Forgivable Sinner II von Di-chan (to turn the wheel of fortune) ================================================================================ Kapitel 25: Part 25 ------------------- Part 25: "Joséphine, Joséphine... so warte doch bitte!" Noch bevor das Mädchen auf die Rufe reagieren konnte, fühlte sie bereits einen leichten Griff an ihrer Schulter und wirbelte erschrocken herum. Doch dann atmete sie erleichtert aus, als sie in das freundlich lächelnde Gesicht einer jungen Frau blickte. "Ach du bist es, Antonia! Ich dachte schon, Tante Urma riefe nach mir..." Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. "Nein, nein. Bitte entschuldige, falls ich dich erschreckt haben sollte... auch... wenn ich nicht weiß, was selbst an deiner Tante so Furchteinflößendes sein könnte... Ich wollte dich nur um einen kleinen Gefallen bitten." Verlegen sprach sie diese Worte aus, ihr Stimmchen wurde dabei immer leiser und Joséphine musste schmunzeln, als sie bemerkte, wie sie mit dem Fuß auf dem blanken Parkett scharrte und geduldig auf eine Antwort wartete. Als diese jedoch nicht folgte, fuhr sie fort, hin und wieder auf den Boden blickend. "Sag... weißt du nicht, wo sich dein Bruder gerade aufhält? Wenn ich ehrlich bin, suche ich bereits den ganzen Nachmittag nach ihm. Die Leute starren mich schon an, als wäre ich völlig verrückt!" "Wenn du nicht so orientierungslos durch die Säle streifen würdest, käme sicher niemand auch nur auf die Idee, deinen Verstand zu bezweifeln, liebe Freundin!" amüsierte sich Joséphine, doch nicht lange, denn ein wütender Blick traf sie und verfinsterte ihre heitere Miene augenblicklich. "Weißt du denn nun, wo er steckt?" Antonia wurde langsam ungeduldig, hatte jedoch noch immer diesen hoffnungsvollen Glanz in ihren braunen Augen. Der aber erlosch, als Joséphine mit einem Kopfschütteln und leichtem Schulterzucken antwortete. "Schade... Dabei wollte ich ihn doch mit meinem Bruder bekannt machen..." Noch während sie diese Worte leise vor sich hernuschelte, stapfte sie bereits zurück in Richtung Tanzsaal, wo die Streicher gerade begonnen hatten, einen Walzer zu spielen und mischte sich unter die Gesellschaft. Joséphine sah ihrer Freundin eine Weile hinterher, blieb mit ihren Blicken an dem auffallenden Perlenkettchen der jungen Frau kleben, bis diese nicht mehr zu sehen war, dann faltete sie die Hände vor dem Schoß und tippelte einen schmalen Gang entlang, dessen von staubigen Vorhängen bekleideten Fenster die Umgebung ist Düsternis legten. Kaum war sie am Ende angelangt, drangen zarte Klavierklänge an ihr Ohr, manchmal unschön verzerrt von der Walzermelodie, die aus der anderen Richtung hinter ihrem Rücken ertönte. "Ich wusste, ich würde dich hier finden, Bernard!" flüsterte sie zu sich selbst. Ja, sie hatte Antonia absichtlich verschwiegen, dass sie in Wirklichkeit auch nach ihrem Bruder suchte und im Grunde sogar ziemlich genau wusste, wo er anzutreffen war. Nur wusste sie auch, dass Bernard in dem kleinen Zimmerchen, das lediglich mit einem Piano bestückt war, und vielleicht einem winzigen Sofa, nicht gestört werden wollte. Aus welchen empfindlichen Gründen auch immer... Die schmale Tür war nur angelehnt und ein bronzener Schimmer drang aus dem Spalt hervor. Sie legte die Hand auf den Knauf, drückte leicht dagegen und hoffte innerlich, dass ihr Bruder das dumpfe Knarren nicht hörte. Doch die Musik verstummte. Unsicher schluckte sie, betrat nun vollends den kleinen Raum, dessen Dunkelheit von dem Schein duzender Kerzen durchschnitten wurde, die in geschmeidig gearbeiteten Kerzenständern flackerten. Joséphine blieb stehen, richtete die Aufmerksamkeit auf die dunkle Silhouette ihres Bruders, der mit dem Rücken zu ihr saß. - An die Lehne des Sofas geschmiegt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. "Ich wusste, dass hier früher oder später irgendjemand auftauchen würde!" erklang trocken Bernards Stimme, hallte selbst in diesem kleinen Zimmer wie ein langes Echo wider. "Nur hatte ich nicht mit DIR gerechnet, Joséphine!" Er bewegte sich nicht, starrte weiterhin geradeaus. Wohin? Vielleicht auf ein Gemälde an der Wand, welches das Mädchen von hier aus nicht sehen konnte, da die Finsternis es verschluckte. Vielleicht aber auch einfach nur ins Nichts (Wozu?)... "Bruder..." Das Wort klang beinahe wie ein Zittern, so leise und sanft sprach sie es aus. Es kam ihr falsch vor, in diesem Moment zu reden, als würde ihre Stimme eine heilige Ruhe durchbrechen, die nicht wiederzuerlangen war. "Wenn du mit mir sprechen willst, rede deutlich! Ich habe wirklich keine Lust, jedes Mal nachfragen zu müssen, wenn du wieder alles unverständlich in deinen nicht vorhandenen Bart nuschelst!" Sie fühlte sich bei diesen barschen Worten leicht eingeschüchtert, da sie keinen Grund für das unfreundliche Verhalten ihres Bruders sehen konnte. Doch die unwohlig aufkeimenden Gefühle schluckte sie einfach hinunter, wollte in diesem Augenblick Stärke beweisen, sich nicht geschlagen geben. Worte blieben ihr jedoch im Hals stecken, sie wusste nicht, was sie sagen sollte, was sie eigentlich sagen WOLLTE... "Das Lied, welches du vor wenigen Augenblicken spieltest..." begann sie schließlich, dieses Mal mit kräftigerer Stimme. "Es kam mir gleich bekannt vor, auch wenn sich die wunderschönen Klänge mit den Menschenstimmen aus dem Tanzsaal mischten und dadurch etwas seltsam..." "Bist du gekommen, um mit mir über Musik zu plauschen, Joséphine? Oder war es reine Neugier, die dich zu mir in dieses abgelegene Kämmerchen trug?" Mit einem geschmeidigen Satz sprang der Junge von seinem Sofa auf, trat aus der finsteren Ecke ein in den Kerzenschein, der sein Gesicht mit bleicher Lebendigkeit umspielte. Mit lasziver Langsamkeit schlug er seine Augenlider nieder, wie ein Raubtier, bevor es seine Beute anvisiert und sie niederstarrt. /Seit wann jagt mir dein Antlitz kalte Schauer über den Rücken...?/ Die Blicke des Mädchens waren geradeaus gerichtet, Strähnen ihres dichten Haares fielen ihr in die Stirn, doch sie strich sie nicht zurück, war wie gelähmt, als sie beobachtete, wie ihr Bruder auf sie zukam. "Ich... ich wusste erst nicht so genau..." stotterte sie, nur um irgendetwas zu sagen, auch wenn es sinnentlehrt schien. "Ich musste erst überlegen, woher ich die Melodie kannte, aber dann ist es mir wieder eingefallen. Du hast sie mir damals... als ich noch sehr klein war... des Nachts manchmal vorgespielt, wenn ich nicht schlafen konnte, hab' ich nicht recht? Dieses kleine süße Lied, hab' ich nicht recht...?..." Sie zuckte zusammen, als Bernard seine offene Handfläche über ihre Schulter hinweg an die Wand schlug und sich über sie beugte. "Es kränkt mich zu hören, dass du erst überlegen musstest, woher du das Stück kennst, kleine Joséphine!" entgegnete ihr Gegenüber hart und starrte ihr ohne zu zwinkern in die weit aufgerissenen Augen. "Dabei gab ich mir stets solche Mühe!" Joséphines Herz schlug wild, ihr Atem ging schnell und mit ungutem Gefühl bemerkte sie das breite Grinsen im Gesicht ihres Bruders, der noch immer nicht von ihrer Seite gewichen war, sie nun vielmehr einsperrte mit seinen Armen, seinem ganzen Körper. Sie schwiegen eine Weile, was dem Mädchen wie eine halbe Ewigkeit vorkam. Doch sie konnte nichts sagen, ihre Zunge klebte förmlich am Gaumen und sie glaubte ersticken zu müssen, wenn sie nicht all ihre Energie auf das Atmen verwendete. /Lass mich gehen... Es tut mir leid, wenn ich dich gestört haben sollte, ich dachte lediglich.../ Noch bevor sie diese Gedanken äußern konnte, versiegelte ein warmer Kuss ihre Lippen, der ihr kleine Schweißperlen auf die blasse Stirn trieb und ihr Herz in Panik versetzte. Wie gefesselt schienen ihre Glieder, so schwer wie Stein. Die innige Berührung war ihr unangenehm, beinahe zuwider, doch sie war Bernards Laune ausgeliefert, wurde erst davon befreit, als er es auch wollte und sich langsam von den Lippen seiner Schwester löste, einen feuchten Film auf ihrem Mund hinterlassend. Er lächelte leicht, seine Blicke wanderten zu Joséphines Dekortee. "Dein Busen bebt, geliebte Schwester.... ... Er quillt förmlich aus deinem Kleid. Bedecke dich, oder willst du, dass mir vor Abscheu die Augen schmerzen?!" Ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen, verließ er lautlos das Zimmer, ein bitteres Grinsen seine steinernen Lippen umspielend. ******************************* Elend langsam vergingen die Tage, deren unerbittliche Kälte jeden einzelnen ihrer Muskeln schmerzen ließ. Es schneite nicht mehr, doch der eisige Wind, der über das weite Land kroch, durchdrang ihre feuchten Kleider. Sie ritten weiter und weiter bis die Müdigkeit und Erschöpfung ihre Glieder zum Erstarren brachten. "Ich bin so müde, Eduard... Die Nacht bricht ein. Können wir nicht...?" Kim zuckte ungewollt zusammen, als sich der Graf, der direkt vor ihm herritt, zu ihm wendete, mit einem verständnisvollen, doch traurigen Funkeln in den tiefen Augen. Er versuchte dem Jungen aufmunternd zuzulächeln, doch die Geste verebbte, als seine Blicke über die Landschaft glitten. Der Pfad, auf dem sie ritten, war schmal. Zu ihrer Linken konnte man deutlich eine Senkung erkennen, die in eine schwarze Rinne mündete. - Vermutlich ein Bachlauf, der in wärmeren Monaten Wasser trug. Auf der rechten Seite war nichts als Weiß, eine Weite, mit dickem Schnee bedeckt. Vielleicht eine Wiese oder ein Feld, sie konnten es nicht sagen. Nur hier und da standen vereinzelte Baumgruppen, deren Tannenzweige unter der Last des funkelnden Schnees ächzten und sich nachgiebig dem Wind beugten. "Bitte..." flüsterte Kim tonlos, ungewollt, doch das Wörtchen war seinen zitternden blauen Lippen ohne Vorwarnung entwichen. Erneut heulte der Wind auf, trug weißes Schneegestöber mit sich und umhüllte sie. Wie Peitschenhiebe schlugen die aufgewirbelten Eiskristalle in ihre geröteten Gesichter, erbarmungslos. Kim spürte die Tränen nicht mehr, die seinen Wangen hinabrannen. Sie erkalteten sogleich auf seiner blassen Haut, stürzten leblos in die Tiefe, wenn sie der Wind nicht mit sich riss. "Bitte... ich kann einfach nicht mehr! Ich kann nicht..." Fest umklammerte der Junge die Zügel, schwang sich mühevoll vom Pferd, stolperte beinahe. Er konnte hören, wie ihn die Taubheit seines Körpers auslachte, wie sie seine Hilflosigkeit und Verzweiflung belächelte. Unbeholfen versuchte er, sich die dichten nassen Haarsträhnen aus den Augen zu wischen, doch das Zittern seiner Hände ließ es ihn irgendwann aufgeben. /Nichts als Stille um uns herum. Die gleiche dröhnende Stille, die uns Tag ein, Tag aus begleitet und uns die Reise nur noch unerträglicher macht. Ich will nicht mehr weiter. Der Sinn des Ganzen ist mir schon lange entronnen. Wir haben doch keine Wahl. - Können nicht ewig fliehen. Nein, nicht bis in alle Ewigkeit, weil... man uns früher oder später finden wird. Also wozu das alles? Wir sind es doch beide leid... Erneut bricht finstere Nacht herein, umhüllt unsere Silhouetten. Warum nicht für immer?/ "Wir können hier nicht rasten. Hier sind wir der Kälte schutzlos ausgeliefert!" /Eure Stimme klingt sanft, wie immer. Sie entbehrt nie der Wärme, die mir Geborgenheit gibt und doch.../ "Ich kann nicht weiter..." /Wollt Ihr nicht verstehen, dass ich unendlich müde bin? Ich blicke zu Euch auf. Ihr steht dicht neben mir. Ich habe gar nicht gemerkt, wie Ihr vom Pferd gestiegen seid... Ist es der Trotz in meinen Worten, der Euch den fiebrigen Glanz in die Augen treibt? Oder empfindet Ihr in diesem Augenblick etwa Mitleid für mich, Abscheu? Vergebt mir! Frühling... Wie schön wären jetzt die wärmenden Sonnenstrahlen des Frühlings.../ Eduard griff nach den Zügeln, die der Jüngere noch immer fest umklammerte, als wären die schmalen Lederriemen der einzige Halt, der ihm geblieben war. Kim keuchte leise, rieb sich abwesend über die Augen. Seine Beine begannen zu zittern, gaben unter ihm nach. "Kim!" Er hörte nur noch, wie der Graf seinen Namen rief. Entfernt. So leise. /Verlasst mich nicht!/ Dann übergab er sich den weichen Armen der Dunkelheit. ****************************************** "Wozu dieses sinnlose Fest, Onkel? Bist du denn all die Aufgesetztheit nicht langsam einmal leid?" Müdigkeit umschleierte Bernards Augen, als er aus dem kleinen matten Fenster in die beginnende Dunkelheit blickte. Fahl stand der Mond am Himmel, breitete sein kaltes Licht über die weiße Landschaft, dass einzelne Eiskristalle zu glitzern begannen. Er legte seine Stirn an das kühle Glas, sah aufmerksam dabei zu, wie es durch seinen warmen Atem beschlug. /Ich werde warten... (warten worauf?). Auf.../ Langsam schlug er die Augen nieder, wusste nicht weshalb Tränen in ihnen aufstiegen. /Ich warte... auf ... / Ein leises Seufzen schlich sich über seine zarten Lippen, dann richtete er sich auf, wirkte beinahe stolz, als er seine Haare zurückstrich, die ihm in die Augen gefallen waren. Als er aufblickte, gewahrte er eine zierliche Gestalt, die ebenfalls den Flur entlang lief, vielmehr schlich. Sie schien unwirklich zu sein, so leise... Still verfolgte er sie mit seinen Augen, die sich verdunkelten, als er erkannte, dass es seine Schwester war. /Joséphine...kleine Joséphine.../ Das Mädchen jedoch hatte ihre Augen geradeaus gerichtet, ein schmales Lächeln im Gesicht. /Die Maske eines unglücklichen Engels... Deine Unschuld macht mich rasend.../ Kleine feuchte Spuren auf ihren Wangen verrieten, dass sie geweint haben musste. Geweint, ... wegen ihm? //Du hast mir die Melodie damals... als ich noch sehr klein war... des Nachts manchmal vorgespielt, wenn ich nicht schlafen konnte, hab' ich nicht recht?// /Manchmal, Joséphine? Wie oft saß ich neben dir.../ //Dieses kleine süße Lied...// Wieder kroch Traurigkeit in sein Herz. Joséphine lief an ihm vorbei, beachtete ihn nicht und er blickte dem Mädchen hinterher, bis die letzte Spitze ihres schönen Kleides hinter einem Vorhang verschwand. Fest biss er die Zähne zusammen, schüttelte kaum merkbar den Kopf und warf dann erneut einen kurzen Blick aus dem Fenster. Er sah, wie gerade eine Kutsche vorfuhr. Ein verspäteter Gast? /Heinrich!/ Noch bevor er den Namen gedanklich ausgesprochen hatte, war er davon gestürmt, in Richtung Eingangshalle, wartete dort ungeduldig auf die Ankunft des Mannes. Ein festes Klopfen an der Tür erklang und Bedienstete öffneten sogleich das massive Tor. "Heinrich, Heinrich! Lieber Freund, so bist du also auch gekommen?" Bernards Augen begannen vor Freude zu funkeln, als er den blonden Mann in die Halle des Schlosses eintreten sah und ohne lange zu zögern, rannte er ihm entgegen, schlang seine schlanken Arme um Heinrichs Nacken, schmiegte seine heiße Wange an die seines Gegenübers. "Du erlöst mich aus dieser stupiden, langweiligen Gesellschaft! Ich rechnete nicht mit dir..." flüsterte der Jüngere und spürte, wie sich eine Hand liebevoll an seinen Hinterkopf legte, geschmeidig durch seine Haare glitt. "Guten Abend, Bernard!" erklang leise Heinrichs Stimme, doch ohne das sonst so lebendige Flackern. Für einen Augenblick standen beide einfach nur da, umklammerten sich fest, Bernard hatte die Augen geschlossen. "Und deine Frau? Warum sind Madeleine und Noel denn nicht mit dabei? Ich hätte sie so gerne wieder einmal gesehen!" Doch Heinrich gab darauf keine Antwort, schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Er schwieg, eine ganze Zeit lang und Bernard spürte nur das gleichmäßige Auf und Ab von Heinrichs Atemzügen an seiner Brust. Dann ein unterdrücktes Seufzen. "Hast du... davon gehört?" Eine tonlose Frage, die der Jüngere nach einigem Zögern mit einem stillen Kopfnicken beantwortete. Erst jetzt lockerten sie die feste Berührung, wobei Bernard ein letztes Mal sanft über Heinrichs Wange strich, ihm dabei tief in die Augen blickte. "Natürlich hörte ich... Wie lange ist es her, dass sie..." "Sie brachen vor zehn Tagen auf..." Ungläubig schüttelte Bernard den Kopf, fasste sich abwesend an die Stirn, versuchte die eigene Nervosität zu unterdrücken. "Und du hast seitdem nichts mehr von ihnen gehört...?" "Nichts..." "Heinrich..." Doch sein Gegenüber bedeutete ihm mit einer schnellen Handbewegung, nichts dazu zu sagen. Fast mitleidig starrte Bernard ihn an, kaute dabei auf seiner Unterlippe, zuckte ganz plötzlich erschrocken zusammen, als Heinrich den Kopf hob und mit einem Lächeln in den Augenwinkeln, seine linke Hand auf die Schulter des Jungen legte. "Mir kommt es vor, als wäre ich schon eine Ewigkeit nicht mehr auf einem Fest gewesen. Lass uns doch einfach ein ruhiges Plätzchen suchen und etwas trinken, ja?" Bernard gab nur ein stummes Nicken als Antwort, legte dann seine Hand auf die Heinrichs, welche noch immer auf seiner Schulter ruhte. Es war nicht leicht, in all dem Menschengetümmel tatsächlich ein stilles Plätzchen zu finden, wo sie sich ungestört hätten unterhalten können. Mühevoll schob sich Bernard an den pompösen Kleidern einiger Damen vorbei, atmete unfreiwillig deren süßes Parfum ein, das sich allmählich begann mit dem unangenehmen Geruch ihres Schweißes zu mischen. Er hielt Heinrichs Hand, zog den größeren Mann hinter sich her, ließ ihn nicht los, auch dann nicht, wenn jemand unwissentlich versuchte, ihre Berührung zu durchbrechen. Heinrich standen kleine Schweißperlen auf der Stirn. Er wischte sie mit seinem Taschentuch ab, bevor er es wieder zurück in seine Jackentasche steckte. Seine Blicke hatte er stets nach vorne gerichtet. In gewisser Weise fand er es amüsant, wie Bernard ihn hinter sich herschleifte. Doch er ließ sich willenlos ziehen, was die Menschen um sie herum denken mochten, war ihm in diesem Augenblick egal. Vermutlich flüsterten sie sowieso über ihn,... hinter vorgehaltenen Händen, innerlich konnte er das spüren, doch er bemühte sich, dies alles zu unterdrücken, hinunterzuschlucken, als bemerke er es nicht. Auch die giftigen und herablassenden Blicke einiger Anwesenden tat er mit einem Lächeln ab. /So wie du es stets getan hast... Erst jetzt.../ Eine dicke Frau in eng anliegendem Kleid verstellte ihm plötzlich den Weg und beinahe wäre er in sie hineingerannt, wenn er nicht mit einem kräftigen Ruck stehen geblieben wäre, um Bernard daran zu hindern, in noch weiter mit sich zu zerren. Verstohlen blinzelten kleine dick geschminkte Augen in sein Gesicht. Heinrich fielen die langen unechten Wimpern auf und der kleine schwarze Fleck am oberen Lidrand. Laut keuchte die Frau, wedelte sich dann mit ihrem Fächer etwas frische Luft zu, bevor sie ein breites Lächeln auf ihre purpurroten Lippen zauberte und sich dann wieder unter die Tanzenden mischte. Kaum dass sie verschwunden war, wartete Bernard nicht länger und ging weiter, Heinrich noch immer im Schlepptau. Irgendetwas nuschelte der Junge vor sich hin, doch der Ältere konnte ihn nicht verstehen. All die Worte, das Lachen um ihn herum, verschwammen zu einem unheimlichen Gemurmel, ein unerträgliches Getöse. /Erst jetzt begreife ich, wie du dich fühltest, mein kleiner Bruder... Sie starrten dich an... so, wie sie mich jetzt anstarren, als könnte ihnen irgendeine Neuigkeit entgehen, wenn sie mich nicht auf Schritt und Tritt mit ihren gierigen Blicken verfolgen. Sie vergessen, dass ich... nur dein Bruder bin. Bedeutungslos, doch in ihren Augen ein Frevler wie du... Ich sollte dir böse sein, dich vielleicht sogar hassen. Wozu? Um von ihnen wieder akzeptiert zu werden... als einer, der ich nicht bin? Doch das will ich nicht... Denn du leidest und ich mir dir. Ist das nicht das einzige, was uns beide jetzt noch verbindet? Ich.../ "Sooooo, da wären wir endlich! Hab' mich halb tot gesucht, um dieses Fleckchen hier zu finden. Heute tummeln sich die Gäste wirklich in jedem noch so kleinen Winkel!" Mit einem lieben Grinsen im Gesicht, stellte sich Bernard breitbeinig vor Heinrich hin, stemmte keck die Arme in die Hüften. "Und jetzt sag' bitte nicht, dass dir hier immer noch zu viel los ist!" Drohend hob er seinen schlanken Zeigefinger, was Heinrich irgendwie an Joséphine erinnerte, die dies zum Spaß auch bisweilen tat, wenn sie versuchte, jemanden zu tadeln. "Hey... Diener!" schnippte der Junge schließlich mit den Fingern, nachdem er schulterzuckend eingesehen hatte, dass er von seinem Gegenüber keine Antwort erhalten würde. "Bring' uns zwei Gläser Champagner! Und beeil' dich. Mein Freund und ich sind sehr durstig!" Der Bedienstete trottete mit erhobener Nase und grimmigem Gesichtsausdruck davon, nickte jedoch zuvor kurz, um zu zeigen, dass er verstanden hatte. Heinrich hatte sich indessen auf einem runden Hocker niedergelassen und räkelte sich genüsslich, fuhr sich dann geschmeidig mit der Hand durch die Haare und sah sich um. Das Zimmer kam ihm bekannt vor. Wenn ihn nicht alles täuschte, war er hier schon einmal gewesen. Vielleicht irrte er sich aber auch, denn in diesem Schloss ähnelten sich viele Räumlichkeiten manchmal bis ins kleinste Detail und eigentlich war es ihm auch völlig egal. Hauptsache, er konnte sich hier einen Augenblick entspannen und müsste nicht Angst haben, im Getümmel der Gäste erdrückt zu werden. "Du bist heute so abwesend, mein Freund..." hörte er plötzlich ein leises Flüstern Bernards an seinem Ohr. Und wenig später spürte er einen sanften Druck an seinen Schultern, der beinahe schmerzte. Doch es war ein angenehmer Schmerz und er lehnte sich in die Berührung. "Du hast eine kleine Massage nötig, Heinrich. Du bist ja völlig verspannt..." Heinrich kicherte kurz, zog Bernard, der hinter ihm stand, dann neben sich auf einen Stuhl. "Ich werde Madeleine bitten, sich um mich zu kümmern. Das ist nicht deine Aufgabe, Kleiner! Wo ist eigentlich deine Schwester? Lässt sie sich diese Feierlichkeit hier heute etwa entgehen?" "Ich bin nicht sicher... Ich meine... Ich weiß nicht, wo sie im Augenblick ist. Wir hatten leider eine kleine... wie soll ich sagen... Auseinandersetzung." "Schon wieder?" schmunzelte Heinrich und strich dabei dem Jungen sanft über den Nacken, so dass Bernard eine leichte Gänsehaut bekam. "Naaah... hör' auf damit! Du weißt, dass ich da empfindlich bin!" Wieder kam ihm nur ein strahlendes Lächeln Heinrichs entgegen, das er mit einem gespielt genervten Gesichtsausdruck erwiderte. Dann seufzte er kurz, seine Augen wanderten zu seinen Händen, die er auf den Tisch gestützt hatte. "Ich war heute ziemlich grob zu ihr..." "Wann bist du das nicht?" /Du sagst es aus Spaß und weißt doch nicht, wie recht du hast. Ich.../ "Ich weiß nicht... aber immer, wenn ich sie sehe, dann... dann erfasst mich so eine Wut. Ich will es nicht, ich wünschte, ich könnte sie unterdrücken, aber sie lässt sich einfach nicht zurückhalten. Wie ein wildes Tier droht sie jedes mal auszubrechen und ich..." "Unter Geschwistern kommt das häufig vor. Es ist wie ein Konkurrenzkampf..." "Konkurrenz um was? Um die Liebe unserer Eltern?! Dass ich nicht lache!" Heinrich musterte Bernard leise. "Vielleicht ist es nicht die Liebe zu den Eltern..." Bernard biss sich leicht auf die Lippe, blinzelte kurz und erwiderte dann die Blicke seines Gegenübers. "Wie ist es mit dir und... deinem Bruder? Hast du nie...?" Ein zartes Schmunzeln. "Eduard und ich... wir sind zu verschieden... Ich hatte die Zuneigung meiner Eltern. Wie ER seine Kindheit empfand, weiß ich nicht." /Er hatte keine Kindheit.../ Unbewusst biss er fest die Zähne aufeinander, als er sprach. Ein krampfendes Gefühl erstickte ihn innerlich und er hörte ein hilfloses Schreien, dass er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. /Mein Gott... Eduard hatte nie die Zeit, ein Kind zu sein. Weil er... weil man ihm... Er schrie stumm gen Himmel, doch wir unternahmen nichts. Seine Kindheit verlor er in jener Nacht, die ich aus meinem Gedächtnis verdrängt habe.../ Abwesend fasste er sich an die Stirn, stützte schwer seinen Kopf auf. Inzwischen hatte man ihnen den Champagner gebracht und er nahm einen kräftigen Schluck davon, ließ die kühle Flüssigkeit die Hitze, die er im Augenblick empfand, mit sich davontragen. Dann setzte er das Glas mit einem dumpfen Geräusch auf dem massiven Holztisch ab und stand auf, woraufhin ihm Bernard verwunderte Blicke zuwarf. "Entschuldige mich für einen kleinen Augenblick, ja?" flüsterte er nur kurz und noch bevor der Jüngere protestieren oder fragen konnte, wohin er denn vorhatte zu verschwinden, war er auch schon in den Menschenmengen untergetaucht, so dass Bernard ihn nicht mehr ausfindig machen konnte. ****************************************** Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)