Wortstürmen von Schreiberliene (Der Schreibzieher Schlagworte) ================================================================================ Kapitel 1: Die Gerechten ------------------------ Als die kalte Klinge sich durch sein erhitztes Fleisch drückt und die Muskeln vom Knochen trennt, fühlt Heinrich eine unerklärliche Genugtuung, die den Schmerz betäubt. Er weiß, dass ihm grauen müsste vor dem, was ihn erwartet, doch vermutlich ist die Gewissheit der Rechtmäßigkeit seiner Handlung genug, um ihm den Eintritt in das Himmelsreich zu erleichtern. Während die Nervenimpulse das Hirn nicht mehr verlassen können und seine Welt auf ein enges Bewusstsein schrumpft, muss er an diesen Moment vor nun mehr drei Jahren denken, als sein Vater ihm eröffnete, es sei an der Zeit, seine Christenpflichten zu erfüllen. Im ersten Moment hatte er, damals noch mit der unersetzlichen Unschuld eines fünfzehnjährigen Jungen, befürchtet, er solle als Zweitgeborener in ein Kloster eintreten, doch die Wirklichkeit war bei weitem aufregender gewesen. Seine Mutter hatte es nicht verstehen wollen, doch ihm selbst war trotz seiner Angst sofort gewahr geworden, dass sich dort eine einmalige Gelegenheit ergab. Sicher, es ist hart gewesen, und nun hier, hunderte Tagesreisen von der Heimat entfernt, sterben zu müssen, ist nicht das, was er seiner Familie oder sich selbst gewünscht hätte, aber der Gedanke an die geheiligte Erde des biblischen Landes tröstet ihn. Er wird Palästina nicht mehr verlassen, nie an den warmen Busen seiner noch nicht gefundenen Geliebten sinken; und trotzdem hat er sein Leben gerne der Pilgerreise geopfert. Und er ist sich in einem durch göttliche Eingebung unverrückbar sicher: Diesen Kampf, diesen himmlischen Streit werden die Muselmanen verlieren, und mit diesem Sieg der Christenheit wird dem Bösen die Wurzel genommen. Fast 1100 Jahre nach der Geburt Jesu ist sein Reich auf Erden greifbar, ewiger Friede gewiss. Endlich wird der Kampf der rechten Religion gegen den Irrglauben ein Ende finden, denkt Heinrich und hört auf zu sein. Wie ein Messer durch warme Butter gleitet, geschmeidig, ohne jede Anstrengung, so hat er es sich vorgestellt. Doch obschon die dünne Haut der Schneide seiner Waffe keinen Widerstand bietet, bäumen sich die Muskeln und Sehnen auf, streben dem Druck entgegen. Widerstrebend reißt die Kehle, und warmes Blut erumpiert mit einer solchen Kraft, dass es ihm beinahe Angst macht. Dann erst kapituliert auch das Gewebe der Luftröhre und ein Übelkeit erregendes Zischen begleitet den überraschten Ausdruck in den dunklen Augen des Mannes, der sein kleiner Bruder hätte sein können. Dann erlischt alles. Bertrand fragt sich nicht, nicht für eine Minute, nicht einmal für einen Herzschlag, ob seine Handlung rechtens ist; er weiß den starken Arm Gottes auf seiner Seite. Es ist nicht das erste Mal, dass er seine Pflicht als Gläubiger wahrnimmt, nur das erste Mal, dass er seinen Feind auf diese Weise unschädlich macht. Trotzdem kann er nicht umhin, sich zu fragen, ob sein Leben nicht ein anderes hätte sein können; er erinnert sich an den nie endenden Kampf, den Krieg, in den er hineingeboren wurde und der endlos scheint. Er sieht seinen Vater vor sich, der sein Recht verteidigt hat, seit sein Sohn seinen ersten Atemzug getan hat, und der ihm beigebracht hat, was es heißt, frei zu sein. Doch alles, was er nach einigen Sekunden sieht, sind die Flammen der Katholiken, die mehr Leben auf ihrem Gewissen haben, als er zählen kann. Er läuft durch den Sommerwald, blind gegen das grüne Licht, das durch die dichten Wipfel dringt, blind gegenüber der Schönheit dieses Landes, das er lieben wird, solange er lebt. Um das zu sehen, wird er noch genug Zeit haben; nach vierundzwanzig Jahren, jetzt, in diesem Moment, kann er es spüren. Er weiß, dass die Moderne mit diesem Jahre 1586 anbricht; Luthers Lehren werden zunächst den Irrglauben in Frankreich vertreiben und dann den Rest der Welt für sich einnehmen. Die Zeit der Kriege gegen die rechte Religion läuft ab, denkt Bertrand und führt seinen nächsten Schlag aus. Er weicht dem Hieb nicht aus; sein Stolz verbietet jede Zurschaustellung seiner Furcht. Er hat gehört, wie man sich von der eisernen Disziplin des Kardinals Richelieu in Frankreich erzählt und will dem französischen Vorbild folgen. Er mag kein Land anführen, doch er weiß des Herren Beistand bei sich und fühlt, dass er seinem rechten Glauben nicht abschwören kann. Die Protestanten haben, das weiß er, nach und nach alle Schichten infiltriert und hätten die braven Christen vertrieben, hätte man sich nicht gegen diesen Schmutz gewehrt. Wie könnte er jetzt der brachialen Gewalt nachgeben, wenn so viele Menschen standhaft geblieben sind? Er weiß, dass es auch Schwache gibt, wie den Kaiser Ferdinand, der unverständlicherweise die Seite der Reformisten eingenommen hat, aber muss er nicht gerade deshalb stark sein, sich nicht zu ihnen hinunterbegeben? Der nächste Schlag bringt ihn zu Fall und er erkennt, dass nichts ihm sein Leben noch erhalten kann, dass seine Stunden gezählt sind und der Herr ihn zu sich ruft. Es ist seine Entscheidung, wie er gehen will, und in dieser Stunde wird ihm bewusst, dass das letzte Vierteljahrhundert, das ihn Angesicht zu Angesicht mit dem Krieg des Wahrhaftigen gegen die Hugenotten gebracht hat, seine Vorbereitung für diesen Moment gewesen ist. Er kann, er will nicht nachgeben, er wird sterben, als Märtyrer, und dafür im Himmelreich seine Belohnung erhalten. Er stirbt im Jetzt, im Jahre 1633, durch die Hand der Reformisten, doch im selben Moment spürt er, dass ihre Zeit abläuft. Nicht mehr lange und Gottes Zorn wird sie zerquetschen, sie, die ihn und seine Familie gedemütigt, geschlagen, abgeschlachtet haben, denkt er, als der nächste Tritt ihn in Agonie ertrinken lässt, und ist getröstet bei dem Gedanken, dass das Rechte am Ende obliegen wird. Der Fuß fühlt sich wohl in dem weichen Fleisch, das willig nachgibt unter ihren Schuhen und die Wut verwandelt in etwas Warmes, Befriedigendes, um das Emma sich aber nicht schert. Sie weiß, dass sie das nicht tun sollte, dass ihre Eltern Besseres von ihr erwarten. Sie wollen sie in der warmen Sicherheit ihres Zimmers wissen, aber was kann es Besseres geben, als diesen RUC-Schweinen und den dreckigen Protestanten zu zeigen, dass Bogside nicht zum Schauplatz der katholischen Erniedrigung werden wird? Sie weiß, dass sie heult, aber der Tränenstrom hat etwas Befreiendes, als sei der Druck des Aufruhrs nun kanalisiert und drohe nicht mehr, ihre Innereien auseinander zu reißen. Sie fühlt sich brillant. Es ist angenehm, dieses Hochgefühl, das auch von dem Wissen rührt, dass sie nicht die Einzigen sind, die sich wehren. Auch außerhalb von Derry hat die Beleidigung endlich ein Ende, Belfast kocht, soviel hat sie mitbekommen. Und sie wird nicht zurückstehen, nachgeben und zuschauen, nur weil sie eine Frau ist. Das ist ihre Zeit, es ist der Moment, der alle Möglichkeiten eröffnet; jetzt können sie zeigen, dass der Katholizismus sich nicht in Stadtteile zurückdrängen und unterdrücken lässt; es ist eine Revolution, die das Angesicht der Erde verändern wird, oder zumindest das Irlands. Und es tut so unbeschreiblich gut! Man kann versuchen, einfache Arbeiter aus ihnen zu machen, man kann ihnen die Chance zu arbeiten verwehren, man kann versuchen, sie in die Vergessenheit zu zwingen, aber niemand kann ihre Zukunft beherrschen, niemand kann sie ihnen stehlen! Emma rennt. Die Anderen, hinter ihr, neben ihr, vor ihr, sind Teil von dem, das auch sie jetzt endlich sein darf, und gleichzeitig haben sie nichts mit ihr zu tun. Um den nächsten Häuserblock, durch die Blockade, bricht die RUC und während Emma nach rechts in die Richtung einer Nebengasse gedrängt wird, fällt ihr Blick auf eine zerrissene Ausgabe der Irish News. Und mit dem Lärm, dem Gestank und dem Adrenalin, das durch ihre Adern pumpt, wird ihr eines bewusst: Jetzt und hier, im August des Jahres ’69, entscheidet sich vielleicht der Kampf, der sie ihr ganzes Leben lang begleitet hat; die religiöse Unterdrückung hat ein Ende, denkt sie und begegnet den dunklen Augen durch die Windschutzscheibe. Ja, er starrt. Und aus dem kalten Fensterglas starren hypnotisierend große, schwarze Iriden, in deren Tiefe unendlich viele Fragen wüten. Es ist kein Zorn, der seine Finger, seine Beine, sein Herz zittern lässt, sondern der Traum, geträumt von jeder Zelle seines Körpers, von Gerechtigkeit, vom rechten Leben. Und trotzdem kann er sich der Furcht nicht vollends entziehen; ob das Schande über seine Familie bringen wird? Natürlich weiß er, dass er den Weg geht, den der Wahrer der Sicherheit für ihn vorgewählt hat. Niemals hat sein Herz in größerer Liebe geschlagen als bei dem Gedanken an den Alles-Bezwinger; und zu wissen, dass er seinem nackten Leben einen Sinn, einen Traum geben konnte, verleiht seinen leisen Freudentränen Flügel. Und doch, diese Entscheidung, so richtig sie auch sein mag, testet seinen Glauben fortwährend. Ob der Hörende in seiner Allwissenheit auch die Bejahung in den Zweifeln vernimmt? Er weiß um die Notwendigkeit, weiß, dass der Dankbare diese Tat von ihm erwartet und ihn entlohnen wird, dass das, was er tut, dem Frieden in dieser vom Ehrenvollen gestalteten Welt dient und dass diese eine Handlung die Blüte seines Daseins ist, deren Duft die Unreinheit der Menschen wandeln wird. Der Zweifel ist so klein, dass er ihn nur vernimmt, wenn er zu tief in sich hineinhört und dem Bösen die Pforte nicht schließt. Das kann er nicht mehr tun, Zweifeln, – das wird er nicht mehr tun. Er wird die Menschen lehren, jetzt, endlich, im Jahre 2001 wird er sie auf den richtigen Weg führen. Ja, so muss es sein. So wird es sein, er wird seine Pflicht dem aus sich selbst Lebenden gegenüber dankbar annehmen. Allahu akbar, denkt Walid, als Turm und Flugzeug sich in hitziger Umarmung begegnen. „Allahu akbar!“ Der Gesang klingt noch immer in ihren Ohren nach, melodiös und verschreckend zugleich, doch die Türme verschwinden hinter ihr im Dunkel der Nacht. Niemand hat sie gesehen. Wir sind wie Schatten, wispert es unter dem blonden Haupthaar. Sofort korrigiert sie sich. Wir sind Rächer. Vor ihr tauchen am Horizont flimmernde Lichter auf und wieder stoßen die hohen Türme in den Himmel. Lange kann es nicht mehr dauern. Bald kann Jane die ersten Häuser erkennen, die Palmen, die die Bürgersteige säumen, nur unzureichend beleuchtet und doch vielleicht gerade deswegen besonders prägnant. Es sieht alles so fremd aus, dass es ihr schwer fällt, eine Verbindung herzustellen zu Washington, ihrer Heimatstadt, dem Ort, in dem sie die Schule besucht, ihre Freunde getroffen, zu Mittag gegessen und Leichtathletik trainiert hat. Der Ort, in dem die Kirche steht, in die sie sich geflüchtet hat, als die Bilder von einem brennenden New York über den Bildschirm flimmerten. Der Ort, an dem sie sich geschworen hat, dem fanatischen Wahnsinn ein Ende zu setzen und dem religiösen Fundamentalismus dieser Islamisten einen Riegel vorzuschieben. Und genau deswegen ist sie jetzt hier. Operation Iraqi Freedom heißt es, doch sie weiß, dass es um viel mehr geht, als das. Es geht um die Zerschlagung der Sharia, den Kampf gegen das unterdrückende System des Islam. Ihre Gedanken werden vom Kommando unterbrochen, und während Jane die Augen konzentriert zusammenkneift, ist sie sich absolut sicher, dass jetzt und hier, mit dem Kampf gegen den Terror, mit diesem 20. März 2003 und ihrer Anwesenheit in der Stadt, dieser endlose Streit des Glaubens in seinen letzten Atemzügen liegt. Bald ist es vorbei, denkt sie und feuert. Der Schuss trifft und Mouhin weiß, dass er in Schwierigkeiten ist. Nicht wegen der Toten oder Verletzten, sondern weil sie sich nicht abgesprochen haben. Doch alles ging so schnell, so sehr schnell, und diese stinkenden Israelis waren mit ihrem Panzer da und nein, er bereut nichts. Die Hizbollah hat ihn darauf vorbereitet, er weiß, dass man den dreckigen Juden nicht einen Meter Land, nicht einen Atemzug gewähren darf, sonst nehmen sie sich alles; dann zerstören sie die Kultur, beleidigen den Großartigen und bauen ihre Städte auf heiligem Grund, um ihn zu entweihen. Er wird nicht zulassen, dass sie ihr falsches Israel über die Grenzen des okkupierten Palästina bis nach Syrien und in seinen Libanon ausweiten, wird nicht zusehen, wie sie den Glauben, der ihm die Welt bedeutet, und alles, was danach kommt, angreifen. Nein, er wird helfen, die arabische Welt zu einen und diesen Schandfleck aus dem Herzen der Gemeinschaft zu reißen, und wenn er dafür jeden einzelnen Juden selber töten muss. Was ein erhebendes Gefühl es sein muss, an einem Ort zu leben, der frei ist von diesen Ungläubigen, ein Ort, der allein Allah geweiht ist ... Man bräuchte einen Mann, einen richtigen Mann, einen wie Hitler, der würde das Problem bewältigen. Für einen Moment fragt Mouhin sich, warum er nicht dieser Mann sein kann; doch er weiß, dass er nicht genug Macht hat, um das zu entscheiden. Allein der Allvergebende kennt den Plan. Es gibt weitere Schüsse und der Moment des Denkens ist verstrichen. Eines Tages, und der Tag ist nahe, insha allah, wird das Übel des Zionismus ausgerottet, mit oder gegen die UN, auf dass Friede auf Erden herrsche, vielleicht nicht in diesem Jahre 2006, aber bald, denkt Mouhin und duckt sich. Er sieht ihren Hinterkopf, sieht sie dort kauern und kann die Tränen kaum zurückhalten. Nicht nur, dass sie lebt, Osaretin glaubt erkennen zu können, dass ihr kein Leid geschehen ist. Bei seinem hektischen Lauf durch Jos, zwischen ausgebrannten Autos, verwüsteten Wohnhäusern und verstümmelten Leichen hatte er es fast nicht glauben können. Sie hört seine Schritte und wendet sich um; die Angst in ihren Augen schmerzt ihn. Auch wenn er sie versteht. „Du musst gehen. Ich bringe dich, sag mir nur, wo deine Familie wartet.“ Sie nickt, doch ein kleines Zögern lässt ihn unruhig werden. „Aina? Sag nicht, dass du hier warten willst? Du kannst nicht alleine bleiben.“ Sie schüttelt den Kopf, doch das Zögern bleibt in ihre Züge geschrieben. „Was ist? Du weißt, wir haben keine Zeit!“ Sie blickt ihn an und er meint, einen Anflug von Scham in ihrem Blick zu erkennen. „Wie könnte ich dir zeigen, wo meine Familie ist, und sie dir nicht ausliefern?“ Das trifft ihn tief, so tief, dass sich seine Stirn in Falten legt und sein Kiefer sich versteift. „Du hast Angst vor mir? Warum?“ „Osaretin...“ Ihre Hilflosigkeit entfacht seine Wut weiter. „Weil ich Muslim bin? Weil du glaubst, ich könnte sie verraten und töten?“ Sie schweigt und er erträgt ihre Bedürftigkeit nicht. „Habe ich jemals an dir gezweifelt? Habe ich mich vor deinen Brüdern nicht auch gefürchtet? Wie kannst du etwas zwischen uns stellen?“ „Wie könnte ich nicht?“ Ihr sanfter Blick, das wunderschöne, dunkle Gesicht, die zur Perfektion geformten Lippen; all das entgleitet ihm. „Du hast mir nie vertraut?“ Jetzt weint sie, doch es kann ihn nicht rühren. „Ich habe dich immer geliebt.“ Er weiß, dass sie gehen müssen; er weiß, dass sie Angst hat und dass er sie retten muss. Aber atmen kann er nicht und den Schmerz zu verwinden scheint ihm auch unmöglich. „Ich dachte, wir würden nichts zwischen uns stellen, nicht meinen Gott, nicht deinen, keine unserer Familien. Was ist geschehen? Bin ich jetzt nicht mehr dein Mann für immer? Suchst du dir jetzt lieber einen, den deine Familie absegnet?“ „Sie jagen Christen.“ „Und die jagen Muslime.“ „Sie töten uns!“ „Uns? Und wer bin ich? Sie?“ „Osaretin!“ Es ist das Ende von dem, was sein Leben gewesen ist; die größte Tragödie in seinem siebzehnjährigen Leben. Und sie weint stumm. „Ich habe auf dich gewartet.“ Er hört sie nicht. Er hört nicht ihr „Ich habe Angst“ in jeder Hebung der Stimme. Auch nicht ihr „Ich will dir vertrauen.“ Er hört nur Schritte und fühlt den Schlag gegen seinen Hinterkopf, der die Wirklichkeit aus den Angeln hebt. Wenn es jetzt, 2010, noch nicht aufgehört hat, wann dann?, fragt er sich und stirbt. Kapitel 2: Auf der Durchreise ----------------------------- Als ich aufwachte wurde mir mit einem Mal bewusst, dass alles, an das ich zu glauben gewagt hatte, in Wirklichkeit nichts anderes war als ein Trugbild, das ich mir selbst in meiner Verzweiflung vorhielt und dessen Stoff die Zeit durchscheinend gemacht hatte. Ich war nicht glücklich; das beständige Lachen auf meinen Lippen nur Produkt einer gekonnten Selbsttäuschung, und ich war nicht erfolgreich, denn all jene Erfolge, mit denen ich mich schmückte, hatte ich durch das Aufgeben meiner Kindheitsträume erschlichen. Ändere den Wunsch, wenn die Erfüllung dir versagt bleibt: die Zweischneidigkeit dieser Methode wurde mir erst in diesen Sekunden zwischen Schlummer und Wachen bewusst. Das Aufstehen sollte nach solch einer Erkenntnis schwer fallen, doch die Wahrheit ist, dass mein Tagesablauf keine Veränderung erfuhr. Ich streckte mich in den weichen Laken, deren Sanftheit mich daran erinnerte, dass ich entgegen meiner Wünsche ein Heim aufgebaut hatte, das in seiner spießbürgerlichen Begrenztheit nicht einmal die Bettwäsche aus ägyptischer Baumwolle vermissen ließ, reckte mich, mit den bloßen Füßen auf dem morgenkühlen Laminat stehend, der durchschnittshohen Decke entgegen, an der eine weiße Ikealampe den Verlust meiner früheren Individualität bestätigte und schritt zum Bad. Die Ansammlung von Deodorant, Antifaltencreme und Rasierschaum, nach Größe geordnet und penibel sauber gehalten, umschlossen in ihrer Anordnung mein Spiegelbild und hielten mich in meinem Verfall zum Stereotypen gefangen; trotzdem trug ich die Whitening-Creme auf und putzte mir die Zähne. Fünf Minuten lang. Nachdem diese Aktion zu Dreivierteln abgeschlossen war – und mein stiller Horror vor der Vorhersehbarkeit des Morgens lässt sich nicht in Worte fassen – öffnete sich die Badezimmertür erneut und Christian trat herein. Ich wusste, dass er von hinten an mich herantreten würde, konnte die Bewegung seiner Lippen, die mir einen guten Morgen wünschten, im Traum nachzeichnen, und sein Kuss auf meiner Wange ließ mir meine Lieblosigkeit nur zu deutlich werden. Ich war nicht glücklich, ich war nicht erfolgreich; und weniger als alles andere war ich verliebt. Kein Kribbeln, kein Glück, nicht einmal ein Anflug jenes warmen Gefühls, das Menschen oft Jahre zusammenbleiben ließ. Nur Leere. Und Unbehagen ob der Beengung, die ich empfand. Darunter mischten sich im Laufe dieses Morgens, der nicht anders ablief als die Morgende der letzten sieben Jahre, Schuld und Scham, während das Brot frisch geröstet auf meinem Teller duftete und der schwarze Kaffee in werbereifer Manier in die weiß schimmernden Becher floss. Der Weg zur Arbeit erleichterte nicht dieses Gefühl der Sinnlosigkeit, das mich seit dem ersten bewussten Augenblick des Morgens begleitete, im Gegenteil; in der gesichtslosen Masse der Menschen, die mir wie immer begegneten, in ihrer herdengleichen Angepasstheit, ihrer Konformität fand ich mich bestürzt wieder: ich war Teil von dem alltäglichen Gang der Dinge geworden. Das Empfinden begleitete mich durch die Präsentationen und Gespräche des Tages, jedes Lachen, jedes allen Esprit vermissen lassende, abgestumpfte Privatgespräch, jedes anerkennende Nicken meines Vorgesetzten erinnerte mich an die Gitterstäbe des sozialen Gefüges, die mich gefangen hielten. Auf dem Weg nach Hause traf ich dieselben Menschen wie am Morgen, und wenn es nicht dieselben Individuen waren, so doch derselbe Typus: Personen ohne Persönlichkeit, Statistiken ohne Ausreißer, Wesen, die nicht wurden, wer sie waren. Menschen wie mich. Der Geruch des Abendessens erstickte mich, während ich mich kalt und seltsam abgetrennt von meinen Emotionen am Tisch niederließ und dieselben kleinen Themen besprach, die ich schon in den letzten sieben Jahren besprochen hatte; ich selbst ekelte mich vor dem, was ich war, was die Gesellschaft mich zwang zu sein. Mit Christian konnte ich nicht schlafen, zu überwältigend war die Abneigung, die ich bei seinem Anblick empfand. Er war schön; vielleicht einer der schönsten Menschen, die ich kennengelernt habe, und mir war bewusst, dass er mehr als nur ein anderes Angebot gehabt und sich dennoch für mich entschieden hatte. Im Geiste studierte ich seinen wohlproportionierten Körper, das schöne, ausgewogene Gesicht, das volle, dunkle Haar und die blauen Augen, die neben den sinnlichen Lippen wohl das erotischste an ihm waren. Meine Abneigung konnte ich mit dieser Betrachtung allerdings nicht bewältigen, und ihn anzurühren blieb mir unmöglich. Als ich am nächsten Morgen erwachte, hoffte ich, auf eine kurze, absurde Episode zurückblicken zu können, doch die Trivialität, die Eingesperrtheit meines Seins ließ sich nach ihrer Entdeckung nicht mehr leugnen. Ich lebte den Tag wie den vorherigen: losgelöst von meiner eigenen Person, beobachtend, immer weiter verzweifelnd an dem, was aus mir geworden war. Ich lebte den Tag derart, und den nächsten, die Wochen, die folgten und auch mehrere Monate, und obwohl ich spürte, dass Christian mit meiner Abweisung nur schwer zurechtkam, wusste ich, dass ich seiner Bitte um ein Gespräch nicht nachgeben durfte. Ich lebte und lebte nicht, stets darauf bedacht, niemanden merken zu lassen, wie es um mich stand. Dann zerbrach etwas in mir. Ich war aus purem Trotz einen anderen Weg nach Hause gefolgt und dadurch an einigen dunklen, verruchten Gassen vorbeigekommen; in einer solchen lehnte ein junger Mann. Er war nicht, nicht einmal im Ansatz, so attraktiv wie Christian; das Gesicht war grob, der Körper dünn und zugleich formlos. Und doch schoss eine Erregung in mir hoch, die ich kaum zu verbergen wusste, eine Lust, die mich verzehrte und endlich, nach so langer Zeit, wieder leben ließ. Er war, und auch das hatte ich vorher gewusst, käuflich; und obwohl mir Derartiges zuvor niemals in den Sinn gekommen wäre, zahlte ich, um ihn zu besitzen. Dann kehrte ich zurück zu dem Ort, der mir kein Zuhause, sondern ein Gefängnis war, packte eine Tasche und wartete auf dem nüchternen Holzstuhl auf Christian, der, als er die Türe öffnete, nur für einen kurzen Moment erstaunt und nicht einmal im Ansatz erschrocken wirkte. „Du gehst?“ Ich nickte und wappnete mich innerlich gegen den Strom seiner Hilflosigkeiten, mit denen er versuchen würde, mich von meinem Vorhaben abzubringen, mir relativ sicher doch nicht absolut gewiss, dass ich ihnen standhalten würde können. Vielleicht war unter der Taubheit doch noch ein wenig Gefühl? Aber Christian nickte nur, und ging hinaus in den Flur. Für einen Moment wusste ich nicht, was ich machen, wie ich reagieren sollte; dann folgte ich ihm. Er stand vor der Türe, sein athletischer Rücken war mir zugewandt, seine ganze Erscheinung gestreckt, und erst nach einigen Sekunden erkannte ich, dass er die Bilder von der Wand nahm und zärtlich in einer Tasche verstaute. Meine Bilder. Es traf mich auf eine merkwürdige, stumpfe Art, dass er mich nicht bat, zu bleiben; vielleicht hätte ich es gemacht. Mit seiner stillen Unterstützung konnte ich mich nicht abfinden, nicht, während der Geruch des Strichers für ihn offensichtlich an mir kleben musste. Dann gab er mir die Tasche mit einem kleinen, traurigen Lächeln und wandte sich dem Wohnzimmer zu. „Lass bitte den Kellerschlüssel hier, in Ordnung?“ Jetzt nickte ich und beobachtete, wie die Türe sich hinter ihm schloss. So hatte ich es mir nicht ausgemalt, so still, so gefasst; so wollte ich es nicht. Wo blieben seine Argumente, seine Versuche, mich zu überzeugen, die ich mit der Beschreibung meines Zustandes beantwortet hätte, auch, wenn er es nicht hätte verstehen können? Wo blieb sein Versuch, mich weiter in die Form des Alltags, der Stumpfheit zu quetschen und mich bei ihm zu halten? Ich hatte gepackt, was ich brauchte, selbst die Bilder trug ich in der Hand. Und doch hätte es nicht so sein sollen. Christian hatte nicht einmal versucht, mich zu halten, und das schmerzte tief in mir. Leise stellte ich meine Dinge an die Haustüre und drehte mich um, um ihm ins Wohnzimmer zu folgen. Er saß auf dem Sofa, das Jackett und das Hemd legere aufgeknöpft, und sah mich nur schweigend an. „Das ist alles, was du zu sagen hast?“ Ich wusste, dass es so besser war, dass ich mich darüber freuen sollte, dass ich losgelassen worden war - doch so hatte ich es nicht gewollt. „Ja.“ Er schaute mich weiter an, sein Blick final, und zum ersten Mal in Monaten fühlte ich eine echte Unruhe in mir aufsteigen. „Das war es also?“ Er nickte. „Wenn du den Rest deiner Sachen später abholen willst, hast du ja noch den Haustürschlüssel.“ Und er war traurig, zumindest ein wenig; das konnte ich sehen, denn seine Unterlippe zitterte. Vielleicht war er auch sehr traurig, wenn ich seine verkrampften Finger noch recht vor Augen habe… Ich nickte ebenfalls und drehte mich um; die Klinke in der Hand, stoppte ich und fragte mich, ob ich nicht doch all die Dinge sagen sollte, die in mir schlummerten, ihm meine Enttäuschung zeigen musste. Doch am Ende ging ich, weil seine letzten Worte mir den Boden unter den Füßen unsicher machten. „Wenn du wirklich bleiben wolltest, müsste ich dich nicht bitten.“ Kapitel 3: Hunger ----------------- „Keks?“, fragt die Frau im Spiegel. Mia schüttelt nur den Kopf und starrt aus dem Fenster. Sie hat jetzt keinen Hunger und wenn sie ehrlich ist, dann fühlt es sich so an, als könne sie nie wieder etwas essen. Sie hat sich schon lange nicht mehr so schlecht gefühlt, mindestens seit einem Jahr nicht mehr. Vielleicht sind es auch zwei; spontan fällt ihr nur der Samstagabend mit Mark Imhoff vor mehr als sechszehn Monaten ein. Jahrelang hatte sie darauf gewartet, dass er sie vielleicht ansprechen, einladen würde, und als dann die Abifete des 09-Jahrgangs bevorgestanden hatte, war sie sich sicher gewesen, dass er es endlich tun würde. Schließlich kannten sie sich schon seit dem Kindergarten und waren immer in dieselbe Klasse gegangen; außerdem kam seine Familie jeden Sonntag zum Kaffee vorbei. Sie hatte auch immer diese Verbindung zwischen ihnen gespürt, dieses besondere Etwas, das ihr Herz schneller schlagen ließ. Jedes Mal, wenn sie einen seiner Blicke auffing, wurde sie rot und musste unwillkürlich lächeln und jedes Mal freute sie sich über seine Zuwendung. Also wartete Mia darauf, dass Mark sie fragen würde, und zwei Tage vor der Feier war es so weit gewesen: Er fragte. Luisa Schmidt. Mark hatte Luisa gefragt. Und in Mia war etwas zerbrochen, etwas Großes, aus dem bei Nacht verkrampft Tränen flossen. Damals hatte sie sich vor den Spiegel gestellt und sich gefragt, warum Mark sich für Luisa entschieden hatte. Sicher, auch sie hatte Luisa gemocht, alle mochten Luisa, gerade die Jungen, Luisa mit ihren langen, dünnen Beinen, dem flachen Bauch, dem süßen Busen und dem ansteckenden, weißen Lachen. Luisa mit ihren lockigen, dunklen Haaren, der weichen Haut und den braunen Augen. Luisa mit ihren dummen Miniröcken und billigen Ausschnitten, den hohen Schuhen und grellen Farben. Danach hatte Mia Luisa nicht mehr gemocht; was war das überhaupt für ein Name? Luisa, Luisa, Luisa, Luisa – je öfter sie ihn wiederholt hatte, desto dümmer hatte er geklungen. Dann war sie lange nicht mehr so niedergeschlagen gewesen; sicher, die Fünf in Englisch, die ihr nicht nur eine Standpauke ihrer Lehrerin, sondern auch ein heftiges Gespräch mit ihren Eltern beschert hatte, war nicht weit davon entfernt gewesen. Aber das lag weniger an der Note, als an ihrem Vater, dem nach Jahren der Mittelmäßigkeit mit einem Mal der Kragen geplatzt war und der ihr erklärt hatte, dass sich nur zwei Sorten von Menschen schlechte Noten leisten konnten: Besonders Schöne und Genies. Er hatte auch keinen Hehl daraus gemacht, dass sie zu keiner dieser Gruppen gehörte. Aber darüber war sie hinweg gekommen. Im Nachhinein muss sie sich sogar bei ihm bedanken, denn seine Ehrlichkeit hatte ihr die Augen geöffnet. Es waren kleine Misserfolge gekommen, Zurückweisungen, die sie aber durchaus verstand; sie hat eingesehen, dass sie mit aller Anstrengung zwar oberes Mittelmaß sein konnte, der Schritt darüber hinaus ihr aber verwehrt bleiben würde. Deswegen hat sie zwar manches Mal geschluckt, aber immer die Fassung bewahrt. Bis heute. Als sie in der Küche saß, mit Mama, Papa, Lutz und den Imhoffs. Am Kuchentisch. Als sie sich ein Stück Bienenstich auftun wollte und ihre Mutter ihre Hand genommen hat. „Mia, Schätzchen, hast du denn sicher noch Hunger?“ Mia hat zurückgelächelt, ein wenig irritiert, genickt und bejaht. Doch Mama hat ihre Hand nicht losgelassen; alle haben sie angeschaut. „Nun ja, Süße, ich will ja nichts sagen, aber du hattest ja schon eins. Und in letzter Zeit sieht man dir an, wie gerne du naschst...“ Papa hat sich geräuspert, Jürgen sich schnell die Kuchengabel in den Mund geschoben. Und Mark... Mark hat gelacht. Und Mia hat nur diese große Leere gespürt, dieses Gefühl, zu fallen, während sie sich zurück in den Stuhl sinken ließ. Und das macht sie jetzt wieder, während sie nicht sicher weiß, was dieses Gefühl in ihrem Inneren ist. Dann versteht sie es; sie hat Hunger. Sie hat immer Hunger. „Keks?“, fragt die Frau im Spiegel und dieses Mal greift Mia mit beiden Händen in die Packung. Kapitel 4: Emanzipation ----------------------- Darüber, was genau Emanzipation ist, haben Männer und besonders Frauen seit dem Mittelalter nachgedacht und diskutiert, ohne jedoch zu einem Konsens zu gelangen. Das mag naturgemäß daran liegen, dass sowohl die Beginen, als auch die Suffragetten oder Alice Schwarzer in unterschiedlicher Ausprägung einen Wandel im bestehenden System anstrebten und damit die traditionell leitende Männerriege verunsicherten, doch allein das reicht als Lösungsmodell nicht aus. Die Streitigkeiten zwischen den Frauen selbst, das Diskussionspotential innerhalb der weiblichen Bevölkerung wird damit nicht erklärt und auch ein Griff in die „historisch-verankert“ - Schiene löst diese Problematik nicht auf. Selbstverständlich hat es immer Frauen gegeben, die sich von der Auflösung des existierenden Frauenbildes bedroht fühlten, gerade weil sie ihre Kraft und ihr Leben darauf verwendet hatten, ihm zu entsprechen, und sich nun der Frage gegenübergestellt sahen, ob denn tatsächlich das, was ihren Stolz begründete, ein Fehler gewesen war. Doch in einer Zeit, in der Alice Schwarzer als eine „Männerhassende Pseudo-Emanze“ oder aber „schlicht denkende Übermutter“ bezeichnet wird, und das von Frauen, die die Emanzipation an sich begrüßen, muss nach anderen Ansätzen geforscht werden. Die Frage, an der sich die Geister heutzutage scheiden, ist in der Regel nicht jene, ob denn die Selbstbestimmtheit der Frau erstrebenswert sei, sondern die, wie sie sich äußere. Was ist Emanzipation? Ist Emanzipation die Freiheit der Frau, vormals frauenverachtendes, pornographisches Material geil zu finden und die Erniedrigung dadurch zu neutralisieren? Ist sie das Recht der Frau, sich mit Minirock und Ausschnitte selbst zum Objekt zu machen und dabei ein Gefühl der Freiheit zu empfinden? Ist sie die Macht der Frau, sich frei für ein Leben als Schmuckstück eines wohlhabenden Mannes zu entscheiden? Ist sie die Lust der Frau am Masochismus? Oder ist sie die Pflicht der Frau, sich vom herrschenden, kichernden Frauenbild ewiger Jugend und Schönheit zu befreien, auch wenn sie sich nach Anerkennung und den neuesten Trends der „Vogue“ sehnt? All diese überspitzten, polemischen Fragen, wiewohl aus der Realität gegriffen, können höchstens ein Anstoß zur Diskussion sein, geben aber keine Antwort auf die Überfrage. Im Grunde gibt es nur eine Sicherheit: Solange es Unterschiede gibt, wie die bei „karrieregeilen Frauen“ und „ehrgeizigen Männern“, wie die zwischen „Dorfmatratzen“ und „Stechern“, solange eine Frau ungeachtet ihres Intellekts und ihrer Leistungen mit der Feststellung, sie sei nicht attraktiv genug, deklassiert werden kann, solange die Bezahlung je nach Geschlecht, nicht nach Leistung variiert und niemand sich daran groß zu stören scheint, solange der Begriff „Emanze“ eher einer Beleidigung als einer Auszeichnung gleichkommt, solange Mädchen ihr Potenzial nicht offen nutzen, sondern eine „niedliche Schusseligkeit“ vorspielen müssen, um begehrenswert zu bleiben, solange mir spontan drei erfolgreiche Sitcoms einfallen, die eine schöne, intelligente Frau mit einem fetten Idioten zeigen, aber keine einzige, in der die Rollenverteilung andersherum ist, solange vorlaute Schüler cool, aber coole Schülerinnen unangenehm sind, solange erwachsene Frauen in TV-Formaten als Mädchen bezeichnet werden, solange das Idealbild eine mäßig erfolgreiche, nicht ehrgeizige, unbelastbare, aber niedlich hilflose Frau ist, deren Naivität an Dummheit grenzt, solange „Biss zum Morgengrauen“ als eine der größten Liebesgeschichten aller Zeiten und nicht als Darstellung einer kranken, unterdrückenden Beziehung wahrgenommen wird, solange Schönheitsoperationen einem Mann zuliebe gemacht werden, solange in Quizshows halbnackte Frauen und stattliche Mannsbilder vorkommen, solange man sich als Frau mit ironischen, kritischen Bemerkungen in einer Unterhaltung automatisch ins Aus schießt und bei politischem Hintergrundwissen die Weiblichkeit abgesprochen bekommt, solange geheucheltes Interesse und falsche Bewunderung die besten Waffen einer Frau sind, um einen Mann auf sich aufmerksam zu machen, solange man sich als Frau wider besseres Wissen an die falschen Bilder der Modeindustrie anzupassen versucht und beim Scheitern in Selbstzweifel gerät, solange man dann auch noch andere Frauen nach ihrer Kompatibilität mit dem herrschenden Ideal bewertet und das Fehlen von gewolltem „Sexappeal“ negativ notiert, solange hat die Emanzipation der Frau ihren Endpunkt noch nicht erreicht. Denn egal, was Emanzipation ist; das ist es nicht. Kapitel 5: Nebeljagd -------------------- Die Welt hat um ihn herum aufgehört zu existieren; alles ist versunken in ewigem, endlosen Grau. Es ist zu spät, um noch etwas daran zu ändern, und dennoch fällt es schwer, die Hoffnung aufzugeben. Vielleicht, weil er all die Jahre darum gekämpft hat, loszukommen, das weiche Nichts hinter sich zu lassen; vielleicht, weil niemand je verstanden hat, dass die Probleme nicht an, sondern in der Familie liegen. Er hat sich immer wieder vorgestellt, wie das sein würde, wenn er diese eine Person fände, die ihn in die Arme schließen und nicht verdammen, sondern ihm danken würde. Dem Anschein nach würde das nie mehr geschehen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl hier zu stehen, umgeben von dem weißen Nebel, in dessen Tropfen die Essenz seiner beiden Brüder, seiner Vaters, seiner Tanten und Onkel und seiner Cousins glänzen, merkwürdig und zugleich befreiend. Zumindest ist er nicht alleine, im Gegenteil, nach der harten Einsamkeit scheint er nun endlich nach Hause zu kommen. Für einen Moment verliert er sich in diesem Gefühl und lächelt. Dann, mit einem verzweifelten Ruck reißt er sich selbst aus dieser Illusion und versucht aufzustehen. Verdammt! Jetzt hat es also auch ihn erwischt. Heftig schlägt er sich selbst ins Gesicht, wieder und wieder, bis das Blut aus Nase und Mund rinnt und ein heftiger, aggressiv pochender Schmerz ihn vor den Versuchungen des Nebels schützt. Nur nicht nachgeben, ermahnt er sich und taumelt sichtlos über den steinigen Boden. Wenn er doch nur wüsste, wann er das Ufer aus den Augen verloren hat… Aber er weiß es nicht, und seine einzige Chance besteht nun darin, das Zentrum zu finden. Feuchtwarm kriecht der weiße Dampf unter seine Kleidung, umschmeichelt sein Gesicht, reizt die Synapsen seiner Haut, während er sich Schritt für Schritt vorkämpft und hofft, dass seine Erfahrung ihn in die richtige Richtung führt. Und wenn nicht, fragt es hämisch in seinem Kopf, was dann? Merken würde ich es wohl kaum, vielleicht ganz am Ende, bevor mein Körper sich auflöst und zu wässriger Luft wird, vielleicht würde ich dann begreifen, was geschehen ist, dann, wenn es zu spät ist… Doch für solche morbiden Gedanken hat er keine Zeit. Es ist irritierend den unebenen Boden unter den Füßen zu spüren und trotzdem mit den Augen nichts anderes wahrnehmen zu können als eine endlose Beschränktheit, irritierend und zugleich einschüchternd. Doch immer, wenn erst die Furcht und dann die Ruhe ihn zu überwältigen drohen, findet seine flache Hand oder der knochige Handrücken sein blutiges Gesicht. Nicht nachgeben, ermahnt er sich. Jetzt nur nicht nachgeben. Schließlich, endlich, nach einer Zeitspanne, die seiner Erfahrung nach nicht mehr als fünf Stunden und nicht weniger als fünfzehn Minuten umfassen kann, sich in seinem Empfinden aber wie Tage ausbreitet, spürt er ein sanftes Vibrieren und kann sein Glück nicht fassen. Hat er es wirklich gefunden? Je weiter er geht, desto mehr Widerstand spürt er, das graue Nichts verdichtet sich mit jedem Schritt. Es ist jetzt auch nicht mehr grau, sondern scheint immer gleißender, als nähere er sich einer kleinen Sonne; er lächelt grimmig, denn ihm ist bewusst, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. Inzwischen presst er seinen Körper mit Gewalt durch die immer solider scheinende Materie, deren Lockrufe ihn verführen wollen. Am Rande des Wahnsinns bricht er sich die Nase, um den letzten Rest Verstand zu konservieren, geht weiter, obwohl der Gegendruck ihm die Luft nimmt, presst, arbeitet, beißt sich die Zunge blutig um dem verhängnisvollen Wispern zu entgehen… Und mit einem Mal erfüllt ihn das Weiß, das Licht, der Nebel, er ist er selbst und zugleich ein Räuber von unglaublichen Ausmaßen, schnell, lautlos, unberechenbar, er spürt den Hunger, die Gier, die Glut in seinem Inneren die zu eine alles verzehrende Feuer wird, triumphierend auflodert und jede Menschlichkeit aus ihm vertreibt. Er ist alles, fühlt alles, spürt Felon und Ardo, Tolan, Risa und Loan, nimmt sie in sich auf, brennt weiter. Und dann, als er erfüllt ist und selber jeden Tropfen und jede Präsenz fühlen kann, wird er aus der Asche seiner Humanität wiedergeboren und badet im warmen Gefühl seiner Wut. Es wandelt sich, das Feuer in seinen Zellen, es wird tatsächlich sein Feuer und strömt durch seine Fingerspitzen, seine Zehen, durch jede einzelne Pore hinein in den Nebel, in jeden Tropfen, in jeden Winkel. Er verliert wieder die Kontrolle, doch dieses Mal ist es gut - dieses Mal ist er das Zentrum und der Neben vergeht in ihm. Und du kannst dir nicht die Beine brechen, denkt er hämisch, bevor er dem Nebel seinen Willen aufzwingt und ihn mit jeder Hirnzelle bekämpft. Es kann nicht länger als dreißig Minuten gedauert haben, doch er fühlt sich so erschöpft, als habe er Tage hier gestanden. Das graue Nichts ist verschwunden; er selbst lebt noch. Dieses Mal, wispert es in seinem Kopf, und ihm entgeht nicht, dass die Stimme eine Nuance dazugewonnen hat, ja, dieses Mal. Aber du kannst nicht immer gewinnen… Niemand kann immer gewinnen. Müde schüttelt er sich und versucht, das hämische Flüstern zu überhören. Seine Beine fühlen sich unsagbar leer an, sein Kopf dröhnt von den vielen Schlägen und seine Nase schwillt langsam an. Der metallische Geschmack in seinem Mund ist stechend und ihm wird bewusst, dass er nur auf einem Auge sieht. Hoffentlich ist es nur zugeschwollen. Doch er kann das nicht verifizieren, denn mit einem Mal sieht er eine Menschentraube, die sich ihm nähert. In ihren Gesichtern kann er lesen, dass auch sie es nicht verstehen werden, und so dreht er sich um und hofft, dass er genug Kraft aufbringen kann, um der Befragung zu entgehen. Er würde es ihnen gerne sagen. Es liegt nicht an, sondern in der Familie. Aber wer sollte ihm glauben? Die Nebeljagd hat ihn viel gekostet, und das, obwohl er immer versucht hat, sich dem Gesetz seiner Familie zu widersetzen. Er ist gar kein Jäger, hat nie dieselbe Empfindung von Pflichterfüllung gehabt wie die anderen Mitglieder seiner Familie. Für ihn ist es ein Fluch, kein Segen; nur darin unterscheidet er sich von seiner Familie. Darin, und dadurch, dass er lebt. Kapitel 6: Die Verurteilung --------------------------- Sie ist weg. Einfach so, spurlos verschwunden! Das kann nicht sein, das darf nicht sein, das… Ihm bricht der Schweiß aus. Wie soll er das erklären? Wem könnte er es? Und, viel wichtiger, wer würde es verstehen? Jedes Haar an seinem Körper ist aufgerichtet und er kann sich einfach nicht dazu bringen, still zu stehen. Keiner wird ihm glauben, dass weiß er schon jetzt, nur Sekunden nachdem er den Verlust entdeckt hat, keiner wird ihn unterstützen. Verdammt, wie konnte das nur geschehen? Er ist doch die ganze Zeit hier gewesen, direkt vor der Türe, nicht einen Moment hat er sich entfernt. Nur kurz eingenickt ist er, ganz kurz, vielleicht fünf Minuten oder zehn, auf jeden Fall nicht lange genug, damit sie verschwinden kann! Sein Atem rast inzwischen und er versucht verzweifelt, eine Spur ihres doch sehr prägnanten Geruchs zu finden. Sinnlos, hier riecht ja alles nach ihr, so sehr, dass er sich selbst nicht einmal wiedererkennen würde… Er will weinen und traut sich doch nicht, seine Zeit dafür zu verschwenden. Sie muss hier irgendwo sein, sie ist ja noch gar nicht alt genug, um weit weg zu laufen. Und wenn sie nicht gelaufen ist? Eiskalt wird ihm, und der Schweiß in seinem Haar verklebt. Bitte, nur dieses eine Mal, dieses eine Mal darf nichts geschehen sein. Wenn sie doch nur aus einer Ecke gekrochen käme, fröhlich vor sich herschnatternd, das wäre alles, was er will, alles… Doch dann riecht er es. Durch den penetranten Geruch, der alle seine Sinne verklebt hindurch, dieser warme, klebrige Duft des Eisens. Blut, denkt er, und in seinem Magen krampft sich alles zusammen. Ihr Blut? Er läuft, nein, rennt aus dem Schuppen, und bevor er überhaupt Geschwindigkeit aufnehmen kann, sieht er sie dort liegen. Hell schimmert ihre Haut, der Kopf ist grotesk nach hinten verdreht, die Augen starr; für einen Moment glaubt er, den Verstand verlieren zu müssen vor Traurigkeit und Angst. Die Erde um sie herum ist dunkel vom Blut, der Gegensatz zum bleichen Körper, ihr weißes Kleid liegt um sie herum verstreut. Sie ist tot, und niemand wird ihm glauben, ihm nicht. Hektisch greift er den schlaffen Körper und zieht ihn zum nahen Wald, versucht dabei, nicht auf das unschuldige Gesicht zu blicken und dem Gefühl des Verlustes keine Chance zu geben; und trotzdem will er vor Verzweiflung heulen. Doch das kann er nicht. Das darf er nicht. Schnell gräbt er ein Loch, so schnell, dass die Erde tief unter seine Nägel getrieben wird, wirft sie hinein und sammelt dann schnell die Reste des Kleides ein. Er will das nicht tun, aber niemand wird ihm glauben. Niemand kann ihm glauben, und deswegen gräbt er die blutige Erde um, bis nicht einmal er eine Spur finden würde. Dann läuft er auf ihr hin und her, bis sie wieder flachgetreten ist. Wie konnte das nur passieren? Plötzlich ist er daheim, verkriecht sich in seinem Bett und weiß nicht, wie er dahin gekommen oder wie spät es ist. Ob es nur ein Traum war? Aber nein, er kann die Erde unter seinen Nägeln im Dunkeln noch riechen. Die Angst sitzt wie ein Knoten in seiner Brust, und er versucht zu weinen, um sich zu erleichtern, doch das klappt nicht. Ob sie schon gemerkt habe, dass er und sie weg sind? Sie habe ihm vertraut, dieses eine Mal haben sie ihm vertraut; er hat er zunächst nicht glauben können. Misstrauisch hat er versucht, den Haken an der Sache zu finden, musste am Ende aber nachgeben, als sie ihn aus den dunklen Augen angeschaut hat. Ob sie es schon gemerkt haben? Er fängt wieder an zu zittern und vergräbt sein Gesicht zwischen den Beinen. So wartet er auf den Morgen. Und der Morgen kommt; mit ihm, noch bevor er in den Mittag übergegangen ist, kommen auch die Schritte auf dem Waldboden, die wütenden, lauten Stimmen. Die Anklage. „Fuchs! Du hast die Gans gestohlen!“ Er erkennt den Biber, doch kann sich nicht rühren. Wenn sie ihn haben wollen, müssen sie ihn holen. Das hohe Kreischen der Eule übertönt die zornigen Stimmen. „Gib sie wieder her!“ Nach und nach fallen sie alle in den fordernden Sprechgesang, bis nur noch er selbst schweigt. Kapitel 7: Morgenröte --------------------- Er glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können, und war für einen Moment sprachlos. Vermutlich hatte er sich verhört, denn sein Vater griff ruhig nach seinem Weinkelch und leerte ihn mit langen, durstigen Schlucken, als habe er die unmenschliche Kälte niemals gezeigt. Einzelne Tropfen flossen über die Mundwinkel herab und färbten den weißen Kragen. „Hast du sonst noch ein Anliegen, Sohn?“ Also hatte zumindest das Gespräch stattgefunden. Doch… „Das könnt ihr nicht so meinen, Vater!“ Mit einer kontrollierten Bewegung wischte sich der hünenhafte Mann mit einer Serviette die Flüssigkeit aus dem Gesicht. „Doch, genau so meine ich es. Und du wirst dich nun setzen, zu Abend essen und meine Geduld nicht länger strapazieren.“ Er fühlte sich, als habe ein heftiger Schlag ihm alle Luft aus den Lungen gepresst, nur das dieser Zustand nicht abklang. „Aber…“ „Ich werde dich nicht noch einmal bitten.“ Es kam ihm so vor, als habe man sein Empfinden vom Rest seines Körpers abgetrennt; doch unter dem tauben Gefühl spürte er erste Schlieren des kochenden Zorns. Also war es wahr was man sich erzählte. Medin hatte recht behalten, aller Hoffnung, allem Unglauben zum Trotz – ein bitteres Recht. Erst jetzt merkte er, dass Tränen in seinen Augen standen; hastig wischte er sie weg, bevor er sich neben seinen Cousin setzte. Der reichte ihm wortlos erst ein Taschentuch und dann den Wein, und es war ein Glück, dass er seiner Dankbarkeit keinen Ausdruck verleihen musst, denn er wusste nicht, ob man seiner Stimme trauen konnte. Und ein selbstgerechtes „Ich habe es euch gesagt“ hätte er nicht aushalten können – nicht, dass der schlanke junge Mann soetwas jemals von sich geben würde. Dass Medin so ruhig bleiben konnte! Menschen waren betroffen, Menschen würden sterben auf die abscheulichste Art und Weise, viele Menschen; wie konnte er da keinen Zorn spüren? Gerade Medin! Der Bogen lag schwer auf seinen Schultern, und im ersten Moment sah er seinen hochgewachsenen Cousin nicht. Dann entdeckte er ihn, direkt bei den Ställen, zwischen den Burschen; ruhig saß er dort auf einem Strohballen und sprach mit dem Aufseher. Vermutlich ging es um die neuen Unterkünfte für die Bediensteten; Medin hatte die Planung derselben auf sich genommen. Als der junge Mann aufblickte und ihn sah, erhob er sich sofort und schritt in seine Richtung, den eigenen Bogen lock er über die Schultern geschwungen. Das helle Sonnenlicht schien hell auf das schwarze Haupthaar, der sichere Gang und das ebenmäßige Gesicht gaben seinem Auftritt etwas beinahe königliches. Ein Stich durchfuhr ihn, und er wusste nur zu gut, dass es Neid war, jener Neid, der aus seiner Bewunderung entsprang und den er immer zu bekämpfen versuchte, aber nie völlig bezwingen konnte. Das dunkle Leder umschloss die festen Muskeln, und für einen Moment hatte er das Gefühl, dass der Blick etwas zu wissend war – dann reichte Medin ihm die Hand. „Seid gegrüßt, Christobal.“ Die distanzierte Höflichkeit war ihm, wie immer, ein wenig unangenehm; doch er wusste, dass es der angemessene Tonfall war. Immerhin war er der Kronprinz, und er würde es auch bleiben, ganz gleich, wie sehr er selbst sich seinen Cousin auf dem Thron wünschte. „Guten Morgen.“ Gemeinsam schritten sie über den Hof; Staub wirbelte auf und setzte sich in ihrer Kleidung und auf der Haut fest. Der Übungsplatz war nicht weit entfernt, und doch konnte Christobal sich nicht zurückhalten; sein Unverständnis überrollte ihn. „Wie kannst du ruhig hinnehmen, dass mein Vater das tut?“ Medin blickte ihn ruhig an. „Er ist der König.“ „Aber er irrt sich! Es ist nicht in Ordnung, es ist nicht richtig und es wird die Ehre unseres Hauses auf Ewig beschmutzen!“ Sie hatten das Übungsfeld erreicht; mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung nahm Medin einen Pfeil auf, zielte, und entließ ihn in die Freiheit. „Er ist der König, Christobal.“ Selbstverständlich traf er sein Ziel. Seine Wange brannte, und er wusste, dass der Abdruck der Hand seines Vaters rot in seinem Gesicht glühte. Die Blutung seiner Nase hatte er behelfsmäßig gestillt; trotzdem schmeckte er Metall auf seiner Zunge. Das durfte er nicht tun! Nicht einmal ein König hatte das Recht dazu. Oder? Niemand durfte das Recht dazu haben, das war schlicht unmenschlich. Wut und Hilflosigkeit vermischten sich in seiner Brust zu einem ätzenden Klumpen, und er beeilte sich, in sein Zimmer zu gelangen. Fast hätte er dabei Medin übersehen, der sich leise mit den Wachleuten beriet und dabei beinahe im Schatten des Ganges verschwand. Als sich ihre Blicke kreuzten, blitze in den hellgrünen Iriden kurz etwas auf, was Christobal nicht zuordnen konnte – Sorge, Furcht, Zorn?- und Medin verabschiedete sich von den Männern, um auf ihn zu zu schreiten. Kräftige Finger hoben sanft sein Kinn an; besorgt betrachtete sein Cousin die malträtierte Wange. „Ihr solltet euch nicht mit dem König streiten.“ Wieder stiegen Christobal die Tränen in die Augen, vor Wut, vor Enttäuschung – weil es einfach nicht gerecht war. Und weil er gehofft hatte, Medin würde seinen Widerstand gutheißen. „Aber er irrt sich, egal ob er der König ist oder nicht – er irrt sich!“ Die Hand des älteren Mannes legte sich auf seine Schulter. „Er ist dein Vater.“ „Und er ist im Unrecht!“ Er spürte, wie Hitze in sein Gesicht stieg, und der Zorn schlug mit einem Mal in Verzweiflung um. „Er wird sie opfern! Er wird tausende Menschen als Schutzschild missbrauchen, ohne ihnen die Unterstützung der Garde oder der Magier zur Verfügung zu stellen – er wird sie an vorderster Front lassen, ohne Information, er wird sie opfern, Medin, er wird sie sterben lassen. Sie werden getötet wegen taktischer Erwägungen, ohne jemals eine Chance gehabt zu haben, ohne…“ Der Griff an seiner Schulter wurde fester. „Er ist dein Vater und der König.“ Damit nickte er ihm zu und drehte sich um, ließ den Thronerben alleine zurück. Christobal konnte es immer noch nicht glauben, die Gefasstheit, die Ergebenheit, die Ruhe, die der wenige Jahre ältere Mann in dieser Sache an den Tag legte – und es schmerzte ihn. Gerade Medin sollte ihn verstehen. Gerade er. Fast schaffte er es nicht mehr in sein Zimmer, bevor die Dämme brachen. Er musste sich ein Schwert besorgen; eine andere Möglichkeit schien es nicht mehr zu geben. Aber wie sollte er das tun, ohne dass sein Vater es erfuhr? Es waren noch einige Wochen, bis das Ultimatum auslief, doch Christobal wusste, dass er sich bald entscheiden musste. Wenn er an die Front gelangen konnte, dann jetzt. Aber wie sollte er das anstellen, bestraft, gedemütigt, eingeschlossen in seinem Zimmer? Und dann war er sich auch nicht sicher, ob er das wirklich wollte. Ob er bereit war, sein Leben zu zerstören für diese Sache, sich gegen seinen Vater zu stellen… Und wenn es nun nichts nutzte? Wenn die feindlichen Truppen dennoch über die Dörfer herfallen würden, wenn er die Bewohner nicht dazu bringen konnte, es ihm gleich zu tun und des Königs Befehle zu missachten? Dabei wollte er das nicht tun, er wollte seinem Vater nicht widersprechen. Aber… Konnte er einfach hier sitzen und abwarten, wissend, was wenige Stunden vom Schloss geschah? Und auch, wenn er jetzt glaubte, es zu können – wäre ihm das auch noch möglich, wenn es tatsächlich passierte? Stimmen vor seiner Kammer unter brachen seine Gedanken, und Christobal erhob sich vorsichtig. War das Medin? Leise öffnete er die Türe und spähte hinaus in den Gang; auf der Treppe stand in der Tat sein hochgewachsener Cousin, wie immer gekleidet in einfaches, weiches Leder und eine leichte Tunika, und unterhielt sich mit einigen Männern, die die gelben Farben der Stadträte trugen. Als er ihn bemerkte, lächelte er und beendete seine Konversation, um zu ihm zu kommen. Christobal wusste nicht genau, was er zu erwarten hatte, doch halb hoffte er, jetzt endlich die Unterstützung des Kämpfers zu bekommen. Stattdessen schloss Medin die Tür hinter sich und schaute ihn ernst an. „Ihr solltet eurem Vater nicht immer widersprechen.“ Christobal blickte erst zu Boden, konnte sich dann aber erneut nicht beherrschen. „Wieso tust du denn nichts? Warum sagst du ihm nicht, dass er so nicht handeln darf?“ „Weil er der König ist.“ Der Prinz versteifte sich kurz, ballte seine Hände zu schweren Fäusten und musste den Blick aus dem Fenster richten, um die Beherrschung nicht gänzlich zu verlieren. „Aber gerade als König darf er das nicht!“ Medin seufzte und ließ sich mit einer Bewegung, deren Eleganz Christobal im Stillen zugleich beneidete und bewunderte, auf einem Stuhl nieder. „Das ist nicht an dir zu entscheiden; er ist der König, und er muss wissen, was er darf und was nicht. Nur er. Ihr…“ Christobal hatte sich ebenfalls gesetzt, sprang nun aber auf und unterbrach ihn. „Aber…“ Mit einem missbilligendem Blick und einer schnellen Handbewegung brachte ihn Medin zum Schweigen. „Ihr habt euer vierzehntes Jahr noch nicht vollendet. Für ihn seid ihr nichts weiter als ein Kind, und viel mehr als das seid ihr auch noch nicht.“ Wieder wollte Christobal etwas einwenden, doch sein Cousin schüttelte den Kopf. „Ihr seid noch zu jung, um euch gegen die Politik zu stellen. Versucht, eure Fassung zu bewahren; was wollt ihr anderes tun?“ Christobal spürte, wie seine Kehle eng wurde; Scham und Hilflosigkeit ließen jede Erwiderung aus seinem Kopf verschwinden. Er starrte nur die hochgewachsene, schöne Gestalt seines heimlichen Helden an und wünschte sich, er würde ihn bestärken, irgendwie. Aber er war ja nur ein Junge. Medin strich ihm leicht, fast sanft über das Haar und lächelte. „Ihr solltet schlafen. Der König wird morgen mit euch reden wollen – und reden ist alles, was ihr tun könnt, um den Wind der Veränderung zu entfachen.“ Für einen Moment flackerte Hoffnung ob der Betonung des Satzes in Christobal auf und er wollte Fragen, was denn der Ältere selbst tat, um diesen Wind herbeizurufen; doch dazu fehlte ihm dann die Courage. Er konnte nichts tun. Vater hatte entschieden, hatte als Herrscher entschieden, und er als sein Erbe durfte nicht im Streit mit ihm stehen. So sehr es ihn schmerzte, so sehr sich sein Gewissen wand unter der Last seines Nichtstuns, er musste warten und versuchen, seinen Vater davon zu überzeugen, die Taktik zu ändern. Aber wie sollte er das schaffen? Und wenn es ihm nicht gelang – konnte, durfte und wollte er dann einfach alles geschehen lassen? Nein, das wusste er; zu sehr hatte er die Helden in den Sagen bewundert, die Helden des Volkes, seinen Helden, Medin, der stets eine Lanze für die Belange des Volkes brach. Aber was waren seine Möglichkeiten? Kaum erlangt, wankte seine Entschlossenheit zur Aufgabe seines Widerstandes schon, und Christobal wollte sich am liebsten zu Boden werfen. Einfach die Augen schließen. Vergessen. Doch natürlich tat er das nicht, sondern schritt über die weitläufigen Wiesen. Das feuchte Gras unter seinen Füßen erinnerte ihn daran, dass der Morgen noch nicht zu seiner vollen Größe gewachsen war; noch leuchtete der Horizont in Violett und Purpur, und der Fluss schlängelte sich im Licht des erlöschenden Mondes wie eine silberne Schlange durch die Gärten. Plötzlich sah er am Ufer zwei Silhouetten im Zwielicht; die eine war ihm fremd, doch sie trug das dunkle Braun der Landarbeiter, die zweite dagegen hätte er in ihren geschmeidigen, schnellen und doch kontrollierten Bewegungen stets wieder erkannt. In ihm stieg mit einem Mal eine dunkle Ahnung empor, ein Vorbote einer noch nicht geschriebenen Zukunft, der ihn frösteln ließ. Mit einem Mal verschwand die stille Schönheit des Halbmorgens und ließ ihn zitternd in der Kälte der gerade vergehenden Nacht zurück. Medin hatte ihn gesehen, und er hatte es bemerkt; das war ihnen beiden bewusst. Nach wenigen Momenten verließ der Fremde das geheime Treffen –denn nichts anderes hätte es sein können – und der junge Mann setzte sich an das Ufer der Alre. Christobal wusste nicht, ob er mit ihm sprechen wollte, ob er ihm erzählen sollte von der Vorahnung, die ihn überkommen hatte, doch seine Füße fanden von ganz alleine den Weg hinab. Er konnte jetzt nicht fortlaufen; Medin würde ihn für einen Feigling halten. Zu bald setzte er sich, und spürte die warme Kraft, die auf ihn abstrahlte. Für lange Minuten schwiegen sie beide, den Blick im weiten Himmel verloren. „Was tust du nun, Medin? Für die Veränderung?“ „Ich sähe den Wind.“ Seine Stimme klang so ruhig, so ehrlich, dass Christobal sich nicht vorstellen konnte, dass sein Cousin jemals etwas Falsches oder Gefährliches machen würde; und trotzdem ließ ihn dieses ungewisse, schlechte Gefühl nicht los. „Und…“ Er stockte; wollte er das wirklich fragen? Wollte er es wissen? „Und was?“ Zum ersten Mal hatte der Prinz das Gefühl, wie ein Gleichgestellter behandelt zu werden, nicht wie ein blutjunger Thronfolger; vielleicht hatte er deswegen den Mut, seine Zweifel auszusprechen. „Ist das nicht gefährlich?“ Die Sonne war inzwischen etwas höher gestiegen und ließ ein weiches Licht auf die ebenmäßigen, ausdrucksstarken Züge Medins fallen. Er lächelte. „Solange wir keinen Sturm ernten.“ Medin hatte gelächelt; doch Christobal war sich nicht sicher, ob es ein Ausdruck der Freundlichkeit oder der Trauer gewesen war. Kapitel 8: Werbepause --------------------- Das seichte Plätschern der elektronischen Klaviermusik, die das Fallen runder, großer, „makelloser“ Kaffeebohnen begleitet, leitet im selben Moment auch die Werbepause ein. Schon wieder? Mirko will nach der Fernbedienung greifen, das erkenne ich, doch der Gedanke, die folgenden acht Minuten mit sinnlosem Herumgezappe zu verbringen, lässt mich schaudern und ich bemühe mich, ihm zuvor zu kommen. Und ich schaffe es auch; mühsam unterdrücke ich ein hämisches Lachen. Mirko lehnt sich zurück, und obwohl er versucht, sich selbst den Anschein absoluter Ruhe zu geben, erkenne ich am Muskelspiel seines Kiefers, dass er wütend ist. Genüsslich schalte ich den Ton ab und starre auf die sich nun lautlos entfaltenden Bilder; inzwischen flackert ein Baby auf dunkelblauer Decke über den Bildschirm. Mirko schnaubt verächtlich und greift nach der Chipstüte. Sein lautes Knuspern begleitet den Auftritt von Schafen, die gegen einen Bindenrand laufen; was von beidem nun stupider ist, kann ich nicht sagen. In der Stille klingt so oder so alles merkwürdig laut, vor allem sein Snack, deswegen muss ich mich eigentlich für ihn entscheiden. Fast bin ich froh über das Klavierspiel Frau Borowskis, unsere Nachbarin, einer Ärztin, die scheinbar jede freie Minute am Instrument verbringt und mich damit regelmäßig in den Wahnsinn treibt. Wie gesagt: Fast. Und wieder muss ich mich fragen, ob die alte Frau denn keinen anderen Lebensinhalt hat; soweit ich weiß ist sie mit einem Griechen verheiratet und hat drei oder vier Kinder, von denen mindestens zwei noch in ihrem Haus wohnen. Und trotzdem spielt sie gefühlte siebzig Stunden in der Woche, immer spät, immer nach Feierabend; das muss ihr doch irgendwann langweilig werden? Mirko langt noch einmal geräuschvoll in die Tüte, bevor er sie auf den Tisch wirft und nach seinem Bier greift. Ein bisschen wie ein Assi, fällt mir nicht zum ersten Mal auf, und wieder bin ich froh, dass niemand außer mir ihn so sieht. Kleine Bratzen werben unterdessen für Kinderschokolade, und ich habe Lust, mir selbst etwas aus dem Schrank zu holen. Aber dafür muss ich die Treppe hinuntersteigen, und ich habe heute endlich mal die große Couch für mich – das zu riskieren ist mir ein Schokoriegel nicht wert. Wie lang kann so eine Werbeunterbrechung eigentlich dauern? Das müssen doch mindestens acht Minuten gewesen sein, oder? Aber über den Bildschirm läuft ein verboten gut aussehender Mann, der dem Zuschauer tonlos irgendetwas erzählt; wenn ich mich richtig erinnere, geht es in dem Spot um eine Versicherung. Erotisch… Mirko kratzt sich an der Nase. Das kann ich zwar nicht sehen, weil mein Blick noch immer auf den Bildschirm gerichtet ist, aber hören; außerdem kenne ich ihn inzwischen gut genug. Das ist irgendwie ekelig. Gleich wird er sich bestimmt wieder Reste aus den Zähnen puhlen – immer wenn er das macht, habe ich das Gefühl, gleich kotzen gehen zu müssen. Die Frau im Fernsehen hat das Problem offensichtlich nicht, so debil grinsend wie sie das Waschmittel in die Kamera hält… Aber vermutlich sollte ich froh darüber sein, das Mirko nicht über irgendwelchen Mist redet, das macht er nämlich gerne in den Werbepausen, wenn er nicht gerade zappt. Das Fernsehen bekommt ihm gar nicht gut, und zwar nicht nur seinem Charakter, sondern auch seiner Physis; gerade jetzt fällt mir der Ansatz eines Bäuchleins auf, den er vor einigen Wochen mit Sicherheit noch nicht gehabt hat. Frau Borowski spielt noch immer, und der Fernseher zeigt kleine Bakterien, die sich vor dem heldenhaften Toilettenreiniger fürchten. Meine Güte, klüger wird die Werbung aber auch nicht! Es folgen drei Spots für diverse Verdauungsprobleme und ich muss mich schon darüber wundern, wie besessen meine Gesellschaft davon ist… Mirko krault inzwischen selbstverliebt die Haare auf seinem Bein, die er durchaus mal wachsen könnte. Aber nein, das würde dem allabendlichen Bild ja den Eindruck totalen Verfalls nehmen. Die Werbung für einen Fertigkaffee, die ich ziemlich gut gemacht finde, beginnt, und ich bin fast versucht, den Ton wieder einzuschalten, denn der gehört irgendwie dazu. Aber dann stelle ich mir vor, was Mirko dazu sagen wird, und lasse es sein. Endlich beginnt danach aber die senderinterne Vorschau, und ich schalte den Ton wieder an. Na endlich, wurde aber auch Zeit! Das waren mit absoluter Sicherheit mehr als acht Minuten, die Sender werden auch immer dreister… Dann, nach all der Werbung, Vorschau und Eventlobpreisung läuft einer Wiederholung der letzten Szene. Ich lehne mich zurück und strecke die Beine aus, während Mirko sich die Chipstüte wieder schnappt. 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