Whiskey und Schokolade von SummoningIsis ================================================================================ Kapitel 13: Hippie-Krieg ------------------------ Die ganze Nacht träume ich von Leon, von seinen blonden Haaren und seiner glatten Haut, seinen dunklen Augen und seinen gekräuselten Lippen; seiner Stimme und seinen Berührungen. Ich fühle mich sicher und geborgen, dieses angenehme Gefühl einer erlebten und vermissten Zeit erfasst mich – bis Leon sich plötzlich in eine glitschige, dunkle Eidechse verwandelt und Ben sie mit Kiwis und Bananen in einen Mixer schmeißt, um einen Fitness-Shake zu kreieren; und dann stellt sich auch noch heraus, dass mein Mitbewohner und ich seit drei Jahren zusammen sind und Michi unser zweijähriger Adoptivsohn ist, der zwei Köpfe hat. Ich erwache schweißgebadet. Was… für… ein… Schwachsinn! Der Wecker grinst mich diabolisch an, insofern es überhaupt möglich ist, dass ein totes Objekt ohne jeglichen Teil, der auch nur annähernd an Lippen erinnern könnte, das überhaupt machen kann. Samstagmorgen, 8.25 Uhr und ich bin wach. Pervers. „Aber pervers ist gut...“, ertönt Christians Stimme in meinem Bewusstsein und mit ihr überrollen mich die Bilder der gestrigen Nacht und der damit verbundenen, heutigen Aussichten. Ich greife nach meinem Handy. Ich fange an zu tippen. „Sorry, mir geht es schlecht, ich denke, es ist keine gute Idee heute-“ Ich lösche die Nachricht wieder, bevor ich sie absenden kann, weil ich an unser kleines Gespräch, oder besser gesagt an Christians Offenbarung denken muss und an die Dinge, die er mir gesagt hat, die Einschätzungen anderer Leute; ich sei ein Egoist, der die Menschen ausnutzt. Wieso habe ich einem Treffen also zugesagt? Weil er mir gestern den Arsch gerettet hat. Würde ich ihm jetzt nicht irgendwie entgegenkommen, dann verhielte ich mich in der Tat wie ein egoistischer Arsch, denn dann hätte ich ihn komplett als „Bodyguard“ ausgenutzt. Deswegen muss ich da durch. Er hat es selbst gesagt: ein Treffen. Wenn ich ihn danach immer noch blöd finde, lässt er mich in Ruhe. Ein feiner Abschluss einer skurrilen Geschichte. Meine Nervosität kann ich trotzdem nicht abschütteln. Ich dusche ausgiebig, frühstücke lang, mache meine Haare und schlüpfe tatsächlich in die neue schwarze Hose, ein enges T-Shirt; ich lege sogar eine Holzkette um und betrachte mich eine Weile länger im Spiegel. Mit dem Grund für mein Handeln setze ich mich nicht auseinander. Ich warte einfach darauf, dass es 12 Uhr wird. Als die Uhr mit mitteilt, dass er bereits fünf Minuten zu spät ist, kommt ein unbehagliches Gefühl in mir auf. Was, wenn er mich doch total verarscht hat?! Doch es klingelt. Und wenige Augenblicke später steht Christian vor mir und sieht... einfach unfassbar scheiße aus. Seine Beine werden von einer uralten grauen Jogginghose bedeckt, die ihm drei Zentimeter zu kurz ist und die den entscheidenden Wäschegang zu viel erlebt hat; über seine Brust spannt sich ein ebenso altes, in einem nunmehr matten Blau erscheinendes T-Shirt, das ihm mal so gar nicht steht. Seine schwarzen Adidas-Schuhe sind voller Farbklekse. „Äh...“, mache ich, während meine Augen sein Outfit abermals scannen. Christian lacht. „Na, seh' ich nicht toll aus?“, scherzt er und macht eine total aufgesetzte Drehung, als wäre er am Ende eines Catwalks angekommen und müsste für die Fotografen vornehmlich lasziv posieren. Noch bevor ich meine leichten Zweifel bezüglich seiner Reaktion und seines Outfits äußern kann, redet er weiter: „Du musst dich umziehen! Alte Klamotten, Sachen die schmutzig werden können!“ Dabei zwirbelt er den Stoff seines T-Shirts zwischen seinen Fingern und grinst schelmisch. „Darfst auch hübschere Sachen nehmen, als meine hier“, meint er noch und ich schließe endlich die Tür hinter ihm, betrachte ihn ein weiteres Mal und muss dann einfach herzhaft lachen. Das ist so... befreiend. Christian sieht aus wie der Mega-Asi. Ich bin unheimlich überrascht, und das mal im positiven Sinne, dass Mr. Supermodel sich SO überhaupt auf die Straße traut! Mr. Engel stemmt die Hände gegen die Hüften und lacht mit. „Ich sehe, mein Outfit gefällt dir. Darf ich dich so mal zum Essen einladen?“ „Bitte nicht!“ ...einen Restaurantbesuch mit Christian selbst in normalen Klamotten kann ich mir absolut nicht vorstellen. Er folgt mir in mein Zimmer und ich fühle mich so leicht und irgendwie ist meine Nervosität verflogen und... „Wo gehen wir überhaupt hin?!“, frage ich und wirbele herum, sodass Christian es gerade noch so schafft anzuhalten, um nicht gegen mich zu rennen. „Äh... Überraschung!“, sagt er dann fest. „Hmm...“, leicht verziehe ich den Mund und frage mich, ob meine Aufforderung, etwas Verrücktes zu tun, vielleicht schon wieder so eine dumme Trotzreaktion war, die mich in mein Verderben leiten wird... „Es hat aber nichts mit Alkohol zu tun?“, frage ich vorsichtig. Christian schüttelt den Kopf. „Nope!“ „Und... ähm, wird es weh tun? Haha...“, versuche ich zu scherzen, da schleicht sich so ein diabolisches und irgendwie auch total verführerischen Grinsen in sein Gesicht, sodass mein Puls sich beschleunigt und irgendwo in meinem Innern ein Schalter umgelegt wird, der die erste Alarmstufe einleitet. „Ein bisschen vielleicht“, antwortet er schließlich. „Ein klitze-kleines bisschen. Aber es macht hammer mäßig Spaß!“ „Okay...“ Ich durchwühle meinen Schrank und kann meine Gedanken nicht ordnen. Vor allem ist es immer noch so absurd, dass ich etwas mit Christian, Mr. Nachwuchsmodell, mache. Ich! Wir kennen uns ja nicht mal richtig! Achja. Das ist der Sinn der Sache. Ich vergaß. Als ich mich zu ihm umdrehe, um ihn zu fragen, was für Schuhe ich eigentlich brauche, erwische ich ihn dabei, wie er MIR DIE GANZE ZEIT AUF DEN ARSCH gestarrt hat. Er grinst und kratzt sich etwas verlegen am Hinterkopf. „Alter!“, zische ich. Aber ich bin gar nicht wütend. „Was für Schuhe brauche ich?“, frage ich ihn umgehend seelenruhig, auch wenn in meinem Innern eine gänzlich andere Stimmung herrscht; so undefinierbar, wenn ich ehrlich sein soll. „Am besten alte Turnschuhe. Hast du welche? Ansonsten habe ich noch ein Paar im Auto.“ „Danke, hier in meinem Schrank irgendwo sind auf jeden Fall welche...“ Letztendlich stehe ich da, mit immer noch vom Staub bedeckten Turnschuhen unbekannter Marke, einer schon leicht zerrissenen hellblauen Jeans, die mir eine Nummer zu groß ist, weil sie schon so ausgewaschen ist, und die ich deswegen mit einem uralten, hässlichen, braunen Gürtel mit Opa-Schnalle festmachen muss und in einem T-Shirt mit Donald Duck Aufdruck. Wieso besitze ich so etwas eigentlich?! Christians Miene ist unverändert, als ich mein Zimmer wieder im neuen Outfit betrete. Doch als ich stehenbleibe und wir uns beide erneut gegenseitig mustern, hält er es langsam nicht mehr aus; seine Mundwinkel gleiten nach oben und selbst als er dagegen ankämpft, kann er sein Glucksen, was sich in ein lautes Lachen verwandelt, nicht mehr aufhalten – und ich lache mit. „Wir gehen auf eine Bad-Taste-Party, oder?“, frage ich, während ich meine wirklich nicht ungeheuerlich attraktive Erscheinung ein weiteres Mal mustere. „Wäre auch ne geile Idee gewesen“, meint er nur und stellt sich neben mich, die Hände in die Hosentaschen seiner grässlichen Jogginghose steckend. Er zieht eine Grimasse. „Mann, sehen wir heiß aus. Ich weiß echt nicht, wer von uns heute den Bad-Taste-Wettbewerb gewonnen hätte...“ Wow, was mache ich, wieso mache ich bei diesen Scherzen mit, wieso finde ich das überhaupt so witzig? „Deine Jogginghose wäre schon einen Preis wert! Sehr elegant, tres chic!“, meine ich nämlich. „Dein Donald-Shirt hat aber schon so ziemlich was Kultiges, so undergroundig, du bist einzigartig! Nicht dem Hello-Kitty-Trend nachlaufen, sondern zurückkehren zur Westlichen Comic-Welt!“ „Ich bin halt schon so ein Trendsetter...“ „Lehre mich! Damit ich die Jogginghose wieder modern machen kann!“, ruft Christian aus und geht theatralisch auf die Knie und streckt seine Arme in meine Richtung aus, als würde er mich anbeten. Als würde er mich anbeten.. Ich lache und kaschiere meine Nervosität, die nun wieder munter gegen eine imaginäre Tür ballert. „Ich glaube, die Jogginghose ist schon längst wieder modern, so, im sportlichen Stil vor allem bei Frauen...“, murmele ich und Christian erhebt sich, grinst ganz sachte. „Wollen wir?“, fragt er mich schließlich. „Wo geht’s denn hin? Muss ich noch irgendwas mitnehmen?“ „Nö, das passt schon!“ Die Fahrt dauert nicht lang, auch wenn wir die City hinter uns lassen und uns prompt in einer ländlicheren Gegend befinden. Wir sprechen nicht, aus dem Radio dringen leise die Klänge von Nirvana und ich blicke aus dem Fenster. Meine Gedanken sind wie eine Horde wilder Tiere; sie bewegen sich so schnell, dass man ihre genaue Zahl gar nicht erfassen kann und sie wüten so sehr, dass man sich ihnen gar nicht näher traut. Was zum Teufel mache ich hier eigentlich?! Genau dieser Gedanke geht mir weiter durch den Kopf, als wir durch ein hölzernes Tor fahren, auf dem ich eine gezeichnete Person mit seltsamen Helm erblicke, der mich an die Kopfbedeckung von Motorradfahrer erinnert, und die so etwas wie eine Baby-Maschinen-Pistole in der Hand hält. Moment... Die Rädchen in meinem Kopf beginnen zu rattern, da parkt Christian bereits den Wagen neben den wenigen Autos, die mir erst jetzt auffallen. Wir sind am Rande eines kleinen Waldgebiets. Christian steigt aus und grinst mich an. Nein, er lächelt, ganz sanft und das wirkt irgendwie mal wieder so deplatziert auf seinem Gesicht. Er sollte mich angrinsen, ganz fies, auf diese sonstige Macho-Art, seine überhebliche Weise. Doch das tut prompt jemand anderes. Und zwar ein Mittvierziger, mit langen, angegrauten Haaren und einem sich leicht abzeichnenden Bierbauch, ganz ins Schwarz gekleidet. Er stellt sich als Harri vor. Er ist Besitzer des PAINTBALL-AREALS! „W-Was?!“, zische ich, als Harri sich entfernt, um für uns die „schicke Schutzkleidung“ zu holen. „Schon mal gespielt?“, fragt Christian mich. Jetzt grinst er – ganz leicht. „Was?! Äh – nein?!“, zicke ich rum. Paintball. PAINTBALL! Hat der Kerl eigentlich noch alle Tassen im Schrank?! Ich wusste es: das hier war keine gute Idee. Ich hasse Paintball. Ich hasse ja schon diese virtuellen Ballerspiele, dieses Counter-Strike, oder wie auch immer es sich nennt. Und jetzt soll ich das auch noch hier auf einem realen Spielfeld simulieren? Mit einer ganzen Horde von Verrückten Macho-Männern, die das wahrscheinlich jedes Wochenende machen. Vermutlich sind das auch noch Freunde von Christian und gleich verlangt er von mir, dass ich wie ein Steinzeitmensch mit dieser dämlichen Kanone, geladen mit bunten Kügelchen, schreiend rumlaufe und auf alles ballere, was nicht bei drei auf den Bäumen ist; am besten noch in Bundeswehruniform, irgendwelche Parolen grölend und mich dann von den anderen anbrüllen lassen, ich sei zu schlecht in dem martialischen, bunten Gemetzel, das alle viel zu ernst nehmen. „Hey, chill' mal...“, redet Christian plötzlich auf mich ein und mir wird in dem Moment erst klar, dass er mir verdammt nahe steht; als ich ihm meinen Kopf zuwende, ist sein Gesicht fast direkt vor meinem. Er lächelt. „Wir stürzen uns nicht in das allgemeine Gefecht, dafür hätte man sich eh anmelden müssen und dann hätten wir hier auch schon um 10 Uhr antanzen müssen.“ Ich höre undefinierbares Gebrüll aus weiter Entfernung, irgendwo aus dem Wäldchen dahinter. „Wir spielen quasi Baby-Paintball“, meint er grinsend, da kommt Harri schon an und trägt zwei dunkelgraue Overalls in der einen Hand, zwei hässliche Schutzbrillen in der anderen. „So, Jungs, einfach über die Kleidung drüber ziehen, die Farbe der Kugeln kann trotzdem durch den Anzug ziehen, eure Sachen können also schmutzig werden, die Farbe kriegt man super schwer wieder raus“, sagt er mit tiefer, aber angenehmer Stimme und grinst dabei. „Klar, Chef! Alles bedacht“, meint Christian nur und während er direkt in dieses Ding schlüpft stehe ich völlig überfordert da. Baby-Paintball? Was meint er damit denn schon wieder? Was soll ich mir darunter vorstellen?! „Na, seh ich jetzt besser aus?“, fragt Christian mich, als er da steht und aussieht, wie ein Formel 1 Fahrer. „Naja...“, meine ich und grinse schief und starre wieder diesen Anzug an, den Helm und die beiden „Knarren“, die da auf dem improvisierten, hölzernen Tresen liegen. „Keine Angst, mein Freund, das tut nur ein wenig weh und ihr macht ja auch den Kiddie-Parcour“, lacht Harrie heiser und hustet hinterher. „Kiddie-Parcour...“, wiederhole ich skeptisch. Harrie seufzt. „Na los, ich zeig's euch mal, dann macht dein Kumpel sich vielleicht nicht so sehr in die Hosen“, meint er zu Christian und lacht wieder einmal heiser – nur um danach erneut einen kleinen Hustenanfall zu bekommen. Widerwillig stapfe ich dem Mann in Schwarz hinterher, Christian direkt neben mir, schweigend, und dabei so dümmlich vor sich hingrinsend. Ich verspüre das Bedürfnis, ihm gegen das Schienbein zu treten. Natürlich tue ich das nicht. Stattdessen weiß ich schon, dass ich mich einfach gegen dieses dumme Unterfangen wehren werde, dass ich mich ein Mal von ihm abschießen lasse, und dann einfach die weiße Flagge ziehen werde und wir uns dann aus dem Staub machen und ich den Rest des Tages schön auf meinem Balkon verbringen kann. Allein. Nach etwa 200 Metern kommen wir zum stehen. Es ist ein eingezäuntes Gelände, fast so etwas, wie ein Spielplatz, mit riesigen, aufeinander gestapelten Strohballen und kleinen Backsteinmauern, mit großen Fässern, deren Grundfarbe mal blau war, nun allerdings große Klekse aus allen möglichen Farben aufweist, mit großen Rohren, die aus der Erde hochragen und so etwas wie einem Klettergerüst aus Holz mit einer Rutsche und zwei großen Leitern, die nach oben führen. „Da, schau“, sagt er zu mir. „Ihr kriegt gleich jeder ne schicke Tasche mit großen Wasserbomben quasi, nur anstatt Wasser, sindse mit Farbe gefüllt, verstehste?“, redet er grinsend mir mit. Wasserbomben. Keine Knarrren. „Und dann könnt ihr euch richtig austoben. Ihr habt ne Stunde Zeit, alles palletti?“ „Jau!“, sagt Christian und salutiert. Harri lacht kopfschüttelnd und trottet zurück zu seinem Tresen. Ich lasse meinen Blick erneut über den 'Spielplatz' wandern. Das meinte Christian also mit Baby-Paintball. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum. „Na, hast du immer noch Schiss?“, zieht mein Begleiter mich plötzlich auf. Ja, jetzt ist es da, dieses selbstsichere, nein – selbstverliebte, überhebliche, arrogante Grinsen, das mir so verdammt auf den Wecker geht. Und mein Trotz steuert mich wie allzu oft, nur, dass ich mir das natürlich nicht eingestehe, als ich in diesen grässlichen Schutzanzug steige und den Zipper hochziehe. „Von Schiss hat hier niemand etwas gesagt“, meine ich zickig und lege mir auch die Schutzbrille um. „Na, dann ist ja gut“, entgegnet Christian zufrieden und sein Grinsen hat sich wieder in ein mildes Lächeln verwandelt, was mich, ehrlich gesagt, wieder mal ein wenig irritiert. „So, Jungs!“, ertönt Harris mächtige Stimme und er hält zwei prall mit bunten Kugeln gefüllte Taschen in unsere Richtung. „Viel Spaß.“ Dann geht er und wir legen uns die 'Munition' um. Irgendwie komme ich mir dabei richtig dumm vor. Ich weiß nicht genau wieso, aber vielleicht liegt es an der Tatsache, dass wir zwei Erwachsene sind und wir hier vor einem riesigen Spielplatz stehen... „Was guckst du denn so skeptisch?“, fragt Christian mich und schaut mir direkt in die Augen. „Ich dachte, du wolltest was Verrücktes machen?“, neckt er mich. Ich schnaube. „Ich wusste ja nicht, dass du mich auf nen Spielplatz schleppen würdest...“, entgegne ich dann. „Hast du denn schon mal auf so einem Spielplatz gespielt?“, lautet seine nächste, etwas spitz formulierte Frage dann. „Nein...“ „Na also! Dann probier's erst mal aus, bevor du rum meckerst!“, meint er nur und betritt das 'Areal' als erster. Meine Antwort, was auch immer sie geworden wäre, bleibt mir im Hals stecken. Fühle ich mich provoziert? Definitiv. Ich werde ihm schon beweisen, dass mir sowas einfach keinen Spaß macht. Ich weiß es ja jetzt schon, aber Mr. Oberschlau scheint meine Meinung ja nicht akzeptieren zu wollen. Ich würde meine Stimmung als gereizt und / oder lustlos beschreiben wollen. Als ich diesen Platz betrete, ärgere ich mich, dass ich die SMS nicht doch einfach gelöscht (gesendet?) habe. „Kennst den Film 10 Dinge die ich an dir hasse?“, fragt Christian mich, während er sich grinsend umschaut. „Irgendwie erinnert mich das immer wieder daran. Ich glaube Harri, hat versucht das hier nachzubauen“, witzelt er. Ich zucke mit den Schultern, dann legt sich schon wieder dieses Grün auf mich. Christians Grinsen wird breiter. „Im Film hat Heath Ledger die Kleine dann auch bekommen“, meint er und zwinkert mir zu. Ich fasse es nicht! „Heath Ledger ist tot!“, meine ich und lächel giftig. Und prompt trifft mich diese platschende, kalte, semi-harte Bombe direkt an meiner rechten Schulter und die rote, wässrige Flüssigkeit verteilt sich auf meinem Overall – und über mein Gesicht. „Das war für Heath!“, ruft Christian aus und stürzt auch schon in einen Sprint. Und mich packt die Wut; aus der Überraschung heraus, aus der Verärgerung auf die gesamte Situation, gemischt mit einem Verlangen: Rache. Scheiß aufs Verabschieden nach einer kleinen Runde. Ich will, dass Christian leidet, also stürze ich ihm hinterher, eine Kugel schon direkt in meiner Hand. Er will hinter einer der einstig blauen Tonnen verschwinden, ich werfe – daneben. Als ich ebenfalls hinter die Tonne springe, trifft mich schon die nächste Kugel. Blau, direkt gegen mein linkes Bein. Autsch. Christian lacht und rennt wieder davon. „Na, warte!“, höre ich mich selbst ausrufen. Und dieses Mal bin ich schlauer und renne ihm nicht auf direktem Wege hinterher, sondern schlage einen anderen Weg ein, sodass er mir dieses Mal in die Arme läuft. Ich sehe seine Augen noch vor leichter Überraschung weiten – dann schon bedeckt ein schleimiges Grün sein halbes Gesicht, weil ich haargenau seine Brust getroffen habe. Er wischt sich die Farbe vom Mund und lacht, laut und herzlich und ich bin einen Moment lang verwirrt. Weil er dabei... einfach... super lieb wirkt und... Zack! „Verdammt!“, schreie ich und Christian hechtet schon wieder davon, nachdem er mich das dritte Mal getroffen hat. Unser Katz-und-Maus-Spiel, unsere wirre Verfolgungsjagd, geht weiter. Wir verstecken uns hinter Kisten, lugen hervor hinter den Tonnen, Christian macht hier und da sogar eine Rolle auf dem Boden, um meinen wild geworfenen Farb-Bomben auszuweichen. Ein Mal legt er sich auf der Sandfläche direkt unter der Rutsche so richtig auf die Nase und ich lache mich kaputt, weil er dabei so unglaublich tollpatschig wirkt. Und Christian lacht lauthals mit. Die Schlacht geht weiter. Ich sehe Christian in Richtung der höchsten Backsteinmauer rennen, mit dem Rücken zu mir; das ist meine Chance! Ungesehen klettere ich die Leiter hinauf auf diese Klettergerüst-Konstruktion und ducke mich, lauere hinter der kleinen Holzwand. Ich warte. Dann recke ich den Kopf. Christian hat keine Ahnung, dass ich hier oben bin. Er hockt hinter einer kleinen Tonne, sein Blick streift die Umgebung – allerdings eine Ebene tiefer. Ha ha! Ich warte mit einem knallroten Farb-Ball in meiner Hand. Seine Geduld scheint endlich am Ende. Langsam, halb geduckt mit Munition in seiner rechten Hand, schleicht er aus seinem Versteck, direkt in die offene Fläche vor dem Gerüst. Ich grinse diabolisch und so etwas wie angenehme Nervosität macht sich breit. Ja, ich bin tatsächlich aufgeregt. Wie ein kleines Kind. Und das ist mir sowas von egal, weil ich... Spaß... habe... Kurz verwirrt mich dieser Gedanke. Doch ich reiße mich schnell zusammen. Ich darf diesen Moment nicht verpassen! Jetzt! Ich springe auf und beginne meine Extrem-Attacke. Eins, zwei, drei, vier Bälle, direkt hintereinander, als sei ich eine Maschinenpistole hageln auf Mr. Nachwuchsmodell. Und alle treffen ihn. An der Brust, am Bein, an der Schulter und sogar am Kinn, welches er sich nun festhält. Scheiße. Habe ich ihn zu hart getroffen? Mein Puls beschleunigt sich. Doch... er lacht und lässt sich auf den Hintern in den Sand plumpsen. „Ich ergebe mich, o großer Herrscher der hölzernen Burg des Schmerzes! Meine Munition ist alle!“, ruft er aus und hebt beide Hände in die Luft. „Stell dir vor, ich würde eine weiße Fahne in die Luft halten, okay?“, ruft er zu mir hoch. Sein gesamter Overall, seine Haare und sein Gesicht, sie sind alle bedeckt von Farbe, ein ziemlich aufdringlicher Hippie-Mix. Ich kann nicht anders. Dieses fette Grinsen und das folgende Gelächter kann ich nicht zurückhalten; es bricht aus mir heraus, während ich auf meiner 'Burg' stehe, die Hände gegen die Hüften gestemmt, das Gesicht zur Sonne gestreckt, die immer noch auf uns nieder strahlt. Als ich meinen Blick wieder senke, um mein 'Werk' zu betrachten, muss ich leicht irritiert feststellen, dass Christian nicht mehr im Sand sitzt. Wo...? Zwei starke Hände packen mich an meiner Seite und ziehen mich hinab. Im selben Moment lande ich schon auf meinem Rücken auf dem etwas harten Holz und Christian setzt sich regelrecht auf mich, ohne zu viel Körperkontakt dabei herzustellen. Mit nur einer Hand pinnt er beide meiner Arme über meinen Kopf und beugt sich nun tief zu mir herab, sodass seine Nase beinahe mit meiner in Berührung kommt. Mein Herz schlägt schneller. Ich bin überrumpelt. Überrumpelt und verwirrt. Unterdessen grinst Christian einfach nur, seine Beine links und rechts neben meinem Körper positioniert. „Ich hab' gelogen“, flüstert er plötzlich samtig rau und lässt ab von meinen Armen, greift in seine Tasche und wirft die wohl letzte Kugel verspielt von der einer Hand in die andere. „Winsel' um Gnade, oder sie landet direkt in deinem hübschen Gesicht...“, säuselt er mit diesem verspielten Grinsen auf seinen Lippen. Eine Sekunde vergeht. Zwei. Drei. Dann vier, dann fünf und Christian hockt immer noch regelrecht auf mir. Ich kann nicht anders, mein Blick wandert seinen gesamten, von Farbe bedeckten Körper entlang. Selbst in dem Overall lassen sich all seine Muskeln noch erahnen. Vielleicht liegt das auch nur daran, dass ich weiß, wie es unter diesem Overall aussieht. Und... Ich muss schlucken. Es ist plötzlich so still. Ich kann die Vögel singen hören. Der Wind lässt die Blätter beruhigen rascheln. Irgendwo bellt ein Hund und Christians Gesicht ist meinem wieder so nahe. Tief blickt er mir in die Augen und seine Lippen kommen näher und... Ich schnappe mir eine grüne Bombe und schmettere sie ihm direkt ins Gesicht. Sie zerplatzt allerdings schon in meiner Hand, sodass ich ihm nur noch diese grüne Schmiere, die meine Schutzbrille nun auch bedeckt, auf die Wange klatsche. Wir husten beide und Christian rückt von mir ab, sodass ich mich aufsetzen kann. Als ich die Farbe von der Schutzbrille gewischt habe, klatscht Christian mir plötzlich seine letzte Bombe direkt auf den Kopf. In der ersten Sekunde bin ich überrascht, mein Puls ist immer noch rasend schnell und ebenso fix reagiere ich, indem ich in meine Tasche greife, mich auf ihn stürze, und ihm ebenfalls eine Portion Farbe in die Haare schmiere. Dann halten wir beide inne und sehen uns an. Christian sieht aus wie ein Hahn auf Speed, die Haare komplett rot, der Rest in allmögliche Couleur getaucht. Ich will es nicht, aber meine Lippen bewegen sich von allein und eben diese Regung kann ich auch auf seinem Gesicht erkennen. Dann ist es vorbei. Christian gluckst, er kichert, dann lacht er laut und ich tue es ihm gleich. Wir sitzen uns gegenüber, völlig verschmutzt, leicht verschwitzt, auf diesem dämlichen Klettergerüst, und lachen uns halb tot. „Bitte Manuel, davon brauche ich ein Foto, du siehst so herrlich aus!“, kichert er. „Schon mal in den Spiegel geschaut?!“, kontere ich glucksend. Christian wischt seine Hände immer noch gackernd an der einzigen Stelle des Overalls ab, die schon ein wenig trocken ist, dann zieht er den Zipper etwas auf und greift in seine Hosentasche, fischt sein Handy heraus. Im nächsten Moment krabbelt er plötzlich zu mir, legt seinen Arm um mich, zieht mich dicht an sich und macht einfach mal so ein Foto von uns mit der integrierten Kamera. Ich blinzle und er hält mir das Resultat direkt vor die Nase, was mein Gelächter nur noch verstärkt. Wir sehen beide aus wie verstrahlte Hippies. Was für ein Souvenir. „Tja, unsere Munition ist jetzt wirklich leer“, sagt Christian dann, als er sein Handy wieder in der Hosentasche seiner hübschen Jogginghose verstaut hat und unsere tatsächlich leeren Taschen demonstrativ hochhebt. „Und, ähm, wer hat jetzt gewonnen?“, frage ich vorsichtig. „Niemand. Hier gibt es keine Gewinner oder Verlierer, die Frage ist nur, ob Heath Ledger die Braut nun abbekommt“, meint Christian und ich möchte ihn in diesem Moment einfach nur ohrfeigen. „Danke, dass du mich mit Heath vergleichst, das nehme ich als Kompliment“, entgegne ich stattdessen, erhebe mich, und rutsche eine Ebene tiefer. Was für ein würdevoller Abgang... Christian lacht und folgt mir. Zusammen schlendern wir den Weg zurück zu Harris Tresen. Er sagt nichts und auch ich weiß nicht, was ich äußern sollte, denn ich sortiere meine Gedanken, wie lästige Karteikarten und versuche, mit dem eben erst Erlebten irgendwie klar zu kommen, ohne einen echten Schluss aus der gesamten Situation ziehen zu können. Ich bin ratlos. Ja, ich hatte Spaß. Meine Bauchmuskeln tun noch immer vom Lachen weh. Ich hatte Spaß mit Christian und ja, das war etwas Verrücktes und ja, ich würde es wieder tun und ja, Christian hat sich sogar ganz nett verhalten – bis auf einige Sprüche hier und da... Ähm. Und jetzt? Wir schälen uns aus den Overalls, Harri grinst. Unsere Klamotten darunter weisen tatsächlich helle Farbflecken auf. Jetzt sehen wir wie Hippies in Ausbildung aus. Ich muss schon wieder lachen. Christian bezahlt. „Soll ich was dazugeben?“, frage ich ihn direkt und er schüttelt vehement den Kopf. „Ich hab dich eingeladen, also bezahle ich das Date auch“, meint er nur, als wir schon zu seinem Auto schlendern. Date. Date! Argh! Und das auch noch in solch einem hochnäsigen Ton. Ich will etwas entgegnen, da spielt mein Hirn ungewollt die wenigen Sekunden auf dem Klettergerüst ab; die, in denen Christian dabei war, mich zu küssen und... „Autsch!“, rufe ich aus und merke erst dann, dass ich volle Kanne gegen Christian gelaufen bin. Belustigt schaut er mich an. „So müde?“, neckt er mich. „Eigentlich nicht!“, entgegne ich lauter, als gedacht. Und ich bin wirklich nicht müde, vielleicht nur ein bisschen erschöpft von dem ganzen Rumrennen. Aber nur ein wenig. Ich würde eher sagen: ich bin aufgewühlt. Von all diesen Gefühlen, die mich gleichzeitig übermannen und auf die ich mich nicht so recht konzentrieren kann. „Ich glaube, wir sauen Tony gleich ein bisschen ein“, meine ich, als Christian den etwas älteren Kleinwagen aufschließt. „Das machst nichts, ich wollte eh neue Sitzbezüge kaufen“, antwortet er grinsend. „Na dann...“ Er schaltet das Radio an. Wieder Nirvana. Ich schließe die Augen. Ich will ein wenig entspannen, auch wenn die Fahrt nicht lange dauern wird. Doch Tony ächzt und säuft und will nicht so ganz. Christian flucht. Der Seat springt trotzdem nicht an. Genervt steigt der Fahrer aus. Harri will uns helfen, fischt sogar ein neues Überbrückungskabel hervor, aber es bringt nichts. Der Seat springt einfach nicht an. „Tjoa, die Batterie ist wohl im Arsch“, sagt Harri schließlich. „Ruft euch n Taxi, Bus gibt’s hier nicht.“ Damit schlendert er wieder davon und Christian flucht. „Sorry, das war so nicht geplant“, gibt er leicht grinsend zu. „Wäre auch ziemlich blöd, so etwas zu planen“, meine ich überflüssig. „Taxi?“ „Hmmmm“, macht Christian und sieht sich um. „Eigentlich gibt’s hier nen richtig schönen Spazierweg und wir kommen an einer Eisdiele vorbei, da gibt’s Mega-Eisbecher, die richtig lecker sind. Wir wären auch nur ne Dreiviertelstunde unterwegs bis zu mir, ist nicht weit, was sagste? Oder bist du zu müde?“ „Ich bin nicht müde!“, meine ich patzig und prompt ist mein Schicksal besiegelt. Wir marschieren los, die Sonne immer noch über unseren Köpfen, der Himmel nur leicht bewölkt und ein Waldweg unter unseren Füßen. „Ich hoffe, der Weg durch die Stadt ist dann nicht zu lang...“, meine ich und sehe nochmal an uns herab. Christian lacht. „Und wenn schon!“, meint er nur schulterzuckend. Und ich bin mal wieder... überrascht. „Ist was?“, hakt er nach, als ich ihn etwas länger anstarre. „Äh, was? Nö.“ „Hmmm. Sicher? Du hast mich grad ziemlich komisch angeguckt“, sagt er und ich räuspere mich. „Naja ich dachte ja eher, dich würde es stören, wenn dich jemand in so nem Outfit sieht“, gebe ich schließlich zu. „Aha. Und wieder ein Beweis dafür, dass du mich völlig falsch einschätzt. Ich trage diese hässliche Jogginghose sogar mit stolz!“, feixt er und lacht danach. Mal wieder weiß ich nicht weiter. Eine ganze Zeit lang spazieren wir schweigend nebeneinander her, die Sonne über unseren Köpfen. Bäume säumen den kleinen Trampelpfad, etwas abseits und trotzdem noch parallel neben der kleinen Landstraße entlang läuft und uns zurück in Richtung City führt. „Hm. Und... du studierst Mathe?“, hake ich schließlich nach, weil ich dieses Schweigen nicht ertragen kann. „Mhm. Mathe und Bio auf Lehramt. Ich werde irgendwann Grundschullehrer“, erklärt er mir. „Was? Grundschule? Sind die Kinder nicht super anstrengend?“ Christian schüttelt den Kopf. „Ich finde die klasse. Ich kann ganz gut mit Kindern. Weil ich im Innern irgendwie selbst noch ein super großes Kind bin“, meint er und strahlt mich an. Ja, da hat er wahrscheinlich recht. Aber – sind wir das nicht alle? Wenn ich ihn so ansehe und an unser Paintball-Erlebnis denke, wird mir sehr deutlich, dass auch ich noch so etwas wie ein inneres Kind besitze. „Seit wann wohnst du denn hier? Ich hab dich im Rainbow's vorher noch nie gesehen“, sage ich schließlich. „Ich bin ja auch erst vor nem Jahr hergezogen, ich mach' meinen Master hier:“ „Oh, achso.“ „Und ich hab' ja eh nicht so viele schwule Freunde, die mit mir dahingehen würden, ich kannte bis vor kurzem ja nur Leon ein bisschen durch nen Kurs an der Uni und noch zwei Kumpel, die ich mal durchs Internet kennengelernt habe.“ Also als ich unterwegs war, auf meiner Verdrängungsreise, ist er aufgetaucht. „Wohnst du allein?“, hake ich weiter nach. „Ne, mit meinem Bruder.“ „Ah, du hast auch einen Bruder! Älter oder jünger?“ „Ich habe zwei Brüder und sogar eine Schwester“, meint er grinsend. „Wohnen tu ich mit meinem älteren Bruder zusammen, der ist 27 und Makler. Der wohnt schon ne Weile hier.“ „Ne WG mit dem eigenen Bruder. Geht das gut?“, hake ich nach und muss dabei an Anton denken. Wir verstehen uns super – aber wir würden uns umbringen, wohnten wir wieder zusammen. Auf meine Frage hin lacht Christian etwas verlegen. „Manchmal ja und manchmal nein“, gibt er schließlich zu. Christian erzählt mir von seinen Geschwistern, seiner kleinen Schwester, die gerade mal 17 Jahre alt ist und ständig irgendwelche Typen mit nach Hause schleppt, was seine Eltern zur Weißglut treibt. Seine Familie wohnt in Rostock, sie haben es nicht weit zum Strand. Er erzählt mir von seinem jüngeren Bruder, der gerade angefangen hat in Hamburg zu studieren, Physik und Chemie. Eine ziemlich große Familie. Er fragt nach meiner und ich beschreibe meine Mama und meinen Vater, Anton, unser Studio – und während wir schon durch die Stadt gehen auf gepflasterten Wegen und es nicht mehr weit zu Christians Wohnung ist, hören wir plötzlich ein langgezogenes Grollen, irgendwo im Hintergrund. Automatisch blicken wir auf. „Wow, wo kommen denn all diese Wolken her?“, fragt Mr. Engel sich laut, als wir den Himmel, der mittlerweile alles andere ist als blau, anstarren. Die dunkle Schicht schiebt sich mit einer unsagbaren Geschwindigkeit über das trübe Grau. Es donnert und weit hinten am Horizont blitzt es nach einigen Sekunden auf. „Scheiße!“ Wir beschleunigen unsere Schritte. Ein kalter Wind kommt auf und meine Nackenhärchen stellen sich bei dieser niedrigeren Temperatur auf, die etwas aggressiv meine Haut umstreicht. „Ich glaube, das fängt gleich an zu regnen...“, murmele ich. „Blitzmerker...“, schmunzelt Christian. Und tatsächlich: die ersten Tropfen bedecken in einem langsamen Tempo den Asphalt zu unseren Füßen. „O Mist...“, höre ich Christian nach einer Weile murmeln und wir fangen automatisch an zu rennen. Dann schon reißt der Himmel auf und ein wahrlicher Wasserfall prasselt auf uns nieder, durchweicht unsere Kleidung; die Farbe der Wasserbomben läuft über mein Gesicht und gelangt in meine Augen, sodass sie tränen und fürchterlich brennen. „Ahhh, dieses Scheißzeug!“, fluche ich. „O ja!“, pflichtet Christian mir bei, der sich in der gleichen, verzweifelten Art über sein Gesicht wischt. Es sind nicht einmal fünf Minuten, in denen wir sprinten, doch als wir an der Haustür ankommen, bin ich nicht nur bis auf die Unterhosen nass, sondern dazu auch noch brutal durchgeschwitzt und am hecheln. Der Himmel ist in ein tiefes Schwarz getaucht und die Straße hat sich zu einem regelrechten Bach entwickelt. Der Wind peitscht gefährlich um die Häuser. Irgendwo reißt er sogar ein Plakat auf und ein Mülleimer fällt um. Christian schließt die Tür. Als wir uns ansehen, müssen wir trotzdem lachen. „Irgendwie muss ich gerade an Kanalratten denken, wenn ich uns so ansehe“, sagt er und grinst dann fies. „Ich fühle mich wie eine Ratte...“, sage ich und blicke an meinem völlig durchnässten, immer noch sehr hässlichen Donald Duck Shirt herab. Verdammt. Das ist nicht gut. Ich werde mich noch erkälten... „Na los, komm“, meint Christian und steigt die Stufen hoch. Einige Sekunden blicke ich ihm nach. Ich hatte nicht damit gerechnet, heute seine Wohnung zu sehen; eben noch hatte ich gedacht, wir essen ein Eis und ich verabschiede mich. Nun trotte ich ihm hinterher und frage mich, wie es jetzt eigentlich weitergehen soll. Ja. Ja, genau. Ich trockne mich ab, rufe mir ein Taxi und dann verschwinde ich und dann... Wir betreten den schmalen Flur der Vierzimmer-Wohnung. Wir schlüpfen aus unseren Schuhen und Christian bedeutet mir, ihm zu folgen. „Mein Bruder ist nicht da“, erklärt er mir, als er das hinterste Zimmer öffnet; sein Reich. Es ist viel kleiner als mein Domizil, die Wände sind orange gestrichen, eine angenehme Farbe, irgendwie warm. Ein alter, dunkelbrauner Schreibtisch steht am Fenster, die Papierablage ist voll mit Notizen und Heften und Dingen, die da definitiv nicht rein gehören, wie einem Deo und Taschentüchern. Chaotisch, ja, so könnte man die Schreibtischsituation wohl beschreiben. Über dem Bett in der Ecke hängt eine Pinnwand – es ist fast wie bei mir, eine richtige Foto-Collage; Bilder von Christian mit Meilin, mit Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen habe. „Hast du Meilin eigentlich erst hier kennengelernt?“, höre ich mich selbst fragen und als ich mich umdrehe, schleudert Christian mir ein Handtuch beinahe mitten ins Gesicht. „Nein, wir kennen uns schon eine Ewigkeit. Noch aus Rostock.“ Ich sehe mir weitere Bilder an. Auf einem winzigen Bildchen drückt Christian ihr einen überdrehten Schmatzer auf die Wange. „Da könnte man meinen, ihr seid zusammen“, witzele ich und Christian tritt an mich heran, bleibt direkt neben mir stehen, sodass unsere Arme sich minimal streifen. Ein seltsames Gefühl ist das. Er lacht. „Ne, Meilin und ich waren nie zusammen. Ich hatte aber mal was mit ihrer Schwester“, sagt er und deutet auf ein anderes Foto, die ihn zusammen mit einer asiatischen Frau zeigt, die Meilin wirklich fast zum Verwechseln ähnlich aussieht. „Oh...“ „Aber das hat nicht einmal ne Woche gehalten“, fügt er amüsiert hinzu. Es donnert so laut, dass ich meine, die Fensterscheiben klirren. Als zwei Sekunden später der Himmel aufblitzt, als hätte jemand eine riesige LED-Lampe für einen minimalen Moment angeschaltet, zucken wir zusammen. Der Regen peitscht laut gegen die Scheiben. Ein Sturm tobt. Christian sieht mir direkt ins Gesicht. „Du solltest duschen gehen“, sagt er dann ruhig. „Dir ist kalt, du hast ne Gänsehaut“, meint er und deutet auf meine Haut. „Ach, das geht schon, ich trockne mich nur ab und dann ruf ich mir ein Taxi.“ „...du willst bei diesem Wetter auch nur einen Schritt nach draußen setzen?“, fragt er mit skeptischer Stimme. „Ist bestimmt gleich vorbei.“ „...äh. Genau“, sagt er sarkastisch. Im selben Moment donnert es schon wieder fürchterlich, dass ich ein weiteres Mal zusammenzucke. „Manuel, äh, ich glaube nicht, dass das der Sturm schnell vorbeigeht und jetzt rauszugehen, vor allem so nass wie du bist, wäre Selbstmord“, redet er auf mich ein, während ich mich schon abtrockne. „Das ist schon OK“, meine ich nur und bleibe stur. Christian schüttelt den Kopf. Er schaltet den Fernseher ein. Irgendeine Komödie läuft. Doch ich kann nicht auf den Bildschirm achten, weil Christian sich sein nasses Shirt einfach so über den Kopf zieht und diesen krassen, obergeilen hammer Oberkörper entblößt. Ich hasse mich für diese Gedanken. „Ich gehe jetzt fix duschen“, erklärt er dann kurz und wirft mir einen letzten Blick zu, bevor er seine Zimmertür schließt. Unschlüssig bleibe ich stehen und schaue aus dem Fenster. Es donnert schon wieder, und es blitzt fürchterlich. Ich mache einen Schritt rückwärts. Und wieder fällt mein Blick auf diese Foto-Pinnwand. Ich frage mich, wer all diese Menschen sind... Irgendwo erkenne ich einen jungen Mann, der Christian sehr ähnlich sieht. Ob das wohl sein Bruder ist? Wahrscheinlich. Ich betrachte Bilder von Christian mit irgendwelchen Frauen im Arm oder einfach nur neben ihm stehend, grinsend, lächelnd, die Zunge raus streckend. Ob das wohl... seine Ex-Freundinnen sind? Oder einfach nur Freundinnen? Und ob in diesem Wirr-Warr von Bildern auch ein Ex-Freund zu sehen ist? Mir wird mulmig zumute. Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass ich niemanden kenne, der auf beide Geschlechter abfährt; der Beziehungen mit Frauen und mit Männern eingeht. Plötzlich frage ich mich, ob Christian eigentlich mehr auf Frauen oder doch mehr auf Männer steht? Seine letzte Beziehung – war sie mit einer Frau oder mit einem Mann? Hat er Phasen, in denen er mit Männern will oder mit Frauen? Und wenn er mit Frauen schläft – macht ihn das automatisch zu einem reinen Top in einer Beziehung mit einem Mann? Ich spüre, wie meine Wangen bei diesen doch recht intimen Detailfragen irgendwie rosig werden... Ich denke über unseren Tag nach, über die Ereignisse davor, über unser seltsames Kennenlernen. Mein Fazit? Ich habe keines. Ich bin einfach nur verwirrt. Unmittelbar berührt mich etwas warmes an meiner Wange und ich schrecke auf; es ist Christians Hand. Er steht mir so nahe und blickt mich mit diesen grünen Augen irgendwie auffordernd an. Er trägt lediglich ein dunkles Handtuch um seine Hüften gewickelt. Wieso rast gerade jetzt die Erinnerung an diesen warmen Körper im Taxi durch mein Gedächtnis? „Geh duschen. Du bist eiskalt.“ Ein weiterer Blitz draußen. Unter mir hat sich bereits eine kleine Pfütze gebildet. „Okay.“ Meine Stimme ein einzelnes Hauchen. „Zweite Tür rechts“, sagt er mir noch, als er mir ein neues Handtuch, ohne Farbflecken in die Hand drückt. Erst als ich die Badezimmertür hinter mir schließe, atme ich aus. Ja, ich bin verwirrt. Heute ist einfach ALLES neu. Und ich fürchte mich vor Neuem. Das Bad ist relativ groß, die Dusche geräumig. Zwei Personen würden hier definitiv reinpassen. Ich drehe das Wasser auf und Dampf steigt auf. Die Wärme nimmt mich ein. Wahrscheinlich wird mir erst durch die guttuende Flüssigkeit an meiner Haut bewusst, dass ich vorher tatsächlich gefroren habe. Während das Wasser den Dreck und die Farbe von mir abträgt, wünsche ich mir, es könnte dasselbe mit dieser seltsamen Stimmung tun, die mich befallen hat. Wie paralysiert betrachte ich dieses Konglomerat an Couleur, das im Abfluss verschwindet und die Szenen des heutigen Tages spielen sich ab wie ein Film vor meinem inneren Auge. Ich verstehe sie nicht. Vielleicht gefällt mir auch einfach nicht, dass ich mich heute tatsächlich amüsiert habe; dass Christian nicht der Macho war, als den ich ihn immer gesehen haben. Das war eine Ausnahme – sage ich mir sofort. Dann schließe ich die Augen und atme noch einmal tief ein. Es donnert; ein weiteres Mal. Lang und laut. Die gegen die Scheibe pochenden Regentropfen vermischen sich mit dem Prasseln der Dusche. Regungslos verharre ich unter den warmen Strahlen. Meine Brust zieht sich zusammen. Unwillkürlich wandern meine Gedanken schon wieder in die Vergangenheit – ich sehe Leon kristallklar vor mir. So, als würde er direkt vor mir stehen und für wenige Sekunden kommt es mir sogar so vor, als würde er mich berühren; wie damals. Doch als ich die Augen öffne, sind da nur diese fremden Kacheln und Leon ist weit, weit weg und schließlich möchte ich auch eine Distanz zwischen uns aufrecht erhalten, weil... weil ich mich endlich daran gewöhnen muss, dass der Mann an meiner Seite nun mal eben nicht Leon ist? Ist das mein grundlegendes Problem? Das Wasser kühlt langsam ab. Oder es ist einfach eine Illusion, die ich aufgrund meiner Gefühle auf die Realität projiziere. Ich trockne mich ab und meine Augen wandern durch dieses fremde Bad. Irgendwie ist das schon seltsam hier zu stehen, in dem Raum, in dem ausgerechnet Christian sich täglich zurecht macht, sich stylt, sich wahrscheinlich noch dieses draufgängerische Grinsen selbst im Spiegel zuwirft, bevor er in den Tag startet, fesch gekleidet und... Ups. Meine Augen fallen auf das Häufchen nasser Klamotten, das ich eben noch ausgewrungen habe. Die kann ich nicht anziehen. Ich schlucke und binde das weiche Handtuch um meine Hüften. Eine ganze Weile verharre ich mit meiner Hand auf der Klinke. Ich bin halbnackt. Und so muss ich dem trainierten Christian vor die Augen treten. Christian, der auf mich steht. Schon wieder überkommt mich dieses seltsame Gefühl und ich denke an die Mädchen von den Bildern und an diesen Kuss, an den ich mich eigentlich gar nicht erinnern kann; schon wieder an das Taxi. „Gott...!“, zische ich und schüttel sogar den Kopf. „Leih' dir Klamotten und dann hau ab!“, flüstere ich mir meinen eigenen Plan zu. Dann öffne ich die Tür und tapse zurück in Christians Zimmer. Doch der Raum ist leer. Erst als ich diese Tatsache erkenne, erreichen gedämpfte Laute, eine seichte Mischung aus Musik und Geklapper, mein Ohr. Ich folge ihnen und finde mich umgehend in einer kleinen aber feinen Küche wieder. Es riecht würzig und mein Magen signalisiert mir bei diesen Gerüchen, dass er gerne etwas mehr Beachtung von mir hätte. Christian steht am Herd, sein Rücken von tiefschwarzem Stoff bedeckt, ein enganliegendes T-Shirt. Er trägt eine weite Stoffhose, ist barfuß, rührt im Wok herum. „Ähm“, setze ich an, da dreht er sich zu mir um. Er macht den Mund auf, will etwas sagen, aber es kommen einfach keine Worte über seine Lippen und ich muss feststellen, dass seine Augen meine gesamte Erscheinung genau scannen. Ich erstarre und weiß absolut nicht, was zu tun ist. Ich stottere, weil mich seine Blicke auf meiner nackten Haut nervös stimmen. „Ähm, also, h-hast du vielleicht n.. n paar Klamotten für mich?“ „Was? Äh, ja. Klar! O Mann, voll vergessen eben, sorry!“ Christian erwacht nun ebenfalls aus seiner Starre und geleitet mich aus der Küche, führt mich wieder in sein Zimmer und kramt in seinem Kleiderschrank, der aus allen Nähten platzt. Ich will gerade einen Scherz darüber machen, da dreht er sich schon zu mir um und drückt mir eine dunkle Jeans und einen grünen Pullover in die Hand, ebenso ein Paar Boxer und neue Socken. „Die sollten passen!“, meint er nun schon wieder mit seiner gewohnten, selbstsicheren Stimme und grinst milde. „Danke...“, murmele ich und mache auf dem Absatz kehrt. „Halt!“, ertönt seine Stimme umgehend. Unmittelbar landet seine Hand auf meiner rechten Schulter und ich erstarre erneut wie eine Salzsäule; ganz nah ist Christian mir jetzt, ich kann sogar seinen warmen Atem in meinem Nacken spüren. Noch 'schlimmer' wird es, als seine Handfläche über mein rechtes Schulterblatt streicht – total vorsichtig, behutsam. „Wow“, murmelt er. Natürlich. Mein Tattoo. „Das sieht echt scharf aus.“ Scharf. „Äh, danke!“ Ich reiße mich los und eile ins Bad. Erneut kann ich erst ausatmen, als ich die Tür hinter mir schließe. Mein Herz rast und wo er mich berührt hat, brennt es angenehm. Scheiße! Ich muss hier raus. Ich muss hier echt raus! Die Klamotten passen, nicht perfekt, aber das ist scheißegal. Sie sind trocken. Mein nasses Bündel schnappe ich mir und laufe damit in die Küche, in der Christian auf mich wartet und mir prompt einen Müllbeutel dafür gibt. „Ich glaube kaum, dass du die behalten willst“, witzelt er und ich nicke. Mein Blick streift die Welt da draußen. Es gießt wie aus Kübeln, der Himmel ist immer noch dunkel, beinahe schwarz und es donnert wieder so laut, dass mir wirklich ein wenig mulmig zu Mute wird. „Ich hab' uns was gekocht. Bei dem Wetter“, hier zeigt er auf das Fenster. „Lasse ich dich bestimmt nicht gehen“, beendet er dann seinen Satz und hievt den Wok auf den Tisch, auf dem schon zwei chinesische Schüsseln bereitstehen, zwei Sätze Stäbchen, etwas zu trinken. „Das hat mein Bruder gestern für mich gekocht, ist echt lecker“, erklärt er und setzt sich, sieht mich irgendwie erwartungsvoll an. Die Rädchen in meinem Kopf rattern. Ich bin immer noch total verwirrt und kann nicht wirklich etwas mit meinen Gefühlen anfangen. Doch als es schon wieder so donnert und gleichzeitig auch noch mein Magen knurrt, setze ich mich – und es schmeckt wirklich lecker. Ente, mit viel Gemüse und chinesischen Nudeln. „Mein Bruder ist so ein geiler Koch“, erzählt Christian mir, während wir beide essen. „Ich profitiere nur davon. Ich bin ja nicht ganz so der Zauberer, wenn's ums Kulinarische geht... Ich kann mir gerade so Nudeln zubereiten. Oder Milchreis. Wobei der bei mir immer angekokelt ist.“ Ich muss grinsen. Und Christian redet einfach weiter. „Der hat mir ja sogar schon nen Kochkurs geschenkt, damit ich nicht umkomme, wenn ich alleine wohn, damals noch in Berlin, ich hab da ja meinen Bachelor gemacht, aber ich mag die Stadt nicht, ich hab's lieber etwas kleiner. Und Meilin auch.“ „Ist sie auch vorher in Berlin gewesen? Meine Eltern sind jetzt da, haben nen zweiten Fotoladen aufgemacht.“ „Irgendwie machen Meilin und ich fast alles zusammen“, meint er lachend. „Sie ist echt ne coole Frau. Ich glaube, sie würde sich gut mit deiner Karolina verstehen. Auch wenn sie absolut nicht auf Frauen steht...“, fügt er grinsend an und ich beiße mir auf die Zunge. Christian steht auf Frauen. Christian steht auf mich. Seltsam, das Ganze... Ich stocher in dem Rest Nudeln herum. Ich bin satt. „Hey, lass uns mal ins Wohnzimmer gehen, da ist es gemütlicher. Ich mach uns noch nen geilen Chai-Tee, was hältst du davon?“, schlägt er dann plötzlich vor. Nein, ich möchte lieber nach Hause gehen. „Klar.“ Das Sofa ist dunkelrot und weich. Christian bringt nicht nur Tee mir, sondern wirft mir auch noch eine Decke zu. Man könnte sagen, wir machen es uns so richtig gemütlich. Auch wenn genügend Distanz zwischen uns ist, sodass sich meine Nervosität in Grenzen halten kann. „Ich war mal mit einem Mädchen zusammen, dass Karolina total ähnlich sah“, fängt er plötzlich an zu erzählen und ich spüre, wie ich mich bei seinen Worten ein wenig verkrampfe. Eigentlich sollte mich das nicht überraschen, diese Tatsache, dass er mit Frauen zusammen war; schließlich habe ich ihn die gesamte Zeit über als reinen Weiberhelden gesehen, tue es noch immer. Aber diese eine bestimmte Tatsache – diese eine Silbe: bi – und der Fakt, dass Christian auf mich steht, gestalten diese Situation doch irgendwie anders. „aber das hat nicht lang gehalten. Ist bei Meilin auch so. Sie verliebt sich total schnell und meint dann immer, der Kerl sei die Liebe ihres Lebens und im Endeffekt ist nach ein paar Monaten dann einfach wieder Schluss.“ „Hört sich ja fast so an, wie bei ziemlich vielen schwulen Pärchen“, scherze ich vage. „Ja, und du mit deinen sieben Jahren Beziehung bist natürlich dafür das beste Beispiel“, lacht er laut und ich schweige einfach nur. „Sorry, das sollte nicht böse sein“, fügt er beschwichtigend ein. „Ne, ist schon okay“, meine ich und schlucke diese Leon-Gefühle einfach hinunter. „Meine längste Beziehung mit einem Mann war... hmmm“, überlegt er und ich ertappe mich dabei, wie ich nervös mit meiner Decke spiele. Weil das jetzt wieder so real ist, dieses bi. Christian mit einem Mann. Es stimmt. „Zwei Jahre“, kommt er zum Schluss. „Ja, genau, zwei Jahre, als ich fast 20 war, war das.“ „Wie alt bist du überhaupt?“ „Ich bin jetzt fast 24“, entgegnet er. Also fast vier Jahre jünger als ich. Ich nicke still. „Na, bin ich dir zu jung?“, scherzt er und mein Herz macht einen kleinen Sprung. Diese Suggestion... Als wenn ich überhaupt in Erwägung ziehen würde, etwas mit Christian anzufangen. Meine Reaktion wartet er nicht ab, stattdessen spricht er einfach weiter, so als wäre nichts gewesen. „Meine längste Beziehung mit einer Frau war knapp ein halbes Jahr, vielleicht auch nur drei, vier Monate. Das war danach, in Berlin. Sie hatte mich dann betrogen und irgendwie, naja... Ich muss auch ehrlich sagen, dass mir das ziemlich recht kam, weil ich ihr nie gesagt hatte, dass ich auch auf Männer stand und dann im Endeffekt erfahren habe, dass sie eigentlich ziemlich homophob war. Das hatte sich während des eines Jahres gar nicht so gezeigt, muss ich ehrlich sagen, aber wir haben uns auch nur an den Wochenenden gesehen, weil sie halt woanders studiert hat und noch so viele andere Sachen nebenbei gemacht hat. Ich war dann ganz froh, dass sie nicht die Wahrheit über mich wusste.“ Mein Hirn arbeitet. Das bedeutet also, dass seine Bindungen mit Männern im Durchschnitt länger sind, oder was? Aber steht er jetzt mehr auf Frauen, oder mehr auf Männer oder auf beide gleich viel? „Wie viele Beziehung hattest du denn?“, frage ich stattdessen. Warum auch immer. „Mit Männern oder mit Frauen?“, scherzt er und als sich unsere Augen treffen, bemerke ich auch wieder dieses leicht schelmische Grinsen auf seinem Gesicht. Was ihn so attraktiv macht. Und trotzdem befällt mich dieses leicht beklemmende Gefühl bei dieser Äußerung. „Mit... beiden.“ Christian seufzt und starrt kurz die Decke an, nimmt einen Schluck seines süßen Tees. „Nicht so viel, ich meine... deine Beziehung schlägt das nie“, sagt er ernst. „Ein Mal halt diese zwei Jahre, dann ein Jahr eben mit Katrin, und dann davor ein paar Monate hier und da, ein Mal mit nem Mann und ein Mal mit ner Frau und sonst, naja....“, etwas verlegen kratzt er sich am Hinterkopf. „Sonst hatte ich halt nur One-Night-Stands oder halt Affären, damals in Berlin.“ Wir schweigen. Dann sagt Christian plötzlich: „Aber davon habe ich genug. Ich will was Festes.“ Und seine grünen Augen liegen dabei auf mir; es ist ein eindringlicher Blick, der keinen Raum für Interpretationen zulässt. Mir wird warm und kalt zugleich, es fühlt sich so an wie Schüttelfrost, dann wie Fieber und meine Finger umklammern die halbvolle Teetasse. Plötzlich muss ich an seine Worte denken: „Ich glaube, du bist unsterblich in mich verliebt, aber du checkst es noch nicht.“ Am liebsten will ich einfach nur weglaufen. Jedenfalls will das ein Teil von mir. Und der andere? Man weiß es nicht so genau. Er spricht eine andere Sprache, die mir fremd scheint. „Und du?“, fragt Christian mich plötzlich und ich bekomme keinen Ton raus. „Du hattest... eine sehr lange Zeit mit Leon. Das ist irgendwie echt krass. Ich glaube, ich kenne niemanden, der so lange mit seinem Partner zusammen war. Wie war das eigentlich bei euch? Wart ihr plötzlich zusammen, oder... ich meine, Leon meinte, ihr kennt euch seit ihr Kinder seid und wart irgendwie immer zusammen.“ „Ich... wir.... Weißte, eigentlich habe ich gar keine Lust, über Leon zu reden“, sage ich schließlich. Und es ist die absolute Wahrheit. Eine Wahrheit, die mich überrascht, weil ich nicht über Leon reden, weil ich wirklich keine Lust habe; weil es heute tatsächlich nicht mit diesen Schmerzen in mir zu tun hat. Mir ist einfach nicht danach – weil ich Christians Vergangenheit momentan irgendwie spannender finde. Wow. Ich schaue Christian wahrscheinlich gerade wie ein Auto an, weil ich so überwältigt bin von dieser Feststellung. „Ähm, hab ich was Falsches gesagt?“, hakt er vorsichtig nach. „...nein, hast du nicht“, sage ich umgehend und lächel. „Also, ganz kurz: Leon war bis jetzt mein einziger Freund. Und auf Frauen steh' ich gar nicht. Ende.“ Christian lächelt ganz sanft und ich genehmige mir einen Schluck Tee. „Ähm...“, setze ich an und überlege, wie ich es am besten formulieren könnte. „Wie ist'n das so, wenn man auf beides steht?“ Dümmer und noch vager hätte ich es auch nicht sagen können. Christian lacht. Dann zuckt er mit den Schultern. „Also, irgendwie ist das nicht unbedingt leichter, als schwul zu sein, weil, naja, es gibt halt super viele Frauen, die nicht damit klarkommen, dass ihr Freund eben auch manchmal Kerlen hinterher guckt und es gibt, auf der anderen Seite, eben auch genügend schwule Männer, die können dann die Vorliebe für Frauen nicht nachvollziehen. Und es ist auch nicht gerade leicht, jemanden zu finden, der genauso drauf ist.“ „Samma...“, ich rutsche auf dem Sofa herum. „Ist das so nach dem Motto: wow, ich hab jetzt Lust auf ne Frau, oder nen Mann? Oder passiert das einfach so, dass du dich verguckst und dann ist es eben n Mann oder ne Frau?“ „Wow, gute Frage, ich hab das noch nie so analysiert. Ich glaube, das ist wirklich so, dass ich mich halt vergucke und dann macht es BÄM und erst dann realisiere ich, dass es, in diesem Fall zum Beispiel, ein Mann ist...“ Schon wieder schaut er mir tief in die Augen und ich bemerke durch diesen Blick erst, wie nahe ich ihm eigentlich gerutscht bin. Ich lehne mich zurück und schaffe wieder etwas Raum zwischen uns. Christian bewegt sich nicht, grinst einfach nur ganz sachte. O Mann, ich habe gerade tatsächlich so etwas wie großes Interesse an seinem Leben gezeigt. Und er zeigt großes Interesse an mir. Fuck. Was mache ich jetzt? Ich sehe aus dem Fenster. Es regnet noch immer – aber der Himmel ist lichter geworden. Wann hat es das letzte Mal gedonnert? „Ich muss los.“ Bevor ich auch nur länger darüber nachdenken kann, gewinnt das scheue Kaninchen in mir und ich springe regelrecht auf. Gleichzeitig mit mir erhebt Christian sich. „Ich rufe dir ein Taxi“, verkündet er und läuft schon zum Telefon und während er wählt und seine Adresse aufsagt, komme ich nicht umhin, seinen Körper zu scannen, den Rücken, den Hintern, seine Arme. Hammer Body. Karolinas Stimme ertönt in meinem Hinterkopf, der Satz, mit dem sie mich beim Freiluftkino vor den Kopf gestoßen hat: „Du findest ihn verdammt heiß.“ Es ist nur der Körper. Er ist nun mal attraktiv. Heute hat er sich zusammengerissen und mal nicht so viele dumme Sprüche gerissen. Na und? Jeder kann sich mal verstellen. Er bringt mich zur Tür. „Und, wie lautet dein Fazit?“, fragt er. Ich zucke mit den Schultern. „War witzig.“ „Das meinte ich nicht“, sagt er etwas leiser und sein Blick ist erneut so intensiv. „Was... meinst du dann?“ „Ich meinte dein Fazit zu mir...“ Abermals setzen sich die Rädchen in meinem Kopf in Bewegung und quietschen und rattern und des Resultat ist alles andere als aufschlussreich, denn sie liefern mir keine Antwort, sondern lediglich ein Gefühl, das ich mittlerweile schon sehr, sehr gut kenne: Nervosität. „Äh...“, setze ich an, da vibriert es in meiner Tasche, was mich erst recht aus dem Konzept bringt. „S-sorry“, murmele ich und fische mein dämliches Mobiltelefon aka Smartphone aus der Tasche, was nicht gerade einfach ist; als es in meiner Hand liegt, ist der Anruf schon vorbei. „Oh, das war Leon“, murmele ich völlig geistesabwesend, da packen mich zwei Hände an meinen Schultern und drängen mich mit einer einzelnen Bewegung gegen die Wand; mein Rücken kommt in diesen harten Kontakt und nur für wenige Millisekunden erhasche ich einen Blick in dieses seltsam leuchtende Grün – dann schon küsst Christian mich. Mit allem drum und dran. Mit weichen, warmen Lippen, mit seiner heißen Zunge, mit leicht neckenden Zähnen. Als mein Bewusstsein einsetzt, so als wäre ich eigentlich komplett weggetreten, ist der Kuss schon vorbei und Christian hält mir die Wohnungstür offen. Er räuspert sich. Shit, ich hab gerade total mitgemacht... „Komm gut nach Hause, ja?“, meint er milde und ich nicke einfach nur. Mit wackeligen Knien steige ich die Treppenstufen hinab, husche in das Taxi, sage meine Adresse auf und starre aus dem Fenster. In mir ist es leer. Einfach nur leer. Ich starre auf das Display und sehe Leons Namen. Ich bin verwirrt. Absolut unendlich scheiße verwirrt. Und Morgen hat schon Ben Geburtstag. Fuck. Samstag, 16. August Mein Hirn ist absoluter Matsch. Keine Ahnung, was das mit Christian war. Keine Ahnung, was das mit Leon soll. Wo ist der Notausgang, bitte? Manu Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)