Schattenland von AnniPeace (Die Legende der geflügelten Rasse) ================================================================================ Kapitel 1: Vergangenheit ------------------------ Ren nickte ihr zu. „Ein sehr schöner Name.“, stellte er fest und das Mädchen lächelte ihn zaghaft an. Er lächelte freundlich zurück. „Danke. Das hat mir vorher noch niemals jemand gesagt.“, sagte sie und er sah sie voller Erstaunen an. „Das wundert mich. In deinem Dorf gab es doch bestimmt jemanden, der dich gern hatte, und dir Komplimente gemacht hat, oder?“ Noriko schüttelte den Kopf. Ren hob eine Augenbraue an, sagte aber nichts weiter. Die beiden sahen in unterschiedliche Richtungen und ein anhaltendes Schweigen brach aus. Es wurde durch ein knurrendes Geräusch unterbrochen, welches auf Noriko’s Magen zurückzuführen war. Peinlich berührt legte sie beide Hände auf ihren Bauch. „Tut mir leid. Es ist schon eine Weile her, seitdem ich etwas gegessen habe…“, sagte sie und ein leicht verlangender Unterton war in ihrer Stimme. Ren strich sich einige blonde Haarsträhnen aus den Augen. „Kein Problem! Zufälligerweise hab ich etwas zu Essen gekocht! Du kannst gerne etwas davon haben, es wird dir sicherlich schmecken!“, sagte er zuversichtlich und langte nach dem kleinen Kessel. Hungrig sah Noriko hinein – sie erstarrte. Das ganze sollte wohl eine Art Eintopf werden, doch die Resultate überzeugten sie nicht sehr: Sie vertraute der rot-grünen Färbung des zähflüssigen Eintopfes nicht, außerdem sah sie deutlich die Schwanzflosse und Gräten eines Fisches, ein paar braune Wurzeln samt Erde und ein paar Waldbeeren. Was hatte Ren sich nur bei so einer bunten Mischung gedacht? Sie schluckte und überlegte, ob sie tatsächlich wagen sollte, so etwas zu probieren. Vielleicht würde es ja ganz genießbar sein, oder sogar gut schmecken. Doch herausfinden konnte sie es nur auf einen Weg, und bei der Vorstellung stellten sich ihre Nackenhaare auf. Ängstlich sah sie dabei zu, wie Ren ihr etwas von dem verdächtig wirkenden Essen reichte. Er sah sie erwartungsvoll an, während sie nur fassungslos auf die sogenannte Nahrung starrte. Sie wollte nicht unhöflich erscheinen, also probierte sie etwas. Und bereute es auf der Stelle. Das war das Schlimmste, was sie jemals in ihrem Leben gegessen hatte. Zuerst wurde ihr heiß, dann kalt, ihre Zunge begann zu kribbeln und der Eintopf wandelte seine Konsistenz von zäh zu schleimig, was das Kauen nicht wirklich vereinfachte. Noriko hustete kurz und sah dann zu Ren herüber, welcher hoffnungsvoll lächelte. „Was soll das denn sein?“, fragte sie milde, betont höflich und neugierig. „Ich nenne es ‚Natur-Eintopf‘. Sag mir deine ehrliche Meinung. Es schmeckt unglaublich, oder?“, fragte er und lächelte breiter. Ja, unglaublich war das passende Wort, dachte Noriko, doch es fehlte noch der Anhang ‚schlecht‘. „Wie soll ich das ausdrücken? Es hat einen sehr…eigenen Geschmack.“, sagte sie und versuchte zu lächeln, doch ihr Mund zuckte und Ren bemerkte, dass sie versuchte, so nett wie möglich zu sein. Er lachte laut. „Ist schon gut, ich weiß, dass ich nicht sonderlich gut kochen kann. Deshalb übe ich auch dauernd. Wenn du willst, kannst du meine Testerin sein. Ich habe noch etwas Anderes vorbereitet, ich nenne es ‚Pelziger Birnen-Käse‘, und-“ „Äh nein, danke, ich bin schon satt!“, sagte sie abwehrend und rieb sich den Bauch. Er zuckte mit seinen Achseln. „Da kann man wohl nichts machen.“ Sie nickte eifrig und seufzte glücklich auf, denn eine weitere Portion von Ren’s „unglaublichen Essen“ würde sie nicht so einfach verkraften können. Der Junge stellte den Kessel weg und setzte sich gegenüber von Noriko auf den grünen Grasboden. Zwischen ihnen loderte das Lagerfeuer auf, welches Ren verwendet hatte, um das Essen zu kochen. Er legte den Kopf schief und musterte sein Gegenüber. Sie lief leicht rot an. „Was ist los? Warum starrst du so?“, fragte sie und sah an sich herunter. Für sie gab es da nichts Außergewöhnliches zu sehen, nur ein paar Kratzer, schlechte Bandagen und ihr teilweise zerfetzter Kimono. Blitzschnell hob sie den Kopf an und blickte in sein leicht lächelndes Gesicht. „Ist es wegen meinen zerfetzten Kleidungsstücken?“, fragte sie skeptisch und versteckte ihre nackten, von Kratzern und Dreck bedeckten Beine unter dem Kimono. Er kicherte vergnügt. „Nein nein, wegen so einem Grund würde ich dich niemals so anstarren, das gehört sich schließlich nicht. Mich interessiert vor allem eins: Warum lagst du verletzt im See der Wunder? Warum bist du überhaupt verletzt? Wie alt bist du, bist du nicht zu jung, um alleine umher zu reisen? Du siehst ja, dass man sowas nicht auf die leichte Schulter nehmen darf, und-“ „Jetzt ist langsam mal gut, nicht alles auf einmal!“, unterbrach sie ihn, da sie sich so viele Fragen auf einmal gar nicht merken konnte, dafür tat ihr Kopf zu sehr weh. Vor ihren Augen verschwamm von Zeit zu Zeit wieder ihre Sicht, oder ihr wurde für wenige Sekunden schwarz vor Augen, doch das fasste sich meistens recht schnell. Wieder kicherte Ren. „Ist gut, ich bin still und du redest. Wie hieß dieses Sprichwort noch gleich? Reden ist Schweigen, Silber ist Gold?“ Noriko sah ihn verwirrt an. „Äh, ja, so ähnlich…Naja egal. Wie ich in den See gekommen bin, weiß ich nicht. Ich bin abgestürzt…ich meine ich bin hingefallen, mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen und wurde bewusstlos, bei meinem Fall habe ich mir wohl die Arme und Beine an Ästen und dem Boden aufgeschürft und so weiter...Und was heißt hier zu jung? Sechzehn ist ein angemessenes Alter, um alleine umher zu reisen. Außerdem scheinst du nicht sehr viel älter als ich zu sein.“, sagte Noriko und holte nach diesem langen Vortrag erst einmal Luft. Ren hatte ihren Erzählungen aufrichtig gelauscht und ab und zu genickt. Nun allerdings zog er eine leicht verständnislose Grimasse. „Was, sechzehn? Unfassbar, warst du denn schon immer so klein?“, fragte er ungläubig und er lachte erneut, diesmal voll Schadenfreude. Noriko funkelte ihn wütend an. „Was kann ich denn dafür, dass meine Eltern keine riesigen Baumstämme waren, wie deine offensichtlich sind?“, fragte sie und er hörte augenblicklich auf zu lachen. „Sie leben nicht mehr?“, fragte er und machte nun ein vielmehr mitfühlendes Gesicht. Noriko legte sich eine Hand auf den Mund, um nicht noch mehr Geheimnisse von ihr preiszugeben. Ihre Vergangenheit ging niemanden außer sie selbst und ihre Familie etwas an. „Ist egal, denk nicht weiter darüber nach. Nochmal zu meiner indirekten Frage: Wie alt bist du denn?“ Ren zuckte mit seinen Schultern. „Achtzehn. Nicht zu alt und nicht zu jung, eben frisches, knackiges Gemüse, wie mein Vater sagen würde.“ Das Mädchen hob beide Augenbrauen an. Dann lag dieses Gen für seltsame Bezeichnungen wohl tatsächlich in der Familie, und ließ sich nicht auf einen peinlichen Unfall aus Ren’s Kindheit zurückführen…trotzdem amüsant genug. Sie lächelte leicht. „Willst du wirklich nicht darüber reden?“, fragte er erneut und kam ein Stück näher ans Feuer. „Ich weiß, wir kennen uns erst seit heute, oder seit dem Tag, an dem ich dich gefunden habe. Aber da kanntest du mich ja noch nicht… ist ja egal, der Punkt ist, dass du gerne über so etwas mit mir reden kannst. Mit meinem Sieb im Kopf werde ich das schnell wieder vergessen haben.“, sagte er und klopfte sich mit einer Hand auf den Kopf. Noriko kicherte. Dieser Junge schien zwar nett und aufrichtig zu sein, doch sie konnte den Menschen einfach nicht trauen, deshalb verneinte sie seine Frage und blickte hinab zu ihren Beinen. Die beiden führten einige Stunden lang ein Gespräch über alltägliche Dinge, oder das, was Ren sich unter alltäglich vorstellte. Irgendwann waren sie bei Tieren angelangt, Ren plauderte heiter über einen zahmen Waschbären, den er früher als Haustier gehalten hatte, ihm aber nach einem halben Jahr entlaufen war, als Noriko erneut lächelte und ihr Blick gen Himmel schweifte. Die Dämmerung, die sich nun als Abenddämmerung herausgestellt hatte, war schon vorüber und die kalte, dunkle Nacht färbte den Himmel schwarz, nur einige Millionen Sterne und der helle Vollmond leuchteten auf. Noriko dachte über diese Stunden mit Ren nach, während er wild gestikulierend die Flucht des Waschbärs nacherzählte, und ihr wurde klar, dass sie seit jenem Tag nicht mehr so oft gelacht und gelächelt hatte, wie an diesem. „…und dann ist er ins Gebüsch gerannt und ich habe ihn nie wieder gesehen.“ Mit diesen Worten endete Ren’s Erzählung und er setzte sich wieder auf den Boden ihr gegenüber. „Aber genug von mir. Erzähl mir doch endlich, was dich bedrückt, danach wird es dir sehr viel besser gehen. Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung.“ Noriko dachte einen Moment darüber nach und fasste einen neuen Entschluss. „Na gut, ich erzähle dir von mir. Wenn du mir zuerst von deiner Familie und Vergangenheit erzählst.“, sagte sie und Ren öffnete den Mund, nur um ihn zu einem schiefen Lächeln zu formen. „Ich erzähle doch schon die ganze Zeit. Du bist dran!“ Sie schüttelte den Kopf. „Deine Stimme ist angenehm, man kann ihr gut lauschen und sie macht mich schläfrig.“, sagte sie bestimmend und er zuckte mit seinen Achseln. „Das nenn ich ein seltsames Kompliment…Na gut. Ich stamme aus einer reichen Familie. Ich bin deshalb vermutlich ein verwöhntes Einzelkind, welches niemals mit all dem Geld aufwachsen wollte. Ich durfte das Haus niemals verlassen und aus Sicherheitsmaßnahmen sind wir jedes halbe Jahr umgezogen. Ich hatte sehr viel Privatunterricht ab meinem vierten Lebensjahr. Ich wurde sogar in der alten Fumi-Schrift unterrichtet und-“, erzählte er, doch sie unterbrach ihn, ungläubig über seine Erzählungen: „Unterricht in der Fumi-Schrift? Das ist doch die alte Kagami-Schrift, die Schriftzeichen der Tsukami! Ich dachte immer, dass niemand außer ihnen sie lesen kann! Warum solltest du darin unterrichtet werden?“, fragte sie und all ihr Wissen über die Fumi-Schrift sprudelte förmlich aus ihr hinaus. Ren lächelte leicht, da sie ihn schon so schnell unterbrochen hatte, doch gleichzeitig musste er schwer schlucken. Er schien ernsthaft darüber nachzudenken, was er ihr über seine Familie sagen konnte, denn die genannten Fakten waren nur grobe Erzählungen. Noriko war dies auch schon aufgefallen, aber was konnte sie schon erwarten, wenn sie Ren erst seit so kurzer Zeit kannte. „Nun, in meiner Familie ist es seit sechs Generationen eine Tradition, die Fumi-Schriftzeichen zu lernen…doch das ist eigentlich völlig egal, ich habe mich nämlich immer erfolgreich dagegen geweigert, diese gefühlten 3000 Zeichen jeden Tag zu lernen. Aber weiter im Text. Irgendwann bin ich zufällig auf ein Mädchen gestoßen, das sehr traurig wirkte. Ich habe mich nach einiger Zeit mit ihr angefreundet und meine Eltern hatten das falsch verstanden, und eine spätere Verlobung ausgemacht. In reichen Familien ist es ja üblich, solche Vermählungen schon im Kindesalter auszumachen.“ Er machte eine kurze Pause. „Also bist du schon verlobt, meinen Glückwunsch!“, sagte sie nickend und er lächelte traurig. „Danke, aber diese Verlobung nützt mir mittlerweile nichts mehr. Sie verschwand einige Tage, nachdem die Vereinbarung getroffen worden war. Kurz darauf verstarben meine Eltern. Und seitdem bin ich auf der Suche nach ihr, ich bin fest davon überzeugt, dass sie noch irgendwo hier in Kagami herum irrt und nach mir sucht.“ Damit endete seine Erzählung. Es schien ihm sichtlich schwer gefallen zu sein, jemandem seine Vergangenheit zu erzählen. Sie konnte das nur zu gut nachempfinden, sie erzählte ihre Geschichte auch nicht gerne. Bis jetzt hatte sie es aber soweit noch niemals geschafft, bisher waren alle ihre Freunde plötzlich zu Verrätern geworden, und im Nachhinein war sie nun ganz froh, dass sie niemals jemandem von ihrem Leben erzählt hatte. Auch, wenn diese schrecklichen Ereignisse erst einige Wochen zurück lagen. Noriko’s Augen waren groß geworden, als sie über Ren’s Worte nachdachte. Eine Sache schien ihr nicht in die Geschichte zu passen. Sie wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn sie ihn noch mehr fragen würde, doch einen Versuch war es wert. Kurzentschlossen nahm sie ihren Mut zusammen und fragte: „Warum hast du hier in Kagami gelebt? Ich meine, es geht mich wirklich nichts an, aber diese Sache erscheint mir recht seltsam. Kein Mensch würde freiwillig in Kagami leben, wo doch die gefährlichen Abkömmlinge der geflügelten Rasse hier leben. Und dann könnte es doch sein, dass deine Verlobte aus einem…vorhersehbaren Grund nicht mehr zurückgekommen ist...“ Noriko hatte ihn bei ihren Worten nicht angesehen, sie hatte schon all ihren Mut verbraucht, um diese Frage zu stellen. Sie hörte Ren verächtlich lachen. Verwirrt blickte sie auf, er wirkte erneut ziemlich nervös. „Nun…ich hatte ja erwähnt, dass meine Familie, die Shinrai-Familie, sehr reich ist. Ich erbte und besitze mehr Geld, als ich jemals in meinem ganzen Leben ausgeben könnte. Und meine Eltern hatten vor meiner Geburt für mehrere Häuser gesorgt, falls wir aus einem bestimmten Grund nicht mehr länger in unserem normalen Haus wohnen können würde. Für zusätzlichen Schutz haben sie auch für einige Häuser in Kagami gesorgt. Damals, als diese schrecklichen Dinge geschahen, lebten wir nahe der Hauptstadt von Kagami.“ Noriko nickte verständnisvoll. Diese Gründe erschienen ihr mehr als einleuchtend. Sie konnte zwar nicht viel über das Leben als Kind einer reichen Familie erzählen, aber sogar so arme Personen wie ihre eigenen Eltern würden solch eine Maßnahme ergreifen. Doch leider hatten sie es nicht getan. Sie lächelte leicht und dankte ihm dafür, dass er ihr seine Geschichte anvertraut hatte. Er lächelte ebenfalls, wirkte allerdings auch etwas mitgenommen, wahrscheinlich hatte diese Geschichte wirklich schon lange auf seinen Schultern gelastet. Immerhin hatte es sich für sie so angehört, als wäre er seit zehn Jahren alleine durch das Land gestreift, um nach einer vermissten Person zu suchen. Und dass er dabei noch so normal geblieben war, zeigte deutlich seinen starken Willen. „Ich habe unsere Abmachung nicht vergessen. Jetzt bist du an der Reihe, meine Aufmerksamkeit gehört einzig und alleine dir.“ Noriko‘s Blick wanderte zum Boden, ihr Lächeln verschwand und erneut verschwand sie in den Tiefen ihrer Gedanken. Könnte sie das Risiko bei Ren eingehen, und eine Ausnahme machen? Zu ihrer Verteidigung, die letzten paar Male, als jemand auch nur annäherungsweise von ihrer Vergangenheit erfahren hatte, hatten sich alle Beteiligten gegen sie gestellt, und sie war erneut allein gelassen worden. Sie überlegte, ob sie ihm vielleicht eine falsche Geschichte erzählen sollte, schüttelte dann aber den Kopf. Ren hatte ihr seine Vergangenheit erzählt, nun musste sie es ihm gleichtun. Noriko seufzte tief und sie spielte mit ihren Fingern. Ren würde ganz sicher nicht so reagieren, wie alle anderen Menschen. Dazu kam noch die Tatsache, dass sie ihm noch einen Gefallen schuldete, da er sie aus dem See gezogen, und anschließend ihre zurückgebliebenen Wunden notdürftig verarztet hatte. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, ehe sie mit dem Erzählen begann. Sie würde es einfach so machen, wie er es vorgemacht hatte: Kurz und schmerzlos, nur die groben Informationen und keine unwichtigen Einzelheiten. Ren hatte die lang anhaltende Stille kaum bemerkt, er war in diesem Moment zu sehr in seine eigenen Gedanken vertieft. Es gab da eine Sache, die ihn einfach nicht mehr los lassen wollte. So wie Noriko ihn eben angesehen hatte…wie sie gelächelt hatte… Er wurde gegen seinen Willen an jemanden erinnert, doch er wusste einfach nicht, an wen genau er sich bei ihrem Aussehen erinnerte. Er sah auf, als er sie seufzen hörte. Seine Augen weiteten sich gespannt, bei der Vorstellung, was das Mädchen ihm gleich erzählen würde. „Ich bin mir sicher, dass dir die Namen der folgenden Wesen, Gaien und Walker, etwas sagen, oder?“, fragte sie, doch sie wartete auf keine Reaktion, sie sprach einfach weiter und richtete ihren Blick auf das zischende Lagerfeuer. „Meine Eltern waren arme Leute. Trotzdem aber sehr angesehene Personen in dem Dorf, aus dem ich stamme.“ Sie wollte gerade noch den Namen des Dorfes hinzufügen, Shuto, als ihr wieder einfiel, dass dieses Dorf die Hauptstadt von Kagami war, und kein normaler Mensch wurde in Kagami geboren. „Geboren wurde ich, natürlich, in Keishi.“, fügte sie schnell hinzu, denn sie glaubte sich richtig zu erinnern, dass so die Hauptstadt von Katachi hieß. Ren nickte ihr zu. „Jedenfalls passierte etwas, was nicht hätte passieren dürfen. Sie begingen einen schweren Fehler, und seitdem waren sie, ich und meine ältere Schwester auf der Flucht durch das ganze Land. Schließlich hatten wir es vor ein paar Jahren geschafft, uns ein kleines Häuschen zu beschaffen, ohne weiter aufzufallen. Doch vor ein paar Wochen wurden wir aufgespürt, eine gewaltige Masse an Soldaten der Regierung tauchte auf und brachte jede Menge Walker und abgerichtete Gaien mit sich. Sie wollten aus einem mir unbekannten Grund meine Schwester mit sich nehmen. Voller Angst begannen meine Eltern einen Kampf gegen die unmenschliche Anzahl von bewaffneten Menschen, doch sie unterlagen und wurden besiegt.“ Auch Noriko legte eine kleine Pause ein, denn sie spürte, dass die Tränen in ihr hoch kamen, und sie wollte nicht weinen. Nicht hier, nicht jetzt, nicht vor Ren. Der blonde Junge sah sie erschrocken aus seinen blauen Augen an. „Wenn du sagst besiegt…heißt das…?“, fragte er und er ließ das Ende des Satzes in der Luft schweben. Noriko nickte schwach. Sie blinzelte die ersten Tränen aus ihren Augen und atmete tief durch. „Ja, sie wurden getötet. In einem so unfairen Kampf, dass es mich noch heute verletzt, da ich sie nicht einmal angemessen begraben konnte. Wie hätte ich auch die Chance dazu bekommen sollen?“ Noriko verzog nicht die kleinste Miene, sie starrte nur mit glasigen Augen ins Feuer und regte sich nicht. Ihr Gesicht wirkte wie das einer Puppe. Ren sah sie mitfühlend an, wollte ihr eine Hand auf die Schulter legen, doch er entschied sich dagegen. „Ihre Schreie verfolgen mich noch heute…Die Erinnerungen sind schmerzvoll, wenn ich daran denke, dass ich erneut aufgestanden bin, doch ich wurde von hinten von ein paar Soldaten angegriffen. Sie traten zu, immer wieder, so hart sie konnten. Sogar, als ich nur noch ein wimmerndes Häufchen war. Dann hörte ich sie wieder schreien, doch jemand trat auf meinen Kopf und alles wurde dunkel. Als ich wieder aufgewacht bin, war niemand mehr da. Weder meine Schwester, noch die Leichen meiner Eltern. Überall war Blut und ich wollte so schnell wie möglich weg von diesem Ort.“ Nachdem sie ihre Erzählung beendet hatte, verstummte sie erneut. Sie saß einfach nur da während ihr Blick auf dem Feuer ruhte. Ren machte ein nachdenkliches Geräusch, welches Noriko aufsehen ließ. Er ließ sich zurück fallen und stützte sich mit seinen Unterarmen ab, während sein Blick in den Himmel wanderte. Er verharrte so einige Minuten, in denen Noriko ihn schweigend musterte. „Eine Sache ist mir noch unklar. Warum hatte es die Regierung auf eine harmlose Menschenfamilie abgesehen?“, fragte Ren ungläubig und dachte weiter nach. Bei dieser Frage von ihrem Gegenüber hätte Noriko beinahe losgelacht. Ist das nicht offensichtlich? Weil meine Familie nicht aus Menschen besteht, sondern aus Tsukami, die vor langer Zeit einen Fehler begangen haben, und dafür für den Rest ihres Lebens büßen mussten. Diese ganze Angelegenheit erschien jedoch auch ihr seltsam. Sie konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern, was ihre Eltern so Schreckliches getan haben sollten, dass sie den sofortigen Tod verdienten. Mit Ausnahme der Tatsache, dass sie in den Augen der Menschen nichts weiter als wertlose Monster waren. Doch dieser Grund erschien ihr nicht plausibel genug, auch wenn er für jeden anderen Menschen gereicht hätte. Und wenn Ren erst herausgefunden haben würde, dass Noriko gar nicht menschlich war, würde er mit Sicherheit genauso darüber denken. Tsukami würden es niemals leicht haben. Nicht, mit all den Lügen und Legenden um ihre Abstammung. Doch die Menschen waren einfach zu verblendet, als dass sie sich umstimmen lassen würden. Und mit der geflügelten Rasse würde die Menschheit nun immer einen Sündenbock haben, dem sie alles anhängen könnten, was sie an schlechten Dingen erfuhren. So war ihr Leben viel einfacher und lebenswerter. „Ich weiß es auch nicht. Genau deshalb ist es mein Ziel, dies herauszufinden. Außerdem muss ich meine Schwester finden und sie befreien.“, sagte sie und ihr Blick musterte weiterhin das knisternde Lagerfeuer. Ren seufzte tief und setzte sich wieder gerade hin. Er lächelte sie aufmunternd an. „Du wirst das schon schaffen, glaub mir. Ich kenne dich zwar nicht gut, aber du scheinst mir ein starkes und mutiges Mädchen zu sein.“, sagte er und Noriko errötete leicht. „Danke…du wirst dein Ziel aber auch ganz sicher erreichen.“, sagte sie und Ren sah sie etwas verwirrt an. „Mein Ziel…?“ Noriko hob eine Augenbraue. „Du wolltest doch deine Verlobte suchen…? Oder hab ich das falsch verstanden?“ Ren winkte ab. „Achso, das meinst du. Naja, es fällt mir schwer das zu glauben. Immerhin suche ich sie schon seit zehn Jahren. Langsam gibt man die Hoffnung auf, wenn es schon so lange her ist. Es gibt keinen Ort, den ich nicht schon durchsucht habe.“, erklärte er und Noriko legte ihren Kopf schief. Dann lächelte sie. „Deine Geduld wird sich noch auszahlen. Dir sind doch bestimmt auch gute Dinge wiederfahren, oder?“, fragte sie aufmunternd und Ren nickte. „Ich habe dich kennengelernt.“, sagte er charmant und wieder wurde sie rot. Erneut wurde es still zwischen den beiden. Man konnte ein lautes Geräusch wahrnehmen. Wölfe, die den Vollmond anheulten. Ren trommelte mit seinen Händen auf den Boden. „Es ist schon spät. Willst du dich vielleicht noch etwas ausruhen?“, fragte er und Noriko merkte, dass sie sich tatsächlich sehr müde fühlte. Sie gähnte und der Junge lachte leicht. „Schlaf dich ruhig aus. Du wirst die fehlende Energie morgen brauchen.“ Sie verstand nicht recht. „Wofür?“ Ren lächelte schief und so langsam begann sie sein schönes Lächeln zu mögen. „Na für die lange Reise. Ich werde mit dir mitreisen und dir helfen, deine Schwester zu finden. Kleine süße Mädchen sollten nicht alleine umherreisen, das habe ich vorhin schon mal gesagt.“ Noriko wusste nicht, was sie darauf noch antworten sollte. Irgendwie ging ihr das alles zu schnell, und doch musste sie zugeben, dass der Gedanke, nicht mehr alleine sein zu müssen, sich äußerst gut anfühlte. Sie nickte schwach und gähnte erneut. Dann lief sie zu der Schlafmatte, auf welcher sie die letzten Stunden gelegen hatte, als sie noch bewusstlos gewesen war. Es dauerte nicht lange, und sie war eingeschlafen, ehe sie noch ein weiteres Mal über Ren nachdenken konnte. Ren schmunzelte leicht. Mit Noriko durch das Land zu reisen würde bestimmt noch interessant werden, da war er sich sicher. Und vielleicht würde er auf dem Weg noch die eine oder andere Information über seine Freundin sammeln können. Irgendjemand musste doch schon mal von Tora gehört haben… Er wollte gerade aufstehen, und sich selbst schlafen legen, als er sah, dass Noriko sich unruhig hin und her wälzte. Neugierig kam er näher und blieb neben ihrem schlafenden Körper stehen. Er beugte sich genau in dem Moment zu ihr herunter, als ihre Faust nach oben schnellte und sie laut „NEIN!“ schrie. Sie traf genau ins Schwarze und Ren knallte von der Wucht des erstaunlich harten Schlags zurück. Verdutzt über diese Handlung, rieb er sich seine, nun schmerzende, Nase und er sah zu Noriko, welche immer noch zu schlafen schien. Sie drehte sich um und lag nun mit dem Rücken zu ihm. Er schüttelte kichernd den Kopf und vermutete, dass sie wohl einen sehr lebhaften Traum träumte. Doch als er erneut zu ihrem Rücken sah, fiel ihm etwas auf, was er vorher noch nicht gesehen hatte. Er kam wieder näher und schob die dünne Decke, die ihren Körper bedeckte, ein Stück nach unten. Dort, wo ihre Schulterblätter sein müssten, waren zwei lange Risse im dicken Stoff ihres Kimonos. Er besah sich das Ganze noch näher und berührte die eingerissenen Stellen vorsichtig. Merkwürdig. Diese Risse sahen so aus, als wären sie durch gewaltigen Druck entstanden. Noriko hatte erwähnt, dass sie gestürzt war, doch konnten ein Sturz und ein paar Äste tatsächliche solche großen Löcher entstehen lassen? Durch einen der beiden Risse konnte er ein wenig nackte Haut von Noriko’s Rücken erkennen. Eine lange Narbe zog sich unter ihrem rechten Schulterblatt nach unten. Verwirrt sah er durch den anderen Riss, und auch hier sah er eine längliche Narbe, die genauso geformt war, wie die rechte. Er rutschte einen Meter nach hinten. Das konnte doch nicht möglich sein! Um sich vollkommen sicher zu sein, kam er wieder näher und untersuchte die beiden Risse erneut. Diesmal sah er keine Narben. Erleichtert atmete er aus. Sichtlich beruhigt stand Ren nun auf und ging zu seiner eigenen Schlafmatte. Auch er glitt nun unter dem hellen Schein des Vollmondes in einen wohltuenden Schlaf. Er schlief ruhig, ganz im Gegensatz zu dem Mädchen ihm gegenüber, denn sie träumte denselben verstörenden Traum, der sie schon die letzten Wochen wach gehalten hatte. Keiner von beiden schien die leuchtenden Augen zu bemerken, die aus einem Busch ganz in der Nähe zu ihnen herüber starrten. Dann verschwand der fremde Beobachter und als das Lagerfeuer zum letzten Mal knisterte, wurde die kleine Lichtung bis auf das Mondlicht in Dunkelheit gehüllt. Am nächsten Morgen wachte Noriko auf. Sie fühlte sich noch immer äußerst müde und erschöpft. Wahrscheinlich noch mehr, als gestern Abend. Sie gähnte laut und rieb sich die Augen, welche vom hellen Licht des Morgens geblendet wurden. „Guten Morgen!“, rief Ren erheitert. Noriko zuckte zusammen. Sie hatte doch tatsächlich vergessen, dass sie nicht mehr alleine unterwegs war. Sie sah herüber zu dem Jungen, welcher mit dem Rücken zu ihr saß und anscheinend seine Sachen einpackte. Sein blondes Haar glänzte golden im Tageslicht und Noriko dachte an ihre Schwester, welche in etwa die gleiche Haarfarbe wie Ren hatte. „Morgen.“, sagte sie leise und sie wollte aufstehen, doch ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Beine. Überrascht schrie sie auf, und Ren drehte sich verwirrt um. „Was ist los?“, fragte er und lief zu ihr herüber. Sie ballte die rechte Hand zur Faust und haute vorsichtig, aber doch kräftig auf ihre Ober-, und Unterschenkel. Sie spürte nichts. „Ich spüre meine Beine nicht…“, sagte sie tonlos, das war ihr noch nie passiert. Ren platzierte eine Hand auf ihrem linken Oberschenkel, was sie augenblicklich erröten ließ. Er drückte seinen Handballen auf ihre Haut, doch wieder spürte sie nichts. Er drückte fester. „Spürst du das?“, fragte er und sah direkt in ihre grünen Augen, doch sie schüttelte nur den Kopf. Ren nahm seine Hand zurück zu sich und kratzte sich am Kopf. „Vielleicht hast du falsch gelegen und dir einen Nerv abgeklemmt. Sowas kann vorkommen.“, erklärte er sachlich und Noriko sah bedenklich runter zu ihren Füßen. „Das wird doch wieder weggehen, oder?“ „Ja, schon. Aber das kann eine Weile dauern.“, sagte er und packte auch Noriko’s Schlafmatte zusammen. Er verstaute alle seine Sachen in einer Art Rucksack. Dann lächelte er sie schief an. „Mir bleibt keine andere Wahl, ich werde dich einfach tragen müssen!“, sagte er und Noriko wollte wiedersprechen, doch sie wusste genau, dass ihr keine andere Wahl blieb. Und sie wollte nicht riskieren, dass Ren sie zurücklassen würde, und sie wieder alleine wäre, wenn sie nicht laufen könnte. Deshalb nickte sie nur leicht und sie sah ihm dabei zu, wie er den Rucksack über die linke Schulter zog, und sich dann zu ihr herunter beugte. „Ich weiß, dass es sicherer wäre, dich auf dem Rücken zu tragen, doch dort ist im Moment kein Platz. Du gestattest?“, sagte er und er legte einen Arm an ihren Rücken, den anderen unter ihre Kniekehlen und dann hob er sie ohne größere Anstrengung hoch. Es war ein ungewohntes Gefühl, von so hoch oben auf den Boden zu sehen, denn Ren war sehr viel größer als Noriko. „Genieße die Aussicht!“, meinte er kichernd und er marschierte los. Noriko sah zu ihm hoch. „Wohin gehen wir überhaupt?“, fragte sie, denn natürlich brauchte man erst mal ein Ziel, bevor man losgehen könnte. „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne einmal kurz bei einem meiner Häuser vorbeischauen. Ich muss meinen Proviant aufstocken, außerdem brauche ich dringend eine neue Karte. Die alte musste gestern als Brennholz herhalten. Und außerdem will ich noch nach einer andere Sache suchen.“, erklärte er. Noriko nickte. „Wie lange wird es dauern, bis wir da sind?“, fragte sie und Ren schien nachzudenken. „Wenn ich mich richtig erinnere, dann dürfte das Haus nicht sehr weit von hier entfernt sein. Vielleicht eine halbe Stunde oder etwas mehr.“ Während langsam sie Zeit verstrich, plauderten die beiden über belanglose Dinge. Ren erzählte von einem Erbstück aus seiner Familie. Er deutete auf das Schwert, was an seiner Hüfte hing. „Dieses Katana ist schon sehr alt, aber es sieht noch genauso schön aus, wie an dem Tag, als mein Urgroßvater es als Geschenk erhalten hat. Es trägt den Namen ‚Natsuki‘. Das bedeutet ‚Sommergeist‘. Es war mir schon oft eine Hilfe in brenzlichen Situationen.“, erklärte er stolz und Noriko lächelte. „In meiner Familie gibt es keine besonderen Erbstücke. Und ich bin froh, wenn ich mich nicht mit Waffen wehren muss.“ „Hast du überhaupt eine Waffe, falls du dich wehren müsstest?“, fragte er und Noriko’s Hand fuhr instinktiv zu ihrem rechten Oberschenkel, an welchem ein Lederband festgebunden war, in welchem normalerweise ein kleiner Dolch steckte. Doch zu ihrer Verwunderung befand sich dort nichts anderes, als ihr Oberschenkel. „Oh, wenn du deinen Dolch suchst, den habe ich.“, sagte Ren. „Ich habe ihn vorsichtshalber an mich genommen, damit du ihn nicht verlierst, denn das Band war beschädigt.“, erklärte er und erneut wurde Noriko rot. Welchen Grund hatte er, an einer solchen Stelle nach irgendetwas zu suchen? Ren sah ihren Blick und wurde ebenfalls rot. „N-nicht, dass ich irgendeine Absicht hatte! Das ist mir aufgefallen, als ich deine Wunden versorgt habe! Ehrlich, ich wollte nicht…“ Noriko kicherte vergnügt, und kurze Zeit später fiel auch Ren ein, sein Lachen klang allerdings leicht nervös. Er blieb stehen und wühlte in seiner Hosentasche. Dabei drückte er das Mädchen in seinen Armen an sich, damit sie nicht zu Boden fallen würde. Noriko wurde klar, dass sie schon seit einer langen Zeit niemandem mehr so nah gekommen war, wie Ren in diesen letzten Stunden. Er zog schließlich das reparierte Lederband hervor und drückte es ihr in die Hand. „Im Reparieren von Dingen bin ich deutlich besser, als im Kochen.“, erklärte er grinsend und Noriko bedankte sich. Vom weiten aus konnte sie nun das Dach eines traditionellen, japanischen Hauses erkennen und sie war sicher, dass es Ren’s Haus war. Kurz darauf bestätigte sich ihre Vermutung, als Ren stehen blieb und das Haus musterte. „Da wären wir also…“, sagte er und setzte Noriko auf dem Boden ab. „Kannst du wieder laufen?“, fragte er, doch sie schüttelte den Kopf und wollte gerade etwas dazu sagen, als ein lautes Geräusch ertönte. Verschreckt sahen die beiden zu Ren’s Haus herüber und erneut ertönte ein Geräusch, diesmal ein sehr unmenschlich klingender Schrei. Noriko weitete ihre Augen und Ren stellte sich vor sie. Er zog sein Katana aus der Scheide und hielt es mit beiden Händen umklammert. „Irgendetwas stimmt da nicht!“, sagte er laut, um gegen die lauten Geräusche anzukommen, die aus dem Haus kamen. „Was macht solche Geräusche?“, fragte sie schreiend. Ren gab keine Antwort von sich, beide wussten die Antwort. Etwas nicht sehr erfreuliches. Dann knallte es laut und die vordere Wand des Hauses wurde eingeschlagen. Eine Staubwolke legte sich um die Umgebung und Noriko und Ren husteten, während sie versuchten, durch den Staub etwas sehen zu können – erfolglos. Weitere Geräusche folgten. Sie waren so laut, dass Noriko’s Ohren schmerzten. Nach einer halben Minute legte sich der Staub und endlich konnten die beiden erkennen, was hier so herum wütete: Der Boden bebte unter jedem einzelnen Schritt der vier langen Beine, die breiten Arme, geformt wie Krebsscheren, knallten laut, als die Scheren sich bewegten. Dann erschien der riesige, Skorpionartige Körper des Monsters, unmenschlich groß, beinahe so hoch wie das Haus. Der lange Schwanz der an eine Schlange erinnerte, bewegte sich hin und her und riss Bäume aus dem Boden. Neben dem ersten Monster tauchte noch ein zweites seiner Art auf, und das bedeutete absolut nichts Gutes. Zwei Gaien, die anscheinend eben durch das Haus gewandert waren, auf der Suche nach was auch immer, standen vor Noriko und Ren. Die zweite Gaie klickte bedrohlich mit seinen Scheren und der lange Schwanz schnellte nach vorne. Ein spitzer Giftstachel wurde am Ende des Schwanzes entblößt. Der Stachel stach dicht neben Ren in den Boden und hatte ihn nur knapp verfehlt. Noriko schrie auf und zog sich mit ihren Armen rückwärts, Ren schlug mit seinem Katana in die Richtung des Schwanzes. Er wich immer wieder aus und sprang vom Boden ab, um nicht vom kräftigen Schwanz weggefegt zu werden. Die zweite Gaie schien sich noch zurück zu halten. Während Ren weiterhin auswich, und ab und zu mit seinem Katana zustach, überlegte Noriko fieberhaft, was sie tun sollte, um Ren zu helfen. Sie könnte die Gaien beinahe mühelos mit ihren Fähigkeiten besiegen, doch das würde das Ende für ihre Reise mit Ren bedeuten, da er so ihre wahre Natur erkennen würde. Sie könnte versuchen, die Gaien abzulenken, doch wahrscheinlich würde dies nur funktionieren, wenn sie fliegen würde. Denn die Gaien waren solche riesigen Monster, dass sie kaum eine Bewegung auf dem Boden wahrnahmen, obwohl sie blind waren, und unter der Erde lebten. Nur leider würde dies genauso wenig nützen, denn auch dann hätte sie sich vor Ren enttarnt. Sie versuchte weiterhin eine Lösung zu finden, denn Ren war seit langem die erste, wirklich freundliche Person, der sie begegnet war, und das wollte sie nicht aufs Spiel setzen. Doch was sollte sie dann tun? Abwesend wie sie war, wurde sie wieder zum Boden der Tatsachen gebracht, als Ren laut aufschrie: Die Gaie hatte ihn am linken Arm mit ihrem Giftstachel gestreift, und da das Gift von Gaien eine lähmende Wirkung hatte, wurde sein Arm schlaff und er sprang zurück, während er die blutende Wunde mit der rechten Hand drückte, damit nicht unnötig viel Blut aus der Wunde tropfen würde. Das war zu viel. Noriko hatte eine Entscheidung getroffen. Es würde schmerzlich weh tun, wenn sie wieder alleine umherreisen musste, doch wenigstens konnte sie sich dann mit dem Gedanken trösten, dass sie ihr möglichstes getan hatte, um Ren zu helfen. Mit einem lauten Schrei, der Ren’s Blick zu ihr führte, rissen ihre Narben am Rücken auf und ihre eisblau schimmernden Flügel kamen zum Vorschein. Ohne Ren’s verängstigtem Blick zu begegnen, schlugen ihre Flügel und sie hob vom Boden ab. Die Wunden waren kein bisschen geheilt, und doch schaffte sie es, in der Luft einigermaßen zu schweben, während sie die Augen schloss und sich konzentrierte. Ihre Hände begannen zu glühen, als sie einige Worte murmelte und zu den Gaien runter sah. Sie sahen sie genauso ungläubig an, wie Ren es vermutlich gerade tat, obwohl sie über keine nennenswerte Intelligenz verfügten. Mit einem weiteren Schrei ließ Noriko die Kontrolle über die gesammelte Magie in ihren Händen los und ein mächtiger Strahl aus hellblauem Licht traf auf die riesigen Monster. Sie sah nicht hin, als alles um die Gaien herum vereiste, sie spürte nur den betäubenden Schmerz in ihren Flügeln, als diese nicht mehr gleichmäßig schlugen, sondern in der Bewegung verharrten und Noriko zu Boden stürzte. Sie richtete sich auf, ihre Beine lagen in einer seltsamen Position unter ihr. Ihre Flügel hingen schlaff an ihren Schultern runter. Langsam strich sie sich einige braune Haarsträhnen aus den Augen, dann drehte sie ihren Kopf zurück und sah ängstlich in Ren’s verdutztes Gesicht. Er starrte zu ihren Flügeln, der Blick brannte auf Noriko’s nacktem Rücken. Sie wollte etwas sagen, doch sie fand nicht die richtigen Worte. Ren schluckte, sah ihr dann wieder in die Augen. Er hielt noch immer seinen linken Arm fest umklammert. Seine Stimme klang schwach, als könne er nicht glauben, was er gerade eben erlebt hatte. Und natürlich, es war ja auch eine unfassbare Situation. Noriko konnte selber kaum glauben, was sie gerade eben trotz ihrer vielen Wunden geschafft hatte. „Noriko…du bist…eine Tsukami?“, fragte er, sein Blick verfinsterte sich schlagartig, als er seine eigenen Worte hörte. Noriko schloss ihre Augen, eine Träne fand ihren Weg über ihre Wange und tropfte zu Boden. Sie wollte es nicht hören. Sie wollte ihn nicht sagen hören, dass er sie verabscheute. Das könnte sie nicht ertragen. Es tut mir so leid… Versteckt zwischen einigen vereisten Bäumen und Büschen saß ein kleines Tier. Sein hellbraunes Fell glänzte genau so stark im hellen Sonnenlicht, wie das klare Eis. Es war etwas Besonderes, eine Kitsune-Füchsin. Sie hatte gespannt diese Szene beobachtet. Nun wanderte ihr Blick zu den beiden Gestalten, eine von ihnen offensichtlich eine Tsukami. Der Junge starrte wie gebannt auf die Flügel des Mädchens. Die Füchsin schloss ihre Augen und begann zu leuchten. Einen Moment später saß an derselben Stelle ein Mädchen mit hellblonden Haaren. Ich denke, sie werden mich verstehen… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)