Schattenland von AnniPeace (Die Legende der geflügelten Rasse) ================================================================================ Kapitel 2: Das Shinrai Tagebuch ------------------------------- So eine merkwürdige Situation hatte Noriko in ihrem jungen Leben noch niemals zuvor erlebt. Hier saß sie nun, ihre Beine berührten den Boden ohne die feinen Grashalme zu spüren, ihre Arme umschlangen ihren Oberkörper und hielten die obere Hälfte ihres nun vollkommen zerstörten Kimonos, hinten an ihrem nackten Rücken ragten zwei große, eisblaue Flügel empor, welche allerdings nicht angespannt waren, und so hingen sie einfach schlapp bis hinunter auf den Boden. Noriko saß mit dem Rücken zu Ren. Sie konnte sich einfach nicht umdrehen und die Realität erfassen. Sie wusste, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte, indem sie sich vor einem Menschen als Tsukami entblößt hatte. Sie wusste außerdem, dass sie dies noch sehr bereuen würde. Sie schluchzte leise bei dem Gedanken an das erneute Alleinsein. Obwohl sie den blonden Jungen erst kürzlich kennengelernt hatte, war er ihr rasch ans Herz gewachsen. Doch um ihn vor den Gaien zu retten, hatte sie eine schwere Entscheidung treffen müssen. Und nun war sie sich nicht einmal mehr sicher, dass es die richtige gewesen war. Die zahlreichen Begegnungen mit Menschen, die sie für einen guten Preis hatten verkaufen wollen, kamen in ihr hoch. Alles hatte immer mit Schmerzen, Reue und Tränen geendet. Noriko befestigte das zerstörte Kleidungsstück an ihrem dünnen Körper und starrte auf ihre bleichen Hände, die sie vor sich auf den Boden drückte. Die Verbände an ihren Armen saßen schon lange nicht mehr an ihren eigentlichen Plätzen, sie schlängelten sich nun locker um ihre dünnen Arme und die zahlreichen Wunden waren wieder zu sehen. Das Atmen fiel ihr schwer und noch immer konnte sie sich nicht überwinden sich umzudrehen um Ren alles zu erklären. Doch schließlich war er selbst es, der die lang anhaltende Stille zwischen ihnen unterbrach. „Noriko, du…“ Ihre Sicht verschwamm unter ihren Tränen und erneut schluchzte sie leise. „Ist schon gut, du brauchst dich nicht zu bemühen. Ich komme freiwillig mit.“, sagte sie tonlos und wischte sich die Tränen mit ihrem Handrücken weg, als sie sich endlich umdrehte und überrascht feststellte, dass Ren ebenfalls auf dem Boden saß und die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Der linke Arm wirkte allerdings noch etwas steif von der Lähmung des Giftes. Als er hörte, was sie sagte, zuckte er zusammen und sah sie zornig an. „Was redest du da?“, sagte er, ein wenig zu laut und energisch, denn auch sie zuckte zusammen und sie zog sich mit ihren Armen einige Meter zurück. Ihre Beine bewegten sich mit dem Körper und ein schlurfendes Geräusch ertönte. Ren weitete erschrocken die Augen und streckte beruhigend eine Hand aus, als er bemerkte, wie das eben gewirkt hatte. „Nein! Ich meine, es tut mir leid! Ich wollte nicht so reagieren, es ist nur…damit“, sagte er und deutete auf ihre schimmernden Flügel, „Habe ich absolut nicht gerechnet.“ Noriko atmete nicht mehr so schnell wie noch einen Moment zuvor, doch ihr Herz schlug rasend schnell. Ren richtete sich auf und ging einige Schritte, bis er genau vor ihr stand. Er fuhr mit einer Hand durch sein tolles Haar und kniete sich neben sie auf den Boden. Noriko starrte erneut auf ihre Hände, sie wollte keine Blicke riskieren. „Wieso hast du es mir nicht gesagt?“, fragte er sanft und sie sah ihn unglücklich an. „Ich…habe schlechte Erfahrungen mit…mit Menschen gemacht…“, erklärte sie leise und sie war erstaunt über den brüchigen Klang ihrer Stimme. Ein Knoten bildete sich in ihrem Hals. „Wirst du…mich jetzt verkaufen?“, fragte sie ängstlich und die Angst in ihr zeigte sich in ihren grünen Augen. Ren seufzte und rieb sich den Nasenrücken. „Menschen, ja?“, murmelte er leise vor sich hin und ein verächtliches Lachen ertönte aus seinem Mund. Dann richtete sich sein Blick wieder auf Noriko’s Gesicht und seine blauen Augen trafen ihre. „Wieso sollte ich so etwas tun? Wie könnte ich so etwas tun?“, fragte er und strich mit einer Hand über ihre Wange. Sie regte sich nicht. „Hör zu, nicht alle Menschen sind gleich. Und ich werde dich niemals an jemanden verkaufen, dass das klargestellt ist. Menschen sind egoistische Wesen, niemals würde ich so handeln, wie sie.“ Er lächelte aufmunternd. Noriko sah Hoffnung. „Das heißt…dass ich weiterhin mit dir reisen kann? Obwohl ich eine Tsukami bin?“, fragte sie leise, ein wenig Unglaube schwang in ihrer Stimme mit. Ren lachte. „Wir werden wie geplant zusammen reisen, gerade weil du eine Tsukami bist, Noriko-chan.“ Das verstand sie nicht. Doch um nicht noch mehr Fragen zu stellen, nickte sie nur dankbar und ein kleines Lächeln legte sich auf ihre vollen Lippen. Ren’s Blick fuhr über ihren nur knapp bedeckten Oberkörper und ein Hauch von Röte legte sich auf ihre Wangen. „Hmm.“, machte er und er schnürte sein Oberteil auf. Noriko weitete erschrocken die Augen. „Was machst du da?“, fragte sie überrascht, als er das Oberteil auszog und ihr entgegen streckte. Ein schiefes Lächeln entglitt ihm. „Kleine süße Mädchen sollten nicht halbnackt im dunklen Wald umherlaufen.“, erklärte er und sie nahm das Kleidungsstück dankbar an. Sie zog an einem dunkelroten Band an ihrem rechten Oberarm und band damit ihre hellbraunen Haare zusammen. Dann musterte sie das Oberteil. Hinten am Rücken konnte sie undeutlich die Umrisse von zwei schlechtgefertigten, länglichen Nähten erkennen. Sie zuckte mit ihren Achseln und sah zu Ren, welcher auf ihre Flügel starrte. Sie schluckte. „Starr sie bitte nicht so an!“, bat sie und der Junge sah sie an. Dann streckte er einen Arm aus und berührte eine der Federn, ehe Noriko ihn warnen konnte. Mit einem Aufschrei zog er die Hand zurück und sah sie an – winzige, kalte Kristalle umhüllten seine Fingerkuppen. „Was war das?“, fragte er und rieb seine Hände, um das wenige Eis zum Schmelzen zu bringen. Noriko zuckte erneut mit ihren Achseln. „Die Federn sind mit winzigen Eiskristallen bedeckt, um sie robuster zu machen.“, erklärte sie sachlich und sie streichelte ihren rechten Flügel. Ren staunte, als sie nicht wie er zuvor vor Schmerz aufschrie und die Hand wegzog. Wahrscheinlich machten ihr die erstaunlich scharfen Kristalle nichts aus. Dann fiel ihm allerdings etwas anderes auf. Noriko strich gerade über die Federspitzen, die zusätzlich mit kleinen, eisblauen Flammen übersät waren, sodass es so wirkte, als würden ihre Flügel brennen. Doch das war es nicht, was seine Aufmerksamkeit auf sich zog. „Was sind das für Verletzungen auf deinen Flügeln?“, fragte er besorgt und musterte das teilweise getrocknete Blut. Sie machte ein tonloses Geräusch. „Bei meiner letzten Begegnung mit Menschen endete alles so, dass sie mich mit Messern und Schwertern am Boden festhielten. Und so konnte ich nicht fliegen, die Klingen waren in Gaiengift getränkt worden und lähmten meine Muskeln.“, erklärte sie und er sah rasch weg. Dann stand er wieder auf und räusperte sich. „Würdest du deine Flügel wieder zurück ziehen, damit wir zu meinem Haus gehen können?“ Sie nickte kurz und spannte ihren Rücken an. Ihr Rücken brannte unter dem enormen Schmerz, dann waren die zwei riesigen Flügel verschwunden und nur zwei lange Narben blieben zurück. Sichtlich durch ihre Verletzungen angeschlagen, nahm sie nun wieder Ren’s Oberteil und legte es über ihre Schultern. „Vielleicht hat sich das Gift in meinem Körper nicht gleichmäßig verteilt, und sitzt jetzt in meinen Flügeln und Beinen…allerdings kommt es mir komisch vor, dass ich dann gestern noch laufen konnte…“, sagte sie und wieder haute sie mit der Hand auf eines ihrer Beine. Noch immer spürte sie nichts. „Könnte sein…“, sagte er und er drehte sich in die Richtung, in der man das teilweise zerstörte Haus sehen konnte. Noriko’s Blick wanderte von seinem Kopf mit den golden glänzenden Haaren über breiten Schultern und den muskulösen Rücken...als ihr etwas auffiel. Erschrocken schrie sie auf, als sie zwei längliche Narben auf Ren’s Rücken sehen konnte. Er drehte sich alarmiert um und starrte sie verwirrt an. „Was ist?“, fragte er und hob beide Augenbrauen. Noriko atmete schneller. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Dein Rücken…du hast…“, fing sie an und rutschte etwas näher. Seinen Rücken konnte sie nicht länger sehen, doch Ren drehte seinen Kopf und versuchte vergeblich zu erkennen, was sie so sehr erschreckt hatte. „Du bist auch ein Tsukami?“, fragte sie vollkommen perplex. Ren zuckte mit den Schultern und nickte. „Hatte ich das nicht erwähnt?“, fragte er verwirrt und kratzte sich am Hinterkopf. Noriko schüttelte rasch den Kopf. „Oh. Mein Fehler, tut mir leid.“, sagte er und grinste. Noriko seufzte. Was für ein Knallkopf. „Jetzt wundert mich deine Reaktion kein bisschen mehr…“, erklärte sie und fächerte sich Luft zu. Somit war auch ihre nächste Frage geklärt, nämlich, wie er sie so lange hatte tragen können, ohne auch nur ansatzweise müde zu werden. Und obwohl er nach seinen eigenen Angaben vor zehn Jahren schon alleine umhergewandert war, war das auch nicht mehr weiter verwunderlich, denn Tsukami besitzen schon im Säuglingsalter die Intelligenz eines Jugendlichen, und mit sieben Jahren den geschärften Verstand einer alten, weisen Person. Er schien ihre Gedanken zu lesen, denn nun wollte er unbedingt einige Dinge erklären, die er vorhin vertuscht hatte. Noriko winkte ab, er sollte nicht noch mehr von seiner schmerzhaften Vergangenheit preisgeben, doch nach mehreren Minuten der Diskussion, gab sie schließlich auf. Dieser Junge gab anscheinend sehr viel auf seine Meinung und er ließ sich auch nicht umstimmen, sobald er einen Entschluss gefasst hatte. „Meine Eltern wurden als Tsukami in Katachi geduldet, weil sie niemals jemandem etwas angetan hatten. In der Nähe von unserem Haus zog eine menschliche Familie ein. Wir verstanden uns sehr gut mit ihnen, doch eines Tages wurden sie tot aufgefunden, und meine Eltern wurden dafür verantwortlich gemacht. Sie wurden hingerichtet, doch ich konnte noch entkommen, bevor auch ich hätte sterben müssen. Ein alter Angestellter in unserem Haus begleitete mich die ersten Jahre und half mir, zurück in mein Heimatland zu gelangen. Vor drei Jahren verstarb er an einer Krankheit. Seitdem reise ich vollkommen alleine.“, erzählte er und nun verstand Noriko ihn viel besser als zuvor. Ren legte seinen Kopf schief und schien ein klein wenig erleichtert. Jetzt, wo alles erzählt worden war – zumindest von seiner Seite aus. Sie wusste, dass er darauf wartete, dass sie nun ihre eigene Geschichte vervollständigte. Also beschloss sie seiner stummen Forderung nachzugeben und dachte an das, was sie ihm bereits erzählt hatte. Sie seufzte tief. „Eigentlich habe ich meiner ersten Erzählung nichts mehr hinzuzufügen… Meine Eltern waren trotz ihrer ungewöhnlichen Abstammung hoch angesehene Leute. Durch einen Fehler, den sie begangen hatten, drehte sich ihr einstiges Glück um und sie waren auf der Flucht. Wir waren die letzten Jahre auf der Flucht und vor ein paar Wochen waren sie aufgespürt worden und hatten den Preis für ihren Fehler gezahlt, während meine Schwester entführt, und ich zurückgelassen wurde.“, sagte sie knapp und fasste ihre erste Version der Geschehnisse in anderen Worten zusammen. Ren nickte, er hatte eine komplett andere Geschichte erwartet. „Na, wenn das jetzt also geklärt ist, können wir ja zu meinem…vollkommen zerstörten Haus gehen. Vielleicht steht der hintere Teil ja noch…“, murmelte der Junge und lachte leicht verächtlich. „Und wie soll ich dahin kommen?“, fragte sie an Ren gewandt, welcher tief auf den Boden sehen musste, da er mittlerweile aufgestanden war. Kurzentschlossen bückte er sich und wieder nahm er sie hoch. Noriko quiekte. „Kannst du nicht irgendein unromantisches Gestell basteln, womit du mich hinter dir herziehen kannst? Ich will dir nicht die ganze Zeit zur Last fallen, indem du mich trägst.“, erklärte sie und sie schluckte. Ren grinste breit. „Das ist gegen meine Prinzipien! Außerdem ist das Haus doch gleich dahinten...“ Noriko gab sich geschlagen, sie würde nicht noch einmal versuchen, irgendetwas mit ihm zu diskutieren. Er würde immer an seiner Meinung festhalten, wie ein trotziges, kleines Kind. Während die beiden dem Haus immer näher kamen, wippten Noriko’s Beine in der Luft umher, da Ren fröhlich hin und her sprang. Als dann auch noch ihr Kopf im Takt mitschwang, wurde es ihr zu viel und sie sah ihn verwirrt an. „Warum bist du so gut gelaunt?“ Er sah zu ihr herunter. „Ist das so schlimm?“, fragte er grinsend und zeigte seine ungewöhnlich perfekten, weißen Zähne. Noriko seufzte. „Nein, natürlich nicht. Aber musst du so hüpfen?“, fragte sie und er verrollte seine Augen. Dann ging er normal weiter und wäre fast auf dem vereisten Boden ausgerutscht, wenn Noriko ihn nicht noch im letzten Moment darauf aufmerksam gemacht hätte. Sie brauchte Dinge, mit denen sie sich ablenken könnte. Sie spürte Ren’s warme Haut seines freien Oberkörpers an ihrem Rücken, seine muskulösen Arme an ihrer Taille, und seinen Blick auf ihrem Kopf. Dieser nahe Kontakt zu einer Person, die sie so schlecht kannte, machte sie zu Recht sehr nervös. Sie räusperte sich, als Ren über einen Stein stolperte und ihren Körper fester an sich drückte. Als sie unauffällig zu ihm hinauf sah, bemerkte sie sein verschmitztes Grinsen, welches einladend auf seinen Mund gestempelt war. Dieser Junge kann einfach nicht aufhören, zu lächeln. Egal in welcher Situation wir auch sind, immer lächelt er. Jede Person auf der Welt hat eine verrückte, oder schlechte Seite. Warum hab ich seine noch nicht gefunden? Ren’s Blick wanderte über die bemerkenswert große Fläche, die durch Noriko’s Fähigkeiten zu einer leeren Eiswüste geworden war. Wenn man die zwei riesigen Eisblöcke missachtete, die früher einmal zwei Gaien dargestellt hatten. Sie folgte seinem Blick und konnte selbst kaum glauben, was sie in dieser kurzen Zeit geschaffen hatte. Erst vor zwei Tagen hatte sie sehr viel von ihrer magischen Kraft aufgebraucht, um gegen das Dorf voller Menschen bestehen zu können. Deshalb wunderte es sie umso mehr, dass die Kräfte sich in einer so kurzen Zeit wieder fast vollständig regeneriert hatten. „Also ich muss sagen, dass du mich schwer beeindruckt hast, Noriko.“, sagte Ren plötzlich und Noriko schreckte aus ihren Gedanken. „Was? Wieso denn?“, fragte sie verwirrt, sie hatte nur die Hälfte von dem mitbekommen, was er ihr davor erzählt hatte. Ren lächelte. „Ich selbst bin zwar ein Abkomme der geflügelten Rasse, doch in unserer Familie wird keine Fähigkeit weiter vererbt, wie es sonst für Tsukami mit speziellen Kräften üblich ist. Ich wollte schon immer einmal jemanden treffen, der solche Fähigkeiten hat.“, erklärte er und bei dem Gedanken an etwas vollkommen Außergewöhnliches, funkelten seine Augen. Auch Noriko lächelte nun – es kam ihr so vor, als täte sie, seit sie Ren kennengelernt hatte, absolut nichts anderes mehr, als zu Lächeln. Jeder hätte gelächelt, wenn er Ren’s Engelsgesicht sehen würde. Ein natürlicher Reflex. Der Junge blieb stehen. Noriko drehte ihren Kopf und sah vor sich das teilweise eingefrorene Haus, der hintere Teil vollkommen von den Gaien zerstört. Sie spürte, dass Ren ungewöhnlich angespannt war, dieser Anblick schien ihm nicht zu gefallen. Er schüttelte kurz den Kopf und wartete auf eine Regung seitens Noriko. Sie sah ihm in die Augen und nickte einmal kurz. Ren schluckte schwer und sah sich nach einem Eingang um. Keine zwei Meter von ihnen entfernt konnte man ein einigermaßen großes Loch erkennen. Das würde wohl der schnellste Weg ins Innere des Hauses sein, also ging der Junge näher heran, er hob Noriko vorsichtig durch das Loch und sie landete auf dem kalten Boden. Ren folgte ihr durch das Loch und wollte sich wieder zu ihr herunterbeugen, als sein linker Arm stark zu zittern begann. „Was ist los?“, fragte Noriko, so etwas hatte sie noch nicht gesehen. Ren schüttelte den Kopf und legte seine rechte Hand um den Arm. „Das ist wegen dem Gift. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis das Gift sich vollständig aufgelöst hat.“, erklärte er und setzte sich neben Noriko auf den Boden. Sie dachte nach und überlegte sich eine Lösung für Ren’s Problem, als ihr etwas Wichtiges einfiel. Sie zog den Stoff ihres Kimonos höher – Ren sah augenblicklich in eine andere Richtung. An ihrem rechten Oberschenkel sah sie das Lederband, an welchem ein kleiner Dolch befestigt war. Doch das war nicht das Einzige, was sie dort versteckte. An dem Band befand sich eine kleine Tasche, nicht länger als ihr Daumen. In dieser Tasche bewahrte sie eine winzige Flasche mit Wasser des Sees der Wunder auf. Dieses Wasser hatte eine heilende Wirkung auf Tsukami, deshalb trug sie immer ein wenig davon mit sich, falls sie verletzt werden würde. Sie konnte es nicht selbst verwenden, denn für ihre Beine reichte es nicht aus. Sie reichte das Fläschchen Ren, welcher es unsicher beäugte, dann aber nachgab, da er erkannte, um was es sich handelte. Er schraubte den Verschluss auf und kippte den Inhalt auf die Wunde an seinem Arm. Sie schloss sich augenblicklich und nur ein wenig Blut blieb zurück. Das heilende Wasser bahnte sich seinen Weg durch Ren’s Venen und hinterließ eine leuchtend blaue Spur. Die beiden sahen neugierig dabei zu, wie sich die Vene in Ren’s Arm verfärbte und es nun so aussah, als würde ein farbiger Tropfen an seinem Arm entlang laufen. „Wieso leuchtet mein Arm?“, fragte Ren verwirrt, aber sichtlich entspannter, da die durch das Gift verursachten Schmerzen langsam nachließen. Noriko griff nach seinem Arm und untersuchte die blaue Linie. „Das heilende Wasser sorgt dafür, dass sich das Gift auflöst. Dabei leuchtet es. Ich habe auch keine Erklärung dafür, es ist eben so…“, erklärte sie und Ren verstand genauso viel wie vorher. „Naja, die Hauptsache ist ja, dass ich keine Schmerzen mehr habe!“, sagte er glücklich und stand auf. Ehe Noriko protestieren konnte, befand sie sich wieder in seinen Armen. „Es reicht jetzt, wirklich!“, sagte sie doch Ren winkte ab. „Ich lasse dich im Wohnzimmer wieder runter. Am besten wartest du dort auf mich, während ich das Haus durchsuche, in Ordnung?“, fragte er und sie nickte geschlagen. Schweigend sah sie sich in dem finsteren Gang um, überall standen große Schränke mit unbezahlbaren Antiquitäten. Ren schenkte seiner Umgebung kaum Beachtung, er war diesen Anblick gewohnt, da er in diesem Haus den Großteil seiner Kindheit verbracht hatte. Er blieb schließlich in einem großen Raum stehen. Der Raum wirkte sehr einladend, mit vielen Sitzmöglichkeiten, einem Esstisch, mehreren Schränken voll Büchern und einem großen Spiegel, vor welchem ein mittelgroßer Tisch stand. Auf dem Tisch lagen zahlreiche Kosmetikprodukte, die wohl Ren’s Mutter gehört haben mussten. Er setzte sie auf einem bequemen Sitzkissen ab und sagte: „Bleib einfach hier sitzen und warte, bis ich wieder zurück komme. Fass am besten nichts an, wer weiß, was alles passieren könnte, wenn hier schon lange niemand mehr sauber gemacht hat.“ Noriko nickte ihm zu und beobachtete, wie er sich umdrehte und den Raum verließ. Seine Schritte hallten durch das große Haus. Sie seufzte tief und rieb sich die Schläfen. Sie fragte sich innerlich, wonach Ren wohl gerade suchte. Er hatte keine näheren Beschreibungen gemacht, er hatte nur erwähnt, dass er etwas Wichtiges hier vergessen hatte. Wenn ihre Beine nicht gelähmt wären, wäre Noriko gerne einmal durch ein so riesiges Haus gewandert. Sie war ganz andere Dinge gewohnt als Ren, das fiel ihr alleine durch die Tatsache auf, dass sein Familienhaus etwa fünf bis sechs Mal größer war, als die alte Hütte ihrer eigenen Familie. Es war nicht einfach gewesen, in einer armen Familie aufwachsen zu müssen, jedoch konnte sie sich nicht vorstellen, dass es in einer reichen Familie so viel leichter gewesen wäre. Immerhin hatte Ren erzählt, dass er schon von klein auf jede Menge Privatunterricht gehabt hatte, und niemals mit irgendwelchen fremden Personen hatte reden dürfen. Er war den größten Teil seiner Kindheit eingesperrt worden, in ein großes Haus voller toller Dinge, die er aber nicht verwenden konnte oder durfte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie einsam er sein musste. Ihre Kindheit war nicht viel schöner, jedoch hatte sie ihre große Schwester gehabt, und die beiden hatten alles geteilt. So hatten sie wenigstens irgendeine Bezugsperson gehabt, denn ihre Eltern waren zu beschäftigt gewesen, sich um einen sicheren Wohnort zu bemühen, als auf ihre Kinder zu achten. Bevor der lange Krieg ausgebrochen war, war alles ganz anders gewesen. Doch darüber wollte sie nun nicht mehr länger nachdenken, die Erinnerung an ihre Familie schmerzte zu sehr. Noriko wurden aus ihren Gedanken gerissen, als sie polternde Geräusche aus einem anderen Stockwerk hörte. Sie gab einen erschreckten Laut von sich, sah sich schnell um und blickte dann an die Decke. „Ist alles in Ordnung Ren?“, fragte sie laut und hoffte, dass es laut genug gewesen war, damit er sie hören würde. Nach einigen Sekunden hörte sie jemanden husten, dann erneut ein lautes Geräusch, und schließlich ertönte Ren’s Stimme. „Alles in Ordnung! Hier sind nur ein, zwei…fünf Schränke umgefallen!“, sagte er und es hörte sich so an, als wäre das nichts Besonderes für ihn. In den Schränken waren bestimmt sehr kostbare Dinge zu Bruch gegangen. Lächelnd schüttelte sie den Kopf, wenn sie sich Ren’s Gesicht in dieser Situation vorstellte. Als sie ihren Kopf drehte, und die Bücher in den Schränken musterte, sah sie hinter einem der Schränke die Ecke eines weiteren Buches hervor lugen. Der Schrank wirkte leicht zerbrechlich und war so vollgestopft, dass er womöglich leicht zusammenbrechen würde. Doch davon ließ sich das Mädchen nicht beirren. Neugierig über diesen eigenartigen Fund, zog sie sich mit ihren Armen über den Boden und nahm das Buch an sich. Sie sah es näher an and stellte fest, dass die Vorderseite mit Fumi-Schriftzeichen beschrieben worden war. Da ihre Eltern ihr als Kind all die vielen Schriftzeichen beigebracht hatten, konnte sie noch einige Zeichen erkennen, obwohl sie schon seit Jahren nicht mehr gelernt hatte. Der Titel des Buches lautete Der wahre Weg, und unten in der Ecke stand ein Name, ebenfalls in den Fumi-Schriftzeichen geschrieben: Kireina Shinrai. Der Name ließ augenblicklich das Bild von Ren in ihrem Kopf erscheinen, und sie glaubte sich zu erinnern, dass Ren’s Nachname ebenfalls Shinrai lautete. War dies also womöglich der Name von Ren’s Mutter, oder einem früheren weiblichen Nachfahre der Familie Shinrai? Um das Buch war eine rote Schnur gebunden worden, welche mit einem Siegel aus Wachs befestigt wurde. Unter dem Wachs sah sie etwas silbern glänzen, es wirkte wie ein dünnes, silbernes Armband welches mit einigen, kleinen blauen Steinen besetzt war. Es war halb unter dem Siegel versteckt, und doch verstand Noriko, dass es nicht verloren gehen sollte, und die Person namens Kireina es so vor wem auch immer versteckt hatte. Sobald man das Siegel öffnen würde, würde man auch an das Armband gelangen. So war es gedacht. Noriko wollte sich gerade dem ordentlichen Wachssiegel widmen – Es sah aus wie ein reichlich verziertes ‚S‘ -, als sie immer lauter werdende Fußschritte hörte. Schnell versteckte sie das kleine Buch in ihrem teilweise zerstörten Kimono und hüllte sich noch tiefer in Ren’s Oberteil ein. Ein paar Sekunden später bog Ren auch schon um die Ecke, auf seinem Gesicht ein enttäuschter Ausdruck. Noriko bemerkte, dass er nun ein neues Oberteil trug, außerdem war die Tasche, die er immer mit sich herumtrug, wieder gefüllt. Verwirrt blickte Ren zu dem Kissen, auf welchem Noriko gerade eben noch gesessen hatte, dann wanderte sein Blick durch den Raum und er fand Noriko neben einigen Schränken und Regalen voller Bücher, einer der Schränke wackelte bedrohlich. Ren holte scharf Luft und lief auf Noriko zu, welche ihn verwirrt ansah und nicht bemerkte, was gerade hinter ihr geschah. Im letzten Moment, bevor der riesige Schrank auf Noriko’s kleinem Körper gelandet wäre, und sie für immer begraben hätte, zog Ren sie zu sich und sprang zwei Meter rückwärts. Noriko schrie vor Überraschung auf, als vor den beiden der Schrank gegen einen vereisten Balken krachte, und diesen in der Mitte durchtrennte. „Was ist los?“, fragte Noriko, ihr Atem ging deutlich schneller als normalerweise. Ren’s Herz pochte ihm bis zum Hals, als er zu dem zerstörten Stützbalken starrte – es war einer der letzten, der das Haus noch aufrecht erhalten hatte. Durch die starken Vibrationen, die durch den Sturz des riesigen Schrankes entstanden waren, wackelten nun auch kleinere Schränke, und Ren stellte fest, dass das Haus dem ganzen Druck ohne Stützbalken nicht mehr lange standhalten könnte. „Wir müssen hier raus!“, schrie er und hob Noriko auf seine Arme. Einen Moment später spürte sie, wie er seinen Körper unnatürlich anspannte, ehe zwei große, silbern schimmernde Adlerschwingen an seinem Rücken erschienen. Der Stoff seines neuen Oberteils riss sofort auf, doch er störte sich nicht weiter daran. Er sah sich nach einer Öffnung um, die groß genug war, um hindurch zu fliegen. Er wurde schnell fündig. Dann schlug er mit seinen Flügeln, dabei verursachte er viel Wind, welcher Einiges in diesem Zimmer durcheinander wirbelte. Er hob mit Noriko auf dem Arm vom Boden ab und flog durch die große Öffnung, die entstanden war, als die Gaien aus dem Haus gestürmt waren. Er flog immer höher und höher, dann steuerte er auf den Wald zu und flog über die Bäume hinweg, während hinter den beiden das Haus laut krachend einstürzte. „Das war sehr knapp!“, sagte Ren, seine Stimme war sehr laut, um gegen den Wind und die anderen Geräusche ankommen zu können. Noriko nickte ihm zu und sah dann zu Boden. Ren folgte ihrem Blick und bemerkte einen recht breiten Fluss, neben welchem er landen könnte. Er schlug die richtige Richtung ein und kam dem Boden immer näher, als Noriko ihn fragte, warum er nicht langsamer wurde. Ren schluckte. „Ich bin schon eine Weile nicht mehr geflogen, also mach dich auf eine Bruchlandung gefasst!“, rief er und Noriko wurde klar, dass er in die Richtung des Flusses geflogen war, um nicht auf dem Boden landen zu müssen. „Bist du vollkommen wahnsinnig?“, schrie sie doch er grinste nur. „Komm schon, das ist doch aufregend, oder findest du nicht?“ „NEIN!“, schrie sie, dann kniff sie die Augen zusammen. Mit einem lauten Geräusch knallten Ren und Noriko in den Fluss, Ren hatte sich im Sturz umgedreht, um Noriko vor größerem Schaden zu schützen. Seine Flügel litten am meisten unter dem harten Aufprall und unter Wasser spürte Noriko, dass sein harter Griff um ihre Taille erschlaffte. Durch die Strömung trieb sie in eine andere Richtung und hektisch versuchte sie, sich mit ihren Armen durch das Wasser an die Oberfläche zu ziehen, da ihr langsam die Luft ausging. Ihr Kopf stieß durch die Wasseroberfläche und sie holte tief Luft. Wasser drang in ihre Lungen und sie hustete stark, dabei hielt sie sich mühsam mit schnellen Armbewegungen über Wasser. Hilflos sah sie sich nach Ren um, als sie spürte, wie jemand sie zu sich zog. Sie wollte schreien, doch sie hörte Ren, der ihr beruhigend irgendwelche Worte zuflüsterte, die sie in diesem Moment nicht zuordnen konnte. Sie drehte ihren Kopf und starrte in sein Gesicht – er lächelte sie vorsichtig an. Seine Flügel waren wieder verschwunden. „Tut mir leid…“, sagte er prustend, auch er war ziemlich außer Atem. Noriko funkelte ihn böse an, wenn die beiden nicht mitten in einem Fluss getrieben wären, hätte sie ihm einen äußerst schmerzhaften Schlag verpasst. Behutsam zog Ren Noriko zum Ufer. Er drückte sie nach Vorne und sie zog sich mit ihren Armen nach draußen, er folgte ihr wenige Sekunden später. „Ist doch ganz gut gelaufen.“, sagte er und sie hörte seinen sarkastischen Unterton in seiner Stimme. Wütend wandte sie ihm ihr Gesicht zu. „Ganz gut?“, schnaubte sie und holte mit ihrer Faust aus – da sie auf dem Rücken lag, und er auf der Seite, traf sie seine rechte Schulter und auch er lag nun auf dem Rücken. „Nun ja, du hättest dir vielleicht einen besseren Zeitpunkt aussuchen können, um ein Bad zu nehmen.“, erklärte er scherzhaft und kicherte vergnügt. Noriko verstand einfach nicht, wie er über diese Situation solche Witze machen konnte. Die beiden hätten ertrinken können! Schnell überprüfte sie, ob noch all ihre Kleidungsstücke an ihrem richtigen Platz saßen, als sie bemerkte, dass das Buch, welches sie aus dem Haus mitgenommen hatte, fast heraus gefallen wäre. Schnell versteckte sie es wieder in ihrem Kimono, als das alte Wachssiegel teilweise von der ersten Seite abbröckelte und das silberne Armband in ihre Hand fiel. Ren’s Blick fiel auf das Armband und seine Miene hellte sich augenblicklich auf. „Wo hast du das her?“, fragte er aufgeregt und nahm es ihr aus der ausgestreckten Hand. Noriko dachte nach und ließ sich schnell eine falsche Geschichte einfallen – sie wollte nicht erklären müssen, warum sie ein so seltsames Buch mit dem Siegel der Shinrai Familie an sich genommen hatte. „Ich habe es in dem Schrank gefunden, der umgekippt ist. Ich fand es ganz schön und wollte es mir näher ansehen, doch bevor ich es zurücklegen konnte, ist das Haus eingestürzt…“, erklärte sie atemlos und richtete sich wieder auf. Ren starrte wie gebannt auf das kleine Armband und strich über die winzigen, blauen Steine. „Dieses Saphir-Armband ist sehr wichtig für mich, ich habe das ganze Haus danach abgesucht, aber es nirgendwo gefunden.“, erzählte er. „Es hat meiner Kindheitsfreundin gehört…“ Nun wurde sein Blick wieder traurig. Er strich sich die nassen, blonden Haare aus dem Gesicht und ein wenig Wasser tropfte auf die Saphire, was sie noch mehr zum Leuchten brachte. Noriko lächelte ihm aufmunternd zu. Ren steckte das Armband in seine Tasche und zog etwas anderes hervor, ein zerknülltes, faltiges, nasses Etwas. Er sah sie entschuldigend an. „Das hier ist…war ein Kimono meiner Mutter. Sie war zwar ein wenig größer als du, aber ich dachte, lieber zu groß als zerfetzt…“ Er reichte ihr das nasse Kleidungsstück. „Ich denke, wir sollten die Kleidung zum Trocknen aufhängen, sonst holst du dir noch eine Erkältung.“, sagte er bestimmend und richtete sich auf. Noriko wurde rot. „Nur meine Kleidung?“, fragte sie nervös und ihr Körper spannte sich an. Ren schenkte ihr ein herzhaftes Achselzucken. „Mich stören nasse Kleider nicht, das wird schon wieder trocken werden.“ Dann begriff er, worauf sie mit ihrer Frage eigentlich hinaus wollte, und auch er wurde rot. „N-natürlich werde ich nicht zusehen! Ich verstecke mich hinter einem Baum, oder einem Felsen…“, sagte er und räusperte sich, während Noriko unsicher kicherte. „Lass uns am besten erst mal ein Feuer machen.“, schlug Ren vor. Noriko wollte gerade fragen, ob es für ein Lagerfeuer nicht schon zu spät wäre, als ihr auffiel, dass es schon dämmerte. Die beiden hatten nicht gemerkt, wie die ganze Zeit vergangen war. „Und schon ist es wieder Abend geworden…“, flüsterte sie leise. Eine halbe Stunde später war der Himmel schon dunkel. Noriko’s Kleider hingen über einem hohen Stein nahe dem knisternden Feuer und trockneten langsam. Ren saß hinter einem großen Felsen und passte auf, dass nichts ungewöhnliches passierte. Noriko saß am Feuer, ihre Arme hatte sie um ihren schmalen Körper geschlungen, um nicht vollkommen entblößt zu sein. Sie begann zu zittern und nieste zwei Mal. „Warum ist dir eigentlich kalt? Du müsstest doch durch diese Eisfähigkeiten an Kälte gewohnt sein, oder?“, fragte Ren verschmitzt und sie hörte ihn kichern. Noriko ignorierte diesen Gedanken gekonnt. Zwei Minuten später ertönte erneut seine Stimme: „Soll ich mich nicht doch zu dir setzen? Ich habe im letzten Dorf gehört, dass ein sehr perverser junger Mann mit braunen Haaren in der Gegend umherstreifen soll…“ „Nein, ich verzichte…“, sagte Noriko und ihre Zähne klapperten. Hoffentlich würde ihre Kleidung bald trocken sein, ihr gefiel der Gedanke nicht, vollkommen nackt in einem dunklen Wald zu sitzen – ob mit Ren in ihrer Nähe oder ohne ihn. Seufzend sah sie zu ihren Beinen, welche sie immer noch nicht bewegen konnte. Wenn sich nicht bald etwas an ihrem Zustand ändern würde, würde sie anfangen, sich ernsthafte Sorgen um ihre Beine zu machen. Immerhin konnte sie nicht von Ren verlangen, dass er sie ständig durch die Gegend tragen würde. Plötzlich raschelten die Büsche und Noriko schrie auf, die Angst vor einem ungebetenen Gast lähmte nicht nur ihre Beine. Ren kam augenblicklich angerannt, sein Katana mit beiden Händen umklammert. Er stellte sich vor sie. „Was ist los? Bist du verletzt?“, fragte er. Erneut schrie Noriko auf, diesmal wegen Ren. Er drehte sich zu ihr um und sein Kopf nahm die Farbe einer reifen Tomate an. Seine linke Hand legte sich auf seine Augen und er stolperte rückwärts. „Verzeihung!“, stammelte er und stieß mit dem Rücken gegen einen Baum. Er ging zu Boden und rieb sich den Hinterkopf, eine Hand noch immer vor seinen Augen. Noriko griff nach dem teilweise getrockneten Kimono von Ren’s Mutter und streifte ihn über ihren nackten Körper. Dann gab sie Ren das Zeichen, dass er die Augen wieder öffnen könne. Er räusperte sich und strich sich blonde Haarsträhnen aus den Augen, sein Gesicht war noch immer sehr rot. „Was war das eben?“, fragte Noriko und erhob sich. Ren wollte etwas erwidern, als das Geräusch zum zweiten Mal ertönte und Noriko sich hinter ihm versteckte. Ren umklammerte sein Katana und richtete es auf die raschelnden Büsche vor ihnen. Ein Mädchen trat aus den Büschen. Im Licht des Lagerfeuers konnte man erkennen, dass sie lange, hellblonde Haare hatte und relativ groß war. Ihr hübsches Gesicht mit zwei haselnussbraunen Augen wirkte allerdings ausdruckslos, als sie die beiden Fremden Personen musterte. Sie begann zu sprechen: Ein Jahrhundert wird vergehen, ehe sie sich zu erkennen geben wird. Sie ist kein normales Wesen, sie trägt das Blut der geflügelten Rasse in sich. Nur sie alleine trägt die Kraft in sich, um den Krieg zu beenden. Doch wenn sie nicht rechtzeitig erkannt wird, ist alles vergebens und das Land wird untergehen. Noriko schluckte, die Stimme des Mädchens klang seltsam emotionslos, nicht wirklich. Ren regte sich. „Was willst du von uns?“, fragte er nervös und umklammerte den Griff seines Schwertes noch fester. Das Mädchen schien sich zu verändern, ihr Gesichtsausdruck wurde freundlich und ihre dunklen Augen funkelten im Licht des Feuers. „Ich will euch helfen. Meine Familie hat schon immer auf der Seite der Tsukami gekämpft, und wir werden sie weiterhin unterstützen.“, sagte sie und auch ihre Stimme hörte sich anders an. Ren und Noriko tauschten einen Blick aus, beide schienen verwirrt zu sein. Sie sahen zu dem schönen Mädchen herüber, keiner traute sich, etwas zu sagen. Stattdessen richtete das Mädchen wieder das Wort an die zwei. „Ja, ich weiß, dass ihr zwei Tsukami seid. Ich habe euch heute Mittag beobachtet.“, erklärte sie und sie spielte mit einer ihrer blonden Haarsträhnen. Wieder tauschten Noriko und Ren einen unsicheren Blick. Das Mädchen sah sie leicht bedauernd an. „Ich weiß von deiner Lähmung. Wenn du mich dir nicht helfen lässt, wirst du nie wieder laufen können. Das Gift, das durch die Venen in deinen Beinen läuft, ist kein normales Gaiengift. Die Konzentration ist viel höher, denn es wurde jenes von einem sehr alten Exemplar verwendet.“, erklärte sie, diesmal richtete sie sich direkt an Noriko. „Sag uns erst, wer oder was du bist!“, verlangte Ren. Er gab seine Kampfhaltung noch immer nicht auf. „Und wie willst du Noriko überhaupt heilen?“ Das Mädchen lächelte. „Mein Name ist Misa Shinsetsu. Ich bin eine Kitsune-Füchsin. Wie ihr hoffentlich wisst, können wir Kitsune Heilmagie anwenden. Sehr starke Heilmagie.“, erklärte sie und sie verbeugte sich kurz. Endlich gab Ren seine aggressive Haltung auf. Er sah erneut zu Noriko, sie wusste nicht, was sie von dieser Situation halten sollte. Schließlich nickte sie Ren einmal zu, und er trat beiseite, sodass Misa zu Noriko gehen konnte. Sie schritt an ihm vorbei, ihr Gang war sehr anmutig, obwohl sie sich nicht sonderlich dafür anzustrengen schien. Sie kniete sich neben Noriko auf den Boden, Noriko streckte ihre Beine aus. Misa legte je eine Hand auf ein Bein und schloss die Augen. Sie murmelte tonlos ein paar Worte und ihre Hände begannen zu glühen. Jede Menge Energie wurde freigesetzt und ein angenehm warmer Wind blies durch die kleine Lichtung. Das Glühen verschwand, Misa öffnete ihre Augen und lächelte Noriko zaghaft an. Diese wollte sogleich ausprobieren, ob sie ihre Beine nun wieder bewegen könnte, und tatsächlich: Sie konnte die Beine anziehen, ihr Gewicht verlagern, und anschließend selbstständig aufstehen. Als wäre niemals etwas geschehen. Ren hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah misstrauisch zu Misa, welche sich ebenfalls wieder aufrichtete. „Und was willst du jetzt von uns?“, fragte er, seine Stimme klang ganz anders als sonst. Noriko sah ihm ins Gesicht, ihm schien diese ganze Sache nicht zu gefallen. Misa sah schüchtern zu ihm herüber. Ihr Magen knurrte laut. „Ich werde…alles…erklären…“, murmelte sie, dann brach das Mädchen zusammen und fiel neben Noriko auf den Boden. Sie atmete überrascht auf, kniete sich zu dem Mädchen herunter und hielt ihr eine Hand an den Hals. „Sie lebt noch. Aber ihr Puls ist sehr schwach.“, sagte sie und Ren kniete sich ebenfalls zu ihr herunter. „Was sollen wir jetzt mit ihr machen? Wir können sie nicht einfach hier liegen lassen. Außerdem hat sie mir geholfen…“, erklärte Noriko und sie sah in Ren’s Gesicht. Seine Augen wanderten über Misa’s bewusstlosen Körper. Sie hatte anscheinend kaum noch Kraft gehabt, und hatte ihre letzten magischen Kräfte für Noriko’s Heilung verbraucht. Und für dieses Opfer war Noriko ihr etwas schuldig. Zusätzlich dazu, dass sie dafür gesorgt hatte, dass sie wieder alleine laufen konnte. Ren seufzte. „Lass uns später darüber nachdenken. Wir sollten jetzt erst mal schlafen. Wenn sie morgen wieder wach ist, können wir sie auch noch nach dem fragen, was sie vorhin gesagt hat. Das erscheint mir alles sehr seltsam…“, sagte er und Noriko nickte ihm zu. Ren’s Magen knurrte. Peinlich berührt sah er auf den Boden und entschuldigte sich. Noriko winkte ab, sie selbst verspürte keinen Appetit. Nicht nach all dem, was heute geschehen war. „Denkst du, dass es hier irgendwo etwas zu Essen gibt, das ich nicht selbst zubereiten muss?“, fragte er und sah sich um. Seine Augen bemerkten einige seltsam aussehende Pilze. Er stand rasch auf und pflückte ein paar davon. Noriko verzog das Gesicht. „Willst du auch einen haben?“, fragte Ren, doch sie schüttelte schnell den Kopf. Ren besah sich die Pilze genauer und probierte den Ersten. Er schmeckte nicht schlecht, also aß er noch einen und noch einen. Irgendwann hatte er keinen Pilz mehr in der Hand. Zufrieden strich er sich über den Bauch und lächelte Noriko verträumt an. „Und, waren sie lecker?“, fragte sie freundlich, obwohl sie sich eigentlich nicht vorstellen konnte, dass diese bunte Pilzmischung gut für den Körper sein könnte. „Sie sind sehr delikat.“, sagte er und lächelte weiterhin. „Freut mich zu hören…“ „Ich könnte nicht glücklicher sein. Einen Moment mal…“, sagte er plötzlich und versuchte das Gesicht zu verziehen, doch er konnte nicht aufhören zu lächeln. „Oh Gott! Was soll ich tun? Meine Gesichtszüge lassen sich nicht mehr kontrollieren!“, sagte er bestürzt, doch durch das breite Grinsen in seinem Gesicht klang diese eigentlich leicht verzweifelte Aussage viel mehr wie eine Art Witz. Er griff nach Noriko’s Arm. „Noriko, mach was!“ „Was soll ich denn tun?“, fragte sie verwirrt, also war es wirklich nicht gut gewesen, diese Pilze zu essen. Ren versuchte seine Mundwinkel mit seinen Fingern nach unten zu ziehen, doch das Lächeln verschwand nicht. „Keine Ahnung, kannst du die Wirkung nicht irgendwie einfrieren?“ „Bitte was? So funktioniert das doch gar nicht!“, erklärte sie und sie zuckte zusammen, als Ren lauthals zu Lachen begann. Sie konnte nicht anders, als fassungslos den Kopf zu schütteln. Im nächsten Moment fiel Ren nach hinten um und schien tief und fest zu schlafen. Noriko kicherte leise. Wenigstens war diese Tag noch lustig zu ende gegangen. Ihr Blick wanderte zu dem bewusstlosen Mädchen. Morgen früh würden sie noch einiges mit ihr klären müssen. Hoffentlich können wir morgen normal mit ihr reden… Dann schlief auch Noriko langsam ein, und zum ersten Mal seit einer langen Zeit schlief sie einen traumlosen Schlaf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)