Whiskey und Schokolade von SummoningIsis ================================================================================ Kapitel 4: Skaten für Anfänger ------------------------------ Ich schlafe erstaunlich ruhig und erwache seltsam ausgeschlafen. Sogar vor dem schrillen Weckerklingen bin ich schon auf den Beinen, dusche eilig und gehe der Kaffeemaschine geplant aus dem Weg, um eine Wiederholung des gestrigen Desasters zu vermeiden. Stattdessen bereite ich mir einen Earl Grey zu. Dieses Getränk wird mich ebenfalls wach halten. Schwarztee mit Milch und Zucker. So liebe ich es. Mein Mitbewohner betritt den Raum. Ben bleibt stehen, verzieht sein Gesicht, als er meinen Becher auf dem Tisch ansieht. „Buah“, raunt er einfach nur und tritt kopfschüttelnd an die Kaffeemaschine. Dass sie mir gestern die halbe Küchenzeile eingesaut hat, habe ich ihm verschwiegen. Während ich mein Käsebrot mampfe, betrachte ich das braune Getränk, das langsam den Riesenbecher meines Mitbewohners füllt. Dann läuft die koffeinhaltige Flüssigkeit über. Und Ben flucht, schmeißt fast seinen Stuhl um, als er aufspringt, um die Maschine hastig auszuschalten. Ich lache in mich hinein. „Scheißding“, murmelt er, die Küchenzeile abwischend. „Die ist wohl irgendwie schrott.“ Ich trinke meinen warmen Tee. „Wo arbeitest du heute eigentlich?“, frage ich Ben, als er mir wieder gegenübersitzt. Er streicht sich durch sein strubbeliges blondiertes Haar. Noch hat er es nicht in Form gebracht. „Heute ist Dienstag… also Complete Fitness zuerst und dann Bodypoint.“ „Zwei Studios an einem Tag?“ „Das ist ganz simpel. Dienstag bis Donnerstag und samstags arbeite ich von morgens bis halb zwei und dann von fünf bis neun im Bodypoint. Montags und freitags bin ich nur im Bodypoint bis zum frühen Abend oder wie auch immer meine Schicht ist. Das ist alles sehr spontan, nur die Kurse bleiben gleich, also ist das so in etwa mein Plan. Den kannst du dir doch merken, oder?“ Nach einer kurzen Weile antworte ich ehrlich: „Nein.“ Ben lacht. „Diesen Mittwoch habe ich frei, deswegen können wir abends auch Skaten gehen“, erklärt er noch. Dann mache ich mich auf den Weg. Anton schließt gerade den Laden auf, als ich Carry auf den reservierten Parkplatz direkt vor unserem Studio zum Stehen bringe. Er wartet, bis ich an die Tür getreten bin, begrüßt mich mit einem freundlichen Lächeln. Dann drückt er mir einen neugefertigten Schlüssel in die Hand. „Für den Laden“, erklärt er mir, als ich das Objekt in meiner Hand betrachte. „Der ist erst heute fertig geworden, sonst hättest du ihn schon direkt am Montag bekommen.“ Ich grinse. „Jetzt bin wichtig“, sage ich, während wir den Laden klar für das heutige Geschäft machen. Die ersten Stunden sind wir allein. Es ist nicht viel los. Sören ruft kurz an und fragt, ob er nicht doch vorbeikommen sollte, sein Fieber sei abgeklungen. Allerdings hört sich der Mann immer noch fürchterlich an und ist bis kommenden Montag krankgeschrieben. Also sage ich ihm kameradschaftlich, dass er die Klappe halten und zuhause bleiben soll. Ich starre das Telefon an. Dass es Zeit ist, meine Eltern anzurufen, weiß ich nur all zu gut. Und so wähle ich die Nummer ihres Berliner Ladens. Es ist meine Mutter, deren hektische Stimme an der anderen Leitung erklingt. „Hey, Ma!“, begrüße ich sie. „Manuel!“, ruft sie begeistert aus. „Das wird aber auch Zeit, echt. Sag, wie geht es dir? Wie war es?“ Ich höre irgendwelche gedämpften Schreie im Hintergrund und meine Mutter seufzt laut. „Hier ist gerade die Hölle los“, erklärt sie mir, bevor ich auf ihre Frage antworten kann. „Unsere Software hat ihren Geist aufgegeben, das ist schon der zweite Tag, an dem der IT-Mensch versucht alles zu retten! Und es funktioniert einfach nicht!“ „Das ist schlecht…“ „Ja! Allerdings. Aber die 10 Minuten, um kurz mit meinem Sohn zu quatschen, nehme ich mir jetzt einfach. Also. Erzähl. Ah, Grüße von Papa!“ „Danke, grüß ihn auch ganz lieb von mir. Es war sehr gut. Aber, äh, das Wichtigste hatte ich dir in den Postkarten geschrieben.“ Dennoch erzähle ich eine kleine Anekdote aus den USA und berichte ihr auch von den tollen Fotos aus New York. Meine Mutter erkundigt sich nach unserem Laden und spricht Mitleid aus, als sie erfährt, dass Nina und Sören ausgefallen sind. Sie fragt nach Anton und wir unterhalten uns kurz kichernd über Anja. Erst am Ende spricht sie mich auf das Thema an. „Wie sieht es denn jetzt zwischen dir und Leon aus?“ Ihre Stimme ist sanft. Es ist eine behutsam gestellte Frage. Dennoch muss ich seufzen, weil ich daran denke, dass ich ihn gleich anrufen muss, um unseren Kaffee abzusagen. „Ganz gut. Das Jahr hat geholfen. Die Freundschaft ist uns beiden total wichtig“, entgegne ich. „Mhm“, macht meine Mutter. „Das ist schön. Wirklich. Ihr kennt euch ja auch so lange. Bea hat mir letztens auch erzählt, wie wichtig eure Freundschaft für Leon ist. Er hat auch ziemlich gelitten, als du weg warst, weißt du? Also sei nett zu ihm, ja?“ Mein Herz klopft wie verrückt. Leons Mutter hat das gesagt? „Äh, ja. Klaro“, murmele ich. Er hat auch ziemlich gelitten, als du weg warst…? Leichte Verwirrung erfasst mich nach diesem Telefonat. Trotzdem wähle ich direkt danach Leons Nummer. Wahrscheinlich, um nicht länger über diese Worte nachdenken zu müssen. „Hey Manu!“, grüßt er mich. „Ja, hallo. Du, ich muss dir für morgen absagen, sorry! Mir ist da was zwischen gekommen.“ Dieses Mal ist Leon not amused. Das erkenne ich an diesem langgezogenen Seufzer direkt nach meiner kleinen Offenbarung. „Und was?“, fragt er mit dieser Stimme, mit der er mir immer seinen Ärger über mich signalisiert hatte. „Ben. Der hat da was organisiert und ich konnte ihm einfach nicht absagen.“ Erneut dieser Seufzer! „Dann nächsten Mittwoch?“, fragt er dann träge, mit diesem wütenden Unterton, den er gern verbergen würde, es allerdings nichts schafft. Ich grinse, auch wenn ein großer Teil meiner selbst sich dabei äußerst infantil vorkommt. „Ja, sehr gern“, antworte ich ihm also zuckersüß und Leon seufzt ein drittes Mal. „Okay“, fasst er zusammen. „Nächsten Mittwoch im Sphinx um 14 Uhr.“ „Jepp!“ „Wir sehen uns Samstag. Oh, das war ja eine Überraschung“, lässt er seinen Sarkasmus spielen und ich schmunzele. „Bis dann.“ Ich frage mich, wie ich mich jetzt fühlen sollte und komme nicht wirklich überraschend zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Es ist Mittagszeit. Der Weg führt uns wieder zum Italiener. Wir hätten auch zum Chinesen gehen können, oder zum Inder oder zu den anderen Restaurants, von denen es hier etwa ein Dutzend in dieser Straße gibt. Unser Laden liegt ziemlich günstig. Eine der Hauptbuslinien verkehrt hier in diesem Wohnviertel. Unsere Straße bildet sozusagen ihr Zentrum, mit Einkaufmöglichkeiten und zahlreichen Bars. Anja wartet schon auf uns. Wir haben sogar einen reservierten Tisch. Heute ist es voll. Wir bestellen Pasta. Sie schmeckt vorzüglich. „Ich hab deine Daten schon mal in der Redaktion weiter gegeben“, eröffnet mir Antons Freundin. Die Bilder hatte ich ihr gestern noch per Email geschickt. „Cool, ich danke dir dafür!“ „Ich kann allerdings nicht viel versprechen… Ich bin ja nur die Webdesignerin“, fügt sie grinsend hinzu. „Vielleicht ist mir Fortuna einfach mal hold“, murmele ich. „Ich drücke die Daumen!“, gibt Anton hinzu. Wir betreiben Smalltalk und ich stelle fest, dass ich Anja ziemlich mag. Sie erzählt ein bisschen von ihren Kolleginnen. Ein bisschen von ihrer Familie, die weit weg zu wohnen scheint. Sie ist auch ein Familienmensch. So wie wir. Ich bemerke, wie ich nach dem Telefonat mit meiner Mutter so etwas wie Traurigkeit verspüre. Ich hatte Angst sie anzurufen – wegen des Themas – aber ich muss mir nun auch eingestehen, dass ich froh bin, die Stimme meiner Ma gehört zu haben. Ich freue mich schon auf meinen Besuch im kommenden Monat! „Wie läuft’s denn so mit Ben?“, fragt Anton mich. „Ganz gut. Wir sind ein eingespieltes Team, auch wenn wir erst so kurz zusammen wohnen.“ „Wie lange kennst du deinen Mitbewohner denn schon?“, möchte Anja interessiert wissen. „Schon seit vier Jahren…“, entgegne ich und entscheide mich, ihr eine Kurzversion der Kennenlerngeschichte mit meinen Jungs zu geben. „Als Leon und ich halt gemerkt hatten, dass wir, naja, wirklich schwul sind, ist uns auch aufgefallen, dass wir sonst niemanden kennen, der genauso tickt wie wir. Unser damaliger Freundeskreis bestand halt nur aus pseudo-harten Kerlen, die das Wort „schwul“ nicht mal in den Mund nahmen. Das war ein bisschen ätzend. Auch wenn sie nie irgendwie aggressiv oder handgreiflich oder so was geworden sind. Sie haben uns aber bei ganz vielen Sachen einfach übergangen, wenn die über potenzielle Beziehungen und so geredet haben, damit wir bloß nichts von Schwulen erzählen konnten.“ Anja schüttelt den Kopf und ich lache nur. „Naja, Leon und ich haben dann angefangen, wie soll ich sagen, in die Szene zu blicken und sind öfters weg. In einschlägige Bars…“ Ich grinse dabei. „Wir wollten einfach Leute kennenlernen, mit denen wir als wir selbst feiern und abhängen konnten, weißt du?“ Zuerst haben wir Ole und seine Leute kennen gelernt. Dadurch dann auch irgendwann seinen guten Freund Mike. Als ich von den beiden erzähle, muss ich lachen, weil ich an ihre ständigen Streitereien denke, seitdem sie zusammen sind. „Ben ist vor knapp vier Jahren aufgetaucht in der Stadt und wollte sich zuerst an einen Freund von Ole ranmachen. Daraus ist nix geworden, aber er ist bei uns hängengeblieben. Gott sei Dank“, beende ich meine kleine Erzählung. Anja ist zufrieden. Der Rest des Tages verläuft etwas hektisch und Wiebke kommt auch noch viel später als geplant. Erschöpft schleppe ich mich irgendwie nach Hause. Ben ist noch nicht da. Ich gönne mir ein Glas Whiskey und dieses warme Gefühl in meinem Bauch tut unheimlich gut. Ich atme aus. Nasche etwas Schokolade, knipse den Fernseher an und schlafe letztendlich ein. Als ich die Augen öffne, ist Bens Gesicht direkt über meinem und er schreckt mich mit einem lauten „BUH!“ auf, sodass ich fast aufspringe, wie ein dämliches Kaninchen. Mein Mitbewohner lacht sich schlapp und ich schüttele grinsend den Kopf. „Arsch“, beschimpfe ich ihn und er räumt mein Whiskeyglas weg. Später sitzen wir noch zusammen auf dem Sofa und er erzählt mir von einem neuen Typen im Bodypoint, einem Kollegen, der heute erst angefangen hat und auf den mein Mitbewohner nun scheinbar ein Auge geworfen hat. Ich lächele. Vielleicht klappt es ja endlich mal bei Ben. Ich kenne ihn nur als Single. Bis auf die dreimonatige Phase mit Tim vor zwei Jahren… Und Ben kennt mich nur als Beziehungsmenschen. Sieben Jahre. Leons Stimme schleicht sich direkt in meine Gedanken. Ich entscheide mich, einfach schlafen zu gehen. Doch die Nacht ist alles andere als erholsam. Ich träume von meinen Großeltern, die seit zwei Jahren nicht mehr unter uns weilen. Es sind Erinnerungen aus meiner Kindheit, vermischt mit der Gegenwart und absurden Handlungsabläufen, wie sie nur in Träumen entstehen können. Ich wache öfters auf, streife auf Zehenspitzen durch die Wohnung, wische mir den kalten Schweiß aus der Stirn. Meine Tiefschlafphase beginnt unmittelbar vor dem furchtbaren Klingeln des Weckers. Ein ebenso abscheulicher Tag beginnt. Ben war so freundlich einen Zettel mit der dicken Aufschrift „kaputt“ auf die Kaffeemaschine zu kleben. Ich grinse, dusche ausgiebig und dadurch viel zu lang, sodass ich mir mein Frühstück im Rennen in den Mund stopfen muss. Der Verkehr heute Morgen ist furchtbar, irgendeine Straße ist wegen einer Baustelle gesperrt, ich stehe im Stau und als ich endlich freie Fahrt habe, krache ich beinahe in den dicken neuen Benz vor mir. Adrenalin pumpt durch meinen Körper und ich zittere sogar ein wenig, als ich Carry unversehrt abstelle. Glück gehabt! Glück habe ich mit meinen Kunden heute allerdings nichts. Ein Ehepaar mit zwei kleinen Zwillingen will ein Foto „für Oma“ machen. Das Problematische an diesem Unterfangen ist aber, dass die beiden Kinder absolut keine Lust haben ‚nett’ für Omi zu posieren und ich trotz all der Tricks, die ich mir im Verlauf der Jahre von meinen Eltern abgeguckt habe, was Kinderfotografie angeht, die beiden nicht beruhigen kann. Sie tanzen mir auf der Nase herum und Herr Papa wird langsam richtig sauer, die Frau Mama hysterisch. Nach einer Schreiattacke der Mama schaffe ich es endlich ein passendes Foto zu knipsen. Die Kinder lächeln gequält, aber Papa ist zufrieden, weil er „diesen Mist endlich hinter sich“ hat. Ich bin überglücklich, als sie den Laden verlassen. Das nächste Kind schicke ich direkt zu Anton. Mein Bruder hat Glück und sogar richtig Spaß mit dem kleinen Blondschopf. Ich verfluche die Familie der Zwillinge. Ich unterhalte mich mit Wiebke über Kinder. Ihre Schwester ist gerade schwanger und geht ihr mit ihrem Kinderwahn auf die Nerven. Lästern tut gut. Ich habe nichts gegen Kinder. Aber ich weiß nie so recht, wie ich mit ihnen umgehen soll, wenn ich sie nicht als Objekt vor der Kamera habe. Bei Leon ist das anders. Seine ältere Schwester Sandra hat ein fünfjähriges Mädchen, Emilie heißt die Kleine. Leon kann Stunden mit ihr spielen. Manchmal frage ich mich, wieso er kein Erzieher geworden ist. „Hey, wolltest du nicht los?“, reißt mich Wiebkes Stimme gegen 16 Uhr aus meinen Gedanken. Verwirrt blicke ich sie zunächst an, bis Verständnis sich in mein Hirn schleicht. „Äh, ja.“ Jetzt ist sowieso nicht mehr viel los. Anton nickt mir ebenfalls zu. Er scheint Bescheid zu wissen- Dass ich mich nicht mehr mit meinem Ex treffe muss ich ja nicht erzählen. Mein eigentliches „Meeting“ mit Ben und Michi macht mir allerdings viel mehr Sorgen als ein potenzieller Kaffee mit Leon. Ob ich mich auf diesen fiesen Dingern wohl direkt auf die Schnauze packe, einfach so zur Seite kippe? Auf meinen Gleichgewichtssinn war eigentlich noch nie so recht Verlass. Auf meiner Unterlippe kauend lenke ich Carry durch die Stadt. Das Radio läuft, irgendein Chartlied, das ich heute schon fünf Mal gehört habe, dringt aus den Autoboxen. Leons Stimme in meinem Kopf übertönt es dennoch nicht. Und dann sind da noch die Worte seiner Mutter, die meine Ma mir heute mitgeteilt hat. Er hat auch ziemlich gelitten, als du weg warst, weißt du? Was soll ich darüber denken? Klar, natürlich vermisst man seine Freunde. Ich hab Ben und den ganzen Rest ja auch vermisst. Leon und ich kennen uns nunmal am längsten. Wir sind seit unserer Kindheit befreundet. Natürlich verbindet uns ein besonderes Band, das auch nach dem Ende unserer Beziehung nicht zerrissen worden ist und auch nicht zerrissen werden kann. Aber wieso schlägt mein Herz dann gerade jetzt auf diese ganz spezielle Art und Weise? Just in diesem Moment beginnt Scar Tissue. Ich möchte meinen Kopf gegen das Lenkrad hauen. Nun bin ich es, der seufzt. Leon hatte schon mindestens zwei Kerle nach mir. Leiden am Arsch! Time to move on, Manuel, verdammt nochmal! Michi öffnet mir die Tür, noch bevor ich den Schlüssel ins Loch stecken kann. „Na, du!“, begrüßt er mich fröhlich und zieht mich in eine feste Umarmung. „Schön, dass du mitmachst, ich freu mich schon total!“ „Hey, ich hatte keine Wahl“, entgegne ich ihm augenrollend und er lacht einfach nur. „Ich war heute schon den ganzen Tag unterwegs und habe leckere Sachen für unser gemeinsames Essen heute Abend gekauft. Als Wiedergutmachung für dich quasi“, scherzt er. „Bist du eigentlich nie an der Uni?“, frage ich unseren Nick Carter daraufhin. „Du bist doch nur neidisch auf mein Studentenleben“, gibt er grinsend zurück. Ben springt mich fast schon an, als ich einige Minuten später ins Wohnzimmer trete und meinen beiden Freunden erkläre, ich sei bereit für meinen sportlichen Tod. Er klopft mir auf die Schulter und drückt mir einen Beutel mit Gelenkschützern in die Hände. „Mit unseren Anweisungen und diesen Babies hier, sollte dir eigentlich nichts passieren“, spricht er mir zu. Ich nicke. Meine Zweifel sind nicht beseitigt. Wir nehmen Bens Kleintransporter und fahren zum größten Park der Stadt. Hier tummeln sich im Sommer wirklich alle. Sie treffen sich zum Eisessen, Picknicken, abhängen oder zum illegalen Baden in den zwei kleinen künstlichen Seen. Die Wege sind gepflastert und gepflegt. Viele fahren Fahrrad oder sind eben so bekloppt, sich diese Schlittschuhe für den Straßengebrauch umzuschnallen. Was tut eigentlich mehr weh, aufs Eis zu fallen, oder eben auf den Asphalt? Wir nehmen Platz auf einer Parkbank, entledigen uns unserer Straßenschuhe, die Michi und Ben in ihre Rucksäcke verstauen. Die beiden zeigen mir, wie ich die Gelenkschützer umzulegen habe – wenigstens das klappt ohne weitere Probleme. Als Ben mir jedoch in die Inliner hilft, spüre ich bereits, dass das alles mächtig schief laufen wird. „So, steh erstmal vorsichtig auf. Die Balance zu halten ist eigentlich total easy. Nicht nach hinten lehnen, geh ruhig ein wenig in die Knie und versuch ein Gefühl für die Räder zu bekommen“, fordert Ben mich auf. Die Beiden stützen mich, als ich mich erhebe – und fast unmittelbar umkippe. Balance am Arsch! Ich fühle mich eher so, als würden meine Beine unkontrolliert nach links und rechts ausscheren, als hätte sie jemand von meinem Körper abgetrennt! Nach Minuten der Hölle stehe ich endlich ruhig. „Na siehste!“, sagt Michi zufrieden und ich seufze genervt. Ben erklärt mir, wie ich mich bewegen soll. „Gleiten, Manu, gleiten...“, wiederholt er wie ein Mantra, während er leicht davon fährt und wieder zurück gerollt kommt. „Gewicht immer auf eine Seite verlagern, und wieder zurück...“ Wieder macht er es vor. „Ist echt einfach!“, sagt auch Michi. „Bevor ich mich auf diesen Dingern auch nur einen Millimeter bewege, sagt ihr mir, wie ich bremse!“, fahre ich die beiden an und bringe sie zum lachen. „Du siehst aus wie ein panisches Kaninchen“, bemerkt Ben. „Hab ich letztens erst irgendwo gehört...“, murmele ich, auf die Rollerblades an meinen Füßen starrend. „OK, hör zu“, setzte er an und zeigt mir, wie ich die angekoppelte Bremse am rechten Inliner benutzen kann, wie ich leicht in die Knie gehe, meine Hände zunehmend noch am Oberschenkel abstützen kann, und den Fuß leicht nach hinten anwinkele, damit die Bremse greift. Die ziemlich laut ist. Aber scheinbar funktioniert. Die ersten Versuche sind... grauenhaft. Zwar verspüre ich so eine Art Glücksgefühl, als ich „dahin gleite“, beim ersten Bremsen schaffe ich es jedoch nicht anzuhalten und lege mich vor lauter Panik direkt auf den Allerwertesten. Ich bin überzeugt, dass Asphalt mehr weh tut als Eis. Ich weiß nicht, wie lange die beiden auf mich einreden, mich festhalten, mir zurufen, mir Dinge immer und immer wieder vormachen, aber ich kann sagen: es dauert lange! Zudem müssen sich Michi und Ben dabei immerzu ein Lachen verkneifen, was ich ihnen nicht wirklich übel nehmen kann. Aufregen tut es mich trotzdem Ich fühle mich immer noch nicht so richtig sicher, als wir den breiten Weg, den größten im Park, langsam entlang rollen. „Ja, das ist super, Manu!“, ruft Ben mir zu, der einige Meter vor mir fährt und sich immer mal wieder umdreht. „Ich muss mich mal eben austoben, bin gleich wieder da, du packst das schon, fahr einfach langsam geradeaus!“, ruft er mir noch zu und düst vorweg. Ich schlucke. Wenigstens Michi ist noch... Wo ist Michi? Als ich leicht aufgedreht meinen Blick über die ganzen Leute hier wandern lasse, erblicke ich ihn nicht und packe mich ein weiteres Mal fast auf die Schnauze. Ich fluche. Leise - aber beständig. „Doofe Idee, doofe Idee, doofe Idee“, hallt es wie ein Manta durch meinen Kopf. Es wird noch schlimmer. Denn der Weg wird regelrecht von allen Besuchen in Beschlag genommen. Kinder auf ihren roten und blauen Mini-Rädern kommen mir entgegen, die im Radfahren ungefähr so talentiert sind wie ich auf diesen Dingern hier; Spaziergänger latschen zu langsam in beide Richtungen, in den Himmel starrend, andere Skater überholen mich rasant und so langsam verliere ich den Überblick und so etwas wie Panik erfasst mich; ich verkrampfe mich, die eben noch fast geschmeidigen Bewegungen werden mechanischer und unkontrollierter; ich vergesse, wie ich bremsen kann – und im nächsten Moment werde ich schon zurückgeschleudert, weil ich gegen irgendetwas pralle; meine Brust tut leicht weh, doch der pochende Schmerz in meinem Hinterteil wächst zur dominanten Empfindung. Ich höre einige Männer lachen. Ich bin so sauer auf die Gesamtsituation, dass ich mir regelrecht auf die Zunge beißen muss, um nicht mit Wut verzerrter Stimme meinen Ärger hinauszuschreien. Das Etwas, mit dem ich zusammen gestoßen bin, steht schon wieder auf. Zwei Sekunden verstreichen und der Fremde beugt sich auch schon über mich. Aus meinem Augenwinkel erkenne ich, dass er mir seine Hand entgegen hält. Ich blicke hoch. „Alles OK?“, fragt der junge Unbekannte mich, die Lippen zu einem angenehmen Grinsen gekräuselt. Seufzend ergreife ich die Hilfestellung und er zieht mich hoch. Eine Gruppe von Menschen fährt an uns vorbei und ich komme mir vor, als wäre ich auf einem blinkenden Präsentierteller gestellt worden, den man auf Grund seiner pompösen Aufmachung einfach nicht übersehen kann. Die Situation ist mir fürchterlich unangenehm und mehr als peinlich. Wahrscheinlich bin ich schon völlig rot im Gesicht. Ohne meinem Gegenüber in die Augen zu blicken murmele ich: „Hey, das tut mir voll leid, ich bin blutiger Anfänger. Tut mir echt leid.“ Der Mann lacht. „Macht nichts, jeder legt sich mal auf die Nase“, sagt er und schaut mich noch eine kurze Weile an. „Frohes Üben noch!“, fügt er dann hinzu. Ich erhasche nur einen kurzen Blick auf sein Gesicht. Er grinst noch immer. Das ist alles, was ich registriere. Ich bin froh, als die Gruppe der drei Männer abzieht, als wäre nicht gewesen. „Alles in Ordnung?“, fragt nun auch Ben, der herbeigeeilt ist, und greift meine Schulter, sodass ich ihn ansehe. Auch Michi kommt herangefahren. „Ich hasse euch“, entgegne ich trocken und er fängt an zu lachen. „Weiter?“, hakt Ben nach einer Weile nach und ich seufze, schüttele den Kopf und schnalle mir die Dinger ab. „Für heute habe ich echt genug! Fahrt mich nach Hause und kocht gefälligst für mich!“, schnauze ich ihn und Michi an. Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, wie meine Freunde, die ihr Equipment nun auch abschnallen und unsere Straßenschuhe aus den Rucksäcken fischen, ihr Lachen unterdrücken müssen. Ich bin einfach nur sauer. Deswegen spreche ich auch auf der Fahrt kein Wort. „Der Typ gegen den du geknallt bist, war aber echt heiß“; bricht Ben dann die merkwürdige Stille. „Ach, halt die Klappe!“, fahre ich ihn gereizt an und dann bleibt es auch wieder ruhig Nur Michi scherzt noch: „...geknallt....hr hr“ Ich verdrehe die Augen. Momentan klappt einfach auch gar nichts. Während mein Mitbewohner und Michi die Küche in Beschlag nehmen, gönne ich mir ein richtiges, wohltuendes Schaumbad. Mein Hintern tut immer noch ein bisschen weh und ich fluche leise weiter unter meiner Nase. Bis ich mir selbst eintrichtere, mich endlich zu beruhigen. Das warme, wohlriechende Wasser schwappt über meinen Körper, bedeckt ihn gänzlich. Ich entspanne mich, schließe die Augen. Beinahe schlafe ich sogar ein, wäre da nicht dieses laute Klopfen an der Badezimmertür. „Was?“, raune ich. „Essen ist fertig!“, erklingt Bens Stimme. Wir reden über Michis Studium und seine lustigen Kommilitonen, über Bens neuen Kollegen und eine neue Bar, die übernächstes Wochenende eröffnen wird. Unweit unserer Stammkneipe. Wir beschließen, mit allen hinzugehen. Natürlich drängt sich mir sofort die Frage auf, ob Martin DORT dabei sind wird. Sofort beiße ich mir auf die Zunge. Eigentlich habe ich gar keine Lust mit Ben und Michi über Leons neuen Stecher zu sprechen. Vor allem, da ich doch erst kürzlich meinem Mitbewohner gegenüber trocken behauptet habe, über Leon hinweg zu sein. „Ein Jahr ist Zeit genug“, oder was auch immer ich gesagt habe. Es ist ja auch eigentlich so! Diese verflixte Eingewöhnungsphase. Ich schlafe tief und fest. Die Inliner habe ich in die hinterste Ecke meines Kleiderschranks geworfen. Dort liegen sie verdammt gut, finde ich. Der kommende Tag verläuft ähnlich stressig wie der gestrige. Ich muss schon wieder Familienfotos knipsen und eine Kundin beschwert sich, dass ein Rahmen, den ich ihr verkauft habe, zu groß sei, sieht dabei natürlich nicht ein, dass sie mir die falsche Fotogröße genannt hat. Ich lächele freundlich und tausche den Rahmen für sie um. Sie ist immer noch sauer, als sie mit neuem Fotorahmen abzieht. Ich seufze. Und einige Zeit nach der Mittagspause klingelt plötzlich mein Handy. „Manuel Koschinski“, gehe ich ran. Die Nummer kenne ich nicht. „Hallo, Herr Koschinski, hier spricht Ronald Meier von SMACK“, begrüßt mich eine freudige Stimme. Ich bin engagiert. Als freier Fotograf. „Du hast Glück, unser Freier hat grad gekündigt und wir brauchen immer jemanden, der mal für Willi einspringen kann.“ Willi ist der Hauptfotograf. „Dann viel Spaß am Samstag, ich schicke dir die Details per Mail!“ Als ich zufrieden lächelnd auflege. Schlagartig wird mir jedoch bewusst, dass Samstag doch meine „Überraschungsparty“ stattfinden soll. „Oh, nein!“, fluche ich, gefangen in diesem Dilemma. Den gerade erst von mir zugesagten, und dazu auch noch aller ersten Job, kann ich nicht in der nächsten Sekunde schon wieder canceln. Denn dann werde ich den ersehnten Posten als Freier auch ganz schnell wieder los, oder werde erst mal übergangen. Ich checke meine Emails. Dort sind auch schon die Details des Auftrags, einer kleinen Modenshow der Hochschule für Künste. Eine Charity-Aktion bei der die Designs, die an der Hochschule entworfen worden sind, von Nachwuchsmodels vorgeführt und anschließend verkauft werden, um einem Heimkindern der Stadt etwas Geld zukommen zulassen. Eine süße Geschichte. Und dann kann ich aufatmen. Die Show fängt um 16 Uhr an, damit auch die Heimkinder anwesend sein können wahrscheinlich. Zwei Stunden. Das heißt um 18 Uhr bin ich raus. Ich rufe Ben an. Sein Handy ist aus. Ich rufe Mike an. Er geht nicht ran. Ole antwortet mit einem „Jetzt nicht!“ und legt wieder auf. Michi hat sein Handy zuhause liegen lassen, sein Mitbewohner unterrichtet mich über diese Tatsache am anderen Ende der Leitung. Ich rufe Leon an. „Hey!“, begrüßt er mich fröhlich. „Was gibt’s?“ „Hast du keine Vorlesung?“ „…du rufst an, weil du davon ausgehst, dass ich in der Vorlesung bin und bist jetzt sauer, weil ich Freistunde habe?“, zieht er mich auf. Ich seufze. „Nein, so war das nicht gemeint. Hör mal“, ich räuspere mich. „Wann wolltet ihr eigentlich die Party am Samstag für mich schmeißen?“ „Das ist doch eine Überraschung!“, scherzt er lachend. „Ja ja, ist ja gut.“ Eine Kundin betritt den Raum und ich weiß, dass ich jetzt schnell machen muss. „Sag’s mir einfach ja, ist wichtig wegen einem sehr dringenden Termin, okay? Ich hab grad auch ne Kundin hier.“ Leon schaltet direkt um. „Verstehe, 18 Uhr geht’s los.“ „Ich danke dir, bis Samstag.“ „Ich freu mich!“ Ich freu mich. In diesem liebenswerten, flapsigen Ton, den ich seit Kindertagen kenne… „Hallo, was kann ich für Sie tun?“, trete ich freundlich lächelnd auf die Frau Mitte 30 zu. Zu meiner Überraschungsparty komme ich somit vielleicht eine halbe Stunde zu spät. Damit können die Jungs sicherlich leben. Oder sie verschieben die Party einfach um eine Stunde. Passt perfekt. Ich bin beruhigt. Ruhig vergeht auch der kommende Tag. Die Nachricht über meinen kleinen Nebenjob hat sich schnell verbreitet, meine Jungs rufen an und gratulieren mir. Darunter auch Leon. „Wieso hast du Knalltüte denn gestern nichts davon gesagt?“, pflaumt er mich scherzhaft übers Handy an. „Zeitnot…?“, mutmaße ich vorsichtig. „Jedenfalls herzlichen Glückwunsch! Jetzt werde ich die Zeitschrift auch mal endlich lesen.“ „Wie reizend“, scherze ich. Und wieder ist es für einige Sekunden wie… wie immer. Ein unangenehmer Schauer erfasst mich. Ich will das nicht. Ich möchte nicht, dass diese eigentlich längst abgeschüttelten Gefühle und Stimmungen wieder in mein Leben greifen und versuchen, mich in die Vergangenheit zu zerren. Ihr bin ich doch entlaufen. Das Kapitel ist abgeschlossen. Wieso passiert das? „Ich muss arbeiten“, breche ich unser Gespräch, das sich gerade um irgendeine neue Band in den Charts dreht, abrupt ab. Leon sagt einige Sekunden lang nichts. Dann kommt sein etwas kühles: „…okay. Bis Samstag!“ „Ja, bis dann.“ „Alles in Ordnung?“, fragte Wiebke mich nach einer ganzen Weile, als ich immer noch ziemlich griesgrämig durch den Laden laufe und Anton aus dem Weg gehe, weil ich weiß, dass mein Bruder mich wahrscheinlich darauf ansprechen würde. Wie es mit Leon beim „Kaffee“ war habe ich ja noch nicht verlauten lassen. „Ja, alles Roger“, versichere ich ihr süß lächelnd. „Du bist ein niedlicher Lügner.“ Das ist alles was sie sagt, bevor sie im hinteren Teil des Geschäfts verschwindet, um einige Kameras zu ordnen. Etwas verdattert blicke ich ihr hinterher. Dann steht auch schon Anton neben mir und stellt mir selbige Frage. „Sag mal, ist alles in Ordnung?“ Seufzend wende ich mich meinem Bruder zu, diesem fiesen kleinen Gespräch, was wahrscheinlich folgen wird. „Alles Roger. Ich freue mich richtig auf Samstag.“ „Wegen Smack?“, hakt er nach. Ich nicke. „Und meiner Überraschungsparty…“, füge ich an. Anton lacht. „Wie war’s denn eigentlich mit Leon?“ Bäm! Natürlich. „Ich sehe ihn Samstag.“ „..äh.“ Anton grübelt. „Warst du nicht…“ „Nein“, falle ich ihm ins Wort. „Das heißt, wir wollten uns gestern treffen, aber Ben kam dann plötzlich mit der Idee, mir Inlineskating beizubringen…“ Jetzt lacht mein Bruder laut. „Und du lebst noch???“ Ich schnaube gespielt empört. „Traust du mir das nicht zu?!“ „Um Gottes Willen – nein!“ „..da hast du auch echt recht.“ Ich erzähle ihm von meinem grandiosen Abschluss, dem frontalen Zusammenstoß. Anton amüsiert sich köstlich, sagt, er wäre gern dabei gewesen und ich schwöre, ihn nie wieder zu mir nach Hause einzuladen, wenn er sich weiter über mich lustig macht. Ben ist ganz vorsichtig, als er nach Hause kommt. „Hey, wie geht’s deinem Hintern?“, fragt er behutsam. „…ganz gut“, erwidere ich grinsend. Eigentlich bin ich nicht mehr sauer deswegen. Ich weiß, dass ich mich absolut für diesen Sport nicht eigne, aber ich rechne meinem Mitbewohner den Versuch, mich von meinen kleinen Problemchen abzulenken, wirklich hoch an. „…gehen wir am Wochenende wieder ne Runde drehen?“, fragt er mit äußerster Vorsicht. „Auf keinen Fall.“ „…dachte ich mir.“ Wir lachen. Dieser Freitag ist herrlich. Keine nervigen Kinder. Nur zufriedene Kunden. Es wird ein bisschen hektisch – schließlich fehlen uns zwei Mitarbeiter, aber irgendwie meistern Anton und ich den Andrang. Wie gut, dass unsere Kaffeemaschine funktioniert, genauso wie die Klimaanlage. Die Leute warten sogar gern, weil sie nicht in diese Hitze hinaus müssen. Michi ruft mich abends an, ob ich nicht Lust auf einen kleinen DVD-Abend hätte. Ich sage zu. Und der Blondschopf bringt mir tatsächlich eine riesige Tafel Schokolade mit, als Wiedergutmachung für den gestrigen Tag. „Mann, Michi, das ist schon okay!“ „Trotzdem“, beharrt er. „Danke.“ Wir schauen uns tatsächlich Brokeback Mountain an. „Michi, den hast du doch echt schon tausend Mal gesehen…“, meine ich, als er die Scheibe in den DVD-Player legt. „Jaha, aber der ist halt toll. Und du hast ihn erst ein Mal geguckt. Und das ist lange her!“, zischt er zurück. „Hast du deine Tage?“, ziehe ich ihn auf und er dreht sich zu mir um, streicht sein längeres blondes Haar zurück und funkelt mich an. „Nein, aber vielleicht Liebeskummer?“ „Oh.“ „Hast du Whiskey da?“ „…was für eine dämliche Frage.“ Wir futtern die gesamte Tafel Schokolade auf. Wir trinken eine halbe Flasche Dalmore Gran Reserva aus und Michi erzählt mir von Torben, den er letztens in unserer Stammbar getroffen hat – der allerdings einen Freund hat, wie es sich später herausstellte. „Wieso flirtet der mit mir? Ich meine, wieso macht er mir scheinbare Hoffnungen, wenn der nen Kerl hat – mit dem er auch noch mega glücklich aussieht?!“ „Findest du nicht, dass deren Glück eher ne Farce ist, wenn dieser Torben mit anderen Kerlen flirtet?“, hake ich nach. „Für manche ist flirten ja noch kein Tabu… Aber trotzdem. Mann, das nervt mich total ab!“ „Das glaube ich dir…“ „Und dann haben wir auch noch Nummern ausgetauscht und wir waren sogar Eisessen bevor ich das raus finde!“ „…oh, das ist aber mehr als Flirten, findest du nicht?“ Michi ist 26, ein Jahr jünger als ich, und er hatte noch nie eine Beziehung, die länger als ein Jahre gedauert hat. Seit einem Jahr ist er Single. Dafür hatte er schon mehrere Männer in seinem Leben. Ich nehme noch einen Schluck. „Ey, sorry, dass ich dich hier so voll sülze“, sagt unser beschwipstes Nesthäkchen. „Macht doch nichts“, erwidere ich und starre den Fernseher an. „Wie geht es dir denn?“ „Ich hatte bis jetzt nur mit einem einzigen Mann Sex“, sprudelt aus mir heraus, noch bevor ich meine Zunge zügeln kann. Michi verschluckt sich an seinem Whiskey und fängt an zu husten, ich kriege es fast schon mit der Angst zu tun. „W-was?“, stammelt er dann als seine blauen Augen es schaffen, sich auf mich zu legen. „Nur… Leon?“ Ich nicke und beiße mit auf die Unterlippe. Manuel, du bist so ein Idiot… „Das wusste ich gar nicht…“, sagt er nun ruhiger. „Ich meine… da gab es auch niemandem vor Leon…?“ Bedächtig schüttele ich den Kopf. Nein. Niemand vor Leon. Nur Leon. Wie erbärmlich. Michi bleibt nicht mehr lang, als Ben kommt, schmeiße ich ihn gerade raus, weil ich morgen früh aufstehen muss. Der Laden hat bis 13 Uhr geöffnet und danach wartet ja noch mein erster Job auf mich. Da fällt mir erst ein, dass ich meinen Jungs noch gar nicht Bescheid gegeben habe. „Äh, Ben“, spreche ich meinen Mitbewohner an, der gerade vorm Fernseher sitzt. „Was gibt’s?“ Ich erkläre ihm die Situation. Er ist gelassen. „Kein Ding, dann fangen wir halt um 19 Uhr an. Wir sind auf jeden Fall hier und warten auf den Star des Abends“, scherzt er. Ich schlafe unruhig. Denn ich träume von Leon. Ich hasse es. Diesen Samstag ist nicht viel los. Die Zeit vergeht wie im Flug. Kaum habe ich mich versehen, ist es schon 15 Uhr und lenke Carry mit meinem Equipment durch die Stadt. Einen Presseausweis brauche ich gar nicht, mein Name steht auf der Liste, die die junge brünette Studentin direkt am Eingang des kleinen Campus, der ein wenig abseits der City gelegen ist, führt. Ein Haken neben meinem Namen und ich bin auch schon drin. Kaffee und Kuchen wird hier zu hohen Preisen verkauft – auch dieses Geld soll den Kinderheimen zugute kommen. Ich gönne mir ein überteuertes Stück Käsekuchen und einen starken Kaffee. Ich treffe den Smack-Autoren, der auf das Thema angesetzt worden ist. Ein junger Student, den ich öfter schon mal im Sphinx gesehen habe. Er heißt Simon. Studiert Maschinenbau. Will aber vielleicht doch irgendwann Journalist werden. „Die brauchen ja überall Experten…“ Im Maschinenbau. Genau. Wir nehmen zusammen Platz direkt am Ende des improvisierten Laufstegs. Der Saal wird langsam voll, ich sehe mich um, laufe ein bisschen umher und knipse schon mal ein paar Fotos. „Ruhig ein bisschen mehr für die Homepage, ich möchte drei fürs Magazin und zehn für Online“, hatte mir der Redakteur dazugeschrieben. Der Saal ist wohl so was wie eine Aula, der Laufsteg jedenfalls, so fällt mir nun auf, grenzt direkt an eine kleine Bühne an, hinter der sich der ebenfalls improvisierte „Backstagebereich“ befindet, wo sich jetzt die Nachwuchsmodels bereit machen. Um mich herum tummeln sich einige Kinder mit Luftballons in der Hand, Professoren und verdammt viele Studenten, die herumalbern und Red Bull trinken – den man ebenfalls für einen hohen Preis an der Bar erwerben kann. Die Studiengangsleiterin betritt um Punkt 16 Uhr die Bühne, da haben bereits alle brav Platz genommen. Ich lasse mich von ihren offiziellen Worten berieseln. Alle klatschen und ich erwache aus meiner kleinen Trance, als die elektronische Musik aus den aufgestellten Boxen dröhnt, sodass sogar die Sitze leicht vibrieren. Ben würde sie lieben… Und dann bin ich komplett von den Motiven eingenommen, die sich mir bieten, von den verschiedenen bunten Farben, die die Studenten tragen; knall gelben Overall a la Bibo aus der Sesamstraße, ein schwarz-weißes „Pestdoktorkostüm“ – original mit dem „Schnabel“ am Mundstück befestigt - und andere verdammt seltsame, an Lady Gaga erinnernde Outfits haben die Studis hier zusammen gebastelt. Ich liebe es! Und wenn ich ehrlich bin – und diese kommende Tatsache stimmt mich sehr fröhlich – erblicke ich unter den Models einige extrem scharfe Kerle. Ich! Ich habe „scharfe Kerle“ gesichtet! Das werde ich heute Abend erst einmal Ben und Michi verkünden. In mich hineingrinsend fotografiere ich den jungen Mann, der eine Art Engelskostüm trägt, mit schwarz-weißen Engelsflügeln auf den Rücken gespannt, den verdammt gut trainierten Oberkörper entblößt und die ebenso muskulösen Beine in eine Art schrillen grünen Overknees gehüllt. Er grinst selbstsicher in meine Kamera, während er weiter seinen Poser-Walk vollführt. Ich muss schmunzeln. Der hält wirklich viel von sich selbst. Nach 15 Minuten ist alles vorbei, alle Models auf der Bühne, auf die nun auch die „Designer“ gerufen werden. Und die stellen nun sich, ihre Hochschule und ihr Charity Anliegen vor. Dieser Teil ist wirklich ätzend, weil er einfach zu aufgesetzt wirkt. Und er dauert viel zu lang. Ich hole mir noch zwei Stück Kuchen und ermahne mich dann selbst, nicht zu viel zu essen, weil bestimmt noch etliche Knabbereien daheim auf mich warten. Auf der Party. Es ist kurz nach fünf, als endlich der legere Teil der Veranstaltung beginnt, in dem die Designer zur Konversation bereit stehen, noch mehr Kuchen verkauft wird und jede Menge Champagner fließen soll - Apfelsaft für die Kleinen. Ich laufe umher und suche nach den besten Objekten, knipse ein paar tolle Bilder von den herumtollenden Kindern neben der „Bibo“-Person. Kaum drehe ich mich um, stehen noch vier Models zusammen und spielen mit den Kindern. Ich halte drauf und fange einen tollen Moment ein, in dem ein Kind in die Luft springt und die Models alle ehrlich lachen. Der Shot ist perfekt. Ich bedanke mich mit einem Lächeln und schaue mir das Bild auf dem Display der Nikon erneut an. Erst jetzt bemerke ich, dass der schwarz-weiße „Engel“ rechts außen steht. Automatisch blicke ich auf und sehe, zu meiner eigenen Erstaunung, jenem Model direkt in die Augen. Er ist knapp 10 cm größer als ich. Er hat strubbelige, dunkelblonde Haare, vorher dachte ich noch, sie seien braun. Und seine Augen sind nicht blau, sondern grün. Er grinst. Genauso selbstsicher, wie er es auf dem „Catwalk“ getan hat. „Na“, sagt er und in den ersten Sekunden meine ich, seine Stimme irgendwo her zu kennen. „Wie geht es deinem Hintern?“ Ich erstarre. Bin schon bereit ihn anzufahren, was denn solch eine Bemerkung soll. Bis mir der Kontext dieser Frage bewusst wird, als ich seine Stimme einordnen kann. Das ist der Mann, gegen den ich an Mittwoch im Park geknallt bin. Soll ich lachen oder weinen? „Äh, ganz gut. Danke der Nachfrage“, antworte ich also mit einem lässigen Grinsen auf den Lippen. „Und selbst?“ „Auch ganz gut. Für wen fotografierst du hier.“ „Für SMACK.“ „Cool! Les ich total gern!“, sagt er mit freudiger Stimme und lächelt. „Naja, ich arbeite eigentlich erst ab heute für die“, gebe ich ehrlich zu und grinse. „Aber hoffentlich von nun an regelmäßig.“ „Hast du vorher für ein anderes Magazin gearbeitet?“, fragt er interessiert nach. „Nein, ich bin ehrlich gesagt erst gerade von einer kleinen Weltreise zurück gekommen und habe mit meinem Bruder ein Fotostudio übernommen“, erkläre ich. „Wow. Nicht schlecht“, gibt er anerkennend wieder und nickt dabei leicht. „Christian! Komm mal bitte!“, ertönt eine schrille Stimme und mein Gegenüber dreht sich schlagartig um und ruft zurück: „Ja, sofort!“ Er wendet sich mir wieder zu. „Sorry, ich muss da wohl ein paar Fragen beantworten oder die Welt retten oder so“, feixt er und ich grinse leicht. Die Welt retten. So, so. Mr. Nachwuchsmodel hat viel vor. „Die Bilder, kommen die auch online?“, fragt er noch schnell und ich nicke. „Super“, quittiert er. „Viel Spaß noch!“ Er winkt und dann verschwindet er schon mit zwei Mädchen Richtung Backstagebereich. Ich schätze ihn als totalen Weiberhelden ein. Meinte Ole das nicht? Die Kerle, die am heißesten aussehen, sind meistens solche Weiberhelden. Mr. Engel scheint so einer zu sein. Ich ärgere mich, dass ich mir solche Gedanken mache. Und zum anderen erfüllt es mich mit einer unbeschreiblichen Freude: ich habe an einen anderen Mann als Leon gedacht. Zufrieden mit mir selbst aufgrund dieser Tatsache und dem Fakt, dass ich gute Bilder abliefern kann, steige ich in den Wagen. Es ist ein wenig voll auf den Straßen, aber ich komme schon gegen halb sieben zuhause an. Ich hopse die Stufen regelrecht hoch und weil ich keine Lust habe, den Schlüssel zu suchen, klingele ich. Grinsend warte ich darauf, dass Ben mir die Tür aufmacht und ich ihn direkt mit meinen „Neuigkeiten“ überraschen kann. Doch es kommt ganz anders. Leon steht plötzlich vor mir, Überraschung und Freude spiegeln sich in seinen karamellfarbenen Augen wider. Ich muss schlucken. Leon trägt heute einen hauchdünnen schwarzen Pullover. Seine hellen Haarsträhnen bedeckenden die hübschen Schultern und stechen nunmehr richtig hervor, umranden sein Gesicht. Die hellblaue Jeans betont seine schlanken Beine. Er grinst schief. „Komm doch rein“, murmelt er. …wie war das noch gleich mit „ich habe endlich an einen anderen Mann als Leon gedacht!“…? Samstag, 16. Juli Scharfe Kerle, scharfe Kerle, scharfe Kerle… Krieg es endlich in deinen Kopf, Manuel! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)