Tabu von Schneefeuer1117 (One Shots für Harry Potter RPGs) ================================================================================ Kapitel 24: Yejun I - Das Outing -------------------------------- Er war es nicht gewohnt Nervosität zu verspüren. Normalerweise hatte er immer alles im Griff: sein Leben, seine Ziele, die Arbeit, das Studium … und durchaus auch sein Umfeld. Yejun war es gewohnt, dass alles nach seinen Plänen verlief, da er nichts dem Zufall überließ und gleichzeitig spontan genug war, um auf Überraschungen mit der notwendigen Kreativität und Flexibilität zu reagieren. Stress war ein absolutes Fremdwort für ihn. Dass er sich jetzt also fühlte, als wäre er bei einem Verhör, musste an der Aura seiner Mutter liegen, obwohl sie sonst stets und immer eine unglaubliche Wärme für ihn übrighatte. Hmn. Es lag nicht an ihr, wie er sich vor Augen führte, sondern an dem Thema, das er anschneiden wollte. Vorsichtig setzte er das Wasserglas ab und faltete die Hände im Schoß, ein „Mama?“ wispernd, was den ruhigen Blick der Caféinhaberin auf ihren Sohn fallen ließ. „Ja, Schatz?“ „Ich wollte mit dir noch über etwas anderes reden. Nicht über die Uni oder die Arbeit…“ „Natürlich.“ Cheon-sa legte das Handtuch weg und setzte sich neben ihren Sohn auf die Couch im Innenbereich des mittlerweile geschlossenen Cafés. Die Lichter waren gedimmt, die Tür bereits abgeschlossen und die Straßenlaternen auf dem Gehweg der belebten Straße schickten lange Schatten über den Fliesenboden. Yejun hatte sich immer wohl bei seiner Mutter und auch in ihrem Café gefühlt, aber heute fühlte er sich seltsam deplatziert. Mit einem langen Seufzer fuhr er sich durch die dunklen Haare und ließ den Blick schweifen, ehe er mit einem schmalen Lächeln und einem leisen „danke“ den Kaffee entgegennahm, den er doch eh nicht trinken würde. Seiner Mutter zuliebe nippte er einmal am Heißgetränk, verzog jedoch angewidert die Nase und schämte sich nicht des Lachens, das von seiner Mutter zu hören war. „Du musst es nicht trinken, wenn du es nicht magst. Ich hoffe, das weißt du?“, zog sie ihn auf und nahm ihm die Tasse wieder ab, um das Getränk selbst zu trinken. Yejun hob die Schultern und schüttelte den Kopf, ließ ihr den Spaß ihn aufzuziehen. Seine Gedanken waren eh viel zu fokussiert auf das, was er sagen wollte, als das er sich jetzt auf einen verbalen Schlagabtausch mit der Mutter hätte einlassen können. „Yunnie, was ist los?“ Die Besorgnis in der Stimme der Mutter ließ ihn seufzen, ehe er den Kopf schüttelte und ihr ein schmales Lächeln schenkte. „Ich … hmn. Ich weiß nicht so wirklich, wie ich das Gespräch starten soll und das stresst mich“, gab er schließlich vorsichtig zu und auch wenn es für andere vielleicht kein großes Ding gewesen wäre, so war es das für Yejun. Er wusste immer wie er Gespräche anfangen sollte und es hatte in seinem jungen Leben noch keine einzige Situation gegeben, in der er um Worte verlegen gewesen war. Selbst im Angesicht seines Longtime-Crushs fühlte er sich nicht derart … hilflos. Er vermerkte, dass er das Gefühl verabscheute und runzelte die Stirn, den Blick auf die bemalten Fingernägel gerichtet. Die schwielige Hand seiner Mutter schob sich über seine verkrampften Hände und ihre warme Stimme kitzelte an seinen Zweifeln. „Ich helfe dir. Was fühlst du jetzt?“ „… Hilflosigkeit? Es kommt nicht oft vor, dass ich um Worte verlegen bin.“ „Wie willst du damit umgehen?“ Yejun runzelte die Stirn über diese Frage und wollte schon mit den Schultern zucken, ehe er den Kopf zur Seite zucken ließ und aus den Augenwinkeln die leichten Falten an den Augenwinkeln seiner Mutter erkannte. Die tiefen Furchen auf der Stirn, die vom Nachdenken zeugten, standen im harten Kontrast zu den Lachfalten und Yejun bemerkte einmal mehr, wie schön seine Mutter trotz ihres Alters noch immer war. Ob er das nur so empfand weil sie seine Mutter war? Wie auch immer, sie brachte ihn zum Nachdenken mit ihrer Frage. Wie wollte er mit der Hilflosigkeit umgehen? Wie konnte er mit ihr umgehen? Es war keines seiner Events auf denen er zu einer halb bekannten Menge sprach … und auch keine Präsentation an der Uni, kein Referat bei der Arbeit, kein Meeting, kein Beratschlagen eines Freundes. Es war sein Coming Out. Und obwohl er lange Zeit bereits geplant hatte, dass es hier und heute, am Abend vor seinem Geburtstag stattfinden sollte, war er trotzdem unvorbereitet. Hah. Wahrscheinlich war das sein Fluch: ein Genie bei der Arbeit, ein Trottel im Privatleben. Ein selbstbemitleidendes Lächeln zuckte über seine Züge, ehe er die Hand seiner Mutter drückte. „Hmn. Warst du in Papa verliebt?“ Seine Mutter zögerte bei der Antwort kurz, dann schüttelte sie den Kopf. „Nicht so, wie man es von mir erwartet hätte. Du weißt bereits, dass unsere Ehe eher dem Zweck als der Liebe diente. Daraus habe ich kein Geheimnis bei der Trennung gemacht.“ „Ich weiß, aber … ich habe mich darüber gewundert, wie du solange bei ihm bleiben konntest, wenn du ihn doch nicht geliebt hast.“ Cheon-sa nahm ihre Hand fort und streichelte ihrem Sohn über die seidigen dunklen Haare, ein leises Kichern auf den Lippen. „Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn nicht liebe, Spatz.“ Sie tippte ihm gegen die Nasenspitze, so, wie sie es bereits hunderte, tausende Male in seinem Leben getan hatte und auch wenn es ihn hin und wieder nervte, so war es heute eher beruhigend, wenn ihre Worte auch verwirrend waren. „Ist es in Ordnung, wenn ich dich nach einer Erklärung frage?“, horchte Yejun vorsichtig nach und seine Mutter nickte, ein „natürlich“ lächelnd, ehe sie die Hände wieder zum Tassehalten nutzte. Yejun beobachtete seine Mutter, während sie zu sprechen begann. „Ich denke, du bist mittlerweile alt genug um zu wissen, dass Liebe nicht immer gleich Liebe ist, oder?“ Aufmerksam forschte Cheon-sa im Gesicht ihres Sohnes nach einer Bestätigung, fand jedoch vorerst nur Verwirrung und sah sich zu einer weiteren Erklärung gezwungen. „Liebst du deine Schwester?“ „Hm, manches Mal.“ Cheon-sa musste lachen und brachte ein „okay, das verstehe ich“ hervor, was Yejun auch zum Schmunzeln brachte. „Wie sieht es mit deinen Freunden aus? Min-nari?“ Die Antwort auf diese Frage dauerte etwas länger und Yejun dachte gut über die Frage nach, ehe er vorsichtig nickte. „Ja, schon. Manches Mal“, wiederholte er die wage Antwort vom letzten Mal, dieses Mal jedoch weich lächelnd. „Es gibt Momente, in denen könnte ich ihm den Kopf abreißen, aber alles in allem … denke ich, weiß ich, worauf du hinauswillst. Aber meinst du damit, du hättest Papa platonisch geliebt?“ „Hmmm, nein.“ Cheon-sa schüttelte den Kopf. „Ich respektiere deinen Vater sehr und weiß, wie viel er für mich geopfert hat.“ Das helle Interesse in den Augen ihres Sohnes amüsierte sie, aber sie schüttelte den Kopf. „Es ist nicht an mir, seine Geheimnisse zu verraten, Yunnie.“ Die Enttäuschung auf den jungen Zügen verleitete sie dazu, ihm in die Wange zu kneifen und schnell ihre Hand wegzunehmen, als ein wildes Schlagen folgte. Sie lachte und Yejun musste unfreiwillig giggeln. „Über all die Jahre hat er nie Unmögliches von mir verlangt und mich immer unterstützt. Natürlich haben wir uns gestritten, Gott, du weißt wie heftig.“ Yejun nickte. „Und natürlich konnte ich nicht immer alles nachvollziehen, was er mir an den Kopf warf. Dein Vater ist ein kompliziert einfacher Mann, aber er hat mich nie verurteilt und selbst nachdem … nun …“ Cheon-sa verstummte und eine sachte Röte trat auf ihre Wangen, die Yejun noch nie an ihr gesehen hatte. Verlegenheit? Vermutlich. Überraschung zog die gezupften Augenbrauen empor und er musterte seine Mutter, die verschiedensten Gedanken im Kopf, ehe sich einer herauskristallisierte. Seine Miene verfinsterte sich. „Du hast ihn betrogen?“, mutmaßte er trocken und Cheon-sa wog den Kopf hin und her, ehe sie ihn schüttelte. „Nein, keiner von uns beiden würde es so nennen. Aber ja, ich bin sicher, du würdest es so nennen, Yejun.“ Dass sie seinen richtigen Vornamen nutzte verdeutlichte ihre Distanz zum Thema und nachdenklich musterte der Sohn die Mutter und wurde nicht schlau aus ihren Worten. Nein? Aber ja? Seine Eltern sahen es nicht so aber er schon? Er seufzte ein „du nervst“, ehe er den Kopf schüttelte. Seine Mutter war drauf und dran ihm zu erzählen, dass sie seinen Vater betrogen hatte, richtig? Wollte er das wirklich wissen? War er bereit dafür, dass die heile Familienwelt zusammenbrechen würde? Trotz der Scheidung vor vier, bald fünf Jahren war Yejun immer davon ausgegangen, dass die Gefühle seiner Eltern einfach nicht mehr gereicht hatten und so – oder so ähnlich – hatten sie es ihm damals auch erklärt. Nicht, dass es für ihn als Volljähriger eine große Rolle gespielt hätte, aber so oder so hätte er nie im Leben gedacht, dass eines seiner Elternteile das andere betrogen hatte. Dass etwas derart G r o ß e s vorgefallen war, das sie schlussendlich zu diesem Schritt bewogen hatte. „Erklärs mir“, forderte er kühl, die Arme verschränkt, merklich emotionale Distanz zu seiner Mutter aufbauend und Cheon-sa nickte langsam. „In Ordnung.“ Sie hinterfragte es nicht – sie wusste, dass Yejun das Für und Wider abgewogen hatte und zum Schluss gekommen war, dass die Wahrheit aktuell wichtiger als seine Gefühlswelt war. Sie zwang sich, nicht zu lächeln, als sie fortfuhr: „Es wird ein Schock für dich werden, Yunnie. Ich habe Soju da, wenn dir danach ist…?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich werde morgen noch genug trinken und hierfür brauche ich einen klaren Kopf“, behauptete er stur und blickte seiner Mutter fordernd in die Augen, ein „also?“ beisteuernd, denn was auch immer sie ihm erzählte, konnte kaum schockierender werden als das, was er sich ausmalte. „Nun gut, dir ist es ernst damit. Ich führe seit bald 15 Jahren eine geheime Beziehung.“ Yejun starrte seine Mutter an. Seit … 15 Jahren … betrog sie seinen Vater?! SEIT 15 JAHREN?! Also, streng genommen zehn Jahre ihrer Ehe … … Seitdem er aufs Internat gegangen war … … Yejuns Kopf begann schwer zu werden und es kündigte sich eine jener seltenen Kopfschmerzen an, als er fassungslos seine Mutter anstarrte. Moment … was hieß hier ‚geheime Beziehung‘? Natürlich war eine Affäre geheim … als verheiratete Frau … Urgh. Ihm wurde schlecht. Sein Vater war bei weitem kein einfacher Mann und auch Yejun hatte wirklich Probleme mit ihm, aber er liebte ihn aufrichtig und aus vollem Herzen und niemand, er betonte es, NIEMAND hatte es verdient, derart hintergangen zu werden. Das wünschte Yejun nicht einmal Nam-kyu. Wut zuckte lebhaft über seine Gesichtszüge und Cheon-sa lächelte verständnisvoll, während sie ihren Sohn das Gehörte bis zu einem gewissen Punkt verdauen ließ, ehe sie gnadenlos fortfuhr und nicht auf sein Urteil wartete. „Die Beziehung geht immer noch weiter und ich hielt sie nicht geheim, weil ich verheiratet war. Wäre es ein Mann gewesen, hätte ich mich von deinem Vater getrennt sobald wir uns verliebt hatten.“ Wut wurde durch Erkenntnis abgelöst und die weichen Lippen Yejuns öffneten sich leicht, ein „ah“ ausstoßend. Wäre es ein Mann gewesen wiederholte er die Worte seiner Mutter immer und immer wieder im Hinterkopf und das Kopfweh war wie weggeblasen. Eine bleierne Schwere legte sich über sein Herz, das zäh klopfte und nur langsam schien wieder Leben in ihn einzukehren. „Eine … Frau?“, hörte er sich selbst wertfrei fragen und sah seine Mutter nicken, was ihn vollkommen aus der Bahn warf. „Du bist lesbisch“, stellte er abermals wertfrei fest und wieder nickte seine Mutter. Es vergingen Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, in denen Yejun seine Mutter einfach nur anstarrte. Wortlos. Gedankenlos sogar. Lediglich die Tatsache, dass seine Mutter ein derart gigantisches Geheimnis mit sich herumgetragen hatte, all die Jahre, wurde ihm schlagartig bewusst. Sie hatte seinen Vater nie lieben können, obwohl er es verdient gehabt hatte. Yejun konnte sich die Schuldgefühle vorstellen – die Einsamkeit, die Hilflosigkeit – und all die düsteren Stunden des Selbsthasses, des Verurteilens, des Verteufelns. Sie hatte jemanden gefunden, den sie liebte und hatte doch nicht ihrem Herzen folgen können. Yejun wurde mulmig zumute und er spürte, dass sich Tränen in seinen Augen gesammelt hatten, die er nicht mehr wegblinzeln konnte. Cheon-sas Augen wurden groß und ein „Liebling“ brach sich an ihren Lippen, doch ehe die Mutter hätte reagieren können, zog Yejun sie in eine unbarmherzige Umarmung. Es war unbequem auf der Bank des Cafés, doch das störte ihn nicht. Er konnte sich nicht vorstellen ein Leben als Schatten seiner selbst zu führen, so, wie seine Mutter es ihr Leben lang getan hatte. Eine Lüge – alles war eine Lüge. Eine bequeme Art, weil die Gesellschaft es Frauen noch schwerer als Männern machte und weil ihre Familie ihr wichtiger als ihr eigenes Glück gewesen war. Oder weil sie Angst gehabt hatte. All die Angst… Yejuns Hand wanderte zum Hinterkopf seiner Mutter und er drückte ihre Stirn gegen seine Schulter, spürte, wie ihre Hände sich vorsichtig an seinen Rücken lehnten, dort sanft klopften als wolle sie ihm sagen, dass ‚alles okay‘ war, doch er schüttelte sachte den Kopf, nicht bereit, diesen Kompromiss für sie einzugehen. Nichts war okay. Nicht, dass sie dazu gezwungen gewesen war – oder sich dazu gezwungen gesehen hatte – ein falsches Leben zu führen und nicht, dass sie ihren Mann betrogen hatte. All das war absolut nicht okay. Yejun verstand es. Oh, bei Gott, er verstand es so sehr, dass es ihn schmerzte. Aber niemand sollte eine Lüge leben müssen … und zum Lügen verteufelt sein. Er glaubte fest daran, dass jeder Mensch auf diesem Planeten eine Daseinsberechtigung hatte, genau so wie er eben war – vollkommen ungeachtet der Persönlichkeit, der sexuellen oder politischen Orientierung, der Religion, des Blutstatus oder der Gesinnung. Es war eine romantische, absolut utopische Vorstellung, das wusste er – aber nichtsdestotrotz wollte er ihre Welt besser machen und in eine Richtung entwickeln, in der Vorurteile nicht mehr wie ein Damoklesschwert über jenen hingen, die abseits der Norm wirkten. Denn schlussendlich bestimmten sie alle doch, wie die Norm überhaupt erst aussah. Aber all das war nur ein philosophisches Gebilde, das dazu führte, dass er nun seine Mutter nicht losließ, während er leise in ihr Ohr flüsterte: „Es tut mir leid, dass du das Gefühl hattest, all die Zeit lügen zu müssen.“ Cheon-sa hielt die Luft an. Wann war ihr Junge so erwachsen geworden? Sie lachte in den Stoff seines extravaganten Oberteils und klopfte ihm abermals auf den Rücken – „ah, ah, alles okay, Yunnie“ – ehe sie sich aus seiner Bärenumarmung freikämpfte. Mit einem liebevollen Lächeln strich sie ihm die Tränen fort. „Ist das alles was du dazu sagen willst, Spatz?“ Sie war darauf vorbereitet, dass er wüten und toben und vielleicht sogar mit ihr brechen würde, zumindest für eine gewisse Zeit, doch diese Ruhe hatte sie nicht erwartet. „Ah. Nein. Sicherlich nicht. Aber …“ Yejun schüttelte sich kurz, weil er sich von ihrem Lächeln anstecken ließ und fuhr sich selbst noch einmal über die feuchten Augen. „Aber warum bist du so entspannt?“ „Ich habe mein Leben lang Zeit gehabt um mich der Wahrheit zu stellen und meine einzige Angst jetzt ist, dass ich dich oder Aera verliere.“ Ihre Augen wanderten zu seinen und abermals strich sie ihm die Tränenspuren von den Wangen. „Verstehst du nicht? Ich habe mich damit abgefunden, dass ich May auf der Straße nicht werde küssen können-“ „TANTE MAY?!“ Perplex hielt Cheon-sa inne und blinzelte, ein überraschtes „ja“ als Antwort gebend und dabei zusehend, wie ihr Sohn sich mit der flachen Hand vor die Stirn schlug. Alles geschah so schnell, als er ein wenig Distanz zu ihr aufbaute und in wildes Lachen ausbrach. Das … war gruselig, selbst für die gefasste Caféinhaberin. „Oh, es ergibt plötzlich alles so viel Sinn! Mama!“ Yejun bekam sich kaum ein und irgendwann war sein Lachen so ansteckend, dass Cheon-sa mitlachen musste, auch wenn sie gar nicht lachen wollte und immer wieder ansetzte zu fragen, was so lustig war. Yejun kannte Mei-ho nur als Tante May. Sie war eine taffe Frau und man konnte sie nur als cool bezeichnen. Seit Yejun denken konnte, war Tante May immer dagewesen – eine Freundin der Familie – und jetzt ergaben so viele Erinnerungen so viel mehr Sinn! Seine Mutter und Tante May lachend auf dem Sofa, einander in den Armen liegend, als er im Sommer seines fünften Jahres aus dem Internat nach Hause gekommen war. Die Stille, die zwischen ihnen plötzlich geherrscht hatte und der abrupte Aufbruch Tante Mays, der ihm damals als Zwölfjährigem zwar seltsam vorgekommen war, aber er hatte das alles nicht weiter hinterfragt. Und jetzt wo er darüber nachdachte hatte es dutzende solcher Situationen gegeben – bedrückende Stille, wundersame Wortfetzen, seltsame Blickwechsel – und wäre Yejun aufmerksamer gewesen … ah, er hätte seinen Eltern so viel Leid ersparen können. Plötzlich wurde er wieder ernst. „Weiß Papa es?“ Cheon-sa kicherte noch ein paar Atemzüge. „Von Anfang an.“ „Wa..?“ „Dein Vater hat mich geheiratet, obwohl er von meiner sexuellen Neigung wusste“, lächelte Cheon-sa und nun wusste Yejun, was sie meinte mit ihren ersten Worten: Sie liebte ihn aber war nicht verliebt. Das sanfte Lächeln war voller Zuneigung zu dem Mann, den sie geheiratet hatte und dem sie zwei Kinder verdankte und den sie dennoch nie aus vollem Herzen romantisch hatte lieben können. „Dein Vater ist ein sehr warmherziger Mensch … Er gab mir die Möglichkeit, mich vor aller Augen zu verstecken und dich wundervollen Menschen“, sie wuschelte ihm durchs Haar, was Yejun regungslos vor Schock über sich ergehen ließ, „zur Welt zu bringen. Es war immer klar, dass wir eine Ehe auf Zeit führen, bis ich genug Mut habe, um ihn zu verlassen und die Schuld auf mich zu nehmen. Mein Dankeschön für all die Jahre, die er es mit mir ausgehalten hat und mir ein Alibi gegeben hat.“ Das Lächeln wurde beinahe schmerzhaft strahlend und Yejun fand sich abermals weinend auf der Cafébank wieder, vollkommen aufgelöst von der Eröffnung der Mutter. Es war ihm unbegreiflich, wie man das eigene Glück so wegwerfen konnte. „Ihr … seid doch absolut … verrückt“, hörte er sich selbst schluchzen und Cheon-sa war sichtlich überfordert mit den plötzlichen Gefühlsausbrüchen ihres Sohnes, den sie noch nie derart aufgelöst erlebt hatte. Dass er so mit ihr und ihrem Ex-Mann mitfühlte … dass er so verständnisvoll und so wenig anklagend war … trieb ihr auch die Tränen in die Augen. „Du bist so ein wundervoller junger Mann geworden, Yejun…“, wisperte sie, als sie ihn auf die Wange küsste und sein Gesicht in ihre Hände nahm, um ihm schließlich noch einen Kuss aufzudrücken, so, wie sie es schon seit seiner jüngsten Kindheit nicht mehr getan hatte. Und sicherlich war es ihnen beiden auch peinlich – sie hatten ein Alter erreicht, wo man das nicht mehr tat, der Gesellschaft geschuldet, aber wie Yejun schon zuvor mehr als deutlich gemacht hatte: Die Gesellschaftlichen Normen konnten ihn mal gern habe. Also verschob er die Scham über den Kuss irgendwo dahin, wo Leute ihn mal gernhaben konnte, und schloss seine Mutter stattdessen noch einmal in seine Arme. „Dank dir. Und Papa. Alles nur euer Verdienst. Danke, dass ihr mich geboren habt.“ „Ach… Spatz. Jetzt fang nicht so an… Du machst deine Mama gerade sehr, sehr emotional.“ „Tut mir leid, tut mir leid, das .. das war gar nicht .. das war nicht meine Absicht, aber .. aber .. ihr seid so .. so ..“ „… wundervolle Menschen?“ „DUMM!“ Yejun und Cheon-sa brachen beide gleichzeitig in Lachen aus und obwohl Yejun den Soju verneint hatte, holte seine Mutter ihn nun doch – zusammen mit Taschentüchern und ein paar übriggebliebenen Gebäckstücken – und schenkte ihnen beiden jeweils ein kleines Glas ein. „Auf deine dummen Eltern?“, setzte sie scherzhaft an und Yejun ergänzte „auf meine wundervollen Eltern, ja“ ehe sie beide das kleine Glas exten und Cheon-sa ihnen direkt nachschenkte. Die Flasche neigte sich dem Ende und Yejun fühlte sich gut benebelt, aber nicht betrunken. Die Gebäckstücke hatten sie vernichtet, der Kaffee war mittlerweile kalt und es war schon sehr spät geworden, aber der eigentliche Grund für seinen Gesprächswunsch mit seiner Mutter fiel Yejun nun endlich wieder ein. Das Outing seiner Mutter und das Geständnis über die Beziehung der Eltern hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen und nachdem er nun die Seite seiner Mutter kannte, brannte er darauf, auch die Seite seines Vaters zu erfahren, aber … ah, Gespräche mit ihm waren immer schwierig und Yejun konnte sich schon beinahe bildlich vorstellen, wie sein Vater abwinkte und seine Frage mit einem trockenen „du weißt doch offensichtlich schon Bescheid“ beantwortete. Nachdenklich kaute er auf einem seiner Fingernägel herum, ehe seine Mutter seine Hand beinahe gewaltsam runterzog und ein altes Streitthema losbrach. „Kein Kauen.“ „Jah.“ „Wie oft habe ich dir das nun schon gesagt?“ „Mach den Abend nicht kaputt, Mama.“ „Dann hör du endlich auf, dir deine schönen Nägel kaputt zu machen. Guck. Der Lack ist auch ab.“ „Jaaaaah.“ Stille fiel wieder über sie, als sie das letzte Glas leerten und Yejun spielte mit dem leeren Glas als Ablenkung. „Spatz … nach dem langen Gespräch über meine verlorene Jugend“, Cheon-sa lachte, aber sie lachte allein, „du wolltest mir eigentlich etwas ganz anderes sagen, habe ich nicht Recht? Wir waren nicht hier, um über mich zu sprechen, oder?“ „Hmn. Du hast Recht“, bestätigte Yejun leise und vielleicht hätte es nach dem Outing der Mutter einfacher sein sollen, aber irgendwie machte es das für ihn nur noch schwerer. Was, wenn er alte Wunden bei ihr aufriss? Was, wenn sie nur vorgab mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen zu haben und sich mit dem Stand ihrer Beziehung in der Öffentlichkeit abzufinden? Was, wenn er sie nun mehr verletzte als dass er sie stolz machte? Ah. Es half nichts. Er würde sie nicht anlügen wollen. Und irgendwann würden unweigerlich Fragen kommen – Fragen, die bisher nie zur Debatte gestanden hatten, da Yejun immer viel zu tun gehabt hatte und klar gemacht hatte, dass er bis zum Abschluss nicht daten wollte. Aber … aber … Der Abschluss war nicht mehr weit. Und während seine Mutter so mutig gewesen war und ihm nach fast 22 Jahren endlich die Wahrheit gesagt hatte, wollte Yejun es ihr gleichtun. „Mir fehlen immer noch die Worte, daher … mache ich es kurz.“ Er atmete durch und schaute in die Augen seiner Mutter, die Augenbrauen angestrengt zusammengezogen, das kleine Schnapsglas fest umklammert. Der Alkohol war warm und wohltuend in seiner Brust, doch sein Magen wurde unendlich kalt. „Ich bin schwul.“ Es war nur kurz still, ehe Cheon-sa ausatmete und ein „gott sei dank“ murmelte, was Yejun irritiert blinzeln ließ. „Ich dachte schon du willst mir eröffnen, dass du Drogen nimmst oder dich ohne mein Wissen einer OP unterzogen hast oder jemanden geschwängert hast … Ah, Yunnie.“ Sie kniff ihm grinsend in die Wange und Yejun war versucht, die Hand wieder wegzuschlagen, ließ es aber. Allein die Geste ließ ihn rot werden und auch wenn Schamgefühl und Nervosität nun wirklich nicht seine bekanntesten Gefährten waren, ließen beide sein Herz gerade rasen. „Hast du jemanden?“ Yejun schlug den Blick nieder, die Lippen zu einem nachdenklichen Lächeln verzogen, ehe er langsam den Kopf neigte. „Nicht wirklich … Also …“ Unsicher sog er die Unterlippe ein und musste lachen, als seine Mutter näher rutschte, plötzlich Feuer und Flamme. „Es gibt da also jemanden! Oh, Yunni! Hast du ein Foto von ihm? Kenne ich ihn? Kennst du ihn?“ Seine Mutter stellte die normalsten Fragen der Welt und machte es ihm somit absolut leicht zu verstehen, dass es kein großes Ding war und er verstand, dass es das für sie auch nicht war. Dass es das für niemanden sein sollte. Seit wann mussten sich Heteromänner bei ihren Eltern als hetero outen? Richtig – warum musste das für Schwule gelten? Aber der Inhalt der Fragen sickerte langsam zu ihm durch und unbekannte Verlegenheit zupfte an seinem Inneren, ließ seine Wangen brennen und er hörte sich selbst „n-nun, a-also“ stottern, etwas, das er absolut nicht gewohnt war. Frustriert über die eigene Unzulänglichkeit fuhr er sich durch die Haare und schaute seine Mutter lange schweigend an. Die erwartungsvollen Augen und die beinahe greifbare Aufregung ließen ihn glauben, dass es okay war. Dass alles okay war. Also holte er langsam sein Handy hervor und entsperrte es, ehe er gezielt und ohne lange zu suchen Ki-hos Kontakt öffnete und das neuste Profilbild seiner Mutter zeigte. „Ah!“ Ihre Augen wurden groß und sie biss sich auf die Unterlippe, ehe sie ihm wieder durch die Haare wuschelte. Auch dieses Mal ließ er es regungslos zu, vollkommen überrumpelt von den Worten, die ihre Geste unterstrichen. „Er weiß es noch nicht, oder? Hach, Yunnie. Ihr wärt ein bildschönes Paar. Weißt du noch, dass du ihm den Gänseblümchenring gegeben hast?“ Sie kicherte und Yejun spürte, wie sein Herz zu poltern begann und Wärme durch ihn hindurchströmte. „Da warst du erst sechs … oder fünf? Er war jedenfalls noch nicht lange in der Gegend, das weiß ich noch, aber du warst dir so sicher, dass du ihn heiraten würdest.“ Sie lachte und Yejun war vollkommen überrumpelt von der Intensität der Erinnerung, die er vergessen geglaubt hatte. „Eigentlich hätte ich es seitdem wissen müssen, hm? Aber ehrlich gesagt war es für mich immer egal, wen du einmal lieben würdest … Für mich war immer nur wichtig, dass du irgendwann einmal aus vollem Herzen sagen kannst „ich liebe dich“ und dass derjenige das dann auch zu dir sagt. Dass du glücklich dabei bist und-“ Weiter kam Cheon-sa nicht, als die Arme ihres Sohnes sich um ihren Hals schlangen und ein gewispertes „danke“ auf seinen Lippen lag, das sie von Innen heraus strahlen ließ, ehe sie die innige Umarmung erwiderte und ihm einen Kuss auf die Wange drückte, dort, wo sie eben hinkam, ehe sie ihn von sich schob. „Alles Gute zum Geburtstag, Spatz.“ Überrumpelt schaute Yejun auf die Uhr und musste lachen. „Hah. Ich glaube, du hast mir eben das beste Geschenk überhaupt gemacht.“ Das Handydisplay leuchtete auf und neben gefühlten fünfzig Nachrichten war auch eine kleine farbige 1 neben Ki-hos Namen zu sehen und Glück strömte durch jede Pore Yejuns, als er die Glückwünsche seines Schwarms in sich aufsog, die Unterlippe schmerzhaft doll zwischen die Zähne gesogen. Cheon-sa beobachtete ihren Sohn mit liebevollem Schalk. „Willst du ihm nicht danken?“ „Mama!“ „Was denn? Willst du die Chance verstreichen lassen?“ Yejun fuhr sich mit der Hand in den Nacken und versperrte das Telefon, packte es zurück in die Hosentasche und griff nach seiner Tasche. „Ich gehe jetzt.“ „Aw, Yunnie…“ „Nein, Mama, ich gehe. Das war zu viel.“ „Mein Spatz wird erwachsen… Er entfliegt dem Nest…“ „TSCHÜSS, Mama, ich melde mich mindestens drei Wochen nicht bei dir!“ „ER FLIEGT DAVON!“, brüllte Cheon-sa noch der geöffneten Personaleingangstür hinterher und Yejun ließ sie grinsend ins Schloss fallen, ehe er halb amüsiert, halb verärgert den Nachhauseweg antrat. Das Outing war … seltsam gewesen. Und hatte so viele Fragen aufgeworfen … Aber die Wärme in seinem Herzen ließ auch dann nicht nach, als er im kleinen Apartment angekommen war und ins Bett gefallen war. Das Bewusstsein, dass seine Mutter da sein würde … und dass sie ihn absolut bedingungslos unterstützte … war beinahe besser als der Geburtstagswunsch von Ki-ho. … Aber nur beinahe. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)