Whiskey und Schokolade von SummoningIsis ================================================================================ Kapitel 19: Karma ----------------- Hallo, ihr Lieben! Vielen, vielen Dank, dass ihr drangeblieben seid an dieser Geschichte. Ich weiß selbst: langes Warten auf Updates ist frustrierend und ich habe mir für die Zukunft vorgenommen, nur noch Geschichten zu veröffentlichen, die mindestens zu 80% fertig geschriebn sind ;D Ich hatte in letzter Zeit echt mega viel Stress. Nicht, dass es jetzt irgendwie besser geworden ist, eigentlich ist es schlimmer. Aber deswegen brauche ich das Schreiben wohl umso mehr, um dem Alltag mit all seinen Tücken zu entfliehen. Gesagt sei: Kapitel 20 ist schon in Arbeit und ich werde ganz sicher nicht all zu lange brauchen, ich mache mir selbst Feuer unterm Hintern! Abbrechen werde ich diese Story auf keinen Fall, dafür habe ich viel zu lang an der Planung gesessen :D Aber jetzt ist auch genug mit dem Autoren-Gequatsche! - - - Kapitel 19 - Karma Es war ein Herzinfarkt. Dass es der dritte war, dessen war ich mir bis zu diesem grässlichen Telefonat mit meinem Ex gar nicht bewusst. Eine halbe Stunde lang haben wir gesprochen – und geweint, bis uns beiden trotz dieser starken Emotionen eben doch die Augen zugefallen sind, auch wenn der daraufhin folgende Schlaf sich kalt und bedrohlich angefühlte. Würde ich mich anstrengen, selbst dann könnte ich meine finsteren Träume nicht zusammenkriegen, aber vielleicht ist das auch besser so. Es regnet, wie so oft, an diesem Samstagmorgen. Minutenlang starre ich aus dem Fenster und beobachte, wie die gegen das Fenster peitschenden Regentropfen ihre wirren Muster hinterlassen. Draußen ist es grau und die Bäume zittern im heftigen Wind. Fast so scheint es mir, als hätte jemand meine Gefühle auf die Natur übertragen. Dabei hätte es nach den wundervollen Ereignissen des Abends Sonnenschein und Vogelgezwitscher geben müssen. Doch scheinbar muss einer positiven Nachricht recht schnell eine negative folgen. So als würde das Leben einen ermahnen, sich bloß nicht so schnell an das Schöne zu gewöhnen. Ich starre mein Handy an. Christians Freund Max ist noch immer bei ihm, wahrscheinlich schlafen die beiden noch ihren Rausch aus. Als mir der betrunkene, alles anbaggernde Kerl einfällt, streift meinen Magen ein recht flaues Gefühl. Doch noch schlimmer wird es, als ich an das mir so gut bekannte Gesicht des Greises denke, der jetzt nicht mehr unter uns weilt. Und ich hatte ihn doch erst kürzlich gesehen, hatte gedacht, so würde es weitergehen, dass ich ihn in einigen Monaten schon wieder begegnen würde, sei es bei Beas Geburtstag, zu dem sie mich definitiv einladen wird. Unangenehm zieht es sich in meiner Brust zusammen und meine Augen werden schwer. Dieser Tag ist grauenhaft. Ich dusche, ich versuche zu essen, ich versuche mich abzulenken. Nichts klappt. Als ich auf die Uhr sehe und hoffe, dass der Abend naht, ist es gerade mal 13 Uhr. Ich schnappe mir das Telefon und ich rufe meine Mutter an. Sie hat schon davon gehört. Sogar ein Datum für die Beerdigung steht schon fest – nächsten Freitag, nachmittags im Ort von Gerda und Hans; dem kleinen Städtchen im Herzen der Natur. Der kleine Pilgerort von Leon und mir, unser kleines Plätzchen, eine Rückzugsmöglichkeit. Abermals streifen diese Brocken der Vergangenheit mein Innerstes. Bilder meiner Kindheit springen auf, wie eine zufällige Slide-Show: Grillen im Garten, im Matsch herumtoben mit Walter, Gerdas selbst gemachter Pflaumenkuchen, Geschichtenerzählen bei Kerzenschein, Gewitterbeobachtungen mit Hans, Wanderungen im Wald. Hans und Gerda waren meine Ersatzgroßeltern. Natürlich habe ich meine richtigen Großeltern auch geliebt und es war auch nicht so, dass sie uns schlechter als Hans und Gerda behandelt hätten; schließlich haben sie Leon und mich auch immer mit offenen Armen begrüßt. Aber eine fast achtstündige Autofahrt hat es nun mal in sich. Wir haben sie daher nie so oft besucht, wie Leons Großeltern - denn deren süßes Häuschen liegt lediglich zwei Stunden von hier entfernt. Das Häuschen, in dem es nun wohl um so vieles stiller geworden ist. Ich denke an unser letztes Treffen zurück, auf Laras Geburtstagsparty, und dieses warme Lächeln, das Hans mir geschenkt hatte, die Aufmerksamkeit, die er mir hatte zuteil werden lassen. So als hätte der Alte geahnt, es sei unsere letzte Begegnung. Ganz kalt wird mir bei diesem Gedanken und ich presse meine Lippen zusammen. „Fährst du hin?“, fragt meine Mutter. Sie meint die Trauerfeier, zu der meine Eltern wahrscheinlich nicht kommen können. „Bestimmt“, beteure ich. „Mach dir ein entspannendes Bad oder so, okay? Und iss was Gutes und heute Abend gehst du raus und trinkst einen auf Opa Hans, ja?“ Ich nicke und sage: „Okay.“ Das Bad nehme ich dann tatsächlich auch und der kühle Whiskey benebelt ziemlich schnell meine Sinne, schließlich ist mein Mageninhalt eher minimalistisch als alles andere – was im Endeffekt dazu führt, dass meine Gedanken sich wild überschlagen und dass ich die Bilder, die durch meinen Kopf und dann direkt in mein Herz zu fließen scheinen, irgendwann nicht mehr kontrollieren kann. Der Tod von Opa Hans, er bedeutet im gewissen Sinne auch das endgültige Ende meiner Kindheit. Nun kann es nie wieder so werden, wie vorher. Selbst wenn ein Besuch der beiden meinerseits eine reine Illusion gewesen wäre – ein wenig der vergangenen Zeit hätte ich zurückholen und wieder erleben können, hätte meine Erinnerungen an all die Besuche ein wenig entstauben können. Doch nun ist Opa Hans fort und mit ihm unsere Zeit. Und auch die Zeit von Leon und mir; ein weiteres Stückchen ist brutal von ihr entrissen worden, so als wolle das Leben mir erneut vor Augen führen, dass wir nicht mehr eins sind und alles, was uns verband, in Stücke reißen. Damit ja kein Zurück mehr möglich ist. Doch das weiß ich schon länger und die Tränen, die über meine Wangen fließen, gelten auch nicht Leon, sondern Hans. Ich liege auf dem Bett und starre die Decke an. Genau in dem Moment, in dem ich die Augen schließe, klingelt mein Telefon – es ist Christian, und mein Herz bleibt beinahe stehen, als ich seinen Namen auf dem Display lese. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich gerade seine Nähe brauche; seine starken Armen um meinen schmächtigeren Körper geschlungen und sein Atem an meiner Haut, seine bestärkende Stimme an meinem Ohr. „Hey…“, begrüße ich ihn schwach am Telefon. Ich denke an seine gestrigen Worte: „Mann, ich liebe dich, Manuel…“ „Na! Hast du gut geschlafen?“ „…geht so…“, ich schlucke und rücke zurecht auf meinem Bett. Christian lacht. „Bei mir war’s auch nicht besser“, sagt er dann. „Max der olle schnarcht so unglaublich laut, wenn er getrunken hat“, erklärt er und lacht. „Irgendwann habe ich mich aufs Sofa im Wohnzimmer verzogen und hab noch immer Rückenschmerzen!“ „Oje, du Armer…“, meine ich und presse meine Lippen erneut zusammen. Christian erzählt mir gut gelaunt, wie Max heute den halben Tag über der Kloschüssel verbracht hat und wie erschrocken sein Freund war, als er Fotos auf seinem Handy von der Rothaarigen gefunden hat, die er eigentlich gar nicht attraktiv und auch nicht sympathisch findet – mit der er aber dummerweise Nummern getauscht hat und jetzt überlegt, wie er Madame wieder loswird, denn die würde ihn heute schon am liebsten wiedersehen. Während dieser Unterhaltung gehen mir allerdings tausend andere Dinge durch den Kopf; ich überlege. Ich überlege, ob ich Christian von der schrecklichen Nachricht erzählen sollte, jetzt, wo Max endlich zu Besuch ist, was meinem Freund so viel bedeutet - und schließlich haben sie noch einen ganzen Tag vor sich. Ich überlege, ob ich ihn meine düsteren Gedanken mitteilen, ob ich ihm sagen sollte, dass ich trauere, weil der Großvater meines Ex-Freundes gestorben ist und ich mir nun langsam wirklich ernsthafte Gedanken um Leon mache, den diese Nachricht ja noch viel schlimmer getroffen hat als mich. Ich sage also: „Tja, Max ist eben selbst Schuld!“ Und lache. Dann fragt Christian mich, ob ich nicht mit den beiden Essen gehen will. Das ist der schwierige Teil unseres Gesprächs, auf das ich mich vorm Schlafengehen eigentlich schon gefreut hatte. „Ich glaube, ich werde krank“, lüge ich. „Ich hab Kopfschmerzen und so, ich denke, ich bleibe heute lieber zuhause und schlafe ein wenig.“ Schäbig fühle ich mich schon ein bisschen wegen dieser Lüge, vor allem, da ich vielleicht schon bald das Haus verlassen werde, um vielleicht nach Leon zu sehen; andererseits möchte ich Christian nicht seinen Tag versauen. Nicht nach all dem Stress, den wir schon deswegen hatten. Ich will nichts riskieren und so, wie ich ihn mittlerweile einschätze, würde er alles stehen und liegen lassen und zu mir kommen und mich trösten wollen – bei diesem Gedankengang wird mir ganz warm ums Herz. Ein einziger Lichtblick an diesem Tag. „Oh nein, du Armer!“, kommt es im mitleidigem Ton vom anderen Ende des Hörers. Christian hat Verständnis. Mit milder Stimme fragt er mich noch, ob ich wirklich nicht sauer sei wegen des gestrigen Abends, der etwas außer Kontrolle geraten ist und ich verneine. Wie könnte ich sauer wegen eines Abends sein, der letztendlich zu seiner Liebesbekundung geführt hat? Er verspricht, sich noch bei mir zu melden und ich verspreche wiederum, mich morgen von Max zu verabschieden, sollten wir uns heute nicht mehr erblicken. Dann ist wieder bedrückend still um mich herum, wobei ich nicht sicher bin, ob ich Bens Anwesenheit momentan begrüßen würde, seine gute Laune und frechen Sprüche. Eine ganze Weile lang spiele ich mit meinem Handy und wende es hin und her, betrachte das Gerät von allen Seiten. Dann tue ich es und lausche dem monotonen Freizeichen. Erst, als ich mich schon mental auf die Mailbox vorbereite, nimmt Leon den Anruf entgegen. Er klingt so, wie ich es erwartet habe: niedergeschlagen und furchtbar traurig. „Hey, Manuel…“ „Wie geht es dir?“, rutscht es mir raus, obwohl ich diese Frage sehr wohl allein beantworten könnte und umgehend ertönt auch schon sein Seufzen. „Richtig scheiße“, sagt er ehrlich. „Kann ich irgendwas für dich tun?“, frage ich direkt. Mein Ex schweigt. Dann seufzt er ein weiteres Mal. „Danke, das ist echt lieb, dass du fragst…“, sagt er dann leise. „Ist doch klar… Opa Hans war auch irgendwie… mein Opa. Ich weiß, wie es dir geht.“ Leon lacht ganz leise. „Ja“, sagt er dann. „Stimmt irgendwie. Er meinte ja auch immer, du bist sein drittes Enkelkind.“ Ich muss lächeln und öffne den Mund, um Leon zu fragen, ob ich zu ihm kommen soll, ob er Gesellschaft braucht, ob ich ihm was kochen könnte, aber genau in diesem Moment höre ich, wie er mit jemandem im Hintergrund spricht. „Sorry“, richtet er sein Wort dann wieder umgehend an mich. „was hast du gesagt?“ „Nichts. Ist Martin da?“ „Ja, ja, ist er.“ „Gott sei Dank, ich will nicht, dass du alleine bist“, sage ich ihm. Aufrichtig. Auch wenn es ein kleiner Seitenhieb ist. Nicht auf der romantischen Basis, kein Eifersuchtsausbruch; ich fühle mich nur, wie soll ich es sagen, nicht gebraucht, obwohl ich derjenige bin, der doch darin involviert ist – denn Martin, seien wir ehrlich, kannte Opa Hans kaum, wohingegen ich – stopp. Das ist Nonsens. „Ja, finde ich auch“, sagt Leon. „Wenn du irgendetwas brauchst, dann sag Bescheid, okay?“ „Ja. Ja, mach ich. Danke, Manu, echt“, sagt er und dann: „Du… du kommst doch auch zur Beerdigung, oder?“ „Klar bin ich da“, bestätige ich leise. „Falls du jemanden brauchst, der dich hinfährt…“ „Danke… ich fahr wohl mit Mama und Papa hin“, sagt er bloß und ich nicke. „Okay, ich störe euch nicht länger“, meine ich daraufhin und räuspere mich. „Lass dich gut trösten, ja?“ „Du dich auch, ja?“ „Mach ich.“ Aber ich bin allein. Schlagartig bereue ich, dass ich Christian angelogen habe. Ich greife nach dem Telefon, halte im letzten Moment aber doch inne. Ich will ihm diesen Tag nicht versauen, nicht wieder die hohle Nuss sein. Also lasse ich es. Stattdessen rufe ich Michi an – und er kommt sofort, mit einem Stapel DVDs. Wir schauen uns tatsächlich einige Folgen der erste Staffel Friends an – und es hilft. Ich koche für uns und irgendwann trudelt Ben ein. Er drückt mich und wir kuscheln auf dem Sofa, als Michi schon gegangen ist. Intensiv. Auch wenn sich das zuweilen plötzlich sehr befremdlich anfühlt… Vielleicht ist es auch die Tatsache, die mich zuvor schon immer von solch einem intensiven Körperkontakt mit meinen Freunden abgehalten hat: ich bin vergeben. Auch Ben scheint mein leichtes Unbehagen aufzufallen; er verringert den Körperkontakt etwas, legt einfach nur noch seinen Arm um meine Schulter und das tut gut. Vor allem, nachdem ich Bea und Gerda angerufen habe, um ihnen mein Beileid auszusprechen und sich beide trotz der Trauer offensichtlich gefreut haben, dass ich mich zur Beerdigung angekündigt habe. „Er hätte es sicher so gewollt“, lauten Gerdas Worte. Christian ruft an diesem Abend an; spät, es ist beinahe schon Mitternacht, als mein Telefon klingelt. Er und Max waren noch im Pub, informiert er mich, und sie sind vor der Rothaarigen geflüchtet in der Innenstadt, waren Essen und eine Runde Pool spielen. Max ist noch so fertig von Freitag, dass er jetzt schon tief und fest schläft. Ich schweige, erzähle nichts von Opa Hans, bejahe dass es mir besser geht und verabrede mich mit meinem Freund für den kommenden Tag. Ich kann nicht schlafen und so zieren an diesem Sonntag dunkle Augenringe mein Gesicht, als ich bei Carry warte, um Max zum Bahnhof zu bringen und Christian für diesen Abend zu mir zu holen. Meine Hände werden richtig schwitzig, als mein Freund endlich auf mich zukommt und mir zur Begrüßung tatsächlich einen flüchtigen Kuss auf die Lippen gibt. Leicht beflügelt steige ich nach dem Händeschlag mit Max in den Wagen und fahre uns durch die Stadt, während Max und Christian debattieren, warum dessen Seat schon wieder in der Werkstatt ist und ob die Rothaarige Max bis nach Rostock folgen könnte. Ich höre gar nicht zu, ich rege mich auch nicht auf. Max ist Christians bester Freund, sage ich mir, und ich werde ganz sicherlich nichts unternehmen, um auch nur den kleinsten Keil zwischen sie zu treiben. Auch wenn ich mir mittlerweile ganz sicher bin: ich mag Max nicht. Ganz und gar nicht. Und ich mag es auch nicht, wie Christian sich in seiner Gegenwart verhält, diese dummen Witze, die die beiden gerade wieder reißen. Aber: ich rege mich nicht auf. Dazu bin ich viel zu schwach. „War nett dich kennengelernt zu haben“, sagt Max und grinst mich an. „Und jetzt geht wilden Popo-Sex haben!“, witzelt er und klopft seinem besten Freund auf die Schulten. „Ja“, sage ich träge. „Gleichfalls.“ Dann steigt er endlich in den gottverdammten Zug und mein Freund dreht sich mir wieder zu und schenkt mir ein überwältigendes Lächeln, das mich den letzten, vollkommen überflüssigen Kommentar von Max umgehend vergessen lässt. Und als Christian dann auch noch seine Hand auf meinen Oberschenkel während der Fahrt legt, und mir dabei von Meilin, Max und sich damals in Rostock erzählt, ist sowieso alles egal. „Du bist so still…“, bemerkt er plötzlich, als wir endlich mein Zimmer betreten und ich die Tür schließe und Bens dumpfe Musik damit ausblenden kann. Ich antworte nichts darauf, folge meinem Bedürfnis und schlinge meine Arme um ihn – und er springt unmittelbar darauf an; küsst mich hungrig und schiebt seine Zunge in meinen Mund und seine Hände unter meinen Pullover, bis wir rücklings aufs Bett fallen und den Kuss brechen müssen. Wunderschönes Grün mustert mich intensiv. „Ist irgendetwas?“, fragt er dann vorsichtig und streicht ganz leicht durch mein Haar. „Hans ist tot“, sprudelt es aus mir heraus. „…Hans?“ Fragend blickt Christian mich an. „Leons Opa…“ „Oh…“ „Wir standen uns ziemlich nahe…“, erkläre ich ihm und lasse meinen Blick im Raum umherwandern, während ich mir Christians Gewicht auf meinem Körper deutlich bewusst bin und seine Fingern spüre, die nun unablässig durch mein Haar streicheln, während ich ihm ein wenig von Hans erzähle. Er sagt mir, ich hätte ihm vorher Bescheid sagen sollen, dass er gern bei mir gewesen wäre und dass er Max auch hätte zu Meilin abschieden können. „Hm, nachdem Meilin so begeistert war von der Partynacht?“, schnaube ich sarkastisch und Christian seufzt. „Die kann das ab und hat sich bestimmt schon wieder beruhigt. Und du?“ Ich halte inne – wollte ich ihm eine Szene machen? Nein. Also nicke ich. „Klar.“ Er schweigt kurz. „Tut mir echt Leid, das mit deinem Ersatzopa…“, meint er dann und greift nach meinem Arm, zieht mich auf sich, sodass er nun auf dem Rücken liegt und ich auf ihm. Ich schließe die Augen und atme seinen Duft ein, entspanne mich, genieße seine streichenden Hände. Genau das habe ich gebraucht. „Gut, dass du zu Laras Geburtstagsfeier gegangen bist“, sagt er dann leise. „So hast du ihn noch sehen können und ihr habt noch mal geredet, das ist doch schön, oder nicht?“ „Ja, das stimmt…“, entgegne ich im Flüsterton und Christian gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Seine Wärme scheint mich zu umhüllen und ich schaffe es sogar, kurz zu lächeln. Dieser Moment fühlt sich so an, als fände er in einer Art Mikrokosmos statt; als wäre das alles nicht passiert, als würde die Zeit still stehen. Als hätte jemand die Realität für einen kurzen Augenblick einfach abgestellt. Es ist herrlich. „Du…“, nuschele ich, ohne mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen oder die Augen zu öffnen. „Kannst du nicht die ganze Woche bei mir bleiben und deinen Unikram hier erledigen? Ich bekoch dich auch jeden Abend…“ Christian lacht und seine Brust wippt dabei auf und ab. „Na klar…“ Schon am nächsten Tag holt er seine Sachen her und es ereignet sich sogar ein „historischer“ Augenblick: ich überreiche ihm, nach Absprache mit Ben, einen Schlüssel für unsere Wohnung und mein Pseudo-Macho-Freund ist sogar ein wenig überwältig; oder einfach nur verdattert. „K-Krass“, murmelt er, das kleine klimpernde Bündel in seiner Hand betrachtend. Dann richten sich seine grünen Augen auf mich und dieses spitzbübische Grinsen taucht auf seinem Gesicht auf. „Na, dann kann ich ja jetzt jeder Zeit in den Bettchen krabbeln, wenn ich Lust auf ein Nümmerchen hab…“, säuselt er dann und ich breche in Gelächter aus. „Nümmerchen…“, wiederhole ich kopfschüttelnd sein Wort und mache auf dem Absatz kehrt, da schnappen mich zwei starke Arme und Christian zieht mich an sich; seine Brust gegen meinen Rücken gedrängt, seine Lippen dicht an meinem Gehörgang. „Danke“, raunt er und dann schon dreht er mich um 180 Grad, sodass ich ihm wieder direkt gegenüberstehe und bringt unsere Münder abermals zusammen; seine Finger in meinem Haar, die andere Hand direkt an meinem Po. Ich grinse in den Kuss hinein. Auch wenn ich diese wenigen Tagen vor der Beerdigung oft an Hans denke, schafft Christian es, mich abzulenken. Das ist vor allem am Donnerstagabend nötig, einen Tag vor der furchtbaren Fahrt, die ich erneut ohne Christian antreten werde – ob Martin wohl anwesend sein wird? Bestimmt. Doch darüber denke ich nicht weiter nach, sondern konzentriere mich auf die wilde Partie Mensch Ärger Dich Nicht, die Christian, Ben, Mike und ich gerade spielen, bis Ole seinen Liebsten abholt – der dazu auch noch gewonnen hat – und die beiden verschwinden. Aber da ist es schon fast Mitternacht und ich bin müde und schlafe, an meinen Freund gekuschelt, schnell ein. Wir haben nicht mehr über Max gesprochen und das ist vielleicht auch besser so. Vielleicht werden wir das irgendwann nach der Beerdigung nachholen, wobei ich nicht sicher bin, ob ich Christian jemals sagen werde, dass ich seinen besten Freund zum Kotzen finde. Wenn er mir das über Leon oder Ben sagen würde, dann fände ich es nicht unbedingt berauschend; ich glaube sogar, das würde mich sehr stören. Dabei muss ich mir auch noch vor Augen führen, dass Leon mein Ex-Freund ist und Christian trotzdem kein Theater macht deswegen und auch eigentlich ganz gut mit ihm kann. Ob das nun gespielt ist oder nicht. „Hey, guten Morgen“, begrüßt mein Mitbewohner mit an diesem regnerischen Freitag, und ich frage ich mich ernsthaft, ob es denn gar nicht mehr aufhört hört vom Himmel zu plätschern. „Moin, Ben.“ Ich beiße in meine Brötchen „Christian pennt noch?“ „Mhmmm…“ „Ich hab gestern kurz mit Leon telefoniert“, sagt er und setzt sich mit dem Kaffeebecher mir gegenüber hin. „Dem geht’s ja richtig scheiße.“ Ich schlucke. „Ja“, sage ich dann. „Ich weiß.“ „Ist gut, dass du mitfährst, der braucht dich, glaub’ ich, am meisten gerade“, sagt mein Mitbewohner. „Ja, glaub’ ich auch“, sage ich ehrlich. Schließlich weiß ich am besten, wie fest das Band zwischen Hans und Leon war. Ich kenne die Geschichten. Ich war dabei. Martin nicht. Ich seufze – wieso kann ich diese Gedanken nicht abschütteln? Ich mag Martin. Mittlerweile. Ich gehe arbeiten, ich mache früher Schluss. „Fahr vorsichtig, ja?“, gibt mein Freund mir noch auf den Weg mit. Wir küssen uns. Gierig und hart. Irgendwie verzweifelt. „Ich meld mich, wenn ich ankomme.“ Die Fahrt ist grauenvoll. Der Regen wird zuweilen so heftig, dass ich kaum etwas sehen kann. Die Scheibenwische arbeiten auf Hochtouren, es wirkt, als würde jemand Eimer voller Wasser auf mich nieder schütten. Auf manchen Abschnitten bin ich gezwungen sogar nur 60 auf der Autobahn fahren. Wird es schon dunkel da hinten? Die Beerdigung um 16 Uhr abzuhalten ist ein dumme, dumme, dumme Idee! Es ist gut, dass ich früher losgefahren bin, denn meine Reise dauert im Endeffekt fast 3,5 Stunden. Die letzten zehn Minuten ihrer sind allerdings die Schlimmsten, als ich durch die mir zu gut bekannten Straßen rolle und den Bäcker entdecke, bei dem Hans und Gerda immer ihr Brot und für uns die knackigen Frühstücksbrötchen geholt haben, als ich an dem Spielplatz vorbeifahre, auf dem Leon und ich nachts geknutscht haben während unserer kleinen Spaziergänge und als ich letztendlich in die Straße einbiege, an der bereits die Autos stehen, von denen ich einige den Besitzern nur zu gut zuordnen kann. Natürlich sind sie noch früher gekommen als ich, um Gerda zu helfen, um sich Beistand zu leisten. Mit wackeligen Knien steige ich die drei Stufen zur roten Holztür hinauf, durch die ich so oft getreten bin. Sogar die schrille Klingel hat sich nicht geändert und auch der Fußabtreter ist gleich; der mit den zwei hässlichen Kätzchen und dem Wollknäuel. Die Tür geht auf – und ich blicke in dunkles Karamell. Eine Sekunde später liegt Leon mir schon in den Armen; er stürzt sich regelrecht auf mich. Minutenlang verharren wir so in dieser Umarmung. Er ist angespannt, er braucht nichts zu sagen. So fest wie er mich hält und so wie er leicht zittert, kämpft er mit seinen Tränen. Vorsichtig streichele ich durch seine kurzen blonden Strähnen. „Ist schon gut…“, murmele ich und dann blicken wir uns endlich wieder in die Augen. Ich lächel ganz leicht und Leon streicht sich sichtlich verlegen die Kleidung wieder glatt. „Danke, dass du gekommen bist“, murmelt er, dann schon steht seine Mutter Bea vor mir. „Wir müssen gleich los, Leon fährt bei dir mit ja?“ „Natürlich.“ Wir schweigen, als wir der dunklen Kolonne zur düsteren Kirche folgen. Nur kurz erklärt mein Ex mir, dass Martin nicht freibekommen hat. Ich nicke stumm. Dann sind wir schon vor Ort und ich muss mit ansehen, wie sich mein bester Freund regelrecht zu dem kleinen Gotteshaus quält. Leons Vater Ludger klopft mir auf die Schulter, ich umarme Gerda noch bevor wir in die Kirche treten; sie lächelt mich an und flüstert: „Schön, dass du da bist“. Sandra und ihr Mann nicken mir kurz zu, Lara ist heute gänzlich still; das schwarz steht ihr gar nicht, gar ein wenig ängstlich wirkt sie hier unter all den alten Leuten. Ich erkenne verrunzelte Gesichter wieder, alte Freund von Hans, die sich Tränen während der Rede von Bea wegwischen, entfernte Cousins und Cousinen von Leon, die ein herzzerreißendes Lied singen. Ich hatte nicht einmal protestieren können – Leon hat mich direkt mit in die erste Reihe gezogen, seine Hand schwitzig und zittrig. Ganz am Rand sitzen wir, Bein an Bein und ich kann sehen, wie er mit den Tränen kämpft. Ich hingegen bin erstaunlich gefasst. Vielleicht, weil mir klar ist, dass er es viel schlimmer hat, weil es sein richtiger Großvater war. Vielleicht ist es dieses unbewusste Stimmchen, welches mir sagt, ich muss heute der Stärkere sein. Weil ich es in unserer Beziehung nie geschafft habe. Doch für diese Gedanken ist heute kein Platz. Die Predigt dauert nicht lang, der Priester ist ein sympathischer Typ, ein alter Greis wie Hans. Die beiden kannten sich, er beschreibt ihn gut, als immerzu lauten Opa, der gerne mit seinen Freunden zusammen saß, aber auch Schwächeren unter die Arme griff, als liebevollen Großvater, der seine Enkelkinder in fremde Welten entführen konnte mit seinen lustigen Lügengeschichten – an die er manchmal vielleicht selbst glaubte, um der Realität ein wenig entfliehen zu können. „Wir werden ihn vermissen. Aber irgendwann sitzen wir wieder zusammen am Kartentisch und lauschen seinen neuen Erzählungen.“ Leon schluchzt und ich lege meinen Arm um seine Schultern, bleibe stark. Nur als Gerda einige abschließenden Worte sagt, zieht sich alles in meiner Brust zusammen. Aber… ich bleibe stark. Auch als wir unter schwarzen Regenschirmen auf dem Friedhof stehen und betrachten, wie der Sarg im Schneckentempo hinunterfährt und jeder sich verabschiedet von Hans, bleibe ich stark. Auch wenn meine Knie sich anfühlen als wären sie aus Watte. Ich wechsle einige Worte mit Gerdas bester Freundin Hannelore, die auch stark bleibt und Lara versucht aufzumuntern. Leon schweigt und noch bevor wir ins Auto steigen können, peitscht uns der Regen in die Gesichter und raubt so manchem Trauernden den Regenschirm. Auf dem Weg in das ausgewiesene Lokal für den Leichenschmaus verfahren wir uns und fast stürzt ein Ast auf meine Carry. Mein Herz pocht wild, als ich den Wagen endlich parken kann und wir aussteigen. „Alles okay?“, fragt Leon mich. „Bei dir?“, gebe ich zurück. Er nickt. Und ich lächel ganz leicht. „Lass uns rein gehen, etwas zu Essen würde dir ganz gut tun, und ein warmer Tee auch. Siehst durchgefroren aus.“ Leon blickt mich an – und dann erscheint endlich ein minimales Grinsen auf seinem von Regentröpfchen noch leicht benetztem Gesicht. „Du auch“, sagt er nur. Ein Blick in den Rückspiegel bestätigt das. „Ne, ich seh einfach nur scheiße aus“, witzel ich – und entlocke ihm ein leichtes Glucksen und wir betreten das Lokal. Leon isst ein wenig Suppe und auch ich bekomme einen ganzen Teller runter. Ich blicke mich um und muss feststellen, dass ich wahrscheinlich so gefasst bin, weil ich im Moment gar nicht glauben kann, dass Hans fort ist; weil ich wohl irgendwie in meinem Kopf ein wirres Verdrängungskonstrukt gesponnen habe. Deswegen kann ich stark sein. Ich spreche mit Sandra, ich schaffe es sogar Lara ein wenig abzulenken, die sich immer noch verloren vorkommt, inmitten von diesen Leuten in schwarz; ich erzähle ihr eine dumme Geschichte, die Hans mir damals immer erzählt hat, dass in der kleinen Kammer des Hauses von ihren Großeltern, kurz bevor man zum Dachboden hinaufklettern kann, einst Zwerge gelebt haben und sich nachts immer in die Küche geschlichen haben, um nach Süßigkeiten zu suchen – und dass Hans sich mehr als sicher war, dass sich einige von diesen Kreaturen noch immer in den Zwischenwänden verstecken. Lara staunt und hat große Augen und flüstert mir aufgeregt ins Ohr: „Onkel Manuel, können wir die später suchen???“ „Ja!“, wispere ich zurück. Ich spreche ein wenig mit Leons Vater, der momentan viel arbeitet und gestresst ist, verspreche ihm, Grüße an meine Eltern auszurichten; Bea spricht mit mir und flüstert mir zu: „Danke, dass du dich um Leon kümmerst.“ Zu diesem pilgere ich schließlich auch wieder. „Soll ich dir noch was zu Essen bringen?“, frage ich ihn und deute auf das Buffet. „Mir ist ein bisschen schlecht, also lieber nicht“, antwortet er und lächelt träge. Der Regen trommelt gegen die Scheiben. Mir graut es vor der Rückreise. Ich trinke noch ein wenig Wasser und erzähle Leon von dem letzten Akt-Shooting, das ich vor einigen Tagen mit einem lustigen, schwulen Pärchen geplant habe, die mich sogar von unseren Partys im Rainbow’s her kennen – und von ihren ausgefallenen Ideen, von Corsagen und High Heels bis hin zu Eiscreme-Sauerei mit Quietscheentchen. Es gelingt mir sogar, ein kleines Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Erst als Leon kurz in Richtung Waschraum verschwindet, werfe ich einen Blick auf mein Handy. Dort warten fünf SMS auf mich, alle von Christian. Ich hatte ganz vergessen, ihm Bescheid zu geben, dass ich angekommen bin! Mein Herz rast fast, als ich seinen Kontakt aufrufe und das Handy gegen mein Ohr presse. Er geht sofort ran. „Gott sei Dank, dir geht es gut!“, bellt er mir fast ins Ohr. „Sorry, der ganze Stress und alles, ich hab’s total verplant!“, jammere ich und er seufzt. „Ist schon gut, ich freu mich, dass es dir gut geht, mit der Sturmwarnung da bei euch… hab mir echt schon Sorgen gemacht...“ „Ja, momentan stürmt es echt gewaltig. Ich fahr auch erst los, wenn es sich etwas beruhigt hat.“ „Okay.“ Der Leichenschmaus endet für Leon und mich früher als für alle anderen, denn mein Ex bittet mich tatsächlich leicht peinlich berührt, ob ich ihn nicht schon jetzt zu dem Haus seiner Großeltern kutschieren könnte und ich willige natürlich ein – und es ist so seltsam in dieses stille Haus zu treten. Jetzt, da niemand außer uns da ist, laufe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder den Flur entlang, durch den ich als Kind gerannt bin, geflüchtet vor den schrecklichen Monstern, die sich Opa Hans ausgedachte hatte; durchquere das antik wirkende Wohnzimmer mit der breiten Couch und atme diesen Geruch ein, der mich seltsam geborgen und sicher fühlen lässt. Eine Mischung aus Räucherstäbchen und Hautcreme. Seltsam schön. Leon lässt sich ächzend ins Polster fallen, er schaltet den Fernseher ein. Ich setze mich dazu. Wir sprechen nicht. Nach und nach trudelt der Rest der Familie ein. Draußen tobt ein Sturm und Bea berichtet mir von umgefallenen Bäumen auf der Straße, der Grund weshalb sie so lang zurück gebraucht hätten. Mir wird ein wenig mulmig zumute und als ich äußere, dass ich noch ein wenig warten werde, bis ich wieder nach Hause fahre, kommt es fast zeitgleich von Gerda und Bea, dass ich heute nirgendwo mehr hinfahren werde. „Es reicht, dass wir heute einen aus unserer Familie zu Grabe getragen haben, du Verrückter!“, schimpft die kleine Alte und fuchtelt belustigt mit ihren Armen in der Luft herum, als ich ihr Widerworte geben will. „Papperlapapp!“, ist auch was sie zu meinem Kompromiss sagt – einem Zimmer in dem Hotel, in dem auch die von weiter her angereiste Gesellschaft gastiert. „Du schläfst hier bei uns, wie immer. Das Bett in Leons Zimmer ist groß genug, und wenn dir das unangenehm ist wegen… naja, der Situation zwischen euch, dann gibt’s halt ein Feldbett für dich.“ Leon sieht mich und dann Gerda an, dann lächelt er mich wieder an und sagt, als ich erneut Widerworte geben will: „Geh da bloß nicht raus, wenn dir jetzt noch was passiert, dann raste ich aus.“ So ist mein Schicksal besiegelt und Leon lebt wenigstens ein bisschen auf, als wir auf dem Dachboden nach dem Feldbett suchen und nebenbei noch so tun müssen, als seien wir mit Lara auf Zwergenjagd – aber irgendwie wirkt das wirklich aufmunternd. Vermutlich, weil wir beide ein wenig von uns in Leons Nicht wiedererkennen. Diese Anspannung und Fantasie, die Aufregung, nach etwas Magischem zu suchen und dem Glauben, jenem ganz nahe zu sein. Kurz bleibe ich stehen, als ich „unser“ Zimmerchen betrete, jenen kleinen Raum im Erdgeschoss mit den großen Glastüren, die direkt in den Garten führen. Alles sieht so aus wie bei meinem letzten Besuch und den Besuchen davor: das Bild von einem Schiff im Sturm an der Wand, die Plastikblumen auf dem kleinen Tisch und sogar die Bettwäsche auf dem großen Zwei-Personen-Bett meine ich wiederzuerkennen. Ich schreibe Christian eine SMS und verspreche ihm, dass wir uns morgen sehen und auch Leon scheint Martin eine Nachricht zu tippen, als er im Schneidersitz auf dem Bett hockt und ich meine Bettwäsche beziehe. „Weißt noch der eine Sommer, in dem uns Hans beim Rauchen auf dem Spielplatz erwischt hat?“, wende ich mich an ihn. Leon hält inne und dann grinst er mich an. „Oder wo er ausgerastet ist, als wir Walter eine modische Frisur verpassen wollten?“, gibt er zurück. Unsere kleine Reise in die Vergangenheit beginnt, gespickt mit Gelächter und Kopfschütteln, mit Grinsen und peinlicher Röte, die mal Leon, mal mir über die Wangen streicht. Stunden vergehen und das Treiben im Rest des Hauses kommt langsam zum Erliegen. „Ich geh und mach mich mal ein bisschen frisch für die Nacht“, scherze ich, als Leons Augen schon beinahe zufallen. Ich brauche nicht lang, putze mir nur die Zähne mit der brandneuen Zahnbürste, die mir jemand hingelegt hat, haue mir etwas Wasser ins Gesicht und schleiche zurück in unser Zimmer. Leon hat bereits das Licht gelöscht, doch ich finde den Weg zu meinem Schlafplatz problemlos. Doch dann liege ich da. Schlaflos. Starre in die Dunkelheit und kann nicht mehr weghören. Leons gedämpftes Schluchzen dringt zu mir. Ganz unbehaglich und traurig wird mir dabei; jeder weitere Laut, der so viel Trauer und Schmerz in sich trägt, jagt gespenstische Schauer über meine Haut. Ich presse meine Lippen aufeinander und bin wie gelähmt, unschlüssig, stelle mich schlafend, damit Leon seinen Gefühlen freien Lauf lassen kann. Doch ihm dabei zuzuhören und nichts zu tun verwandelt sich in eine regelrechte Qual. Der Druck in meinem Brustkasten und das leichte Ziehen in meinem Hals werden unerträglich. Ich kann ihn nicht einfach so alleine lassen, allein in dem Dunkeln der Nacht mit all diesen Erinnerungen und schmerzhaften Gedanken. Das bringe ich nicht übers Herz. Noch bevor ich mir überlegen kann, wie ich vorgehen sollte, tragen mich meine Beine durch das kleine Zimmer, sodass ich nur wenige Sekunden später schon zu Leon ins Bett krabbel, dessen Schluchzen abrupt abbricht. Es ist vielleicht ein wenig befremdlich und ich werde mir morgen sicherlich so meine Gedanken machen, schließlich tragen wir beide gerade nur ein T-Shirt und Boxershorts und ich schlüpfe gerade unter seine Decke, aber im Moment braucht Leon mich, einfach als besten Freund, der ihn in den Arm nimmt und tröstet; mehr nicht. Und genau das tue ich, lege meine Arme um seinen Körper und rücke so fest an ihn, dass ich fast jeden Wirbel seines Rückens an meiner Brust fühlen kann – und in dem Moment entlässt mein bester Freund all die Luft, die er so eben noch in seinen Lungen gehalten hat und schluchzt erneut, klammert sich mit seinen Fingern an meine Hand und lässt die Tränen einfach laufen. Mein Herz pocht viel zu wild in meiner Brust, ich komme mir schlagartig noch wacher vor und meine Haut pulsiert seltsam. Liege ich hier gerade wirklich mit Leon in einem Bett und halte ihn in den Armen? In unserem Ferien-Zimmerchen? Etwas, das man wohl schlechtes Gewissen nennt, bahnt sich seinen Weg in mein Bewusstsein und lässt meine Hände kurz schwitzig werden, doch eine wilde Welle schwämmt diese Empfindung sogleich weg, denn Leon lacht plötzlich leise auf und sagt mit dieser heiseren Stimme: „Ich bin fast 30 und heule die halbe Nacht wie ein kleines Kind, das ist doch echt irgendwie erbärmlich.“ „Nein…“, hauche ich und presse meinen Kopf gegen sein Schulterblatt. Erst jetzt steigt mir dieser wohlbekannte Geruch in die Nase; sein Duft. Die Mischung aus Mann und dezentem Aftershave, Leons Duft, meine einstige Droge; und erst jetzt werde ich mir seiner Wärme, seiner Hitze an meinem Körper bewusst. Kaum etwas trennt unsere Haut, nur dieser dünne Stoff, der unsere Leiber bedeckt. Ich kann Leon ganz deutlich atmen hören, meine Finger liegen direkt auf seiner männlichen Brust, die sich dabei gleichmäßig hebt und senkt. Die Vertrautheit seines Körpers macht mir Angst und gleichzeitig beflügelt sie mich. Ich weiß, was ich tue und gleichzeitig habe ich gar keine Kontrolle. Meine Finger streicheln durch sein Haar und plötzlich, ja urplötzlich beuge ich mich noch näher an ihn heran und lasse meine Lippen niedersinken – auf seine Wange. „Das ist nicht erbärmlich“, wispere ich direkt in sein Ohr. Christians Gesicht taucht auf vor meinem inneren Auge. Kurz zieht es sich schmerzhaft in meiner Brust zusammen und ein widerwärtiger Schauer krabbelt meine Wirbelsäule hinunter; doch dann ist da nur dieses so wild pochende Herz und diese unbändige Hitze, die sich überallhin auszubreiten scheint, schnell und unaufhaltsam wie ein Virus. Ganz langsam dreht Leon sich um und schaut mir tief in die Augen. Ich kann sein Karamell zwar in dem fahlen Lichtschein nicht erkennen, aber in meiner Vorstellung ist es intensiv – und teuflisch verlockend; jede Einzelheit seines Gesichts kann ich ausmachen, als ich ihn so betrachte, so nah, nur wenige Zentimeter Luft zwischen uns. Vielleicht, weil ich sein Gesicht auswendig kenne. Er zieht die Luft ein, und als er ausatmet und sein Atem umgehend meine Lippen streift, ist es vorbei. Ich will es nicht, doch ich kann es nicht stoppen. Ich denke an Christian, doch ich schiebe ihn gleichzeitig fort. In dem Moment, in dem meine Lippen Leons Lippen berühren, explodiert etwas in mir. Stückchen von Aufregung, Schuld, Erregung, Angst, Wut und Freude werden in meinem Innern wild durch einander gemischt, jedes Teil ist einzigartig – und die Mischung ihrer verheerend. Ein Schwindelgefühl packt mich, als Leon ohne zu zögern seine Arme um mich schlingt und seinen Mund spreizt, unsere Zungen miteinander kollidieren lässt. Fast schon ein wenig verzweifelt küssen wir uns; ich sauge an seiner Unterlippe und zuweilen treffen sogar unsere Zähne brüsk aufeinander, doch das scheint keinen von uns zu stören. Wir brechen den Kuss nicht. Wir stoppen ihn nicht. Wir fassen einander an, unsere Schultern, das Gesicht des jeweils anderen, die Haare - und währenddessen ist mein Kopf einfach nur leer. So als hätte jemand meine Gedanken einfach weggesperrt. Erst, als wir uns wieder in die Augen blicken und mein Gesicht über Leons schwebt, beginnen die kleinen Rädchen in meinem Kopf sich wieder zu drehen. So schnell, dass mein Schädel nun zu explodieren droht. Ich rücke ab von Leon und auch mein Ex sieht mich plötzlich nicht mehr verlangend an, sondern wie ein erschrockenes Kaninchen. ...was zur Hölle ist das gerade eben passiert? „G-Geht's dir besser?“, höre ich meine eigene, heisere Stimme im Raum erklingen. „...ja... danke...“, flüstert Leon immer noch in einer Schockstarre gefangen. Wir starren einander an. Ja, jetzt sehe ich Christians Gesicht wirklich sehr deutlich vor mir – und von Aufregung, Freude und Erregung ist wirklich kein einziges Molekül mehr da. Nur noch Verwirrung – und Schuld – sind geblieben. „Ich... wir sollten schlafen“, sage ich leise. „Ja. Ja, gute Idee“, pflichtet Leon mir bei und erwacht aus seinem Salzsäulen-Zustand, dreht sich auf die Seite und murmelt, mehr ins Kissen als zu mir: „Gute Nacht.“ „...Nacht.“ Auf wackeligen Knien gehe ich zurück aufs Feldbett. Meine Lippen prickeln immer noch. Leons Duft hängt in meiner Nase. Seine Körperwärme scheint immer noch auf meiner Haut zu verweilen. Doch mir wird kalt. Dann wieder heiß. Kalt und heiß, kalt und heiß. In der Ferne donnert es – ich verfluche den Sturm. Ja, denke ich mir, nachdem ich der Stunden wach dagelegen habe. Das war dieses Ben-Ding. Knutschen gegen Kummer. Mit Freunden. Etwas, das einfach so aus dem Moment heraus passiert ist; nichts romantisches, einfach nur eine Art des Trostspendens. Mehr nicht. Mehr nicht. O Gott, Christian wird mich umbringen! Meine Gedanken und Gefühle sitzen in dem ersten Waggon der furchterregendsten Achterbahn, die in meinem Kopf nur existieren kann und als es hell wird, schleiche ich mich aus dem Zimmer ohne Leon zu wecken, schreibe Gerda noch eine kurze Notiz und haue ab. Meine Hände sind schwitzig und als ich fast jemandem mit 160 Sachen hinten rein bretter, nach einer Stunde Fahrt wie ein Irrer, halte ich an einem Rasthof. Ich raufe mir die Haare. Ich heule ein paar Minuten. Ich trete auf eine Mülltonne abseits des Getümmels ein. Ich fluche – mit allen bösen Wörtern, die mein geistiger Wortschatz so hergibt. Und dann entscheide ich mich: ich werde Christian von dieser Nacht nichts erzählen. Es dauert einige Minuten, bis dieser Entschluss in jede Windung meines Hirns geflossen ist. Dann setze ich mich wieder ans Steuer. Ich werde geblitzt. Und kurz bevor ich in meine eigene Straße biegen kann – fährt mir jemand hinten rein. Samstag, 27. Oktober Karma is a bitch. Manuel - - - PS: In diesen Text können sich Fehler eingeschlichen haben - meine Beta hat gerade wirklich keine Zeit, aber euch wollte ich auch nicht so lange warten lassen ;-) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)