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Magenta III

Im Bann der Aspekte
von

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Von Liebe und Familie

Die morschen Bohlen unter Risingsuns eisenbeschlagenen Stiefeln knarrten bedrohlich. Die Paladina blieben stehen und lauschte. Da war es wieder, das leise Geräusch, das nicht in diese Umgebung passte. Ein Hilferuf einer verzweifelten Frau. Einer Frau, die es hier nicht geben konnte. Nicht hier auf dem Friedhof von Sorrow Hill.

Die heilige Kriegerin zögerte. Ihr Blick irrte zurück zu der hellen Türöffnung hinter ihr. Dort draußen lag der verfluchte Friedhof ganz in der Nähe des Truppenlagers an der Chillwind-Spitze. Kommandant Valorfist hatte Risingsun dazu eingeteilt, die Untoten, die des Nachts aus den Gräbern krochen und eine Gefahr für die Sicherheit darstellten, zu dezimieren. Normalerweise war dies eine Aufgabe für die neu angekommenen Rekruten, die sich dabei ihre ersten Sporen verdienen konnten. Doch von denen gab es momentan im Chillwind Camp nicht allzu viele. Sie waren alle unter der Leitung eines anderen Hauptmanns nach Caer Darrow aufgebrochen. Risingsun war zu spät gekommen, um dem Sturm auf Scholomance noch beizuwohnen.

Dieser Umstand nagte an ihr, auch wenn sie das natürlich nie zugegeben hätte. Im Kampf gegen die verfluchten Untoten war kein Platz für Eitelkeiten. Trotzdem wäre es an ihr gewesen, diese Bastion des Bösen zu stürmen und dem Erdboden gleich zumachen. All die Vorbereitungen, Schweiß und Mühen und nicht zuletzt ein beträchtliches Maß ihres Soldes, die für die Beschaffung eines Schlüssels draufgegangen waren, der ihnen einen leichten Zugang nach Scholomance verschafft hätte. Sogar die Reise nach Tanaris war im Grunde genommen ihrem Plan, die Festung zu erobern, geschuldet gewesen, auch wenn sie die Gelegenheit, ein paar untote Trolle - ein doppeltes Unglück, wenn es nach ihrer Meinung ging - aus dem Weg zu räumen und dem Ausgrabungsleiter seine Steintafeln zu verschaffen, nicht hatte ungenutzt verstreichen lassen. Sie hatte es richtig machen wollen und im Endeffekt hatte es sie nur Zeit gekostet. Zeit, die jemand anders genutzt hatte, um ihren Platz einzunehmen. Von Kommandant Valorfists Standpunkt aus eine logische Entscheidung, das musste Risingsun zugeben. Trotzdem hätte sie es wirklich begrüßt, nicht für eine solch einfache Aufgabe eingeteilt zu werden. Nicht nach allem, was…
 

Die Paladina unterbrach sich selbst und horchte auf. Ihr Atem erschien ihr unnatürlich laut in der vom Geruch nach Moder und Schimmel durchsetzten Luft des maroden Hauses. Irgendwo tropfte Wasser zu Boden, ansonsten war es wieder still. Zu still dafür, dass die Paladina sich sicher war, gerade noch eine weibliche Stimme vernommen zu haben. Sie war aus dem ersten Stock des Hauses gekommen. Jetzt war nichts mehr zu hören, keine Schritte, keine ächzenden Balken, gar nichts. Konnte das eine Falle sein?

Risingsun fasste ihren Kriegshammer fester und machte sich langsam und vorsichtig daran, die Treppe zu erklimmen. Schon bei der ersten Stufe wurde ihr klar, dass von leise allerdings keine Rede sein konnte. Das verrottete Holz jammerte und stöhnte unter ihren Schritten. War es das, was sie vorhin gehört hatte? Oder gar der Wind, der durch einen löchrigen Fensterrahmen pfiff? Allerdings klangen diese Laute selten wie das, was die Paladina im nächsten Moment deutlicher vernahm als zuvor.

„Hilfe! So helft mir doch!“, rief eine Frau und Risingsun ließ alle Vorsicht fahren. Mit zielgerichteten Schritten stürmte die Paladina die Stufen empor, zertrümmerte mit dem Kriegshammer die morsche Zimmertür und streckte den Ghul, der sich dahinter befand, mit einem Schlag nieder. Die untote Kreatur wusste gar nicht, wie ihr geschah, als sie bereits in zwei Hälften geteilt zu Boden fiel, immer noch einen überraschten Ausdruck auf dem verrotteten Gesicht.
 

Schwer atmend sah sich Risingsun in dem Raum um. Es war zu seiner Zeit offensichtlich eine Schlafkammer gewesen. An der Wand lehnte die klägliche Leiche eines Wandschrankes, Scherben einer Waschschüssel lagen neben dem, was einmal eine Kommode gewesen sein mochte, und unter den zu Staub zerfallenen Vorhängen und Laken moderten die Reste eines Bettes vor sich hin. Neben dem Bett öffnete sich eine kleine Tür zu einem Nebenraum. Durch diese halb geöffnete Tür nahm die Paladina ein blasses Schimmern wahr.
 

„Kommt heraus!“, rief sie mit lauter Stimme und griff wieder nach ihrer Waffe.

Das Schimmern wurde intensiver, durchdrang die Tür und formte die Umrisse einer Frau. Dies war nicht der Geist einer Bäuerin, so viel konnte Risingsun erkennen. Die Frau trug ihr blondes Haar offen und ihr Kleid war aus einem feinen, hellen Stoff, wie ihn Städterinnen bevorzugten. Womöglich war dies eine der armen Seelen, die aus dem nahen Andorhal hatten entkommen können, bevor die Geißel es überrannte. Trotzdem blieb die Paladina vorsichtig. Selbst hinter einer liebreizenden Fassade mochte sich immer noch ein heimtückischer Gegner verbergen.

„Habt Dank.“, wisperte der Geist. „Ich weiß, dass mir diese Kreaturen nichts anhaben können. Trotzdem zittere ich immer noch, wenn einer von ihnen sich hierher verirrt. Ich habe Angst…ich habe Angst, ich könnte einen von ihnen wiedererkennen.“

„Ihr habt Familie in Andorhal?“, fragte Risingsun und ließ ihre Waffe ein Stück sinken. Wie es schien, war dies tatsächlich einfach nur eine arme Seele, dazu verdammt den Ort ihres Todes bis in alle Ewigkeit zu durchstreifen.

Der Geist schüttelte den Kopf. „Ich lebte hier allein. Mein Name ist Marlene Redpath und meine Familie lebte in Darrowshire östlich von hier. Ich war dort zu Besuch, als die Untoten die Stadt überfielen. Ich bekam es mit der Angst zu tun und floh. Ich hätte wissen müssen, dass es kein Entkommen gab. Als ich hier ankam, war Andorhal bereits gefallen und ich fand hier nur denselben Tod, den so viele, viel zu viele in Darrowshire erlagen.“

Unsichtbare Tränen liefen dem Geist über das Gesicht. „Sicher verachtet ihr mich jetzt. Ich sehe, Ihr seid ein Paladin. Ich erinnere mich, wie eine kleine Gruppe von Streitern des heiligen Ordens der Silbernen Hand uns zur Hilfe eilte und sich den Untoten furchtlos entgegenwarf. Aber ich bin keine mutige Frau, Paladin. Ich floh, als die Untoten die Stadtmauern überwanden. Und glaubt mir, ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe.“

Risingsun bemühte sich, freundliche Worte zu finden. „Wenn Ihr wirklich bereut, was Ihr getan habt, dann wird Euch vergeben werden.“

Die Geisterfrau sah Risingsun aus großen, feuchten Augen an. „Wie kann mir vergeben werden, wenn ich doch so furchtbare Schuld auf mich geladen habe. Denn wisset, auf meiner Flucht ließ ich meine Nichte Pamela allein in ihrem Versteck zurück und redete mir ein, es sei zu ihrnem eigenen Besten. Mein Herz wird keine Ruhe finden, bis ich erfahre, was mit ihr geschehen ist. Doch kann ich diesen Ort nicht verlassen. Würdet Ihr an meiner Stelle nach Darrowshire reisen und für mich nachsehen.“
 

Risingsun zögerte. Sie hatte ihren Auftrag hier fast erfüllt. Normalerweise war es ihr Plan gewesen, Kommandant Valorfist zu fragen, ob sie dem Zug nach Scholomance folgen konnte.

Die Geisterfrau sah sie flehend an. „Bitte, Paladin. Werdet Ihr nach Darrowshire gehen und nach der kleinen Pamela suchen?“

„Natürlich wird sie das.“, meldete ein Stimmchen hinter Risingsun.

Die Paladina fuhr herum, den Kriegshammer zum Schlag erhoben, als sie erkannte, wer dort in der Tür stand. Mit trippelnden Schritten kam der Neuankömmling näher und beäugte die Paladina von unten herauf ein wenig vorwurfsvoll.

„Dafür, dass da draußen ungefähr zwei Dutzend übelriechende Untote rumgelaufen sind, war es ziemlich leichtsinnig, mir einfach so den Rücken zuzudrehen. Ich hätte ja sonstwas sein können.“

„Emanuelle?“, ächzte Risingsun und ließ die Waffe sinken. „Was…wie kommt Ihr hierher? Ich dachte, Ihr seid auf dem Weg nach Stranglethorn.“

„Oh, da war ich.“, gab die Gnomin freundlich zur Auskunft. „Doch wie sich herausgestellt hat, hat das Problem Blutgott etwas größere Ausmaße, als ich allein bewältigen kann. Daher bin ich dabei, mir eine Truppe aus fähigen Leuten zusammenzustellen, um in das Versteck seiner Anhänger vorzudringen und Hakkars Wiederbelebung zu verhindern. Ein Paladin von Eurem Format käme mir da gerade recht.“

„Ihr meint, Ihr seid den ganzen Weg von Stormwind…“

„Ironforge.“, unterbrach Emanuelle sie. „Ich hatte die Gelegenheit, meinen Vorrat an Portalrunen aufzufrischen. Und wenn man dann noch mit dem Geifenmeister per Du ist, der einem seinen besten Greif gibt, den man dann in der Nähe von Aerie Peak gegen einen noch besseren Greif tauschen kann – wisst Ihr, diese Wildhammer-Zwerge sind gar kein so übles Völkchen, wenn man sie erst mal näher kennt – tja dann ist der Weg hierher eigentlich nur ein Katzensprung. Euer Kommandant hat mir dann verraten, wo ich Euch finde. Und wie es aussieht, kam ich ja gerade zur richtigen Zeit. Ihr müsst diesen Auftrag unbedingt annehmen.“

Risingsun zog die Stirn kraus. „Aber ich dachte, Ihr sagtet, dass…“

„Ach Papperlapapp.“, unterbrach Emanuelle sie schon wieder. „Der armen, kleinen Pamela muss geholfen werden. Außerdem sagt mir mein Gefühl, dass wir diese Aufgabe übernehmen sollten. Und schließlich wollt Ihr doch immer irgendwelche armen Seelen retten. Nun, wie es aussieht, ist die gute Marlene Redpath hier eine ziemlich arme Seele. Wir reisen gemeinsam nach Darrowshire, finden heraus, was mit Klein-Pamela passiert ist, erstatten Marlene Bericht und dann bringe ich uns in Nullkommanichts wieder zurück nach Ironforge. Ihr werdet sehen, das wird lustig.“
 

Die Paladina konnte sich nicht vorstellen, dass eine Reise in die östlichen Pestländer, die noch weit stärker verwüstet worden waren als die westlichen, wirklich unter die Definition lustig fiel. Andererseits kannte sie Emanuelle inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sich die kleine Magierin ohnehin nicht mit einem „Nein“ zufrieden geben würde. Und zu guter Letzt mochte es wirklich eine gute Tat sein, den Geist von Marlene Redpath von ihrem Kummer zu befreien.

„Also schön.“, willigte sie ein. „Wir reisen nach Darrowshire und suchen nach Pamela.“

„Oh, ich danke Euch, Paladin.“, hauchte der Geist. „Möge das Licht Euch auf Eurem Weg leiten.“

„Das hoffe ich auch.“, brummte Risingsun und folgte Emanuelle nach draußen. Die kleine Magierin stand bereits neben ihrem mechanischen Gefährt und wies aus den sie umgebenden Friedhof. Soweit Risingsun sehen konnte, war er übersät mit schwelenden Knochenhaufen.

„Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich ein paar der Burschen aus dem Weg geräumt habe?“, zwitscherte Emanuelle heiter. „Euer Kommandant sagte mir, Ihr wärt hier, um diese Arbeit zu erledigen und ich dachte mir, Ihr wolltet das bestimmt nicht unerledigt zurücklassen.“

Risingsun musste gegen ihren Willen lächeln. „Ihr seid wirklich unglaublich.“

Die Gnomin nickte nur. „Ich nehme an, das heißt, dass wir aufbrechen können. Kommt, Ich habe Euer Pferd bereits satteln lassen.“

„Ihr wusste doch gar nicht, ob ich einwilligen würde.“

Emanuelle ließ diese Feststellung unerwidert, aber irgendwie hatte Risingsun das Gefühl, dass die kleine Magierin, die ihr jetzt den Rücken zudrehte, um auf ihren Roboschreiter zu klettern, ein ziemlich breites Grinsen im Gesicht hatte.
 


 

Kog langweilte sich. Er war zur Wache im äußeren Ring eingeteilt worden und blinzelte träge in das auf und ab wogende Grün, das die weiße Stadt umgab. Seine Keule lag neben ihm, denn wer sollte schon hierher kommen. Jeder wusste, dass Düsterbruch den Gordok gehörte. Außerdem war das Turnier, das vor ein paar Tagen hier stattgefunden hatte, längst vorbei und die Besucher hatten sich bereits wieder in alle Himmelsrichtungen zerstreut.

Kog nahm einen Schluck aus dem Bierkrug, den er heimlich hierher geschmuggelt hatte und verfiel in ein leichtes Dösen. Es war ein spannendes Turnier gewesen. Der alte Ork-Schamane Reghar Earthfury war überraschend doch zum Turnier erscheinen, nachdem man den Champion seines Teams nach dem letzten Arena-Match vergiftet hatte. Irgendwie war es dem Ork jedoch gelungen, einen neuen Kämpfer aufzutreiben, einen Menschen, der sich ausnehmend gut geschlagen hatte. Reghars Team hatte Sieg um Sieg davon getragen und war nach dem finalen Kampf gegen die Favoriten des Turniers, die Gordunni-Oger, zu den Gewinnern des Turniers aufgestiegen. Eine Menge Leute hatten viel Gold dadurch verloren. Kog nicht. Er wettete nicht, sondern investierte lieber gleich in Bier. Die Gordok waren berühmt für ihr gutes Bier. Kein Ogerstamm machte besseres. Obwohl eigentlich kein anderer Ogerstamm überhaupt welches machte, aber das war ok, denn so war Gordok-Bier das beste Ogerbier überhaupt.
 

Etwas Kleines zu seinen Füßen erregte Kogs Aufmerksamkeit. Er zwinkerte gegen das einfallende Sonnenlicht und versuchte, das Ding zu seinen Füßen zu fixieren.

„Was sein das denn? Ein Wichtel?“, grunzte er und wedelte mit der dicken Hand. „Los, verzieh dich oder ich dich haue platt wie Pfannkuchen.“

Der kleine Dämon dachte jedoch nicht daran und fing stattdessen an, einen Feuerball zu beschwören. Kog brummte ärgerlich, holte aus und zerquetschte den Wichtel unter seiner Handfläche. Er pustete gerade auf seine verbrannten Finger, als er eine Stimme hinter ihm sagen hörte:

„Das war nicht sehr nett, Oger.“

Kurz darauf wurde die Welt um Kog herum dunkel.
 

Magenta wich dem vor ihre Füße kullernden Bierkrug aus, als die Ogerleiche neben ihr zu Boden krachte. Diese fleischigen Brocken waren nicht besonders schwer zu knacken, auch wenn einige von ihnen über eine gute Kondition und sogar einige Magieresistenzen verfügten. Das einzig wirklich Lästige an Ogern war, dass man sie meist nicht ohne Aufsehen um die Ecke bringen konnte. Entweder sie brüllten herum, was das Zeug hielt, und selbst, wenn sie dazu keine Gelegenheit mehr hatten, machten sie nach ihrem Tod noch solch einen Heidenlärm, dass meist noch mehr von ihnen angelockt wurden.

Die Hexenmeisterin sah sich vorsichtig um. Dieses Mal schien sie Glück gehabt zu haben und niemand hatte den Tod des Wächters bemerkt. Eilig begann sie, die Leiche zu durchsuchen, auch wenn der strenge Körpergeruch des Ogers und die Tatsache, dass er lediglich einen Lendenschurz trug, die Suche unangenehm und wenig erfolgversprechend machten. Wie erwartet fand sie auch nicht viel mehr als ein paar Münzen und eine kleine Statuette, von der Magenta, hätte sie raten müssen, annahm, dass er so etwas wie eine dicke, nackte Ogerfrau darstellte. Angewidert ließ sie das Ding fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
 

Dieses Eldre’Thalas oder auch „Düsterbruch“ zu finden, war gar nicht mal so schwer gewesen, wenn man wusste, wonach man suchte. Eine ausgedehnte Stadt aus weißem Marmor fiel eben selbst in diesem grünen Dschungel, der sich Feralas schimpfte, ausreichend auf. Wer immer diese Stadt erbaut hatte, war nicht gerade ein Meister der von Subtilität gewesen. Selbst jetzt, da der Zahn der Zeit schon an den Gemäuern genagt hatte und die Vegetation mit wuchernden Fingern nach ihnen griff, war immer noch viel von der einstigen Pracht der Stadt zu erkennen. Es gab keine Säule, die nicht verziert war, keinen Torbogen ohne Schmuck, keinen Weg, der nicht ein kompliziertes Muster aufwies, dort, wo die Bodenplatten noch nicht von den schwere Füßen der Oger zerbrochen worden war. All das zu erschaffen, musste entweder Jahrhunderte oder sehr große Mengen magischer Energie gekostet haben. Aus irgendeinem Grund tippte Magenta auf Letzteres.
 

Während ihr Blick an den endlosen Gängen mit ihren Marmorsäulen entlang strich, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Sofort nahm sie alarmiert die Umgebung in Augenschein, aber der Wald war immer noch grün und der Säulengang vor und hinter immer noch leer. Alles erschien friedlich und doch…irgendetwas war dort.
 

So unauffällig wie möglich wob Magenta einen Schattenblitz in ihrer Hand. Sie wusste nicht, warum, aber die Stelle, an der ein Stück aus der äußeren Mauer herausgebrochen war, erschien ihr wie das perfekte Versteck. Nicht für einen Oger, so viel war klar. Aber ein Oger hätte sich auch kaum damit aufgehalten, sich an sie heranzuschleichen. Wer immer ihr folgte, war wesentlich kleiner.

Als sie Magie in ihrer Hand ihre volle Stärke erreicht hatte, schoss Magentas Arm vor und eine Kugel aus dunklem Licht raste auf eine der Säulen zu. Fast gleichzeitig bemerkte Magenta einen Schatten in ihren Augenwinkeln. Eine Faust traf sie hart in die Seite und ließ sie keuchend zusammen brechen. Noch im Fallen streckte sie erneut die Hand aus und warf einen Feuerbrand nach dem Angreifer. Kreischend ließ der von ihr ab und wälzte sich auf dem Boden, um die Flammen in seiner Kleidung zu löschen. Magenta wollte sich gerade aufrichten, um ihn erneut anzugreifen, als sich der riesige Schatten eines Waldbären zwischen sie schob. Die Bestie brüllte wütend und schleuderte Spuckefetzen in ihre Richtung. Dann holte sie mit einer Pranke so groß wie Magentas Kopf zum Schlag aus.

„Halt! Stopp!“, rief eine Stimme und ein ganzer Wortschwall folgte, von dem Magenta nicht ein Wörtchen verstand. Der Bär allem Anschein nach schon, denn er klappte das Maul wieder zu und…verwandelte sich in einen Nachtelfen.
 

Magenta fielen fast die Augen heraus, als plötzlich vier Vertreter dieser Rasse vor ihr auftauchten und wild durcheinander zu reden begannen. Allein die Anwesenheit von Nachtelfen hier in Feralas wäre ja nicht weiter verwunderlich gewesen, doch hätte Magenta nie damit gerechnet, einen von ihnen zu kennen. Trotzdem stand dort vor ihr eben jener Nachtelf, mit dem sie durch das verschneite Winterspring gereist war. Er deutete unmissverständlich auf Magenta und redete dabei auf den ehemaligen Bären ein, der fast einen ganzen Kopf größer war als er selbst. Sie wusste zwar nicht genau, worum es ging, aber allein dem Tonfall nach zu urteilen, schien es ihr angeraten, sich in das Gespräch einzumischen.

„Äh, Entschuldigung?“, unterbrach sie die streitenden Nachtelfen. „Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich hatte nicht vor, einen von Euch anzugreifen.“

Der Nachtelf, der ihrem Feuerzauber zum Opfer gefallen war, zog die Oberlippe hoch und entblößte die spitzen Eckzähne. Die dunkelblauen Haare und der Bart an seinem Kinn schwelten immer noch.

„Hexenwerk“, zischte er heiser. „Wir haben Euren Dämon gesehen. Ihr seid böse.“

„Immerhin schleich ich mich nicht von hinten an irgendwelche Leute an und versuche, ihnen ein Messer zwischen die Rippen zu rammen.“, fauchte Magenta zurück, denn sie hatte die Dolche in der Hand des drahtigen Nachtelfen bemerkt.

„Bitte, ich kenne sie. Sie stellt keine Gefahr für uns dar.“, versuchte jetzt der Nachtelf, den Magenta bereits kannte, das Wort zu ergreifen. Sie kramte in ihrem Gedächtnis. Wie hieß er doch gleich? Abbefaria? Es wunderte sie, dass sie seinen Namen tatsächlich behalten hatte, wo sie sich doch alle Mühe gegeben hatte, nicht mehr an ihn zu denken.
 

Der große Nachtelf knurrte etwas Unverständliches und wandte sich dann an Magenta.

„Was tut Ihr hier? Was bringt Euch nach Düsterbruch? Antwortet rasch, bevor ich es mir anders überlege.“

Magentas Augen wurden schmal. Was glaubte dieser Kerl eigentlich, wen er vor sich hatte? Glaubte er etwa, er könne sie allein durch seine körperliche Präsenz einschüchtern? Obwohl Magenta zugeben musste, dass die imposante Erscheinung sie durchaus beeindruckte, hatte sie doch nicht vor, allein deswegen kleinbeizugeben. So würdevoll wie möglich erhob sie sich und strich ihre Robe glatt. Dann sah sie ihm direkt in die Augen, wozu sie allerdings den Kopf in den Nacken legen musste.

„Ich glaube kaum, dass Euch das etwas angeht.“, sagte sie mit eisiger Stimme. „Ich habe nicht um Eure Gesellschaft gebeten und wäre entzückt, wenn Ihr mich daher wieder allein lassen würdet. Wie Ihr seht, komme ich mit den Ogern hier auch sehr gut allein zurecht.“

Sie wies auf die Leiche des Ogers im Hintergrund und stemmte dann die Hand in die Hüfte, um deren Zittern zu verbergen. Dummerweise hatte dieser Nachtelf doch etwas an sich, das ihr ein mulmiges Gefühl in der Magengegend verschaffte. Es war nicht die dunkle Aura von Furcht, in die sich Hexenmeister so gerne kleideten. Es glich viel mehr dem Gefühl vor einem riesigen, knurrenden Wolfshund zu stehen, von dem man gerade entdeckt hatte, dass er nicht wie sonst an der Kette lag. Wenn man sich umdrehte und weglief, würde er zuschnappen.
 

„Wie mir scheint, sind die Gemüter hier etwas erhitzt.“, schaltete sich nun der letzte Nachtelf ein, der sich bis dahin im Hintergrund gehalten hatte. Seine Stimme war angenehm und er rollte das R auf eine Weise, die an eine schnurrende Katze erinnerte. Seine Robe wies ihn zudem als Mitglied einer weniger kämpferischen Klasse aus. Ein Priester vielleicht?

Der Nachtelf legte Magentas Gegenüber die Hand auf die Schulter und zog ihn sanft zurück. „Meinst du nicht, wir sollten diese Diskussion zumindest an einen Ort verlegen, wo man uns nicht so leicht sehen kann, Easy? Oger mögen zwar etwas beschränkt sein, aber blind sind sie nicht.“

Der muskulöse Nachtelf zögerte sichtlich, bevor er nickte und Magenta und die anderen anwies, ihm zu einer weniger ins Auge fallenden Nische zu folgen. Sie erwog für einen Augenblick, ihm die Gefolgschaft zu verweigern, ergab sich dann aber der Situation. Es konnte nicht schaden, sich anzuhören, was die vier wollten. Selbst wenn es nur war um zu verhindern, dass sie ihr weiterhin in die Quere kamen.
 

Der Anführer der kleinen Gruppe begab sich sofort wieder in seine drohende Haltung, als Magenta die Nische betrat. Gleißendes Sonnenlicht fiel von oben durch die nicht vorhandene Decke und tauchte die zerbrochenen Fliesen und wuchernden Grasbüschel, die aus den gesplitterten Bodenplatten empor sprossen, in blendende Helligkeit. Wie es schien, war dies ihrem Gegenüber unangenehm, denn er kniff die Augen zusammen und ballte die Hände zu Fäusten, als warte er nur darauf zuzuschlagen.

„Ich wiederhole es nur noch einmal: Was tut Ihr hier?“

„Zumindest halte ich harmlose Reisende nicht von Ihren Angelegenheiten ab.“, erwiderte Magenta. Sie warf einen Blick an dem massigen Nachtelfen vorbei auf den Rest der Gruppe. Während der vermeintliche Priester irgendwo zwischen Belustigung und Unglaube zu schwanken schien und der angesengte Dolchträger sich auf ärgerliches Starren verlegt hatte, stand auf Abbefarias Gesicht echte Sorge. Vielleicht war es doch nicht ratsam, den grimmigen Nachtelfen allzu sehr reizen. Einen Kampf zu provozieren würde sie nur aufhalten und sie war sich, ehrlich gesagt, nicht sicher, ob sie tatsächlich als Sieger aus dieser Begegnung hervorgehen würde. Daher setzte sie ein liebenswürdiges Lächeln auf.

„Aber da es Euch ja so brennend zu interessieren scheint… Ich bin hier, um Teile dieser Ruinen zu erforschen. Mir wurde gesagt, dass sie viele Geheimnisse bergen und ich bin von Natur aus neugierig.“

„Ihr wollt also etwas stehlen.“, fauchte der schlaksige Nachtelf aus dem Hintergrund.

„Wem der Schuh passt, der zieht ihn sich an.“, konterte Magenta bissig. „Ich könnte das Gleiche von Euch annehmen. Dies ist immerhin kein nachtelfisches Gebiet. Also sagt selbst, warum seid Ihr hier?“

Die letzte Frage hatte sie bewusst an Abbefaria gerichtet. Im hellen Sonnenlicht und aufgrund der dunklen Hautfarbe der Nachtelfen war es zwar nicht leicht zu erkennen, doch Magenta hätte schwören können, dass er ein wenig blasser wurde.

„Ich…wir…wir wollen…“, stotterte er.

„Ruhe!“, verbot ihm der Anführer rüde den Mund. „Das geht sie überhaupt nichts an.“

Magenta ersparte sich einen Kommentar. Es war auch gar nicht notwendig, denn sie erhielt in diesem Moment Hilfe von unerwarteter Seite.

„Vielleicht könnte es trotzdem nützlich sein, die Meinung eines Fachmanns oder in diesem Fall einer Fachfrau zum Thema ‚Teufelsranke‘ zu erfahren.“, ergriff der Priester das Wort. „Immerhin wissen wir nicht, was uns erwartet.“

Magenta horchte auf. „Sagtet Ihr ‚Teufelsranke‘?“ Lebhafte Bilder des fleischigen, gefräßigen Gewächses, das Lord Banehollow als Haustier hielt, stiegen vor ihrem inneren Auge auf. Gab es etwa mehr als ein Exemplar dieser widerlichen Pflanze?
 

Ihre Abscheu musste sich deutlich auf ihrem Gesicht abgezeichnet haben, denn der Anführer der Nachtelfen wirkte plötzlich interessiert.

„Ihr kennt dieses Gewächs? Was wisst Ihr darüber? Sprecht!“

Magenta zog eine Augenbraue nach oben. Es war offensichtlich, dass die Anhänger des langohrigen Volkes nicht gekommen waren, um an Ableger einer dämonischen Pflanze zu gelangen. Vielmehr waren sie vermutlich hier, um dem Scheusal den Garaus zu machen. Allerdings hatte, der Aussage des Priesters nach zu urteilen, keiner von ihnen große Erfahrung im Umgang mit dämonischen Mächten. Magenta besaß somit Kenntnisse, die die Nachtelfen interessierten. Das war gut, denn das bedeutete, dass sie selbst die Situation zunehmend kontrollierte. Jetzt galt es, einen entscheidenden Vorteil zu erreichen, ohne selbst allzu viel zu investieren.

„Ja, ich kenne die Teufelsranke. Ich habe sie schon einmal gesehen.“

„Ihr wart bereits in Düsterbruch?“, fragte Abbefaria erstaunt.

Vorsicht, dachte Magenta bei sich. Anscheinend wissen die vier nichts von der Teufelsranke in Felwood und ich habe nicht die Absicht, ihnen etwas darüber zu verraten, solange es nicht zu meinem Nutzen ist. Womöglich lässt sich diese Information an anderer Stelle gewinnbringender ausspielen.

Laut sagte sie: „In einem Buch. Es ist ein widerliches, verdorbenes Gewächs voller boshafter, dämonischer Magie. Es ist ziemlich schwer zu bekämpfen.“

Allgemeine Aussagen, die auf die meisten Dinge zutrafen, die mit dämonischer Magie behaftet waren. Trotzdem schluckten die Nachtelfen den Köder ohne zu zögern.
 

„Wir sollten sie mitnehmen.“, schlug Abbefaria vor. „Sie kennt sich mit diesen Dingen aus und wird uns helfen.“

„Kommt nicht in Frage.“, knurrte der bärbeißige Anführer. „Dies ist unsere Mission. Rabine Saturna hat uns diese Geheimnisse nicht anvertraut, damit wir sie an den erstbesten, Dahergelaufenen weitergeben. Noch dazu einen Menschen.“

Aus seinem Mund klang das ganz nach einem Schimpfwort. Magenta überlegte, ob sie entrüstet protestieren sollte, doch dann entschloss sie sich, die Situation lieber ganz von selbst aus dem Ruder laufen zu lassen. Für den bulligen Nachtelfen versteht sich und nicht für sie. Mühsam unterdrückte sie ein Grinsen.

„Ich weiß nicht.“, überlegte der Priester. „Vielleicht ist an Abbefarias Vorschlag etwas dran Wir wissen zu wenig über Dämonen und ihre Schwachstellen. Eine Hexenmeisterin an unserer Seite könnte einen entscheidenden Vorteil bedeuten.“

„Aber wir können nicht mit jemandem zusammen arbeiten, der uns jederzeit in den Rücken fallen könnte.“, fiel jetzt der Nachtelf mit dem Dolch ein.

„Mir scheint, Ihr schließt schon wieder von Euch auf andere.“, gurrte Magenta und ließ sich genüsslich auf dem Überrest einer gebrochenen Säule nieder. „Außerdem sehe ich gar keine Veranlassung, Euch zu begleiten. Ich habe selbst genug um die Ohren, als dass ich mich auch noch mit Euren Problemen belasten könnte.“

„Unsere Probleme?“, echote der Anführer erbost. „Menschen wir Ihr seid es doch, die verhindern, dass die Dämonen ein für alle Mal aus dieser Welt vertrieben werde können.“

„Ja, aber waren wir es auch, die dafür sorgten, dass sie überhaupt hierher gelangten?“, schoss Magenta zurück.

Ihr Gegenüber wich einen Schritt zurück. „Was wollt Ihr damit sagen?“

„Nichts was Euch oder mich direkt betrifft.“, wich Magenta der unterschwelligen Drohung aus. Sie wollte keinen Streit provozieren, aber in ihrem Kopf hatte sich inzwischen ein Plan manifestiert, den sie in die Tat umzusetzen gedachte. „Ich denke, wir haben hier jeder unseren eigenen Dämon zu bekämpfen. Eine Zusammenarbeit ist vermutlich ebenso unnötig wie unmöglich. Ihr wärt mir dabei ohnehin nur im Weg.“
 

„Ihr sprecht von einem weiteren Dämon?“, hakte der Priester nach. „Womöglich meint Ihr Alzzin den Wildformer, den Satyr, der die Teufelsranke erschaffen hat?“

„Nein, ich rede von einem weit mächtigeren Wesen.“, behauptete Magenta ins Blaue hinein. Sie seufzte, als würden ihr ihre nächsten Worte schwerfallen.

„Also schön, ich werde Euch sagen, warum ich hier bin. Ich suche einem Dämon namens Immol’thar, der sich im westlichen Teil der Ruinen aufhalten soll. Ich kam, um ihn zu studieren und, wenn möglich, zu vernichten.“

„Warum sollten wir Euch das glauben?“, giftete der Dolchträger. „Vermutlich wollt Ihr ihn befreien, um mit seiner Hilfe die Welt zu erobern.“

Magenta jubelte innerlich. Jetzt hatte sie die Nachtelfen genau dort, wo sie sie haben wollte. Betont gelangweilt antwortete sie: „Wenn Ihr mir nicht glaubt, könnt Ihr mich ja begleiten. Vielleicht wären Eure Fähigkeiten ja im Kampf mit dem Dämon nicht vollkommen nutzlos.“
 

Was folgte war eine rege Unterredung in der vokalreichen Sprache der Nachtelfen, aus der Magenta aufgrund ihrer mangelnden Sprachkenntnisse ausgeschlossen wurde. Es machte jedoch keinen großen Unterschied, denn es war an den Mienen und dem Tonfall der Beteiligten abzusehen, wer welche Position einnahm. Vor allem aber konnte Magenta erkennen, dass sich der Streit genau in die Richtung entwickelte, in die sie ihn haben wollte: Die vier Langohren würden ihr helfen, ihr Ziel zu erreichen. Sie hatte allerdings gehofft, dass sie um ihren Teil der Abmachung herumkommen würde. Doch wie es aussah, waren ihre Verhandlungspartner so naiv nun auch wieder nicht.
 

„Also schön.“, brummte der Anführer schließlich, als sich die vier Nachtelfen schließlich geeinigt hatten. „Wir werden Euch im Kampf gegen diesen Immol’thar helfen. Doch zunächst müsst Ihr beweisen, dass wir Euch trauen können. Ihr werdet uns bei unserer Mission, die Teufelsranke zu finden und zu vernichten beistehen.“

„Ich werde tun, was in meiner Macht steht.“, flötete Magenta liebenswürdig und warf Abbefaria einen langen Blick zu. Der Nachtelf hielt ihm für einen Augenblick lang stand und sah dann zu Boden. Sie fragte sich, wie viel er tatsächlich von ihr wusste und wie viel davon er wohl weitergegeben hatte. Es würde nicht leicht werden, mit den Vieren zu reisen. Sie misstrauten ihr und das nicht einmal zu Unrecht. Es würde mitnichten eine leichte Aufgabe werden, ihr Vertrauen so weit zu erringen, dass sie keinerlei Fragen mehr stellten und sich blind auf Magentas Rat verließen.

Nicht leicht, aber auch nicht unmöglich, lächelte Magenta in sich hinein und folgte dem Anführer der Nachtelfen, den sie inzwischen unter dem Namen Easygoing kannte, hinaus auf den Säulengang, der sie ins Zentrum von Düsterbruch führen würde.
 


 

Abbefaria hielt unbewusst den Atem an, als die Menschenfrau an ihm vorbeiging. Widersprüchliche Empfindungen rangen in seinem Inneren um die Vorherrschaft und erst, als Ceredrian ihn anstieß und ihn freundlich darauf aufmerksam machte, dass er der Letzte der Gruppe war, setzte er sich ebenfalls in Bewegung. Er konnte immer noch nicht so recht glauben, dass sie junge Frau tatsächlich eine Hexenmeisterin war, obwohl er natürlich die Beweise dafür gesehen hatte. Sie stand mit Dämonen im Bunde und eigentlich hätte ihn das mehr als abschrecken müssen. Stattdessen hatte er genau das als Argument benutzt, ihre Teilnahme an dieser Mission zu bewirken. Er glaubte einfach nicht, dass sie ihnen schaden wollte. Wäre das ihre Absicht gewesen, hätte es dafür Anzeichen gegeben. Er war sich sicher, dass es so sein musste. Er konnte sich nur nicht erklären, woher er diese Gewissheit nahm.
 

Ohne seine Umgebung wirklich wahrzunehmen, passierte er gemeinsam mit seinen Begleitern einen gigantischen Innenhof, in dessen Mitte eine halb zerfallene Bogenmauer eine riesige Arena umspannte. Das musste der Ort sein, an dem die Gladiatoren-Kämpfe abgehalten wurden, von denen die anderen Nachtelfen berichtet hatten. Jetzt jedoch lag der Ring verlassen im dunstigen Sonnenschein und nur vereinzelt zog hier und dort ein Oger seine Runde. Im dichten Gras und den überall zwischen den Ruinen wuchernden Büschen war es jedoch nicht schwer, sich vor ihren nicht sehr wachsamen Augen zu verbergen.
 

„Wo müssen wir hin?“, fragte Ceredrian, der neben Abbefaria kauerte, an Easygoing gewandt.

„Rabine Saturna meinte, die Gärten lägen im östlichen Teil der Ruinen.“, gab der leise zurück. „Und wenn ich mir das so ansehe, würde ich sagen, er hatte Recht.“

Der große Druide deutete nach vorn und jetzt sah auch Abbefaria die riesigen Wurzeln, die das Mauerwerk an dieser Stelle durchdrungen hatten. Wie riesige Schlangen, eine jede von ihnen dick wie ein uralter Baum, wanden sie sich aus den Wänden heraus und stützten jetzt das, was sie durch ihre urtümliche Kraft zerstört hatten. Die ehemaligen Gärten von Eldre’Thalas musste sich hinter diesen Mauern befinden.

„Also los, gehen wir.“, befahl Easygoing und setzte sich wieder in Bewegung. Sein Bruder Deadlyone folgte ihm auf dem Fuße, jedoch nicht ohne sich noch einmal missbilligend nach der Hexenmeisterin umzuschauen, die aufrecht in der Deckung des Gebüsches stand und aufmerksam die Umgebung betrachtete. Unwillkürlich folgte Abbefaria ihrem Blick und war selbst überrascht. Erst jetzt wurde er sich bewusst, wie riesig die Stadt sein musste und welch unglaubliche Ausmaße die einzelnen Gebäude hatten. Als er sich wieder zu der Hexenmeisterin umdrehte, trafen sich ihre Blicke und sie lächelte kurz.

„Jemand hat an diesem Ort große Baukunst bewiesen. Wie kunstvoll die Wände einst verziert waren und wie wundervoll all das angelegt wurde. Wirklich beeindruckend, nicht wahr? Es ist eine Schande, dass all das hier verfallen ist.“

Abbefaria nickte und ignorierte dabei die kleine, protestierende Stimme in seinem Inneren, die die protzigen Gebäude eine Schande für die nachtelfische Kultur nannte. Vielleicht würde er später einmal Gelegenheit haben, ihr die heutige Hauptstadt der Nachtelfen zu zeigen; die natürlich geformten Gebäude, die sich in die Natur einfügten, anstatt sie zu verdrängen, die versteckten Nischen und Oasen, in denen man stundenlang dem Gesang der Bäume lauschen konnte, die klaren Flüsse und kleinen Seen, die die Stadt durchzogen und des nachts das Sternenlicht spiegelten, vielleicht sogar den Tempel des Mondes, obwohl er sich nicht sicher war, ob Fremde dort eingelassen werden würden, noch dazu welche, die mit Dämonen paktierten.

„Tagträumerei kann an diesem Ort gefährlich sein.“, holte ihn Ceredrians Stimme wieder in die Wirklichkeit zurück. Der weißhaarige Priester verzog die Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln.. „Kommt, die anderen warten bereits am Eingang der Gärten auf uns.“
 

Als Abbefaria und Ceredrian sich näherten, konnte der Druide bereits die heisere Stimme des Schurken vernehmen, der sich offenkundig über etwas aufregte. Dazwischen hörte man die kurzen, spitzen Kommentare der Hexenmeisterin, die anscheinend das Ziel seines Angriffs war. Abbefarias Schritte beschleunigten sich und trugen ihn zum Eingang eines breiten Säulengangs, der über und über mit Ranken und Schlingpflanzen bewuchert war. Auf einem freien Platz dazwischen standen seine beiden Begleiter und die Menschenfrau.
 

„Ich versichere Euch noch einmal, dass dies nicht mein Diener war.“, sagte sie gerade. Vor ihr auf dem Boden lagen die schwelenden Überreste eines kleinen Dämons nicht unähnlich dem, mit dem sie die Hexenmeisterin zuerst gesehen hatten. „Und wenn er es wäre, würde ich ihn aus dem Nichts wieder erschaffen können. Macht Euch keine Illusion darüber, dass ein einfacher Dolchstoß…“

„Er ist tot, oder nicht?“, raunte der Schurke wütend. „Macht nicht den Fehler und ruft noch einmal eine solche Höllenkreatur in unsere Mitte.“

Die Hexenmeisterin seufzte. „Ja, er ist tot. Das bedeutet übrigens auch, dass wir ihn nicht mehr befragen können. Zudem war es nur ein einfacher, schwacher Wichteldoener. Ihr hättet mich fragen sollen, bevor Ihr Euch auf ihn stürzt.“

Der Schurke fauchte wie eine Katze. „So weit kommt es noch, dass ich von Euch Befehle entgegennehme.“

„Ruhe jetzt.“, grollte Easygoing. „Was geschehen ist, kann nicht mehr geändert werden, auch wenn es in diesem Fall vielleicht wünschenswert wäre. Doch ich warne Euch, Hexenmeisterin. Wir werden keinen Dämon schonen, nur weil Ihr ihn fälschlicherweise mit einem Haustier verwechselt.“

Die Menschenfrau zog vielsagend eine Augenbraue nach oben und beugte sich dann über den toten Dämon, um ihn zu untersuchen. Sie hob einen kleinen, mondsichelförmigen Schlüssel auf und hielt ihn ins Licht.

„Den sollten wir vielleicht mitnehmen. Es muss irgendwo eine Tür geben, zu der er passt.“

Deadlyone murmelte etwas Unverständliches, das eindeutig abfällig klang. Die Hexenmeisterin ignorierte ihn und trat zu einem Folianten, der mit aufgeschlagenen Seiten unweit des toten Dämons am Boden lag. Sie hob das Buch auf und öffnete die erste Seite.

„Azj’Tordin.“, murmelte sie. „Ein Titel? Ein Name? Vielleicht der Besitzer dieses Buches. Die Schriftzeichen darin sind mir allerdings vollkommen unbekannt.“

Ceredrian trat neben sie und blickte über ihre Schulter. „Das ist sind sehr alte, nachtelfische Zeichen. Sie werden heutzutage nicht mehr benutzt. Sie sind…veraltet. Ihr solltet das Buch hier lassen. Es enthält vermutlich keine Information von Wert.“

Abbefaria war sich sicher, dass der Priester zunächst hatte etwas anderes sagen wollen. Bei dem Buch musste es sich um ein Zauberbuch der Shen’dralar handeln. Verbotene, arkane Hochgeborenen-Magie, auf deren Nutzung der Ausstoß aus der nachtelfischen Gesellschaft und nicht selten sogar der Tod stand. Allein der Besitz eines solchen Buches konnte je nach Auslegung bereits als eine Straftat gewertet werden.

Nach einigem Zögern legte die Hexenmeisterin das Buch wieder auf den Boden. „Wie Ihr meint.“, sagte sie, aber der Ton in ihrer Stimme machte klar, dass sie die nur allzu offensichtliche Lüge des Priesters durchschaut hatte. „Wir haben Wichtigeres zu tun, als in alten Büchern zu wälzen. Daher möchte ich, dass Ihr mir genau zuhört.“
 

Easygoing unterdrückte den erneuten Protest seines Bruders mit einer rüden Geste und nickte auffordernd. „Sprecht!“

Die Hexenmeisterin schloss für einen Moment die Augen, bevor sie sprach. „Wir betreten jetzt einen Bereich, der vor Dämonen nur so wimmelt. Ich kann sie spüren. Ihre starke Energie hat alles Leben hier durchdrungen und so wird vieles davon nicht so harmlos sein, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Ich rate daher zur Vorsicht und vor allem aber dazu, nicht allzu vorschnell in einen Kampf zu stürzen. Dämonen sind trickreich und ernstzunehmende Gegner.“

„Hört, hört.“, war eine Stimme zu vernehmen. Die Hexenmeisterin schlug mit der flachen Hand gegen ihren Beutel und zischte ungehalten. Dann wandte sie sich wieder Abbefaria und den anderen zu.

„Das Zentrum der Kraft befindet sich irgendwo unter uns in nördlicher Richtung. Ich vermute einmal, dass sich dort die Teufelsranke befindet, die Ihr sucht.“

„Dann sollte wir ohne Umweg in die Katakomben vordringen.“, sagte Easygoing. Der große Druide trat auf die Brüstung des Säulengangs zu und blickte nach unten. Neugierig trat Abbefaria neben ihn und äugte ebenfalls in die Tiefe.
 

In einem rechteckigen Atrium wucherte ein wahrer Urwald. Hohe Bäume überschatteten saftig grüne Grasflächen und exotische Blumen. Schlingpflanzen ringelten sich über den Boden und auf einer kleinen Lichtung erblickte Abbefaria sogar ein Reh, das friedlich zwischen den Büschen graste. Doch etwas an der Ruhe war trügerisch und alles an ihm sträubte sich, den üppigen Hort des Lebens zu betreten. Er hatte das Gefühl, in eine Falle zu spazieren und wenn er Easygoings Gesichtsausdruck richtig deutete, erging es ihm ebenso. Irgendwo hinter der idyllischen Fassade lauerte etwas Böse.

Bevor er ihn allerdings darauf ansprechen konnte, hatte der andere Druide sich bereits in eine große, schwarze Raubkatze verwandelte und war in die Tiefe gesprungen. Leichtfüßig folgte ihm der schlanke Schurke, so dass nur Abbefaria, Ceredrian und die Hexenmeisterin auf der steinernen Mauer zurückblieben. Die Menschenfrau schürzte sie Lippen.

„Dieses Kunststück kann ich allerdings nicht nachmachen. Ich hatte eher daran gedacht, dass wir uns eine Treppe oder etwas in der Art suchen. So breche ich mir ja alle Knochen.“

„Ich könnte…vielleicht…also wenn…“, stotterte Abbefaria. Ihm war die Idee gekommen, sich ebenfalls in eine Raubkatze zu verwandeln und die Hexenmeisterin auf seinem Rücken zu tragen. Er hatte allerdings keine Ahnung, ob das bei einem Sprung in die Tiefe überhaupt funktionieren würde.

„Wenn ich Euch behilflich sein darf.“, bot der Priester an. „Ich kann Euch sicher nach unten bringen.“

Er murmelte einige Worte und kurz darauf schwebten er und die Hexenmeisterin ein kleines Stück über dem Boden. Sie lachte hell auf.

„Ein großartiger Zauber. Und was jetzt?“

„Wenn ich Euch meinen Arm reichen darf.“, antwortete der Priester und trat zusammen mit der Menschenfrau über den Rand. Erschrocken klammerte sich die junge Frau an dem Nachtelfen fest, als sie langsam zu Boden zu schweben begannen.

„Fantastisch.“, rief sie, während die beiden in der Tiefe verschwanden. „Das müsst Ihr mir unbedingt beibringen.“

„Ich kann es versuchen, aber es ist vor allem eine Frage der richtigen Einstellung.“, antwortete der Priester jovial.
 

Das Blätterdach verschluckte ihre Antwort und Abbefaria fand sich allein auf der Brüstung wieder. Er klappte den Mund auf und schloss ihn dann wieder, ohne etwas zu sagen. Wozu auch? Es hätte ihn ohnehin niemand gehört. So presste er die Kiefer aufeinander, atmete noch einmal tief ein und sprang ohne sich zu verwandeln in die Tiefe.
 


 

Glaslose Fenster blickten hohlwangig auf die beiden Wanderer herab und Dachsparren standen wie abgebrochene Rippen in den pestverseuchten Himmel. Eine der trostlosen Ruinen nach der anderen säumte den mit totem Gras überwucherten Weg. Zwischen ihnen regte sich nichts mehr und das einzige Anzeichen einstigen Lebens war das Skelett einer verendeten Kuh, deren Knochen halb in den schwammigen Boden eingesunken waren. Darrowshire war ein Ort der Geister und Erinnerungen. Unschöne Erinnerungen, die Risingsun mehr berührten, als sie zugeben wollte.
 

Emanuelle trippelte zwei Schritte nach vorn und sah sich um. „Wo sollen wir anfangen zu suchen?“

Die Paladina zuckte mit den Achseln. „Marlene Redpath sagte, das Gebäude sei ganz am Rande der Stadt gewesen. Bei diesem Ausmaß an Verwüstung ist es jedoch schwer festzustellen, wo sich die Stadtgrenze einst befunden haben mag. Deshalb ist vermutlich eine Richtung so gut wie die andere.“

„Ich hätte auf dem Weg hierher daran denken sollen, eine Geister-Finde-Apparatur zu entwerfen.“, überlegte Emanuelle. „Das würde die Suche jetzt einfacher machen.“

„Ich würde meinen, uns mit dämonischen Höllenhunden und blutsaugenden Fledermäusen rumzuschlagen, hat die Zeit ganz gut ausgefüllt. Ganz zu schweigen von diesen fetten, aasfressenden Maden.“

„Die hätten uns aber gar nichts getan.“, wand Emanuelle ein.

„Seid Euch da nicht zu sicher.“, brummte Risingsun. „Kommt, wir probieren es dort drüben.“
 

Die Paladina steuerte auf eine Gruppe von Häusern zu, die augenscheinlich einem großen Feuer zum Opfer gefallen waren. Von den meisten waren nur noch die verkohlten Überreste der Grundmauern zu sehen. Vor einem von ihnen blieb Risingsun stehen und legte die Hand an den Griff ihres Kriegshammers.

„Hier ist es.“, sagte sie. „Ich kann die Anwesenheit eines Geistes spüren.“

Emanuelle klatschte eilfertig in die Hände. „Dann wollen wir doch mal sehen, mit was wir es zu tun haben. Pamela? PAMELA!“

Risingsun zuckte zusammen, als die Stimme der Gnomin unnatürlich laut durch die verbrannten Ruinen schallte. Einen Augenblick lang passierte gar nicht, dann schob sich mit einem Mal ein kleines, blau schimmerndes Gesichtchen in die Türöffnung. Ein Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, die Haare zu Zöpfen mit weißen Bändern geflochten, musterte sie auf großen Augen.

„Ich bin Pamela.“, flüsterte ein Stimmchen. „Und wer seid Ihr?“

„Mein Name ist Emanuelle und das da ist Risingsun. Deine Tante Marlene schickt uns.“, sagte die Gnomin freundlich. „Sie macht sich Sorgen um dich.“

Der Geist schob sich noch ein Stück weiter in die Tür. „Tantchen Marlene hat gesagt, ich soll mich hier verstecken, weil mein Papa gehen musste um zu kämpfen. Mein Papa ist der tapferste Mann auf der ganzen Welt! Aber ich warte jetzt schon so lange und niemand ist gekommen um mich zu holen. Manchmal höre ich, wie böse Leute mir etwas zuflüstern. Ich will, dass mein Papa macht, dass sie weggehen. Aber er ist nicht da und ich bin ganz allein.“
 

Risingsuns Kehle wurde seltsam eng. Sie wusste genau, wie die Kleine sich fühlte. Es war nicht leicht seine Eltern zu verlieren, nicht mit sechs und auch nicht zwölf Jahren, auch wenn man dann vielleicht behaupten mochte, dass man verstanden hatte, was passiert war. Es war eine Lüge. Man verstand es nicht.

„Können wir vielleicht irgendetwas für dich tun?“, hörte sie Emanuelle fragen.

Die kleine Pamela zog die Schultern hoch und steckte die durchsichtigen Händchen in die Taschen ihres etwas zu großen, braunen Kittels. Ihre nackten Zehen umklammerten die Türschwelle.

„Ich habe meine Puppe verloren.“, sagte sie. „Sie ist mir irgendwo auf dem Weg hierher runtergefallen und Tante Marlene sagte, wir hätten keine Zeit sie zu holen. Aber ich vermisse meine Puppe. Ohne sie wäre ich nachts nicht so allein. Würdet Ihr meine Puppe suchen?“

Risingsun erinnerte sich. Sie hatte ein Pferd gehabt. Ein kleine Holzpferd, von dessen Mähne nur noch ein paar schmutzige Borsten übrig gewesen waren. Ihr Vater hatte es für sie gemacht. Sie hatte lange gebraucht, um ohne das Pferd schlafen zu können.

„Wir finden deine Puppe.“, versicherte sie dem Mädchen. „Warte hier auf uns, wir sind bald zurück.“
 

Die Paladina drehte sich um und ging mit festen Schritten auf die besser erhaltenen Häuser von Darrowshire zu. Kurz darauf hörte sie die trippelnden Schritte der Magierin neben sich. Die Gnomin versah sie mit einem langen, fragenden Blick, sagte jedoch nichts und Risingsun war dankbar dafür. Sie betrat eines der Häuser und sah sich um.

Schutt und Unrat häuften sich in den Ecken. Sie musste sich ducken, um unter einem eingestürzten Balken hindurch in den hinteren Teil des Gebäudes zu gelangen. In diesem Moment spürte sie den kalten Luftzug.

„Ihr habt hier nichts verloren.“, rief der Geist eines Mannes. Ohne weitere Vorwarnung stürmte er mit einem Kurzschwert in der Hand auf die Paladina zu und stach nach ihr. Risingsun konnte gerade noch rechtzeitig den Kriegshammer in die Höhe reißen, als die geisterhafte Klinge schon mit Wucht dagegen prallte. Überrascht von der Heftigkeit des Angriffs, wurde sie nach hinten gedrückt und stolperte über ein herumliegendes Trümmerteil. Bevor der Geist jedoch zu einem weiteren Angriff ansetzen konnte, raste ein riesiger Feuerball durch die Luft und löschte die verwirrte Seele aus.

„Uff, das war knapp.“, schnaufte Emanuelle. „Wir sollten vorsichtiger beim Durchsuchen der Häuser sein. Hier scheint es doch noch von Geißeldienern zu wimmeln.“

„Das war kein Vertreter der Geißel.“, erwiderte Risingsun und stemmte sich wieder auf die Füße. „Vielmehr scheint es sich um die Geister der früheren Bewohner zu handeln. Sie glauben immer noch, dass sie ihr Hab und Gut verteidigen müssen. Nichtsdestotrotz ist Vorsicht angebracht. Ich fürchte, wir werden auf noch mehr von ihnen treffen. Der ganze Ort hat eine ungute Ausstrahlung.“
 

Sie durchsuchten noch weitere Häuser und in den meisten von ihnen stießen sie auf wütende Geister. Risingsun merkte schnell, dass sich die Suche nach einer einzelnen Puppe inmitten dieses Chaos als unmöglich erweisen würde. Sie war jedoch entschlossen nicht aufzugeben, als Emanuelle plötzlich einen Laut der Überraschung ausstieß.

„Seht mal! Ich glaube, wir haben sie gefunden.“

Die kleine Magierin schlüpfte zwischen einem umgefallenen Schrank und den Balken der halb eingestürzten Decke hindurch und griff nach etwas, das zwischen den Trümmern am Boden lag. Da begann die Luft um sie herum zu flimmern.

„Emanuelle! Vorsicht!“

Risingsun wollte der kleinen Magierin zur Hilfe eilen, als sich gleich zwei der ehemaligen Bewohner des Hauses neben ihr materialisierten. Ein eisiger Hauch umwehte die Gestalten, als sie mit ausgestreckten Händen nach der Gnomin griffen. Die Paladina war jedoch zu groß, um ebenfalls durch die Lücke zu schlüpfen. Hilflos musste sie mit ansehen, wie einer der Geister die Magierin von hinten umschlang und ihr die Luft abdrückte. Es war ein grotesker Anblick, wie die Magierin mit der Puppe in der Hand wie ein Spielzeug in seinen Armen baumelte. Emanuelle röchelte und zappelte mit den Beinen.

„Halt, im Namen des Lichts befehle ich Euch, sie loszulassen.“, rief Risingsun und hob ihren Kriegshammer. Mit einem gewaltigen Hieb zertrümmerte sie die Überreste des Schrankes und sprang dann mit einem Satz darüber hinweg. Mit einem Schrei stürzte sie sich auf den Geist, der Emanuelle gefangen hielt, und hieb mit dem Hammer nach seinen Beinen. Getroffen ging der Mann zu Boden und ließ die Magierin fallen.

Sofort wirbelte Risingsun herum und kreuzte die Waffe mit dem zweiten Geist. Sie warf ihn zurück und holte dann zu einem weiten Schlag aus, der das Schild des Geistes zertrümmerte. Mit einem heiligen Schwur auf den Lippen holte sie zu einem weiteren Schlag aus. Ihr Kriegshammer wurde von einem goldenen Schein umschlossen und der Geist verging in einer kleinen Explosion weißen Lichts.

Eine eiskalte Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen und die Zeit stand plötzlich still. Voller Entsetzen starrte Risingsun auf die durchsichtige Schwertspitze, die aus ihrer Brust ragte. Der zweite Geist hatte sie durchbohrt. Sie fühlte, wie das Leben aus ihr herausgesogen wurde und die Luft aus ihren Lungen entwich.

„So haben wir aber nicht gewettet, Freundchen“, hörte sie Emanuelle rufen. Es gab eine feurige Explosion, die das dunkle Haus in helles Licht tauchte und der Druck aus Risingsuns Brust wich. Mit einem Keuchen brach sie in die Knie und stützte sich schwer auf ihrem Hammer. Die andere Hand presste sie gegen die Stelle, an der sie gerade noch das Geisterschwert verwundet hatte. Blut quoll zwischen den Ringen ihres Kettenemdes hervor.
 

Mit schwindenden Sinnen fing die Paladina an zu beten. Sie spürte, wie der Bereich um die Wunde wärmer wurde und die Kälte des Todes zurückdrängte. Das Licht vertrieb das Dunkel, das seine Klauen nach ihr ausgestreckt hatte, und die heilige Magie fügte das verletzte Fleisch wieder zusammen. Nur Augenblicke später öffnete sie wieder die Augen und sah in Emanuelles besorgtes Gesicht. Die kleine Magierin hatte dunkle Schatten am Hals, wo der Geist die ergriffen hatte.

„Seid Ihr in Ordnung?“, wollte Emanuelle wissen.

„Es geht mir gut.“, nickte die Paladina. „Aber lasst mich Eure Verletzung versorgen.“

Ein Strahl warmen, goldenen Lichts löste sich von ihrer Handfläche und kurz darauf waren die blauen Flecken am Hals der Gnomin verschwunden. Die tastete mit großen Augen danach und nickte dann zufrieden.

„Viel effektiver als ein Verband.“, bestätigte sie. „Aber kommt jetzt. Ich glaube, wir sollten die hier zu ihrer rechtmäßigen Besitzerin zurückbringen, bevor noch mehr von diesen Rüpeln mit den Schwertern auftauchen.“
 

Risingsun folgte Emanuelle zu dem Haus, in dem sie Pamela Redpaths Geist erwartete. Die Gnomin legte die Puppe der Kleinen neben die Türöffnung.

„Oh, Ihr habt sie gefunden!“, rief das Mädchen und klatschte vor Freude in die Hände. „Vielen, vielen Dank! Jetzt können wir zusammen warten, bis mein Papa zurückkommt.“

Emanuelle wollte etwas sagen, doch Risingsun legte ihr nur die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. Die kleine Pamela würde nicht verstehen, was ihrer Familie zugestoßen war.

Der Geist wiegte die Puppe in seinen Armen. „Ich hoffe nur, er kommt bald nach Hause. Vielleicht weiß Tante Marlene, wo er ist.“ Sie hielt in ihrer Bewegung inne und sah auf. „Könntet Ihr sie nicht fragen, wenn ihr Sie seht? Ihr seid doch jetzt meine neuen Freunde. Bitte, fragt Tantchen Marlene, wie lange ich noch hier bleiben muss. Ich will endlich nach Hause. Ich will nicht mehr alleine sein.“

„Natürlich.“, antwortete Risingsun mit belegter Stimme. „Wir werden ihr sagen, dass du hier bist und auf sie wartest. Ich bin mir sicher, dass sie oder dein Vater bald kommen werden, um dich abzuholen. Du musst nur noch ein kleines bisschen länger warten.“
 

Die Paladina und die kleine Magierin kehrten, ohne ein Wort zu wechseln, zu ihren Reittieren zurück. Erst als sie Darrowshire schon längst hinter sich gelassen hatten, brach Emanuelle das Schweigen.

„Ihr habt sie angelogen, nicht wahr? Ihre Tante wird nicht zurückkehren, ebenso wenig wie ihr Vater.“

Die Paladina blickte stur nach vorn. „Es ist nicht ausgeschlossen, dass ihr Vater überlebt hat. Sie sollte sich diese Hoffnung erhalten können, solange sie noch ein Kind ist.“

Emanuelle runzelte die Stirn. „Aber sie ist ein Geist. Sie wird niemals erwachsen werden. Vielleicht hätten wir sie ebenso wie die andere Geister erlösen sollen. Ihr hättet das doch gekonnt, oder?“

Risingsun presste die Lippen zusammen. Sie wusste, dass sie es gekonnt hätte. Sie hatte es nur nicht gewollt. Insgeheim hatte sie beschlossen, dem Mädchen zu helfen, zu ihrer Familie zurückzufinden. Es musste dafür einen Weg geben. Es musste.
 


 

Der Schmerz des Aufpralls trieb Abbefaria die Tränen in die Augen. Instinktiv lockerte er seine Muskeln und rollte sich über den weichen Boden ab, bis ein Baumstamm die Bewegung unsanft stoppte. Er unterdrückte einen Fluch und rappelte sich auf. Dabei versuchte er erfolglos, die Blicke der anderen zu ignorieren.

„Warum habt Ihr ihn nicht ebenfalls mit uns schweben lassen?“, fragte die Hexenmeisterin an den Priester gewandt.

„Er ist ein Druide.“, antwortete der. „Ich hatte angenommen, dass…“

„Wollen wir nun hier rumstehen oder die Teufelsranke suchen?“, unterbrach Abbefaria ihn ärgerlich. Ihm war wahrlich nicht danach, das Ziel der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein.

„Ein wahres Wort.“, stimmte Easygoing ihm zu. „Ihr sagtet, wir müssten dort entlang?“

Die Hexenmeisterin bejahte die an sie gerichtete Frage.

„Also los, gehen wir.“
 

Vorsichtig und nach allen Seiten sichernd machte der große Druide ein paar Schritte auf dem Pfad, der sich durch den einst kunstvoll angelegten Garten wand. Irgendwo schnatterte ein Eichhörnchen und eine leichte Brise ließ die Blätter über ihren Köpfen rascheln. Ein süßer, verführerischer Duft mengte sich unter den Wind und ließ Abbefaria innehalten. Das Rascheln wiederholte sich.

„Habt ihr das gehört?“, fragte Ceredrian und blieb am Rand des Weges stehen.

„Was denn?“, frotzelte der Schurke. „Das Geräusch, mit dem dir das Herz in die Hose gerutscht ist?“

„Nein, da war so ein…Rascheln.“, antwortete der weißhaarige Priester und sah sich mit schmalen Augen um.

„Ich habe es auch gehört.“, brummte Easygoing. „Seid vorsichtig und achtet auf alles, was sich bewegt.“

„Was denn?“, lachte der Schurke. „Erwartet ihr etwa, dass uns die Pflanzen…aaah!“
 

Wie aus dem Nichts waren zwei Dornenranken aus dem Boden geschossen und hatten sich um die Füße und Waden des Schurken geschlungen. Der Boden um ihn herum brach auf, und weitere, züngelnde Pflanzenstränge wanden sich daraus hervor.

„Vorsicht!“, rief der Ceredrian und sprang einen Schritt zurück. Blitzschnell schossen die Ranken auch auf ihn zu, wickelten sich um seine Taille und warfen ihn zu Boden. Noch mehr Ranken erhoben sich und fesselten seine Arme und Beine.

Abbefaria wollte ihm zu Hilfe eilen, als er dicht neben seinem Kopf eine Bewegung ausmachte. Er fuhr herum und sah, wie sich direkt vor ihm eine riesige, dunkelrote Blüte entfaltete. Eine Wolke gelblicher Pollen schoss daraus hervor und hüllte ihn ein. Der schwere Geruch des Blütenstaubs nahm ihm den Atem und ließ ihn husten. Gleichzeitig strömte ein warmes, angenehmes Gefühl durch seine Gedanken. Seine Glieder schienen so leicht, als würde er jeden Moment vom Boden abheben.

„Seht mal, ich kann auch fliegen.“, wollte er rufen, doch seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr. Eine sanfte Berührung an seinem Kinn wandte seinen Kopf wieder der Blüte zu. Hellgrüne, haarfeine Tentakel waren daraus hervor gewachsen und liebkosten sein Gesicht. Die Blüte öffnete sich weiter und im Inneren wurden zwischen den Staubgefäßen spitze, gelbe Zähne sichtbar. Verlockend duftender Nektar tropfte von ihnen herab und Abbefaria beugte sich automatische näher heran, um den Wohlgeruch zu inhalieren.
 

„Kopf runter!“, befahl eine energische Stimme und eine Kugel aus Schatten und Tod traf die Blüte direkt in ihr Maul. Die geschundene Pflanze kreischte auf, zog die Tentakel zurück und schüttelte zornig ihre Blütenblätter. Dann zog sie mit einem Ruck die Wurzeln aus dem Boden und wandte sich der Hexenmeisterin zu, die sie angegriffen hatte. Eine gelbe Staubwolke löste sich aus der roten Blüte, die jetzt immer mehr an ein Maul erinnerte und stob auf die Hexenmeisterin vor. Die murmelte eine Formel und die Pollen vergingen in einem grellgelben Feuer.

„Ich könnte hier wirklich Hilfe gebrauchen!“, japste die Menschenfrau, als die Blüte nach ihr schnappte und ihre Hand nur um Haaresbreite verfehlte. Mit einem komisch aussehenden Hüpfer rettete sie sich nach links und fiel dabei fast über den an den Boden gefesselten Priester. Die Ranken hatten den Nachtelfen inzwischen fast vollkommen eingewickelt und drohten ihn zu zerquetschten. Abbefaria stellte nicht ohne Befriedigung fest, dass die Pflanze auch sein flinkes Mundwerk zum Schweigen gebracht hatte. Der Gedanke ließ den Druiden lächeln.

„Hört auf so blöd zu grinsen und tut etwas!“, herrschte die Hexenmeisterin ihn an.

Abbefaria verstand nicht, was sie von ihm wollte. Es war doch alles in Ordnung. Der Priester schwieg endlich mal, der vorlaute Schurke baumelte mit dem Kopf nach unten von einem Baum und der bullige Druide wehrte sich mit Zähnen und Klauen gegen drei lebendig gewordene Bäume, die mit ihren spitzen Ästen auf ihn einstachen. Früher oder später würden die teuflischen Treants sicher eines oder beide seiner Augen erwischen und den blinden Bären schließlich überwältigen. Aber das war vollkommen in Ordnung. Alles war vollkommen in…
 

Ein plötzlicher Schmerz zerfetzte die friedliche Stimmung in seinem Inneren und warf seinen Kopf zur Seite. Erschrocken hielt sich Abbefaria die brennende Wange. Vor ihm stand mit aufgelöstem Haarknoten und einen blutenden Kratzer auf der Wange die keuchende Hexenmeisterin. Zu ihren Füßen ringelten sich die wimmernden Überreste einer riesigen, verkohlten Peitscherblume.

„Hilfe. Priester. JETZT GLEICH!“, fauchte sie und schubste ihn unsanft auf einen Haufen Lianen zu, die am Boden lagen und einen großen Kokon bildeten. Wie durch einen Nebel wurde ihm klar, dass sich einer seiner Gefährten in dessen Inneren befinden musste. Aber wie sollte er ihn befreien?

„Feuer hilft am besten, aber wenn ich das mache, wird er da drinnen gegrillt.“, rief die Frau ihm von hinten zu. „Also lasst Euch was einfallen, während ich dem Bären beistehe.“

Dann war sie fort.
 

Feuer…kaltes Feuer…Mondfeuer.

Das Gift des Peitschers kreiste immer noch in seinen Adern und lähmte seine Gedanken. Trotzdem griff Abbefaria hinauf und beschwor den Zorn der bleichen Göttin auf den pulsierenden Kokon herab. Ein schmaler Strahl hellen Mondlichts prallte auf die fleischigen Ranken und hinterließ einen münzgroßen, schwarzen Kreis. Ein piepsendes Quietschen war zu hören und das Zucken der Ranken wurde schneller.

Ich habe es wütend gemacht, durchfuhr es Abbefaria siedend heiß. Er schüttelte den Kopf, um seinen Geist zu klären. Sein Zauber war viel zu schwach und er konnte ihn nicht aufrecht erhalten. Er musste klarer denken, er musste stärker zaubern, er musste…sich verwandeln!

Er konzentrierte sich und begann mit der Transformation. Sein Gesicht wurde länger und spitzer, Fell spross aus seinem Nacken und Federn aus seinem Bauch. Seine Füße formten sich zu krallenbewehrten Tatzen und aus seinem Kopf schoss ein spitzes Geweih hervor. Er stieß ein zorniges, vogelartiges Kreischen aus und wiederholte den Zauber.

Blendendweißes Licht schoss in einer gewaltigen Säule vom Himmel herab und prallte auf den Pflanzenkokon. Silbernes Feuer tanzte über die zuckenden Ranken und verschmorte sie zu verdorrten Stengeln, Noch einmal beschwor Abbefaria den Mond und die Sterne und in einer gewaltigen Explosion zerplatzte die fleischige Hülle und gab den keuchenden Priester frei.

Abbefaria kniete sich schwerfällig neben ihn und wischte ihm mit der federbedeckten Hand den grünen Schleim vom Gesicht, der überall an ihm klebte.

„Mir fehlt nichts.“, würgte der andere Nachtelf hervor. „Geht, helft den anderen.“

Abbefaria nickte nur und stemmte sich wieder in die Höhe.
 

„Hey, Eule! Hier oben, wenn´s Recht ist!“

Der Druide hob den Kopf und entdeckte Deadlyone, der immer noch kopfüber von einem Ast baumelte. Unter ihm langen mehrere, abgeschnittene Ranken und er setzte sich mit Leibeskräften dagegen zur Wehr, ebenfalls zu einem Paket verschnürt zu werden. Seine Bewegungen erlahmten jedoch zusehends und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Dornenranken auch ihn umschlungen hatten.

Ohne zu zögern schoss Abbefaria einen grünen Blitz aus reiner Energie auf die Lianen, die die Füße des Schurken fesselten. Zischend fanden sie ihr Ziel und durchtrennten den Halt. Mit einem überraschten Kreischen stürzte der Nachtelf zu Boden. Kurz bevor er aufschlug, bremste etwas seinen Fall und er schwebte die letzten Zentimeter sanft zur Erde. Als Abbefaria sich umdrehte, sah er den am Boden liegenden Priester, dessen ausgestreckte Hand sich auf seinen Gefährten gerichtet hatte. Er seufzte, als der den Boden erreichte, und brach dann zitternd zusammen. Offensichtlich würde er ihnen jetzt keine Hilfe mehr sein.

„Kommt schon“, blaffte Deadlyone und durchtrennte mit einem schnellen Dolchstreich die Fesseln an seinen Füßen. „Easy braucht unsere Hilfe.“
 

In der Tat bedrängten die wilden Treants den anderen Druiden und die Hexenmeisterin. Einer von ihnen hatte die Menschenfrau gepackt und hielt sie zwischen seinen Astarmen gefangen. Die anderen beiden drangen weiterhin auf den wütenden Bären ein, der bereits eine Menge Blut verloren hatte und eine seiner Pfoten nachzog. Zu allem Überfluss öffnete sich neben ihm auf dem Boden eine weitere der blutroten Blüten. Wenn sie erst ihre giftigen Pollen ausgestoßen hatte, würde der Widerstand des großen Druiden vollends zusammenbrechen.

Abbefaria überlegte nicht lange und langte nach seiner Gürteltasche. Doch sie war nicht da. Mit der Verwandlung war auch all seine Kleidung verschwunden. Er wollte schon panisch werden, als er mit einem Mal wusste, dass er nicht mehr brauchte, wonach er gesucht hatte. Er musste nur ihre Namen aussprechen, und sie würden zu ihm kommen. Laut rief er nach seinen Begleitern.

Aus dem Boden brachen drei weitere Treants hervor und stürzten sich in den Kampf. Sie warfen sich auf einen der Baumgeister, die den Bären bedrängten, und schlugen mit ihren Ästen nach ihm. Holz prallte auf Holz, Blätter flogen umher und dornige Zähne bohrten sich in harte Rinde. Irritiert ließ der Angegriffene von seinem bisherigen Opfer ab und setzte sich gegen seine vermeintlichen Brüder zur Wehr.

„Das Gemüse bekämpft sich gegenseitig.“, lachte der Schurke auf. „Das ist unsere Chance.“

Mit einem heiseren Schrei warf er sich auf den verbleibenden Treant, der inzwischen allein den Klauen des Bären ausgesetzt war und zusehends an Boden verlor. Abbefaria hingegen war hin und her gerissen. Sollte er die zuerst die teuflische Blume bekämpfen oder die Menschenfrau befreien?

In diesem Moment krachte ein feuriger Meteor zwischen den Bäumen hindurch und landete genau auf dem gerade erblühten Peitscher. Mit lautem Kreischen verging das Pflanzenwesen, während der Meteor einen tiefen Krater in den saftig grünen Rasen schlug. Zu allem Überfluss erhob sich der brennende Felsbrocken auch noch und formte eine vage menschlich aussehende Gestalt. Das steinerne Wesen brüllte ohrenbetäubend und stampfte dann auf den verbleibenden Baumgeist zu, der die Hexenmeisterin in seinen Klauen hielt. Erschrocken knarrend ließ der Treant sie los und Sekunden später rammte ihn die Faust des glühenden Riesen in den Boden. Die Hexenmeisterin bellte einen Befehl und die Höllenbestie drehte sich gehorsam herum und wankte auf die verbliebenen Treants zu, die das Schauspiel aus neugierigen Augenknospen betrachteten.
 

„Halt! Nein! Stopp!“, brüllte Abbefaria, warf sich schützend vor die drei kleinen Bäume und riss die Arme nach oben. Der Gluthauch des steinigen Dämons fegte über ihn hinweg und der Geruch von verbrannten Federn und angesengtem Haar lag in der Luft. Doch der erwartete Schlag blieb. Vorsichtig lugte Abbefaria zwischen den verschränkten Armen nach oben, wo das rudimentäre Gesicht der Höllenbestie wie ein Todesversprechen über ihm schwebte. Die ganze Gestalt war in der Bewegung gefroren, die gewaltige Faust noch zum Schlag erhoben. Plötzlich begann das Feuer um den Stein zu flackern, das Leuchten in den Augen der Bestie erstarb und kurz darauf polterte ein Haufen heißer Steine um Abbefaria herum zu Boden. Der feurige Dämon war nicht mehr. An seine Stelle trat jedoch sofort die zornessprühende Hexenmeisterin.

„Was soll das?“, schnaubte sie. „Er hätte dieses Unkraut vernichtet.“

„Ja, was soll das?“, wollte jetzt auch der Schurke wissen. „Wir hatten Euch doch befohlen, keinen Dämon zu beschwören.“

Die Hexenmeisterin fuhr zu ihm herum, als ihr klar wurde, dass er nicht mit Abbefaria sprach.

„Wie bitte?“, fauchte sie außer sich. „Sollte ich mich etwa aufspießen lassen?“

„Es wäre kein großer Verlust gewesen. Ihr habt uns in eine Falle laufen lassen!“

„Was?“ Die Menschenfrau stemmte empört die Hände in die Hüften. „Wer ist denn hier rumstolziert wie ein Hahn auf dem Mist und hat rumgekräht. Wenn Ihr vorsichtiger gewesen wärt…“

„RUHE JETZT!“ Der große Druide hatte sich aus seiner Bärenform wieder zurückverwandelt und stand jetzt wie ein drohender Riese zwischen den beiden Kontrahenten. „Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter. Wir alle sind blind in diese Situation gestolpert. Lasst uns nach unserem Cousin sehen und dann verlange ich eine Erklärung dafür.“

Er deutete auf die drei Treants, die sich jetzt um Abbefaria geschart hatten. Der öffnete den Mund zu einer Erwiderung, bis ihm einfiel, dass er immer noch verwandelt war. Bevor er sich jedoch wieder in seine Nachtelfenform transformiert hatte, hatte ihm der große Druide schon den Rücken zugedreht und sich dem immer noch am Boden liegenden Priester zugewandt. Abbefaria erkannte, dass er ihn mit einem Heilzauber behandelte. Wortlos trat er an den beiden übrigen vorbei und gesellte sich zu Easygoing. Gemeinsam nutzten sie die Kräfte der Natur, um den weißhaarigen Nachtelfen wieder auf die Beine zu bringen. Ein wenig blasser als sonst und immer noch überall von grünem Schleim bedeckt, öffnete der kurz darauf die Augen. Er grinste.

„Danke, meine Freunde, aber ihr könnte Eure Bemühungen jetzt einstellen. Den Rest schaffe ich auch allein.“

Er richtete sich auf und ein goldenes, warmes Licht umflutete seine Gestalt. Seine Wunden schlossen sich innerhalb von Sekunden und selbst die letzten Spuren des Kampfes wurden von dem Licht davon gespült. Kurz darauf sah er wieder aus, als hätte es nie einen Kampf gegeben, wenn man einmal von einem langen Riss in seiner Robe absah.

„Die werde ich wohl ersetzen müssen.“, seufzte er. „Aber jetzt will ich wissen, was ich verpasst habe.“
 

Easygoing richtete sich auf und sah Abbefaria geradeheraus an.

„Unser neuer Freund wollte uns gerade erklären, woher die drei Treants kamen, die auf einmal an unserer Seite gekämpft haben.“

Abbefaria biss sich auf die Lippe. Er hatte die Frage des großen Druiden nicht vergessen, doch die Wahrheit war, dass er keine Antwort darauf hatte. Er hatte gewusst, dass sie da waren und dass sie ihm helfen würden, wenn er ihre Namen rief. Er konnte sich jedoch nicht erinnern, wann er die Fähigkeit, sie zu rufen, erlangt hatte. Betreten sah er auf seine Handfläche, in der jetzt drei Samenkapseln lagen. Die Treants warne wieder in ihre ursprüngliche Form zurückgekehrt.

„Und?“, hakte Easygoing nach. Die Miene des anderen Druiden war nicht unfreundlich, aber ernst. Als Anführer der Gruppe war sein Wunsch, die Fähigkeiten der einzelnen Mitglieder zu kennen, nur zu verständlich. Das Problem war nur, dass Abbefaria eben nicht gewusst hatte, dass er die drei rufen konnte, bevor er es getan hatte. Ebenso wenig wie die Verwandlung in seine Wasserform oder ein Moonkin.

Er öffnete den Mund, um wenigstens eine halbwegs glaubhafte Entschuldigung vorzubringen, als er die Stimme hörte.

„Hallo? Ist da jemand?“, knarrte sie. „Ich bin hier drüben. Bitte, ihr müsst mir helfen!“

Ohne zu zögern drehte Abbefaria sich herum und lief in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
 


 

Magenta verstand die Welt nicht mehr. Erst stand dieser Druide nur dümmlich grinsend in der Gegen herum und übte sich im Nichtstun und jetzt, da der Kampf vorbei war, rannte er auf einmal wie von der Tarantel gestochen los. Gut, zugegeben, der Trick mit dem lustigen Eulenbären war ganz nett gewesen, aber dass sie ganz allein mindesten drei dieser Pflanzenmonster ausgeschaltet hatte, war ihren langohrigen Begleitern natürlich entgangen. Stattdessen war sie jetzt die Böse, weil sie in einer gefährlichen Situation auf ihr gesamtes Repertoire an Fähigkeiten zurückgegriffen hatte, anstatt nur die zu verwenden, die ihren Begleitern moralisch einwandfrei erschienen.

„Undankbares Pack!“, murmelte sie leise.

„Sehe ich auch so.“, antwortete eine Stimme aus ihrem Rucksack. Magenta hob eine Augenbraue, öffnete das Gepäckstück und spähte hinein. Die alte Schnapsflasche mit dem eingesperrten Wichtel glühte schwach vor sich hin und ein Paar verzerrte Augen musterten sie von der Innenseite.

„Was denn?“, unkte der Wichtel dumpf. „Ging es etwa nicht um Hexenmeister? Ich dachte, ich…hey!“

Magenta ließ den Verschluss wieder zuschnappen und warf die Tasche unsanft über ihre Schulter. Das fehlte jetzt gerade noch, dass sie anfing, sich mit ihren Dienern zu unterhalten. Sie hatte immerhin schon genug Ärger mit diesen dahergelaufenen Nachtelfen, die wieder einmal weitergezogen waren, ohne sich um ihren Verbleib zu kümmern. Nicht einmal der ansatzweise charmante Priester hatte sich ihrer angenommen. Nun egal. Sie würden schon sehen, was sie davon hatten. Es war ja nicht so, dass sie auf ihre Hilfe wirklich angewiesen war.

Mit grimmiger Miene folgte Magenta ihren Begleitern und fand die vier in einer höchst eigenartigen Situation wieder. Oder vielleicht auch nicht, wenn man bedachte, was sie so alles über Nachtelfen und deren Affinität zur Natur gehört hatte. Allerdings hätte sie trotzdem nicht wirklich damit gerechnet zu sehen, wie sich jemand ernsthaft mit einem Baum unterhielt. Und dass dieser Baum dann auch noch antwortete!
 

„Mein Name, ist Eisenborke“, knarzte der seltsame Baum gerade. Er war über und über mit grauen Flechten behangen. Trotzdem konnte Magenta inmitten dieses Gewirrs so etwas wie ein Gesicht ausmachen. Es hatte eine dicke, knollige Nase, tiefliegende, schwarze Augen und neben dem breiten, knotigen Mund staken zwei stumpfe, hölzerne Stoßzähne aus dem Holz heraus. Alles in allem erinnerte er Magenta an einen sehr alten Mann, der die besten seiner Tage schon lange hinter sich hatte.

„Was tut Ihr hier, Eisenborke?“, fragte der große Druide Easygoing und die Ehrfurcht in seiner Stimme war dabei nicht zu überhören. Magenta schnaubte trocken.

Es dauerte eine Weile, bevor der Baum antwortete, so als müsse erst die Kraft sammeln, die Worte auszusprechen. „Ich und mein Bruder Wucherborke waren einst die Beschützer dieses Ortes. Seite an Seite mit den Shen’dralar bewahrten wir diesen Ort, halfen ihn nach der großen Erschütterung wieder neu zu bauen. Doch die Zeiten änderten sich. Die Shen’dralar änderten sich. Ihre Kraft begann zu schwinden. Dinge gingen vor und ihr Anführer, Prinz Thortheldrin, ließ sich mit Mächten ein, die er lieber nicht bemüht hätte. Die Zahl seiner Anhänger wurde weniger und weniger und eines Tages überrannten die Dämonen die Gärten. Sie verdarben dir Früchte unserer Arbeit und nahmen mich gefangen. Seit dem vegetiere ich hier vor mich hin, unfähig die Ketten zu sprengen, die der Satyr Zevrim Thornhoof mir angelegt hat. Doch dann kamt ihr, Sterbliche, und ich erkannte bei Euch die Ableger des mächtigen Arei. Wer so einen starken Verbündeten hat, ist vielleicht auch in der Lage, mir in meiner Not zu helfen.“

„Arei?“, fragte Abbefaria. „Wer soll das sein?“

Der Baum drehte sich schwerfällig zu ihm herum. „Arai ist ein Urtum des Krieges wie ich und Ihr tragt drei seiner Kinder bei Euch, Druide.“
 

Der Nachtelf war augenscheinlich sprachlos. Seine Hand glitt zu dem kleinen Beutel an seinem Gürtel und verweilte dort, während seine Stirn in Falten lag. Anscheinend machte das Gesagte für ihn nicht viel mehr Sinn als für Magenta.

„Wie können wir Euch zu Diensten sein, weises Urtum.“, fragte der Priester.

„Geht und tötet Zevrim Thornhoof. Sein Tod wird den Zauber brechen, der mich hier gefangen hält.“

„Moment, ich dachte, wir suchen diesen Alzzin Wildformer.“, mischte Magenta sich nun doch ein. Sie wollte nicht noch eine weitere Verzögerung riskieren.

Der dunkle Blick des Baumes fixierte sie. „Ihr werdet ohne meine Hilfe nicht zu seinem Versteck gelangen.“, erklärte der Baum…das Urtum…was auch immer. „Eine tonnenschwere Tür versperrt den Weg zu seinem Versteck. Beendet meine Qual und ich werde den Weg für Euch freimachen.“

„Ihr könntet die Tür gleich öffnen.“, schlug Magenta vor.

Die Blätter des Urtums raschelten leise und es klang bekümmert. „Unter dem Bann des Satyren bin ich meiner Kraft beraubt. Ich würde Euch helfen, wenn ich könnte, kleine Sterbliche, doch es liegt einfach nicht in meiner Macht.“

„Natürlich helfen wir Euch, Meister Eisenborke.“, versprach Easygoing und warf Magenta einen vielsagenden Blick zu. „Niemals würden wir Euch in so einer Zwangslage zurücklassen.“

Oh nein, natürlich nicht, dachte Magenta spöttisch. Selbstverständlich müssen wir uns um jedes Friedensblümchen kümmern, dem jemand seinen Stängel geknickt hat. Aber bitte. Wenn wir dadurch endlich diese Teufelsranke finden, soll es mir Recht sein.

„Habt Dank, teure Freunde.“, seufzte das Urtum. „Ich werde Euch Eure Freundlichkeit nicht vergessen. Ich sehne mich schon so lange nach Frieden.“

Seine Worte waren zum Schluss immer leiser geworden, so dass sie am Ende nicht lauter waren, als das Säuseln des Windes in den trockenen Blättern eines toten Baumes. Tatsächlich bewegte sich das Urtum jetzt nicht mehr und sah alt und grau aus. Vermutlich war seine Behauptung mit der Tür daher nicht einmal gelogen, obwohl Magenta bezweifelte, dass er es nicht vielleicht trotzdem geschafft hätte, wenn er sich nur richtig angestrengt hätte. Doch diese Möglichkeit stand jetzt nicht mehr zur Debatte. Die Nachtelfen schmiedeten bereits Schlachtpläne, mit denen sie sich dem Satyr entgegenwerfen wollten.

„Wenn ich vielleicht vorschlagen dürfte, dass wir diesen Zevrim Thornhoof zunächst einmal ausfindig machen?“, unterbrach Magenta die allgemeine Diskussion. „Schließlich können wir uns ja schlecht durch die Massen der hier verweilenden Dämonen hindurch metzeln und hoffen, dass der richtige irgendwann dabei ist.“
 

Dummerweise hörte niemand auf sie und die von ihr als sinnlos erachtete Taktik war genau der Plan, den die Nachtelfen verfolgten. Wobei Magenta zugeben musste, dass die Wut, mir der sich ihre Begleiter auf die Satyre und deren Wichteldiener stürzten, durchaus sehenswert war. Nicht selten blieb von einer Ansammlung Dämonen nicht mehr als ein Haufen undefinierbarer Körperteile übrig.

Manchmal machte sich Magenta einen Spaß daraus, einen ihrer Feinde unter ihre Kontrolle zu bringen und ihn gegen seine eigenen Kameraden zu hetzen, doch meist bemühte sie sich, es zumindest so aussehen zu lassen, als würde sie mit voller Kraft die Kämpfe unterstützen.

Nebenbei hielt sie nach wertvollen Artefakten oder weiter verwendbaren Schätzen Ausschau, die es hier ohne Zweifel einmal gegeben hatte, bevor die Satyre die Herrschaft übernahmen. Ihre Ausbeute war mager, wenn man einmal davon absah, dass die Dämonen sich genau wie jedes andere Opfer sehr gut dazu eigneten, Seelensplitter aus ihnen zu machen. Nur dass sich bei diesen Höllenkreaturen niemand darüber aufregte, wenn man Stücke ihrer Macht zu hübschen, violetten Edelsteinen verarbeitete. Außerdem band Magenta den Nachtelfen nicht auf die Nase, was sie tat, wenn sie einem der Dämonen den Todesstoß versetzte. Die Langohren musste nicht alles wissen.
 

Sie fanden Zevrim Thornhoof vor einem dunklen Altar, der von Dutzenden von Totenschädeln gebildet wurde. Magenta hätte gern gewusst, welches Ritual er gerade abhielt und wie er sich das Urtum Untertan gemacht hatte, doch ihre Begleiter stürzten sich bereits auf ihn, bevor sie die Gelegenheit fand ihn zu befragen. Als ein gut gezielter Prankenhieb des Bärendruiden schließlich sein Leben beendete, hallte ein donnernder Schrei durch die verfallenen Hallen:

„Endlich…befreit aus seiner verfluchten Umklammerung!“
 

Als sie den freudigen Ausdruck auf dem Gesicht des Druiden neben sich sah, musste Magenta ebenfalls lächeln. Sie wusste nicht warum. Vermutlich war Abbefarias Freude eben einfach ansteckend. Sicherlich konnte es ja nicht daran liegen, dass sie sich darüber freute, dass sie einen Baum befreit hatten, auch wenn dieser sprechen konnte.

„Eisenborke ist frei.“, sagte er zu ihr.

„Ja, ich hab´s gehört.“, antwortete sie und lachte. „Ich meine, das war ja nicht zu überhören. Ich hoffe nur, er hetzt uns dadurch nicht noch mehr Dämonen auf den Hals.“

Abbefaria schüttelte energisch den Kopf. „Niemals. Wenn sie seinen Ruf tatsächlich vernommen haben, verkriechen sie sich jetzt wahrscheinlich mit schlotternden Knien in irgendwelchen Winkeln. Ein Urtum des Krieges ist ein ernstzunehmender Gegner.“
 

Magenta lächelte nur weiter und sagte nichts dazu. Sie selbst glaubte nicht daran, dass die Dämonen tatsächlich Angst vor einem Baum hatten, auch wenn sie zugeben musste, dass Eisenborke jetzt, da er von der Verzauberung des Satyrs befreit war, wesentlich gesünder und eindrucksvoller aussah. Sein Laub erstrahlte nun wieder in einem gesunden Grünton, Moos und Flechten waren verschwunden und die gewaltigen Pranken des Baumwesens wirkten jetzt durchaus so, als könnten sie eine ganze Herde Dämonen auf einmal zerquetschen.

Das Urtum wiegte sein stattliches Haupt und knarrte: „Ich danke Euch, Sterbliche. Ihr habt Euer Versprechen gehalten und jetzt werde ich das meine halten, bevor ich endlich wieder in den Traum zurückkehre. Folgt mir und ich werde Euch den Weg zu Alzzins geheimer Kammer eröffnen.“

Mit stampfenden Schritten durchmaß das Urtum den finsteren Garten, bis sie an der nördlichen Mauer angelangt waren. Dort donnerte es mit seinen riesigen Fäusten wieder und wieder gegen ein steinernes, mit Runen und Schriftzeichen übersätes Tor, bis der Stein Risse bekam und schließlich unter den wuchtigen Schlägen zusammenfiel. Der Staub seiner Tat hatte sich noch nicht ganz gelegt, als Eisenborke zu wanken begann.

„Seht, Sterbliche, der Weg ist frei.“, sagte er. „Doch meine Stärke schwindet. Es ist jetzt Zeit, Abschied zu nehmen. Ich werde jetzt dahin zurückkehren, woher ich gekommen bin.“

Etwas streifte Magentas Wange. Als sie es auffing, sah sie, dass es sich um eines der gerade frisch gesprossenen Blätter handelte. Der eben wieder erstarkte Baum starb.

„Habt Dank für das, was Ihr für mich getan habt. Und mögen die Mächte der Natur immer auf Eurer Seite sein.“

Mit diesen letzten Worten versteifte sich das Urtum plötzlich. Der Glanz aus den dunklen Käferaugen wich und der gesamte Baum kippte lautlos nach hinten. Ein heiserer Schrei löste sich aus der Kehle von Magentas Nebenmann.

„Nein.“, wimmerte Abbefaria. „Eisenborke, nein!“

Ceredrian trat zu ihm und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. „Es ist besser, ihn gehen zu lassen. Er hat in dieser Welt schon lange nichts mehr verloren.“

Easygoing nickte. „Wir sollten jetzt nicht in Trauer versinken, sondern sein Andenken ehren, indem wir zu Ende führen, was wir begonnen haben. Wir müssen Alzzin, den Wildformer, vernichten und die Teufelsranke zerstören. Nur so wird Eisenborkes Opfer nicht umsonst gewesen sein.“
 

Magenta verdrehte innerlich die Augen vor so viel Pathos. Aber gut, sie hatten ja Recht. Je eher sie dieses teuflische Gewächs fanden, desto schneller würden sie diesen Teil der Stadt verlassen und sich endlich auf die Suche nach Immol’thar machen. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass er die Macht war, mit der sich dieser ominöse Prinz nicht hätte einlassen sollen. Die Hexenmeisterin konnte es kaum erwarten, endlich an seinen Aufenthaltsort zu gelangen. Doch zunächst einmal galt es, sich dem zu stellen, was am Ende dieses staubigen Ganges lauerte, der sich vor ihnen aufgetan hatte.
 


 

Das verfallene Haus am Rand des Friedhofs von Sorrow Hill lag noch genauso da, wie Risingsun es verlassen hatte. Erneut stieg sie die morschen Stiegen hinauf zu dem Zimmer, in dem der Geist von Marlene Redpath auf sie wartete. Hoffnungsvoll richteten sich die durchsichtigen Augen des Geistes auf die Paladina und ihre Begleiterin.

„Habt Ihr sie gefunden? Habt ihr Pamela gefunden? Sagt, wie geht es ihr? Geht es ihr gut? Ist sie am Leben?“

Risingsun antwortet nicht, sondern sah den Geist nur an. Die blonde Frau sackte in sich zusammen.

„Oh nein, ich wusste es.“, flüsterte sie tonlos. „Sie war so ein glückliches Kind und ich…ich habe sie im Stich gelassen.“

„Wir haben ihr ihre Puppe gebracht.“, erklärte Emanuelle mit einem vorwurfsvollen Seitenblick auf die Paladina. „Aber eigentlich wollte die Kleine lieber, dass ihr Vater sie holen kommt. Wisst Ihr, was mit ihm geschehen ist?“

„Ihr Vater…mein Bruder.“ Die Stimme des Geistes war jetzt nur noch ein Flüstern. „Ich habe gesehen, was sie mit ihm gemacht haben. Diese Monster! Sie haben ihn nicht einfach nur getötet, sie haben ihn zu einem von ihnen gemacht. Niemals sah ich etwas derart Schreckliches. Doch das ist etwas, dass die kleine Pamela niemals erfahren darf. Sie würde es nicht verstehen und selbst wenn, brächte ich es nicht über´s Herz, ihr das zu erzählen.“

Marlene Redpath verbarg das Gesicht in den Händen und begann bitterlich zu weinen.
 

„Gibt es denn gar nicht, was wir tun können?“, wollte Emanuelle wissen.

Risingsun sah, dass die Augen der kleinen Gnomin ebenfalls verdächtig schimmerten. Die Paladina schüttelte den Kopf.

„Wenn Joseph Redpath von der Geißel übernommen wurde, ist seine Seele verloren. Wir können den Lauf der Geschichte nun einmal nicht verändern.“

„Was…was habt Ihr da gesagt?“ Marlene Redpath hatte den Kopf gehoben und sah Risingsun an, als wäre sie der Geist.

„Ich habe gesagt, dass Euer Bruder verdammt ist und seine Seele verloren. Er wird für alle Zeit das Monster bleiben, zu dem er geworden ist.“

„Zeit… Zeit.“, murmelte der Geist. „Das ist vielleicht die Lösung.“

Die blonde Frau erhob sich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie sah mit einem Mal sehr entschlossen aus.

„Ich weiß, ich habe schon zu viel verlangt, Paladin, doch es gibt noch etwas, um das ich Euch bitten möchte. Vielleicht gibt es noch eine kleine Hoffnung, wie wir Pamela und ihren Vater wieder vereinen können. Geht hinaus auf den Friedhof und sucht dort nach seinem Grab. Sein Körper liegt zwar nicht darin, denn seine Gebeine wurden schon vor Jahren zertrampelt und zu Staub zermahlen, aber unter dem Grabstein findet Ihr seinen Ehering. Nehmt ihn und bringt ihn nach Andorhal. Sucht dort nach einer Gnomin mit…seltsamen Kräften. Ihr Name ist Chromie. Wenn meinem Bruder und meiner kleinen Nichte noch jemand helfen kann, dann ist sie es.“
 

Risingsun presste die Lippen zusammen. Was die Geisterfrau da verlangte, kam einem Selbstmord gleich, denn Andorhal war einer der am stärksten gesicherten Stützpunkte der Geißel in den westlichen Pestländern. Noch dazu verstand sie nicht, was es bringen sollte, diese Chromie ausfindig zu machen. Man konnte einen Toten oder in diesem Fall Untoten nicht wieder zum Leben erwecken und ihn von der Unterjochung durch die Geißel zu befreien war etwas, an dem bereits die größten Geister und Glaubenstreuen verzweifelt waren. Es war schlichtweg unmöglich. Wie konnte also eine kleine Gnomin fertigbringen, was nicht einmal der legendäre Lord Uther, der Lichtbringer, selbst zustande gebracht hatte. Bittere Enttäuschung stieg ihre Kehle empor.
 

„Kommt Ihr?“ Emanuelle stand bereits an der Tür und wirkte ungeduldig. „Na los, wir müssen diesen Ring finden.“

„Aber..., wollte Risingsun protestieren, doch die kleine Magierin schnitt ihr einfach das Wort im Munde ab.

„Ihr habt geschworen, der kleinen Pamela zu helfen. Ich habe es Euch angesehen. Also los, lasst uns endlich diesen Ring suchen und dann nichts wie nach Andorhal.“

„Wart Ihr schon einmal in Andorhal?“, fragte Risigsun scharf. „Wir würden nicht einmal über die Stadtgrenze kommen. Dort wimmelt es nur so von Untoten.“

Emanuelle blinzelte unbeteiligt. „Und?“

„Es ist unmöglich lebend dorthin zu gelangen.“, ereiferte sich die Paladina.

„Das hat man schon von vielen Dingen gesagt.“, winkte Emanuelle ab. „Es muss nur mal jemand kommen, und es versuchen. Oder meint ihr vielleicht, aquadynamische Fischanlocker oder mechanische Eichhörnchen wären einfach so aus dem Nichts erschienen. Nein. Es musste jemand kommen und sie erfinden. Und heute hat einfach jeder eins.“

„Ein was?“, fragte Risingsun, die irgendwann den Faden verloren hatte.

„Na ein mechanische Eichhörnchen. Sagt bloß, Ihr habt keins. Welch eine Schande. Ich glaube, ich habe da noch ein paar Dutzend in meiner Tasche. Ich müsste nur…mhm.“

Der Ausdruck, der auf dem Gesicht der kleinen Magierin erschienen war, gefiel der Paladina nicht. Er gefiel ihr ganz und gar nicht.

„Wisst Ihr was?“, grinste Emanuelle und trug damit nicht unbedingt zu Risingsuns Beruhigung bei. „Ich glaube, ich habe da eine Idee, wie wir unbemerkt nach Andorhal kommen können. Ich brauche nur noch etwas Zyphyrium und ein bisschen Klebstoff. Wäre doch gelacht, wenn man nur Schafe zum Explodieren bringen könnte. Ihr werdet sehen, das wird lustig.“

„Ich werde es bereuen.“, murmelte Risingsun, als sie der voran wuselnden Magierin nach draußen folgte. „Ich werde es ganz, ganz sicher bereuen.“
 

Während die Gnomin sich an ihrem Gepäck zu schaffen machte, betrat Risingsun den Friedhof. Die einzelnen Gräber waren nur noch schemenhaft zu erkennen. Unkraut überwucherte die Grabränder und die Steine waren zerstört, umgefallen oder so stark verwittert, dass man die Inschriften darauf nicht mehr erkennen konnte. Ziellos wanderte de Paladina zwischen den Grabstätten herum, bis sie an einen Stein gelangte, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Risingsun kniete nieder und tastete über die raue Oberfläche. Unter einem Moosflecken fühlte sie eine glatte Oberfläche. Sie entfernte die Flechten und darunter kam eine kleine Messingplatte zum Vorschein.

„Joseph Redpath, gefallen in der Schlacht um Darrowshire“, las sie. „Aber darunter steht noch etwas.“

Die Paladina kratzte mit dem Fingernagel an der Platte herum, um auch noch den Rest der Inschrift zu entziffern, als es ein leises, kaum wahrnehmbares Klicken gab. Die Messingplatte schwenkte zur Seite und darunter kam ein einfacher, goldener Ring zum Vorschein. Joseph Redpaths Ehering. Ohne zu überlegen, griff sie danach.

Rette mich, flüsterte eine Stimme so nah neben ihrem Ohr, dass Risingsun aufsprang und nach ihrer Waffe griff. Fast schon panisch suchte sie die Umgebung ab, aber es war niemand zu sehen. Der Friedhof war leer und das einzige Geräusch, das zu hören war, war ihr eigener, schneller Atem.

„Verfluchte Geister.“, schnaufte die Paladina und blickte auf den Ring in ihrer Hand. Mit einer entschlossenen Geste schloss sie die Finger darum und steckte ihn in die Tasche. „Andorhal, wir kommen. Ich hoffe nur, Emanuelle weiß, was sie da tut.“
 


 

Abbefaria trauerte immer noch über den Verlust von Eisenborke. Es kam ihm ungerecht vor, dass sie das Urtum nur befreit hatten, um ihm dann beim Sterben zuzusehen. Vor allem aber hätte er noch so viele Fragen gehabt. Besonders über das, was Eisenborke über Arei und die kleinen Treants gesagt hatte, die Abbefaria aus ihnen heraufbeschwören konnte. Er hatte den Zauber inzwischen noch ein weiteres Mal wiederholt und wieder waren die drei kleinen Bäume erschienen. Aufgrund der äußeren Umstände hatte Easygoing nicht weiter nach einer Erklärung verlangt, als Abbefaria ihm gestand, dass er keine hatte, doch früher oder später würde ihn dieses Problem einholen.
 

„Wir nähern uns dem Satyr“, verkündete die Hexenmeisterin in diesem Moment.

Abbefaria verbannte die Gedanken an das tote Urtum aus seinem Kopf und versuche, sich auf den bevorstehenden Kampf zu konzentrieren. Der Dämon würde nicht leicht zu besiegen sein und da war immer noch die…Teufelsranke.
 

Dem Druiden blieb der Mund offen stehen, als sie das Ende des Ganges erreichten und eine ehemalige Tempelanlage betraten. Die nach oben offene, kreisrunde Halle wurde von kunstvoll ziselierten Säulen und Zierbögen gesäumt. Breite Treppen führten zu einem zentralen Platz mit einem in Weiß- und Violett-Tönen gehaltenen Bodenrelief, in dessen Mitte sich ein marmornes Wasserbecken befand. Das musste der Mondbrunnen sein, von dem Rabine Saturna gesprochen hatte. Was Abbefaria jedoch erschauern ließ war nicht die Erhabenheit der heiligen Stätte, es war vielmehr der Grad an Zerstörung, dem sie anheimgefallen war.

„Was…was ist das?“, fragte Deadlyone und wagte noch eine halben Schritt nach vorn, bevor auch er mit fassungslosem Gesicht stehenblieb.

„Das ist die Teufelsranke.“, erklärte die Hexenmeisterin ruhig. „Ich sagte ja, dass es ein tückisches Gewächs ist.“

„Es ist…gigantisch.“, bemerkte jetzt auch Easygoing und Abbefaria fand, das selbst das die Ausmaße der Ranke noch nicht ausreichend beschrieb.
 

Alles hier schien an den dornigen Ranken und mit Widerhaken versehenen Tentakeln zu ersticken, Jede Säule war umwunden von mannsdicken Wurzelsträngen, jeder Bogen mit Ausläufern der Pflanze überwuchert. Ihre Wurzeln hatten die Bodenplatten gesprengt und die Mauern zum Einsturz gebracht. Es war wie ein gewaltiges Geschwür, das den Schrein befallen und ihn entweiht hatte. Das Licht der bleichen Göttin würde niemals wieder mit Wohlgefallen auf diesen Ort herab scheinen.

„Ihr müsst vorsichtig sein.“, sagte die Hexenmeisterin und wies auf die Ranken. „Sie reagieren auf Bewegung und glaubt mir, dieses Gewächs ernährt sich nicht allein von Erde und Wasser. Einmal in diesen Ranken gefangen, könnte es schwierig sein, sich wieder zu befreien. Ihr würdet eingewickelt und verschlungen, noch bevor ihr um Hilfe rufen könntet.“

„Aber wie sollen wir es dann bekämpfen?“, wollte Ceredrian wissen.

Die Hexenmeisterin machte ein nachdenkliches Gesicht. „Wartet einen Augenblick hier. Ich werde etwas überprüfen.“
 

Abbefaria hielt den Atem an, als die Menschenfrau sich langsam auf eine der dicken Ranken zubewegte. Ihr Gesicht verriet höchste Anspannung. Sie blieb kurz vor der Ranke stehen, zögerte noch einen kleinen Augenblick und legte dann die Hand auf den Pflanzenstrang.

Nichts passierte.

„Mhm, das ist eigenartig.“, murmelte sie und klopfte noch einmal fester auf die Ranke. „Normalerweise reagiert das Gewächs sofort. Ich habe gesehen, wie sie Fledermäuse im Flug gefangen hat.“

„Ihr habt es gesehen?“, fragte Easygoing misstrauisch.

„Ich…äh….also ich habe davon gelesen, wie jemand gesehen hat, dass die Teufelsranke so etwas kann.“, erklärte die Hexenmeisterin hastig. „Aber diese Ranke scheint mir seltsam inaktiv, so als hätte jemand oder etwas ihr ihre Kraft genommen.“

„Das heißt, die Teufelsranke ist tot?“, wollte Ceredrian wissen.

„Nein, das glaube ich nicht.“, gab die Hexenmeisterin zurück. „Zumindest nicht wirklich. Ich kann immer noch die große Macht spüren, die diesem Ort innewohnt. Irgendwo muss die Kraft der Pflanze abgeblieben sein und ich denke, wir täten gut daran herauszufinden, wo sie jetzt ist.“

„Ich glaube, diese Frage ist nicht allzu schwer zu beantworten.“, rief Deadlyone von einer der Balustraden aus. „Seht!“

Abbefaria und die andere stürzten zum Rand der Brüstung und spähten hinunter. Am Rand des großen Platzes stand eine große, gehörnte Gestalt mit schwefelgelbem Fell. Vor ihr wuchs etwas aus der Erde, das wie ein riesiger Dornbusch aussah, an dessen Ästen kleine, dunkelrot glühende Früchte hingen. Selbst auf die Entfernung hatte Abbefaria Schwierigkeiten, richtig hinzusehen, denn von diesem Strauch ging etwas absolut Böses aus.

„Er muss die Macht der Ranke in diese leuchtenden Splitter gebannt haben.“, riet die Hexenmeisterin. „Wahrscheinlich wächst aus jedem von ihnen eine neue Teufelsranke hervor, wenn man sie einpflanzt.“

„Dann müssen wir ihn erwischen, bevor er mit ihnen entkommt.“, rief Easygoing. „Los, vorwärts, wir müssen diesen Satyr aufhalten.“
 

Alzzin der Wildformer fuhr mit einem wütenden Grollen zu ihnen herum.

„Wer wagt es, hier einzudringen? Verschwindet, die Macht der Teufelsranke gehört allein mir!“

„Das werden wir ja sehen.“, knurrte Easygoing und verwandelte sich erneut in einen großen Bären. Mit wütendem Gebrüll stürzte er sich auf den Satyr.

Der Dämon wich mit einem Satz zurück und fletschte die Zähne. „Mir roher Gewalt wirst du mich nicht fangen, Druide. Sieh nur, wie sie schwindet und verwelkt.“

Er pustete eine grüne, stinkende Wolke aus, die den großen Druiden vollkommen einhüllte. Der Bär gab einen klagenden Laut von sich und brach vor den Augen seiner Mitstreiter zusammen. Wimmernd versuchte er, wieder auf die Füße zu kommen, doch die mächtigen Pranken schienen plötzlich zu schwach, um das Gewicht des Bärenkörpers zu tragen.

„Was hast du mit meinem Bruder gemacht?“, fauchte Deadlyone. Er zog seine Dolche und stürmte auf den lachenden Satyr zu.

„Wie, mit diesen armseligen Spitzen willst du mich verletzten? Ich werde dir zeigen, was Dornen sind. Sieh her!“
 

Der Satyr hieb mit seiner Pranke nach dem herannahenden Schurken, doch in der Bewegung änderte sich die Gestalt des Dämons. Seine Finger wurden länger und spitzer, die Haut wurde hart und borkig. Mit voller Wucht traf er seinen Gegner mit dem Ast, zu dem sein Arm geworden war. Zweige griffen blitzschnell nach den Waffen des Schurken und hielten sie hoch über seinen Kopf. Dickere, dornenbesetzte Äste trafen den Nachtelfen an Kopf, Hals und Schläfe. Blutüberströmt taumelte er rückwärts.

„Was…was ist das für ein Trick.“

„Kein Trick.“, lachte der Baum. „Nur eine kleine Kostprobe meiner Fähigkeiten. Und jetzt halt still, damit meine Diener sich an dir laben können.“

Der Erdboden rund um den entwaffneten Schurken herum begann zu brodeln, und gleich mehrere der gefährlichen Peitscherblumen schossen aus dem Boden hervor. Sie ergriffen den überraschten Nachtelfen und hielten ihn mit ihren Lianen gefangen. Schmatzend näherten sich die Blüten seinen Kopf.

„Nein, halt! Lasst ihn sofort los“ Ceredrian sprang vor und eine Woge goldenen Lichts rollte über die wilden Schlingpflanzen hinweg. Kreischend und winselnd zogen sie sich zurück und zogen ihre Beute mit sich.

„Mir scheint, sie haben Gefallen an ihrem Spielzeug gefunden.“, säuselte der Satyr. „Aber du tust ihnen weh. Das kann ich nicht zulassen. Komm, gib mir etwas von deiner Kraft.“

Ohne weitere Vorwarnung stürzte sich der Baum auf den überraschten Priester und hüllte ihn in seine Äste. Abbefaria hörte den Priester aufstöhnen.
 

„Ja, JAA, MEEEHR“, sang der Baum und lachte höhnisch. „Ihr könnt mich nicht besiegen. Ihr nicht!“

„Lass ihn sofort los, Dämon.“, rief die Hexenmeisterin. „Wir haben genug von deinen Spielchen.“

Erst jetzt sah Abbefaria, dass neben ihren Füßen wieder der kleine Wichteldiener erschienen war. Die spitzohrige Kreatur zögerte nicht lange und warf auf einen Befehl seiner Meisterin hin mit einem Feuerball nach dem tanzenden Baum. Alzzin quiekte auf und machte einen Satz rückwärts. Dabei ließ er Ceredrian los, der entkräftet zu Boden sank. Sofort was Abbefaria bei ihm.

„Was ist passiert? Seid Ihr verletzt?“

Der Priester schüttelte benommen den Kopf. „Mir fehlt nichts. Nur ein paar unbedeutende Schnitte. Aber ich fühle mich so eigenartig. Ich…“

Er griff mit der Hand nach seinem zerkratzten Gesicht und murmelte einige Worte. Als nichts passierte, wurden seine Augen groß.

„Was hat er mit mir gemacht?“

„Er hat Euch die magische Kraft entzogen.“, erklärte die Hexenmeisterin, die neben Abbefaria aufgetaucht war. „Sie wird wiederkommen, denn der Effekt ist nicht von Dauer, doch für den Moment werdet Ihr ohne Zauber auskommen müssen.“
 

„Ah, jetzt habe ich aber genug von dir.“, brüllte der Baum, der inzwischen an mehreren Stellen brannte, wo ihn die Feuerbälle des Wichtels entzündet hatten. Mit einem wütenden Schrei verwandelte Alzzin sich wieder in einen Satyr zurück. „Du magst vielleicht einen fähigen Diener haben, Hexe, aber ich habe Dutzende!“

Er streckte die Hand gegen die Mauer hinter sich und mit ohrenbetäubenden Donnern krachte der Fels in sich zusammen. Gackernd und johlend stürmte eine ganze Schar Wichteldiener daraus hervor und ging auf die drei verbleibenden Streiter los.

„Oh, ach ja?“, fauchte die Hexenmeisterin. „Wenn du nichts Besseres zu bieten hast, als lächerliche Wichtel, dann werde ich wohl gewinnen“

Sie hob einen Gegenstand, der wie ein Stab mit einem Kristall an der Spitze aussah, und rief eine Formel. Im selben Moment verschwand der Wichteldiener und eine rotbraune, tentakelbesetzte Bestie brach aus dem Nichts hervor. Als sie die Wichtel sah, heulte sie auf und stürzte sich mit Begeisterung auf die kleinen Dämonen. Bevor diese reagieren konnten, hatte sie schon drei davon mit einem Biss verschlungen und eine vierter hing jaulend am Ende eines Tentakels fest. Unter entsetztem Kreischen suchten die restlichen, kleinen Dämonen ihr Heil in der Flucht, während die Bestie ihnen nachjagte und einen nach dem anderen verschlang.

„Sieht aus, als hätte mein Sloojhom deine Wichtel zum Fressen gern.“, spottete die Hexenmeisterin.

„Ihr wollt also einen Hundekampf?“, spuckte Alzzin aus. „Dann stellt Euch meinen Zähnen und Klauen, Menschlein!“
 

Wieder veränderte der Satyr die Form. Sein Fell wurde dunkler und länger, der Kopf wurde zu einer breiten Schnauze und die Arme und Beine zu dicken, pelzbesetzten Pfoten. Mit einem wütenden Knurren sprang der schwarze Worg, zu dem der Satyr geworden war, vor und verbiss sich im Bein der Hexenmeisterin. Vor Schmerz schrie die Frau auf und der Zauber, den sie soeben hatte weben wollen, verpuffte ungenutzt. Knurrend zerrte der Worg sie zu sich und schnappte nach ihrer Kehle. Sie schrie auf und wollt ihn von sich stoßen, doch sie war nicht kräftig genug. Unaufhaltsam näherten sich die Reißzähne der ungeschützten Haut.

„Nein!“, gellte Abbefarias Schrei durch die Halle.

Er würde zu spät kommen, sein Zauber würde sie nicht mehr retten können. Wie durch einen Nebel nahm er den dunkle Schatten war, der sich dem Worg von der Seite näherte. Er wollte rufen, den Satyr irgendwie ablenken, doch er kam nicht mehr dazu. Mit voller Wucht rammte der große Bär den schwarzen Worg, der daraufhin durch die Luft geschleudert wurde und mit einem schmerzverzerrten Heulen auf dem harten Boden landete. Sofort setzte ihm der Bär nach und deckte ihn mit Schlägen seiner Tatzen ein. Der Worg zögerte nicht und verbiss sich seinerseits im Kragenfell des Bären. Knurrend und jaulend rangen die beiden riesigen Tiere miteinander. Zwar war der Bär stärker als der Worg, doch dieser war ihm ihn Schnelligkeit und Wendigkeit überlegen. Schon bald blutete der Bär aus mehreren Wunden.

„Schnell, Ihr müsst ihm helfen.“, rief Ceredrian Abbefaria zu. „Ich kümmere mich derweil um die Frau.“
 

Abbefaria nickte und wandte sich wieder den beiden Kontrahenten zu. Der Satyr hatte sich schon wieder verwandelt und stand nun wieder in seiner ursprünglichen Form vor dem Bären, der sichtlich keuchte und auf einem Bein lahmte.

„Ihr werdet mich nicht besiegen!“, meckerte der gehörnte Dämon und holte tief Luft. Abbefaria ahnte, dass er erneut den Schwächungszauber auf Easygoing wirken sollte. Das musste er unbedingt verhindern. Schon griff er hinauf in den Himmel, um den Satyr mit einem Strahl eisigen Mondfeuers zu blenden, als dieser sich plötzlich an die Brust griff. Der Dämon taumelte und wankte und fiel schließlich mit einem erstaunten Gesichtsausdruck vorneüber. Auf seinem Rücken waren zwei tiefe Stichwunden zu sehen, aus denen schwarzes Blut strömte.

Der Schurke trat einen Schritt aus dem Schatten nach vorn und bleckte die spitzen Zähne. „Niemand vergreift sich ungestraft an meinem Bruder.“, knurrte er. „Und was noch wichtiger ist: Niemand vergreift sich ungestraft an meinen Dolchen.“
 

„Deadly!“ Der große Bär hatte sich wieder in einen Druiden zurückverwandelt und sah seinen Bruder anerkennend an. „Ich dachte, du wärst noch in diesen Pflanzen gefangen.“

„Das Gemüse da hinten meinst du?“, fragte der Schurke und wie mit dem Daumen auf einen Haufen zerfetzte Pflanzenwesen. „Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass diese zwei Dolche da meine einzigen Waffen sind. Ich gebe zwar zu, dass mir der Umgang mit Schwertern nicht so sehr liegt, aber um damit Unkraut zu jäten, reicht es allemal. Oh sieh mal, unsere Singdrossel ist auch wieder auf den Beinen. Was ist? Kommst du, um uns wieder einmal zusammenzuflicken?“

Ceredrian hatte seinen Arm und die Hexenmeisterin gelegt, die immer noch merklich humpelte. „Ich fürchte, ihr werdet noch eine Weile auf meine heilenden Kräfte verzichten müssen. Alzzin war gründlich, als er mich meiner Fähigkeiten beraubt hat.“

„Vielleicht kann sich unsere anderer Druide ja mal ein wenig nützlich machen.“, stichelte der Schurke. „Im Kampf hat er sich zumindest nicht besonders mit Ruhm bekleckert.“

Abbefaria schluckte eine giftige Erwiderung, die ihm auf der Zunge lag, hinunter und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht.

„Gern.“, antwortete er. „Womit soll ich anfangen?“

„Vielleicht am besten mit Magenta.“, antwortete Ceredrian. „Sie ist am schwersten verletzt.“

Abbefaria nickte und wollte nach dem Bein der Hexenmeisterin sehen, als sie sich ihm entzog und abwehrend die Hände hob.

„Nicht, es wird schon gehen. Ich habe da meine eigene Medizin.“

Ceredrian runzelte die Stirn. „Seid Ihr sicher? Der Biss könnte sich entzünden.“

„Ja, ich bin mir sicher.“, sagte sie mit fester Stimme. „Aber vielen Dank für das Angebot.“
 

Abbefaria versuchte herauszufinden, ob er irgendetwas falsch gemacht hatte, aber sie wich seinem Blick aus. So wandte er sich lieber Easygoings Arm zu und heilte die lange Risswunde und die Verstauchung in seinem Knöchel. Nachdem er auch noch einige Kratzer und Blessuren des Schurken beseitigt hatte, nahmen sie gemeinsam die geheimnisvolle Ranke in Augenschein, die Alzzin versucht hatte von ihnen zu beschützen.
 

Die Pflanze war inzwischen verdorrt und die leuchtenden Früchte, die eine eigenartig kristalline Form hatten, waren zur Erde gefallen. Ein unheimliches, rötliches Glühen ging von ihnen aus und ein jeder schien in seiner ganz eigenen Frequenz zu pulsieren.

„Dies ist die Essenz der Teufelsranke.“, murmelte die Hexenmeisterin, als sie die Hand danach ausstreckte. „Ich kann ihre Macht in den Splittern fühlen.“

„Dann sollte wir diese in das Reliquiar der Reinheit füllen.“, antwortete Easygoing. „Es wird die Macht der Teufelsranke bannen und sicher versiegeln.“

Für einen Moment sah es aus, als wolle die Hexenmeisterin widersprechen, doch dann nickte sie nur. Vorsichtig und ohne die Splitter mit den Händen zu berühren, bugsierte der große Druide die leuchtenden Splitter in das Gefäß und verschloss dieses am Ende sorgfältig. Dann reichte er es an Ceredrian weiter, der es in seinem Beutel verstaute.
 

„Nachdem das geschafft ist, sollte wir so schnell wie möglich zur Mondlichtung zurückkehren.“, sagte Easygoing. „Rabine Saturna wird unseren Bericht erwarten.“

„Moment, Freund Nachtelf, nicht so eilig.“ Die Hexenmeisterin nahm vor dem Druiden Aufstellung und kniff die Augen zusammen, während die ihm den Zeigefinger in die Brust bohrte.

„Wir hatten eine Abmachung, schon vergessen? Ich helfe Euch, die Teufelsranke zu bergen, und dafür helft Ihr mir, Immol’thar zu finden. Ihr werdet doch wohl nicht wortbrüchig werden?“

Mit angehaltenem Atem erwartete Abbefaria die Antwort ihres Anführers. Es hätte ihn, ehrlich gestanden, nicht gewundert, wenn der große Druide sich tatsächlich nicht an die Abmachung gehalten hätte. Immerhin handelte es sich bei Magenta immer noch um eine Hexenmeisterin. Doch wie es aussah, hatte er sich getäuscht.

„Ihr habt Recht, Hexenmeisterin, das war mir entfallen.“, knurrte Easygoing. „Doch zunächst einmal müssen wir einen Weg hier heraus finden.“

„Ich glaube das dürfte nicht allzu schwierig werden.“, sagte Ceredrian und deutete auf einen Gang, der freigelegt worden war, als Alzzins Wichteldiener aus der Wand brachen. „Wie es aussieht, führt dieser Tunnel hier nach draußen.“

Easygoing verzog das Gesicht. „Heißt das, wir müssen wie dreckige Ratten unter der Erde entlang kriechen?“

Deadlyone grinste. „Denk dir einfach, es könnte noch schlimmer sein.“

„Wie das?“, wollte der Druide wissen.

„Nun, du könntest fliegen müssen.“, lachte der Schurke und sah dann zu, dass er mit einem ordentlichen Vorsprung in den Tunnel kam, bevor die anderen ihm folgten.
 

Auf diese Weise entging ihnen, wie die ersten Säulen unter dem schwindenden Einfluss der teuflischen Magie der Ranke, die sie so lange aufrecht erhalten hatte, zu schwanken begannen. Erste Gesteinsbrocken kollerten von den oberen Rängen herab und einer der Torbögen sackte lautlos in sich zusammen. Schon bald würde nichts mehr an den ehemaligen Tempel und die teuflische Macht erinnern, die er einst beherbergt hatte.
 


 

Immer wieder erschütterten kleine Explosionen die Stadt. Zombies fuchtelten mit den dünnen Gliedmaßen herum, Ghule liefen kopflos in irgendwelche Richtungen, Banshees rauften sich die Geisterhaare und die plumpen Monstrositäten walzten in ihren Versuchen, die Quelle der Aufregung zu finden, mehr als einen Skelettsoldaten platt. Mit einem Wort: Es herrschte Chaos in Andorhal.

Davon unbeeindruckte schlichen zwei Gestalten auf das ehemalige Gasthaus des Ortes zu. Die kleinere von ihnen griff dabei immer wieder in eine Kiste und dann sprintete etwas Silbernes, Rasselndes in Richtung der Stadt. Kurz darauf war von dort wieder ein Krachen zu hören. Die größere der beiden Gestalten machte eine ungeduldige Geste.

„Ich glaube, es reicht jetzt langsam. Sie werden uns noch finden.“

„Aber es sind nur noch fünf Stück übrig.“

„Dann spart Sie Euch für den Rückweg auf.“, giftete Risingsun und nahm Emanuelle entschieden die Kiste mit den verbleibenden, explodierenden Eichhörnchen weg. „Los, rein mit Euch, wir sind da.“
 

Die Tür des Gasthauses öffnete sich erstaunlich lautlos und ließ die beiden Besucher ein. Drinnen herrschte klamme Dunkelheit, nur ab und an durchbrochen vom Widerleuchten eines Feuerscheins, der durch die zerbrochenen Fenster huschte.

„Oben oder unten?“, wisperte Risingsun an Emanuelle gewandt.

„Oben würde ich sagen.“, antwortete die kleine Magierin leise. „Also ich würde zumindest oben bevorzugen und immerhin suchen wir ja eine Gnomin, nicht wahr?“

Risingsun nickte vage und machte sich daran, die Treppe zu erklimmen. Dabei lauschte sie, ob irgendwo in der Dunkelheit noch Untote auf sie lauerten. Als nichts zu hören war, trat sie mutig auf den oberen Treppenabsatz und legte die Hand an die einzige, geschlossene Zimmertür.

„Bereit?“

Emanuelle nickte. „Bereit!“

Die Paladina holte noch einmal tief Luft und drückte dann gegen die Zimmertür. Das Holz schwang nach innen und gab den Blick auf ein gemütlich eingerichtetes Zimmer frei. Ein Feuer brannte im Kamin und auf dem Bett lag eine blonde Gnomin auf dem Bauch und studierte etwas, das wie eine goldene Taschenuhr aussah. Als Risingsun und Emanuelle das Zimmer betraten, sah sie auf.

„Ah, ihr kommt gerade zur rechten Zeit. Ihr seid doch nicht aus der Zukunft, oder?“

„Was…?“, stammelte Risingsun, als die Gnomin vom Bett hüpfte und auf sie zu trippelte.

„Obwohl ich überlege, ob wir uns nicht kennen. Irgendetwas war da. Seid ihr allein?“

„Ja.“, antwortete Emanuelle an Risingsuns Stelle. Die Paladina fühlte sich von den grünen Augen der Gnomin förmlich durchbohrt.

„Fein, fein.“, lächelte die fremde Gnomin. „Was kann ich also für Euch tun?“

„Wir suchen jemanden mit Namen Chromie.“, erklärte Emanuelle höflich.

„Nun, ich würde sagen, Ihr habt mich gefunden. Weiter?“
 

Emanuelle gab Risingsun einen Schubs. Die Paladina zuckte zusammen und griff dann hastig in ihre Tasche, um Joseph Redpaths Ehering zu Tage zu fördern. Sie reichte ihn Chromie.

„Oh, was haben wir denn da?“, rief die interessiert. „Einen Ring? Lasst mich sehen.“

Die eigenartige Gnomin hielt den goldenen Kreis in den Schein des Kaminfeuers und betrachtete es durch dessen Öffnung.

„Ah ja. Dieser Ring saß einst an der Hand eines großen Mannes. Eines großen Mannes, dessen Ende von einer Tragödie überschattet wurde. Traurig, wirklich traurig.“ Sie blinzelte und blickte auf. „Und was kann ich jetzt für Euch tun?“

„Wir wollen ihm helfen.“, antwortete Emanuelle. „Ihm und seiner Tochter. Sie ist ein Geist. In Darrowshire. Seine Schwester schickt und zu Euch. Sie sagte, Ihr wärt vielleicht in der Lage, etwas gegen das Leid des armen Mädchens und seines Vater zu tun.“

„Mhm.“, machte Chromie und betrachtete den Ring in ihrer Hand. „Natürlich ist es jetzt viel zu spät, um noch etwas an seinem Schicksal zu ändern…aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit in der Vergangenheit. Doch dazu müsste ich erst noch Genaueres wissen, über das, was vorgefallen ist. Dafür benötige ich einige Schriften aus dem Rathaus von Andorhal. Die Annalen von Darrowshire. Ich fürchte nur, bei dem Tumult, der da draußen herrscht, wird es nicht einfach sein, dorthin zu gelangen.“

„Ich glaube, das ist unsere Schuld.“, gestand Emanuelle ein. „Ich habe die Untoten mit explodierenden Eichhörnchen abgelenkt, damit wir unbemerkt hierher kommen konnten.“

„Explodierende Eichhörnchen?“, zwitscherte Chromie. „Nein was für ein entzückender Einfall. Ihr solltet wirklich bei Eurer Ingenieurskunst bleiben, Emanuelle. Es ist ein so viel charmanterer Zeitvertreib als die Jagd auf schwarze Drachen. Ich…“

Chromie unterbrach sich. Sie legte den Zeigefinger an die Nasenspitze und tippte ein paar Mal dagegen. Risingsun bezweifelte immer mehr, dass sie ihnen wirklich würde helfen können. Die Paladina war ja daran gewöhnt, den wilden Gedankensprüngen dieses kleinen Volkes manchmal nicht ganz folgen zu können, aber Chromie setzte dem ganzen wirklich die Krone auf. Nichts, von dem, was sie sagte, schien einen Sinn zu ergeben.
 

„Jetzt weiß ich auch, woher ich Euch kenne.“, rief Chromie auf einmal und schnalzte mit der Zunge. „Nein sowas. Aber gut, dann werde ich dieses Mal eine Ausnahme machen und Euch noch ein wenig unter die Arme greifen. Wartet einen Augenblick.“

Die Gestalt der Gnomin begann zu verschwimmen. Ein bronzefarbender Strudel ergriff ihre Gestalt und ließ ihre Umrisse flackern. Für einen Augenblick wurden die Flammen des Kaminfeuers kleiner und Risingsun meinte etwas wie das Brüllen eines großen Tieres zu hören. Als es wieder hell wurde, sah Chromie ein wenig zerzaust aus und hielt ein dickes Buch in ihren Händen.

„Hui, das war ja was.“, lachte sie und strich sich den Staub von der Robe. „Ich hatte nicht mit so viel Widerstand gerechnet. Aber diese zeitversetzten Wächter sind nicht ohne Grund aufgetaucht, als ich nach dem Buch gesucht habe. Das heißt vielleicht, dass wir auf der richtigen Spur sind und es doch noch Hoffnung für Joseph Redpath gibt. Aber zunächst lasst uns sehen, was überhaupt geschehen ist.“
 

Chromie legte den alten, schimmeligen Folianten auf den Tisch und schlug die ersten Seiten auf. Intensiver Modergeruch breitete sich im Zimmer aus und kribbelte in Risingsuns Nase. Es war jedoch nicht das Einzige, das die Paladina nervös machte. Irgendetwas an dieser fremden Gnomin war mehr als eigenartig.

„Ah ja.“, sagte die gerade und tippte mit dem Finger auf eine der vergilbten Seiten. „Hier steht es ja. Joseph Redpath war der Anführer der Miliz von Darrowshire. Als die Untoten die Stadt angriffen, stellten er und seine Männer sich ihnen mit der Unterstützung einer kleinen Gruppe der Ritter der Silbernen Hand. Deren Anführer, Davil Crokford, war ein ehemaliger Bewohner von Darrowshire und seinen einstigen Nachbarn zu Hilfe geeilt, als diese in ihrer Stadt von den Versorgungslinien der Allianz abgeschnitten wurden. Zusammen konnten sie die ersten Attacken der Geißel zurückschlagen.

Doch die Untoten gaben nicht auf und verstärkten ihre Angriffe. Ein Ghul-Lord namens Horgus, der Verheerer, griff in die Schlacht ein und setzte den Verteidigern schwer zu. Als er schließlich selbst in die Schlacht eingriff, lieferte er sich einen erbitterten Kampf mit Davil Crockford. Dieser besiegte den Ghul-Lord zwar, verstarb jedoch wenig später an einer tödlichen Wunde, die er sich bei dem Kampf zugezogen hatte.

Die Schlacht ging weiter und Joseph Redpath führte seine Männer mit unvergleichlichem Mut. Doch gerade als es schien, dass die Verteidigung Darrowshires erfolgreich sein würde, griff der Todesritter Marduk Blackpool, auch genannt Marduk, der Schwarze, Joseph Redpath mit heimtückischer, schwarzer Magie an. Er stahl seine Seele und verwandelte sie in ein böses Abbild seiner Selbst. Der so korrumpierte Captain verbreitete anschließend die Verseuchung unter seinen eigenen Männer, die sich daraufhin gegen ihre Verbündeten wendeten und ihnen den Garaus machten. Danach metzelten der verdorbene Joseph Redpath und seine Gefolgsleute die übrigen Bewohner von Darrowshire, die sich in ihren Häusern versteckt hatten, bis nicht einer mehr von ihnen am Leben war. Schlussendlich zogen der Captain und seine Männer dann mit den Truppen der Geißel um Tod und Verderbnis in das restliche Lordaeron zu tragen.“
 

Chromie hörte an dieser Stelle auf zu lesen und seufzte tief. „Ein schreckliches Schicksal. Zumal zu befürchten bleibt, dass der Gute mitbekam, was er tat und doch nichts dagegen ausrichten konnte. Ich denke, wir sollten dem Armen helfen, was meint Ihr?“

Risingsun sah die Gnomin an, als wäre sie nicht recht bei Trost. „Aber all das liegt weit in der Vergangenheit. Wie sollten wir ihm helfen können?“

Jetzt war es an Chromie, ein dummes Gesicht zu machen. „Na weil ich als Wächter über die Zeit durchaus die Möglichkeit habe, die Vergangenheit zu ändern. Habe ich das denn nicht erwähnt?“

„Äh nein?!“

Die Wangen der blonden Gnomin wurden ein wenig dunkler. „Oh verzeiht, wo habe ich denn nur meinen Kopf. Oder besser gesagt wann. Ich hatte gedacht, ich hatte Euch bereits erzählt, dass ich ein Mitglied des Bronzenen Drachenschwarms bin. Meine Aufgabe ist es, den Verlauf der Zeitlinie zu überwachen.“

Emanuelle und Risingsun sahen sich an. Die Paladina merkte ihrer Begleiterin an, dass diese ebenso überrascht von der plötzlichen Wendung der Geschehnisse war wie sie. Ein Drache. Ein leibhaftiger Drache hier in Andorhal. Noch dazu in Gestalt einer kleinen Gnomin. Das war zu fantastisch, um wahr zu sein. Und da nicht sein konnte, was nicht sein durfte, blieb nur der Schluss übrig, dass Chromie sie von Anfang an belogen hatte.
 

„Ich glaube, wir gehen jetzt besser.“, sagte Risingsun und nahm Haltung an. „Es hat mich gefreut, Eure Bekanntschaft zu machen, Chromie oder wie immer Ihr auch heißen mögt.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging direkt auf die Tür zu.

„Aber was ist, wenn sie die Wahrheit sagt?“, warf Emanuelle ein. „Was, wenn wir Joseph Redpath und der kleinen Pamela wirklich helfen können, wieder zusammen zu finden. Sollte das nicht ein bisschen Glauben und Zuversicht wert sein?“

Risingsun, die bereits die Hand an den Türknauf gelegt hatte, verzog das Gesicht und schloss die Augen. In ihrem Kopf erschien das Gesicht der kleinen Pamela, die ihre Puppe an sich drückte.

„Ich kann Euch nicht versprechen, dass es wirklich funktioniert, aber einen Versuch ist es wert.“, hörte sie wie aus weiter Ferne die Stimme der Gnomin, die vorgab, ein Drache zu sein. „Hier, seht selbst. Mein Zauber hat die Annalen von Darrowshire um einige Kapitel erweitert. Sie schildern jetzt auch den Verlauf der Geschichte nach dem Ende der Schlacht. In ihnen wird auch von einem weiteren Mitglied der Familie Redpath berichtet, Carlin Redpath. Er hat überlebt und befindet sich jetzt bei der Kapelle des hoffnungsvollen Lichts in den Östlichen Pestländern. Ihr solltet ihn aufsuchen und ihm das Buch bringen. Er wird wissen, was weiter zu tun ist.“

„Woher weiß er das?“, fragte Emanuelle verblüfft.

„Na weil ich es ihm gesagt habe, natürlich.“, antwortete Chromie in selbstverständlichem Ton. „Und jetzt fort mich Euch. Die Familie Redpath hat wahrlich lange genug gelitten. Sie haben es wahrlich verdient, dass jemand ihnen Frieden bringt. Ein Leuchtfeuer in der dunklen Nacht. Denn in Zeiten der Dunkelheit, dürfen wir nie vergessen, stets aufs Neue ein Licht anzuzünden“

Die Paladina schrak zusammen und fuhr zu Chromie herum. Die Gnomin sah sie aus offenen Augen an und in dem tiefen Grün spiegelten sich bronzene Funken. Sie lächelte sanft.

Risingsun trat einen Schritt vor. „Mein Vater hat das damals zu mir gesagt, bevor er in die Schlacht geritten ist. Woher wisst Ihr davon?“

Chromie zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Ich sagte doch, ich bin ein Hüter der Zeit. Und ich glaube, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, seinen Ratschlag zu beherzigen, meint Ihr nicht auch?“

Widerwillig nickte Risingsun. „Also schön, Ihr habt gewonnen, Chromie. Wir werden diesen Carlin Redpath aufsuchen und wenn es einen Weg gibt, ihm und seiner Familie zu helfen, dann werden wir ihn verdammt nochmal finden.“

Sie wandte sich an Emanuelle, die bereits die Annalen von Darrowshire in den Händen hielt. „Kommt schon, Magierin, wir haben einen weiten Weg vor uns.“

„Oh prima.“, jubelte Emanuelle. „Dann also auf in die Östlichen Pestländer!“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  darkfiredragon
2012-08-30T21:19:29+00:00 30.08.2012 23:19
Hach ja, wieder ein super Kapitel, ich musste sehr viel lachen, auch wenn das Schicksal der kleinen Pamela natürlich nich dauz einlädt.
Ich bin auf jeden Fall gespannt wies weitergeht und bete einfach mal dafür dass dich deine Motivation nicht verlässt und du noch alles schaffst was du dir so vorgenommen hast (was ja doch eine ganze Menge ist *hust*).

Bis zum nächsten Kapi^^


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