doch war dies überhaupt nach all der Zeit möglich? Sie hatte immer Angst gehabt in ihrem Leben. Dieses Gefühl schien sich bereits tief in ihrer Seele verankert zu haben und bisher hatte es für dieses Gefühl immer einen rationalen Grund gegeben. Schließlich musste sie ihr ganzes Leben lang in ständiger Ungewissheit leben. Die eigentlichen Pläne der Organisation waren ihr nie offenbart worden, sie war letztendlich nicht mehr, als ein Mittel zu Zweck gewesen. Natürlich, eine Zeit lang war sie eine angesehene und begehrte Wissenschaftlerin gewesen. Doch das garantiere ihr nicht, über ihre Zukunft entscheiden zu können oder in gewisse Pläne eingeweiht zu werden. Es hatte nie einen Zufluchtsort gegeben, keine Sicherheit war ihr garantiert worden. Inzwischen waren sie und Shinichi zusammen. Ihre Liebe hatte sie mit den Jahren gefestigt und er nahm sie so, wie sie war. Nämlich als ehemaliges Mitglied einer Verbrechensorganisation, als Mörderin und als psychisches Wrack. „Ich will nicht, dass du mich abstoßend findest. Ich will dich nicht verlieren, wenn du ... Details aus meiner Vergangenheit erfährst. Du weißt nicht, wie es war ... wie ich war ...“ Shihos Stimme zitterte bereits, wenn sie auch nur für einen Moment zurück dachte. Sie brauchte nur die Augen zu schließen ... „Schon gut, hör auf ... jetzt denkt nicht mehr daran! Beruhig dich erst einmal, Shiho.“ Shinichi zog sie an sich, wartete geduldig, bis ihr Körper nicht mehr unkontrolliert bebte. Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Gedanken und die vielen Schnipsel und Bilder aus ihrer Vergangenheit zu verdrängen, sie im tiefsten Inneren zu vergraben. Sie lehnte ihren Kopf an Shinichis Brust, lauschte seinen starken, regelmäßigen Herzschlägen und konzentrierte sich vollkommen auf seine Körperwärme, die langsam auf sie übergingen und ihre verkrampften Muskeln zu lockern schien. Irgendwann hob sie den Kopf und lächelte Shinichi an. Er beugte sich zu ihr herab und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Warm und weich schmiegten sie sich an ihre und als seine Zunge kurz über ihre Unterlippe strich, erschauderte die junge Frau. Lachend löste sie sich von ihm und vergrub ihr erhitztes Gesicht an seiner Brust. „Übrigens ... gibt es Neuigkeiten ...“, sagte sie irgendwann und ließ ihren verdutzten Freund stehen. Als sie zurück kam, griff sie in ihre vergessene Tasche und zog die Einladung hervor. Stirnrunzelnd las Shinichi deren Inhalt und sie betrachtete ihn dabei schmunzelnd. „Sie werden heiraten!?“ Unwillkürlich lachte Shiho über seinen überraschten Ausruf. „Was denn ... stört es dich, dass Ran ihr Glück bei einem anderen Mann gefunden hat?“ Kurz blickte er bei ihrer tonlosen Frage auf, doch dann sah er das herausfordernde Funkeln in ihren Augen. „Sag bloß, ich muss dir das Gegenteil beweisen?“ Wenige Stunden später lagen sie nebeneinander. Es lag noch immer eine erhitzte Atmosphäre über ihrem Schlafzimmer und Shiho hatte nicht sofort einschlafen können, während Shinichi schon lange in einen tiefen Schlaf gefallen war. Fest wickelte sie sich die Decke um ihren verschwitzten Körper und betrachtete im Halbdunkeln Shinichis entspanntes Gesicht. Bis er eingeschlafen war, hatte er sie liebevoll gestreichelt und ihr zarte Küsse auf die Wangen gedrückt. Nach all der Zeit war der Detektiv zu ihrem Lichtpunkt in der Dunkelheit geworden. Und er fing sie immer wieder auf, wenn sie in die Schwärze zu stürzen drohte. Mit aller Kraft hielt er sie bei sich, weil er sie liebte. Im Schlaf seufzend drehte Shinichi sich herum und Shiho rückte näher an ihn heran, schlug die Arme um ihn und lehnte ihre Wange an seine Schulter. Es war Liebe. Eine bedingungslose Liebe. Eine Beziehung, die auf Gegenseitigkeit beruhte und in der keine Zwänge oder Angst herrschte. Sie zuckte nicht zusammen, wenn Shinichi den Arm hob um ihr eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. Sie musste keine Befürchtungen mehr haben, dass sie vielleicht ein falsches Kleid trug. Shinichi würde sie niemals gegen die Wand schleudern und ihr das Kleid vom Körper reißen, weil es ihm nicht gefiel oder es die falsche Farbe hatte. Wenn sie sich liebten, empfand sie keine Schmerzen dabei. Stattdessen konnte Shiho das lustvolle Spiel genießen und voll auskosten. Danach fühlte sie sich nicht mehr beschmutzt und entwürdigt. Und wenn sie morgens erwachte, fühlte sie sich befreit und glücklich. Sie musste nicht mehr stundenlang duschen, um den Ekel vor ihrem Körper zu überwinden. Diese Zeiten waren lange vorbei, doch nie vergessen. Und in dieser Nacht waren die Gedanken an die Vergangenheit präsenter als je zuvor. Und wie immer konnte sie sich nicht von den Bildern in ihrem Kopf losreißen. Immer wieder sah sie sein Gesicht vor sich. Er schien so nah vor ihr, dass sie glaubte, den stinkenden Zigarettenqualm riechen zu können. Mit der Erinnerung an sein mörderisches Grinsen fiel Shiho in einen unruhigen Schlaf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)