Unerwünschte Gefühle von Snuggle ================================================================================ Kapitel 11: Der Brief --------------------- Eigentlich bleibt mir nur noch mich für eure Kommentare zu bedanken und euch viel Spaß für das nächste Kapitel zu wünschen :) ------------------------------------------------------------------ Ungefähr sechs Tage waren seit dieser Angelegenheit vergangen und Maron gab sich alle Mühe all das zu verdrängen und Chiaki so weit es möglich war aus dem Weg zu gehen, was sich als deutlich schwieriger erwies, als sie anfangs gedacht hatte. Die 24-jährige war eigentlich davon ausgegangen, dass ihre Reaktion auf sein Angebot so deutlich gewesen war, dass auch er sich von ihr fern halten wollte. Doch dem war nicht so: Jedes mal wenn sie sich irgendwo begegneten, sei es im Flur, im Aufzug oder beim Einkaufen, versuchte er sie darauf anzusprechen, doch das war genau das, was sie unbedingt verhindern wollte. In erster Linie, weil sie Angst hatte, dass er ihr noch einmal dieses unmoralische Angebot unterbreiten würde, und zweitens, weil sie Angst hatte seiner Bitte nachzugeben… Als sie vor sechs Tagen zusammen im Aufzug standen, hatte sie irgendeine Anziehung gefühlt, sie konnte sogar ihr Herz schlagen hören. Und als er dann einfach in ihre Wohnung gekommen war und so vor ihr stand, so aufgeregt, so schwer atmend, waren ihre Beine kurz davor ihr den Dienst zu versagen. Was war nur los mit ihr? Doch dann war da dieses Angebot. Chiaki’s Worte gingen ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. °Ich weiß auch nicht was es ist, aber da ist etwas Besonderes zwischen uns.° Ja, daran hatte sie auch für einen Moment gedacht. Und irgendwie macht ihr das Angst. °Ich möchte euch beide haben, verstehst du das?° Was hatte er sich dabei nur gedacht? Und was hatte er erwartet? Dass sie sich darüber freuen, sich ihm augenblicklich an den Hals werfen und sich von ihm vernaschen lassen würde? Hatte er wirklich angenommen, dass sie einer Affäre zustimmen würde? Verdammt, sie und Miyako waren in der Schule die besten Freundinnen gewesen! So etwas konnte sie doch niemals tun…oder? Maron dachte über ihre Reaktion auf seine Worte nach. Sie hatte ihn angeschrieen, hatte ihn sogar aus ihrer Wohnung geworfen! Dann war er gegangen und sie ist zurückgeblieben…und hatte geweint! Lange hatte die junge Frau versucht es auf die Tatsache zu schieben, dass sie so unglaublich wütend auf ihn war. Doch das war sie eigentlich nicht so richtig. Kurz nachdem er die Wohnung verlassen und Maron einige Tränen vergossen hatte war ihre ursprüngliche Wut bereits verblasst. Das war doch nicht mehr normal oder? Warum konnte sie nicht wütend auf ihn sein? Miyako stand in ihrem Polizeibüro vor der Magnettafel. Seit geschlagenen zwanzig Minuten betrachtete sie eine Landkarte von Japan, auf der hin und wieder rote Stecknadeln angebracht waren, die Tatorte markieren sollten. Verzweifelt versuchte die junge Polizistin ein gängiges Muster zu erkennen. In ihrer Hand hielt sie eine schwarze Akte, die sie immer wieder öffnete, durchlas und anschließend wieder schloss, um erneut auf die Landkarte zu starren. Seit ungefähr einem Jahr suchten sie nach einem Wiederholungstäter, der Frauen ermordete. Meistens waren seine Opfer brünett und zwischen 19 und 21 Jahren alt. Todesursache waren bisher immer zahlreiche Messerstiche und dabei ging der Täter immer nach demselben Muster vor. Da bisher allerdings keines der Opfer überlebt hatte, gab es keine Zeugen, die etwas über diesen hätten aussagen können. Die Polizei tappte also sprichwörtlich im Dunkeln. Die Tatsache, dass die Morde in vielen verschiedenen Städten stattfanden, ließen die Spekulationen zu, dass er sogar unter Umständen einen Komplizen haben oder einem Komplex von mehreren Täten angehören könnte. Doch bisher konnte noch nichts nachgewiesen werden. Innerhalb eines Jahres hatte es genau fünfzehn Morde gegeben, doch niemals nur in einem Bereich Japans. Nein. Die Tatorte waren quer über das Land verstreut. So, als ob der Täter die Orte, an denen er seine grausamen Taten vollbrachte, völlig willkürlich wählte. Miyako blickte rechts neben die Landkarte, wo die Steckbriefe der ermordeten Frauen angeheftet waren. Alle waren junge, hübsche Studentinnen. Und alle wurden in ihren eigenen Wohnungen kaltblütig ermordet. Leider gab es weder Einbruchs- noch DNS-Spuren. Bis jetzt. Da die Morde in verschiedenen Städten, unter anderem auch in der Nähe von Momokuri, stattgefunden hatten, musste die Polizei von Momokuri mit mehreren verschiedenen Polizeipräsidien zusammenarbeiten. Einer der letzten Fälle wurde in Osaka verzeichnet. Opfer in diesem Fall war die 21-jährige Modedesignstudentin Namiko, die alleine in einer Studentenwohnung lebte. Obwohl sich die Wohnung in einem Studentenheim befand und es genug Nachbarn gab, die etwas hätten mitbekommen können, geschah die Tat doch unbemerkt. Wieder keine Zeugen und wieder keine Einbruchsspuren. Doch diesmal war etwas anders: Die Spurensicherung hatte bei der Untersuchung der Tatwohnung eine Spur gefunden, die eventuell Hinweise über den Täter geben könnte. Und genau diese Spur galt es auszuwerten. Miyako hoffte, dass es diesmal zu einem erfreulichen Ergebnis kommen würde, denn wenn die Spur nicht vom vermeintlichen Täter wäre, so gab es wieder nichts, was zur Aufklärung des Falles führen könnte. Sie hatte sich geschworen das alles aufzuklären, damit keine weiteren jungen Frauen zu früh aus dem Leben gerissen würden. Es war ihre Pflicht dies zu verhindern… Maron lief durch die Straßen von Momokuri. Sie befand sich erneut auf den Weg zur Praxis von Frau Tsukamoto, um ihren ersten Arbeitstag bei ihr anzutreten. Die junge Frau hatte vor drei Tagen einen Anruf von ihr erhalten, in dem sie ihr mitteilte, dass sie sich gegen die anderen Bewerberinnen hatte durchsetzen können und ab Anfang der folgenden Woche anfangen konnte bei ihr zu arbeiten. Maron war verständlicherweise völlig aus dem Häuschen gewesen und konnte es erst gar nicht fassen. Das war eine große Chance für sie! Frau Tsukamoto war in Japan eine durchaus angesehene Psychologin. Viele Menschen würden alles dafür tun, bei ihr arbeiten zu dürfen. Und darum war es für die Brünette eine besonders große Ehre. Sie hatte vor kurzem erst ihr Studium beendet und hatte, abgesehen von einigen Praktika, nicht allzu viel praktische Berufserfahrung, was Maron’s Nervosität nicht linderte. Es hieß, dass ihre Chefin sehr hohe Ansprüche habe und sie hatte Angst etwas falsch zu machen. Theoretisch wusste sie natürlich alles was zu tun war, doch in der Realität war das natürlich noch einmal ganz anders, was sie bei ihren Praktika mehr als deutlich gesehen hatte. Die junge Frau erreichte das Ärztehaus und versuchte sich noch einmal Mut zuzusprechen. °Alles wird gut, Maron. Du musst nur alles so tun, wie du es gelernt hast. Alles wird gut…° Dann öffnete sie die Tür und trat ein. Diesmal entschied sie sich allerdings den Aufzug zu benutzen. Das beim letzten Mal war ihr eine Lehre gewesen und sie wollte nicht schon wieder völlig außer Puste sein, wenn sie oben ankam. Beim Eintreten in die Praxis wurde Maron sofort von Amaya Sugita begrüßt, die wieder am Empfang saß und sie herzlich anlächelte. „Guten Morgen, ich glaube wir haben uns beim letzten mal nicht vorgestellt. Ich heiße Amaya.“, sie reichte Maron die Hand. „Du kannst ruhig ‚du’ zu mir sagen, immerhin sind wir ja jetzt Kolleginnen.“ „Hi, mein Name ist Maron. Tut mir leid, ich bin etwas nervös. Das ist ja immerhin mein erster Arbeitstag.“ „Das ist völlig normal, mach dir keine Sorgen. Du wirst am Anfang nicht allzu viel mit den Patienten zu tun haben. Ich werde dir erst einmal alles erklären, dass du dich auch an der Anmeldung und im Labor auskennst. Da kannst du auch nicht viel falsch machen. Frau Tsukamoto hat gesagt, dass du dich erst einmal ein bisschen hier wohl und sicher fühlen sollst und dann traut sie dir auch die Arbeit mit den Patienten zu.“ „Hast du denn viel mit den Patienten zu tun?“ „Eigentlich bin ich größtenteils für die ganzen anderen Arbeiten zuständig. Ich bin sozusagen ‚Mädchen für alles’. Komm, häng deine Jacke auf und leg deine Tasche ab, dann kannst du dir da vorne einen Stuhl nehmen und dich zu mir setzen. Ich zeig dir dann alles was du am Computer können musst.“ Maron erwies sich als sehr lernfähig und fand sich recht schnell zurecht. Ab und zu machte sie zwar noch den ein oder anderen Fehler und musste hin und wieder nachfragen, doch teilweise konnte sie im Laufe des Tages bereits ein paar Arbeiten an der Anmeldung übernehmen. Ansonsten schaute sie Amaya ein bisschen über die Schulter und machte sich ein Bild von den Patienten. Von Frau Tsukamoto bekam die junge Frau kaum etwas mit. Ab und zu musste sie ihr einen Tee bringen oder sie liefen sich auf der Toilette über den Weg, doch ihre Chefin schien sehr beschäftigt zu sein. Frau Tsukamoto war von ihrem Typ her eher kühl. Maron schätzte sie bezüglich ihres Alters auf Mitte 50, ihre schulterlangen schwarzen Haare, zwischen denen bereits ein paar graue hervorschauten, trug sie grundsätzlich in einem strengen Dutt und eine Brille, was sie ein wenig streng aussehen ließ, und auch so war sie eher ein bisschen wortkarg. Maron musste zugeben, dass sie froh war sich mit ihrer Arbeitskollegin so gut zu verstehen. Das erleichterte ihr die Arbeit ein wenig. Sie wollte gar nicht erst wissen, wie es war, wenn sie mit ihrer Chefin alleine in der Praxis arbeiten würde. Etwas erschöpft ließ sich Chiaki in seinen Bürosessel fallen. Er hatte gerade eine anstrengende Operation hinter sich und musste sich jetzt erstmal ein bisschen ausruhen. Er schloss gerade seine Augen und ließ seinen Kopf in den Nacken fallen, als es an der Tür klopfte. Na toll… „Herein.“ Die Tür öffnete sich und Chiaki’s Vater, Kaiki Nagoya, trat ein. „Hast du ein bisschen Zeit für mich? Ich würde mich gerne mit dir unterhalten.“ „Na klar, setz dich. Was gibt’s?“ Chiaki schob seinem Vater einen Stuhl entgegen, auf den sich dieser setzte. „Chiaki, ich mache mir ein bisschen Sorgen um dich.“ „Das ist ja nichts Neues.“ Chiaki grinste Kaiki an und auch dieser musste lächeln. Er hatte Recht. Kaiki war schon immer sehr um seinen Sohn besorgt gewesen. Besonders nach der Trennung von Hana war er darauf bedacht gewesen ein möglichst guter Vater zu sein, nachdem entschieden wurde, dass Chiaki nach der Scheidung bei ihm bleiben sollte. Chiaki war zwar damals noch sehr jung gewesen, und doch war es auch teils seine eigene Entscheidung gewesen bei seinem Vater bleiben zu wollen. Nicht verwunderlich nach allem, was er in Bezug auf seine Mutter hat ertragen und ansehen müssen. Kaiki seufzte auf. Er war sich sicher bewusst, dass er aus seinem Sohn nicht viel mehr rausbekommen würde, als bei ihrem letzten Gespräch, aber er wusste auch, dass etwas nicht in Ordnung war und er musste dahinter steigen was es war. Er war besorgt und er wollte sich das nicht länger ansehen. „Chiaki…ich weiß, dass du mir diesmal wahrscheinlich nicht mehr erzählen wirst als letzte Woche, aber ich werde das nicht einfach so auf mir sitzen lassen. Irgendetwas stimmt nicht mit dir, das merke ich doch!“ „Ist das so?“ „Ich bin immerhin dein Vater.“ Chiaki musste bei seinen Worten leicht lächeln. „Chiaki, willst du mir nicht erzählen was los ist? Du bist in letzter Zeit so müde und unkonzentriert. Versteh mich nicht falsch, ich weiß deine Qualitäten als Arzt zu schätzen, aber es ist einfach zu riskant in einem solchen Zustand zu operieren. Vielleicht solltest du dir mal ein paar Tage frei nehmen, einfach dass du dich wieder ein wenig erholen kannst. Ganz ehrlich, wann hast du dir zuletzt Urlaub genommen? Jedenfalls nicht in einem Zeitraum, an den ich mich erinnern kann. Und der Beziehung zu Miyako würde das sicherlich auch gut tun. Du solltest wirklich darüber nachdenken.“ „Vater, ich verstehe deine Sorgen, aber ich denke du übertreibst es ein bisschen. Ich habe dir bei unserer letzten Unterhaltung schon gesagt, dass alles in Ordnung ist. Ich glaube ich habe in letzter Zeit einfach ein bisschen zu viel Stress. Das ist schon alles. Aber wenn es dich beruhigt, wäre ich auch bereit mit mal eine Woche frei zu nehmen. Aber kommt ihr mit einem Arzt weniger im Moment klar? „Das spielt doch keine Rolle. Genieß du mal deine freien Tage, ich bekomme das hier schon geregelt. Und jetzt geh nach Hause, das hast du dir echt verdient.“ „Danke, Vater“ Kaiki erhob sich von dem Sessel, auf den er sich eben gesetzt hatte. Bevor er aber aus dem Büro verschwand, drehte er sich noch einmal zu seinem Sohn um und sah ihn an. Er war wirklich erwachsen geworden. „Chiaki.“ „Ja?“ „Ich bin sehr stolz auf dich, mein Sohn.“ Dann war er schon zur Tür hinaus und ließ den jungen Arzt zurück, der zugeben musste, dass er sich über diese Worte freute. Kaiki hingegen befand sich schon wieder auf dem Weg zu seinem nächsten Patienten. Auch wenn er seinen Sohn endlich hatte überzeugen können ein paar Tage zu Hause zu bleiben, hatte er sich von diesem Gespräch doch eigentlich mehr erhofft. Er war fest überzeugt, dass es nicht nur der Stress war, der ihn in diese Verfassung gebracht hatte. Es musste mehr dahinter stecken. Aber für’s Erste musste er sich nunmal damit zufrieden geben. Chiaki war kaum in seiner Wohnung angekommen, als er schon seine Verlobte entdeckte, die durch die Wohnung wuselte. Sie rannte von einem Zimmer in das nächste und hatte jedes Mal, wenn sie in sein Blickfeld geriet etwas anderes in der Hand. Was auch immer sie da tat, sie war auf jeden Fall so beschäftigt, dass sie gar nicht zu bemerken schien, dass Chiaki schon von der Arbeit gekommen war. Schnurstracks stellte er sich in die Schlafzimmertür, als Miyako in diesem verschwand, mit der Absicht ihren Fluss zu stoppen. Die junge Frau erschrak förmlich, als sie sich umdrehte und direkt in die Augen ihres Verlobten sah, der in der Tür des Schlafzimmers stand und ihr so den Weg versperrte. „Chiaki, ich habe gar nicht mitbekommen, dass du schon zu Hause bist.“ Sie war etwas außer Atem. Chiaki’s Blick fiel auf einen Koffer, der auf dem Bett lag, daneben einige Kleiderstapel. „Das habe ich bemerkt. Was wird das hier? Hattest du vor all deine Sachen zu packen und dann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu verschwinden?“ Er grinste. Natürlich war das nur als Witz gemeint, er wusste, dass Miyako ihn niemals von sich aus verlassen würde und in dem Punkt war er sich seiner Sache wirklich sicher. „Nein, natürlich nicht. Ich habe dir doch von diesen Frauenmorden erzählt, an denen wir schon so lange erfolglos arbeiten, weißt du noch? Der letzte Fall hat sich in Osaka ereignet und die Polizei dort hat doch tatsächlich eine Spur gefunden, die uns zum Täter führen könnte! Das Präsidium hat uns gebeten ein paar Leute vorbeizuschicken, damit wir enger zusammen arbeiten können. Die brauchen mich da, das verstehst du doch sicher, oder?“ „Ja aber natürlich. Soll ich dich an den Flughafen bringen?“ „Nein nein, das brauchst du nicht. Ich fahre mit den Kollegen, die mitkommen nach Osaka. Sie müssten in fünf Minuten vor dem Haus stehen. Ich muss mich also beeilen.“ Mit Chiaki’s Hilfe waren alle Sachen innerhalb weniger Minuten im Koffer verstaut und Miyako war bereit zur Abreise. „Weißt du schon wann du wieder zurück bist?“ „Nein, leider nicht. Vielleicht dauert es nur eine Woche, vielleicht aber auch zwei. Das hängt davon ab, wie wir mit unseren Ermittlungen weiterkommen. Entschuldige, aber ich muss jetzt wirklich los.“ Miyako drückte Chiaki noch einen kurzen Kuss auf den Mund, bevor sie mit ihrem Gepäck im Aufzug verschwand. Chiaki blieb noch einen Augenblick vor der geschlossenen Lifttür stehen und hing seinen Gedanken nach. °Na toll°, war alles was in diesem Moment durch seinen Kopf ging. Jetzt hatte er also eine Woche Urlaub und hatte keine Ahnung was er in dieser Zeit tun sollte. Seine Verlobte war weg und Maron ging ihm die ganze Zeit aus dem Weg. Mit einem lauten Seufzen verschwand er wieder in seiner Wohnung. Vielleicht war es mal wieder Zeit für einen Männerabend. Maron kam gerade von der Arbeit, als ihr im Eingangsbereich des Wohnblocks eine gestresste Miyako mit einigem Gepäck entgegenkam. Sie lächelte Maron kurz zu, sagte aber nichts und schon war sie aus dem Haus verschwunden und in ein schwarzes Fahrzeug gestiegen, das vor der Tür gewartet hatte und schon im nächsten Augenblick davonfuhr. Etwas verwirrt sah ihr die 24-jährige nach, schüttelte ihren Kopf und ging dann an ihren Briefkasten, um nach ihrer Post zu schauen. Darin lag ein einziger Brief. Sie nahm diesen in die Hand und musterte ihn. Es gab keinen Absender. Von wem der wohl war? Chiaki befand sich auf dem Weg nach Hause. Es war bereits zwei Uhr in der Nacht, überall war es dunkel und die Straßen wurden nur von den Laternen erleuchtet, die hin und wieder aufflackerten. Der 25-jährige hatte den Abend mit seinen besten Freunden verbracht. Alle hatten sich in der Wohnung seines besten Freundes Keisuke getroffen und waren von dort aus durch die verschiedenen Bars Momokuri’s gezogen und hatten sich gegen Ende noch mit ein bisschen Poker die Zeit vertrieben. Aber jetzt war es Zeit ins Bett zu gehen. Er hatte es eigentlich immer gemocht mit seinen Freunden unterwegs zu sein, aber in letzter Zeit fühlte er sich so unglaublich träge und kraftlos. Ob das wohl mit Maron in Verbindung stand? Sie ging ihm seit diesem unangenehmen Gespräch andauernd aus dem Weg, dabei wollte er einfach mit ihr noch einmal in Ruhe darüber sprechen. Was er da getan hatte war unüberlegt, das war ihm klar. Vermutlich sind da seine Hormone mit ihm durchgegangen, und doch hatte er sich eine andere Reaktion ihrerseits erhofft. Er hatte diese Spannung zwischen ihnen gespürt, das konnte sie doch nicht völlig kalt lassen, oder doch? Er konnte das nicht einfach so hinnehmen. Er verzehrte sich nach ihr, er wollte ihr endlich einmal auf eine andere Art und Weise nahe sein können als bisher. Er wollte nicht mehr mit ihr streiten, weil es sie beide immer weiter voneinander entfernte. Er wollte einfach mehr. Aber war das einfach nur Lust? Er konnte sich doch nicht in sie verliebt haben, oder? Nein, das ist völlig ausgeschlossen! Er war mit Miyako zusammen und das würde sich auch so schnell nicht ändern. Er hatte es Maron ja bereits gesagt, dass er sie nicht verlassen könnte. Es musste doch einen Weg geben, beide haben zu können! Das ist doch einfach zum Verzweifeln. Als er gerade an einer Bar vorbeilief und einen Blick in das Fenster warf, sah er an der Theke eine Person sitzen, die ihm nur allzu bekannt war. °Wenn man vom Teufel spricht.° Er zögerte, ob er hineingehen sollte oder nicht, doch andererseits wusste er, dass er diese Situation nutzen sollte. Wer wusste schon, wann sich ihm wieder eine solch passende Gelegenheit bieten würde? Also fuhr er sich durch die Haare, überprüfte, ob auch alle Kleidungsstücke richtig saßen und ging selbstbewusst in die Bar, wo er direkt auf die junge Frau zusteuerte. Er war fest entschlossen endlich alle Probleme, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hatten, aus dem Weg zu schaffen. Er ließ sich direkt neben ihr auf einen Hocker fallen und wollte gerade anfangen zu sprechen. Er stoppte als sie direkt in sein Gesicht sah. Ihre Augen waren gerötet, ihre Schminke ein wenig verlaufen und auf ihren sonst so rosigen Wangen zeichneten sich Spuren ihrer salzigen Tränen ab. Jeder hätte sofort erkennen können, dass sie geweint hatte, und nicht gerade wenig. Sofort plagte ihn ein schlechtes Gewissen. Vermutlich weil er Angst hatte, dass er der Grund für ihre Tränen sein könnte. Neben der Brünetten standen ein paar geleerte Gläser, ansonsten war kaum eine Person in der Bar. „Maron, was ist denn passiert?“ Er wollte es vorsichtig versuchen, er konnte ja nicht wissen, ob sie mit ihm überhaupt reden wollte. Dabei legte er ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Er machte sich wirklich ernsthafte Sorgen. „Als ob dich das interessieren würde.“ Ihre Stimme war brüchig und der Blick, den sie ihm zuwarf sollte wahrscheinlich so sein, dass sie ihm zeigen konnte, dass sie sauer auf ihn wäre, doch alles was er in ihren glasigen Augen lesen konnte waren Schmerz und Trauer. „Maron, ich weiß, dass du wütend auf mich bist, aber wenn du reden willst, dann bin ich da, hörst du?“ Er hatte kaum ausgesprochen, da entfuhr ihr ein lautes Schluchzen und sie begann erneut zu weinen. Chiaki konnte nur unbeholfen daneben sitzen. Sollte er sie jetzt umarmen? Würde sie das überhaupt zulassen? Er entschied sich dagegen. Vielleicht war es erst einmal das Beste sie nach Hause zu bringen, vielleicht würde sie ihm dort erzählen was los war. „Komm, ich bring dich nach Hause.“ Schluchzend schüttelte sie ihren Kopf, den sie bereits hatte hängen lassen und versuchte sich dagegen zu wehren, doch Chiaki konnte sie letztendlich überreden sich von ihm bis zu ihrer Wohnung im Wohnblock Orléans begleiten zu lassen. „Darf ich noch mit reinkommen?“ fragte er sie, als sie vor ihrer Wohnungstür angekommen waren. Maron musterte ihn verwundert. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet, aber dennoch konnte sie seine Bitte nicht ablehnen. Einerseits weil sie sich einredete, dass sie sich auf diese Weise bei ihm bedanken konnte, doch andererseits spürte sie insgeheim, dass sie an diesem Abend nicht alleine sein wollte. Ihre Stimme war nach wie vor brüchig und so nickte sie einfach nur um seine Frage zu beantworten. Schon wieder standen Tränen in ihren Augen. In der Wohnung ging Maron mit langsamen Schritten auf ihr Sofa zu, auf das sie sich niederließ und verbarg ihr Gesicht erneut in ihren Händen. Eigentlich war es ihr unangenehm, sie wollte nicht, dass Chiaki sie weinen sah, aber in dem Zustand, in dem sie sich befand war ihr alles einfach nur egal. Chiaki blieb nichts anderes übrig als Maron besorgt nachzusehen. Er war ernsthaft um sie besorgt, doch sie hatte ihm noch immer nicht erzählt was mit ihr los war. Er betete nur, dass es ihr nicht wegen ihm so ging. Das könnte er sich einfach nicht verzeihen. Er ging auf die junge Frau zu und setzte sich auf den Platz neben sie. Er wollte ihr nicht zu nahe treten, aber dennoch streichelte er ihr sanft über den Rücken in der Hoffnung, dass es sie ein wenig trösten oder zumindest beruhigen würde. „Maron, es macht mich verrückt nicht zu wissen warum du so weinst. Erzähl es mir doch bitte! Ist es wegen mir?“ Ein beruhigendes Gefühl durchzog seinen Körper, als sie leicht ihren Kopf schüttelte. Dann hob sie ihren Kopf, sah ihn an und begann leise zu sprechen. „Ich habe heute Mittag einen Brief erhalten.“ „Von wem, Maron?“ „Von meiner Mutter.“ Maron rang mit sich selbst. Sie wusste nicht, ob sie ihm etwas so wichtiges anvertrauen sollte. Konnte sie ihm trauen? „Und was ist daran so schlimm?“ Wieder brach die hübsche Brünette in Tränen aus, doch diesmal schienen die Worte nur so aus ihr rauszusprudeln. „Du kennst meine Mutter nicht, Chiaki! Sie war nie für mich da, sie hat sich nie um mich gekümmert. Sie war eine verdammt schlechte Mutter! Und mein Vater war in dieser Angelegenheit auch nicht besser. Sie sollen sich einfach beide aus meinem Leben raushalten, so wie sie es immer getan haben.“ Nachdem sie ihre Worte zu Ende gebracht hatte, konnte sie nicht anders als laut zu schluchzen und ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Das reichte für ihn! Der junge Mann rückte näher an die weinende Frau heran und nahm sie fest in seine Arme, sie wehrte sich nicht dagegen, sondern ließ es einfach geschehen. Eine ganze Weile saßen sie so da. Maron in Chiaki’s Armen, der sanft über ihren Rücken streichelte. Er konnte noch immer nicht nachvollziehen warum die 24-jährige einen solchen Hass auf ihre Eltern hatte. Er war schockiert gewesen, welche Wut aus Maron’s Worten zu hören war. Als er bemerkte, dass sie sich ein wenig beruhigt hatte, nahm er all seinen Mut zusammen, ließ sie aber nicht aus seiner Umarmung. Er wollte im Moment einfach nur für sie da sein. „Willst du mir erzählen, was damals zwischen dir und deinen Eltern passiert ist?“ Es dauerte ein wenig, bis Maron antwortete, aber dennoch begann sie zu erzählen: „Ich hatte eigentlich eine gute Beziehung zu meinen Eltern und sie haben mich sehr geliebt. Ich dachte damals ich hätte eine perfekte Familie, aber das hat sich schlagartig als eine leere Illusion herausgestellt. Meine Eltern waren immer seltener zu Hause und haben sich immer mehr auf ihre Arbeit konzentriert. Ich war oft allein. Wenn sie dann doch mal zu Hause waren, haben sie sich nur gestritten, manchmal haben sie sich sogar geschlagen. Als ich sechs Jahre alt war haben sie sich für die Scheidung entschieden. Währenddessen haben sie sich immer um mich gestritten, weil jeder der beiden wollte, dass ich bei ihm bleibe. Am Ende hat mein Vater den Streit für sich entscheiden können. Ich bin also bei meinem Vater geblieben. Meine Mutter hat sich damit einfach zufrieden gegeben und ist nach Frankreich abgehauen. Das Leben mit meinem Vater war auch nicht einfacher. Ich war genauso viel allein wie davor auch. Es hat ihn einen feuchten Dreck interessiert was mit mir ist und wir haben uns fast nur gestritten. Kurz nach meinem 16. Geburtstag ist das Ganze letztendlich komplett eskaliert. Ich weiß noch nicht einmal worum es ging, aber wir haben uns so heftig gestritten, dass er mich geschlagen hat. Ich habe sofort meine Sachen gepackt und bin abgehauen. Einen Monat lang habe ich bei einer Freundin wohnen können. Ich bin damals aber noch einmal zurückgegangen, um den Rest meiner Sachen zu holen. Der Dreckskerl hatte zu dem Zeitpunkt alles was mir gehörte in Mülltüten gesteckt und einen Brief dazugelegt. Er habe mir etwas Geld dagelassen, von dem ich mir eine Wohnung nehmen könne und dass er nicht mehr in Japan sei.“ „Wo ist er hingegangen?“ „Er hatte sich einfach nach Amerika abgesetzt. Ich habe danach weder von meiner Mutter noch von meinem Vater jemals wieder gehört. Und auf einmal liegt da dieser Brief in meinem Briefkasten, in dem meine Mutter schreibt, dass sie vorbeikommen wird, um mich zu besuchen! Was denkt sie sich nur dabei?!“ Erneute Tränen. Der Brief hatte einfach all diese schrecklichen Erinnerungen, die sie versucht hatte zu verdrängen, wieder nach oben kommen lassen. Chiaki hingegen wusste einfach nicht, was er sagen sollte. „Oh Gott, Maron. Das…das tut mir leid.“ „Ich versteh schon, dass du im Moment nicht weißt was du sagen sollst. Das ist bei den meisten Menschen so, die etwas Vergleichbares niemals erlebt haben.“ „Du vergisst, dass auch ich ein Scheidungskind bin.“ Maron blickte in sein Gesicht. Er hatte Recht, das hatte sie ganz vergessen. Als sie damals mit Miyako und deren Freundinnen in diesem Café gewesen war, hatte sie Hana kennengelernt, Chiaki’s Mutter. „Wie war das bei dir?“ Maron realisierte in diesem Moment, dass Chiaki wohlmöglich der einzige war, der verstehen konnte was in ihr vorging. Und sie wollte seine Geschichte hören. „Es war vielleicht nicht so schlimm gewesen wie bei dir, aber für mich war es verstörend genug. Ich hatte eine schöne Kindheit und meine Eltern waren echt toll in ihrer Rolle. Sie hatten es nicht immer einfach gehabt, weil sie sehr früh Eltern geworden sind. Mein Vater war zwanzig, als er meine Mutter kennen lernte. Sie war damals gerade einmal 18. Sie waren gerade mal ein paar Monate zusammen, als meine Mutter schwanger wurde. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt erst ihre Schule beendet, Vater war am Anfang seines Medizinstudiums und dann war auf einmal ich da, den sie noch zusätzlich zu versorgen hatten. Sie haben das gut hinbekommen, aber dabei scheint ihre Liebe ziemlich auf der Streck geblieben zu sein, denn meine Mutter hat angefangen meinen Vater zu betrügen. Jedes mal wenn mein Vater auf Nachtschicht war, hat sie ihre Liebschaften zu uns nach Hause mitgenommen und hat es ignoriert, dass ich alles mitbekommen habe. Irgendwann habe ich das alles meinem Vater erzählt und er hat die Scheidung eingereicht. Ich war damals sechs Jahre alt, genau wie du. Das Verhältnis zu meiner Mutter war ab da nie einfach, aber es hat sich mittlerweile ein bisschen gebessert, aber so etwas kann ich nicht vergessen.“ Maron empfand es am logischsten erstmal nichts zu sagen, aber sie fühlte sich auf eine seltsame Weise mit ihm verbunden, immerhin hatten sie beide eine ähnliche Kindheit. Chiaki sah Maron einfach nur an. Es hatte gut getan mit ihr darüber zu reden und es hatte gut getan ihr Vertrauen spüren zu können. Er betrachtete ihr Gesicht. Wie schaffte sie es nur selbst in diesem Zustand so bezaubernd zu sein? „Du bist so wunderschön.“ Das war alles was er noch flüsterte bevor er seine Lippen sanft auf ihre legte. Ohne Zögern erwiderte auch Maron diesen Kuss, denn in diesem Augenblick verschwand alles um sie herum. Dieser Kuss war anders als die, die sie bisher geteilt hatten. Er war nicht grob oder lustvoll, nein, er war sanft und brachte Maron’s Herz zum Schlagen. Auch sie konnte nun diese Spannung zwischen ihnen spüren. °Da ist etwas Besonderes zwischen uns° Als Chiaki mit seiner Zunge still um Einlass bat, gewährte sie ihm diesen prompt. Als sie den Kuss lösten, kuschelte sich Maron sofort wieder in seine Arme. Sie wollten ihn nicht gehen lassen. Nicht jetzt. „Chiaki?“ „Ja?“ „Würdest du heute Nacht bei mir bleiben?“ „Aber natürlich.“ Nichts hätte sie zu diesem Zeitpunkt glücklicher machen können als genau diese Antwort. Und sie wurde sich einer Sache bewusst: Sie hatte sich unwiderruflich in Chiaki verliebt… ---------------------------------------------------------------- Ich hoffe es hat euch gefallen, ich würde mich sehr über ein paar Kommentare freuen :) Bis zum nächsten Kapitel! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)