Himmelstreben von Arcturus (Willst du leben, Anders Bordalen?) ================================================================================ 3 - Er nahm die Dampfbahn zurück in die Neustadt. Vermutlich glich sein Erscheinungsbild dem der armen Schweine, die ihr Geld in die Falschen investiert und nun alles verloren hatten. Im Grunde fühlte er sich auch so. Wenn er auf seine Hände blickte, dann verstärkte sich ihr Zittern nur noch, deshalb tat er es nicht mehr. Er war froh, dass der aufsteigende Nebel und der Dampf des Vorderantriebs die Scheibe beschlugen, seitdem sie den Rhein überquert hatten, und er sein Spiegelbild nicht mehr anschauen musste. Vermutlich sah sein Gesicht so aus, wie sich seine Hände fühlten. Die Bilder, die er mit der Sicht gesehen hatte, verfolgten ihn nach wie vor. Es war noch schlimmer als der Tag, an dem sich ihm die Sicht zum ersten Mal geöffnet hatte. Damals war sein Lehrer und Oheim bei ihm gewesen und hatte ihn anleiten und beruhigen können. Heute konnte niemand verhindern, dass die Kälte in ihm hoch kroch und er ihr schutzlos ausgeliefert war. Hier würde auch keine Hexerei helfen. Magie folgte Regeln. Und diese Regeln konnte niemand brechen. Er konnte keine Wärme entfachen, nicht ohne eine Hitzequelle, und diese trug er nicht bei sich. Andere Methoden boten lediglich an, dem Geist Wärme vorzugaukeln und dem Körper das Erfrieren angenehmer zu machen. Er konnte gut auf derlei verzichten, auch wenn das nicht den gängigen Klischees entsprach. Die Bahn hinter sich zu lassen nahm ein wenig den Druck. Er saß nicht mehr auf der harten Bank, die in seinen Rücken stach und wurde nicht mehr von einer Glasscheibe bedrängt, die ihm sein Spiegelbild zu zeigen vermochte. Nun war es wieder kalt, weil es kalt sein musste. Zumindest konnte er sich das einreden. Der Schnee auf seinem Weg war pampig und zerlaufen. Er mochte im Tintenkleckserviertel wohnen, in dem nicht ganz so viele mittellose Arbeiter hausten, wie sonstwo, aber auch hier ergab sich am Tage viel Verkehr. Und auch der Schnee auf den Dächern war nicht mehr weiß – Abgase färbten ihn schmutzig grau und ließen ihn im Licht des Abends noch dreckiger wirken. Gerade jetzt war es nur noch das noch vorhandene Licht, das ihn daran erinnerte, dass sie August hatten – nicht Anfang Dezember. Für einen Moment hielt er inne, um sich zu sammeln. Wenn er nach Hause kam, wollte er weder Magdalena verunsichern, noch den kleinen Konrad, der seine Fähigkeiten geerbt zu haben schien. Dieses Erbe war der Grund, weshalb er zu seiner kleinen Familie stand. Die Anlagen zur Hexerei mussten gepflegt und kultiviert werden, bereits von Kindesbeinen an. Niemand konnte dies besser, als ein leiblicher Verwandter, bei dem es sich in diesem Falle um ihn handelte. Zudem war da noch die Liebe, die ihn mit seiner jungen wie klugen Frau verband. Er hätte weniger Sorgen ohne Familie. Eigentlich war er zu jung gewesen, als er Magdalena, die Tochter eines einfachen Händlers, geheiratet hatte, ebenso wie sie viel zu jung gewesen war, als er sie schwängerte. Dennoch konnte er sich ein Leben ohne die beiden nicht mehr vorstellen, auch wenn das bedeutete, dass sie hatten nach Köln ziehen müssen und nun vom Wohlwollen seines Bruders Ansgar lebten. Es war die Kälte, die ihn schließlich aus seiner Starre und nach Hause trieb. Von der Dampfbahnhaltestelle war es nicht weit und um die Zeit recht still. Die mitfühlenden Blicke ließ er mit der Haltestelle hinter sich. Als er in die Richtung seiner Wohnung ging, stellte er zufrieden fest, dass er sich zwar ein wenig steif fühlte, aber zumindest nicht mehr taumelte. Die Flecken auf seiner Weste verdeckte der Mantel und die Haare konnte er vielleicht noch mit dem Kamm ordnen. Sein neu gefundener Mut schwand, als er die Wohnungstür öffnete. Er musste noch schlimmer aussehen, als er bis jetzt vermutet hatte. Zumindest sagte das das Gesicht seiner Magdalena, die bereits im Flur auf ihn wartete. Sie trug das blaue Kleid, das ihm so sehr gefiel. Sicher hatte sie ihn erfreuen wollen, doch nun sorgte es nur dafür, dass er sich noch schlechter fühlte. Sie war tapfer genug, nichts zu sagen und einfach stehen zu bleiben, als er die wenigen Meter zu ihr überbrückte und sie an sich drückte. Auf seinem Weg stieß er sich an der Garderobe, doch es scherte ihn nicht. Bevor er die Tür geöffnet hatte, hatte er noch nicht gewusst, dass es wichtig werden würde, doch jetzt konnte er sich nicht vorstellen, ohne ihre Nähe zu sein. Für einen Moment gab es nichts wichtigeres, als sie an sich zu drücken, mit den Fingern durch ihre dunklen Locken zu fahren und das Gesicht an ihre Schulter zu legen. Er spürte ihre dünnen Finger, wie sie sich auf seine Schulterblätter legten, um die Umarmung zu erwidern. Es war das erste Mal, seitdem er vor dem Lufthafen die Sicht verdrängt hatte, dass die Angst nachließ. Eine zarte Wärme kroch über seine Haut, dort, wo sie sich berührten. Erst, als er leise Kinderfüße hörte, die darauf schließen ließen, dass Konrad der Anweisung seiner Mutter nicht Folge geleistet hatte und doch aus seinem Bett gestiegen war, als er die Tür hörte, atmete er ein letztes Mal tief durch und löste sich von seiner Frau. Tatsächlich stand sein Junge in der Tür, die zu den Privaträumen führte. Bereits im Nachtgewand und mit verstrubbelten hellen Haaren, die darauf hinwiesen, dass er schon geschlafen hatte. „Vater?“, fragte der Junge, als er sich der Aufmerksamkeit seines Vaters gewiss war. Der Kleine schluckte. „Habt Ihr auch ein Monster unter Eurem Bett?“ Die Angst kehrte zurück, als er ruhig im Bett lag. Er spürte, wie Magdalenas Hand noch immer an seinem Hals ruhte, dort wo sie liegen geblieben war. Lange hatten sie beieinander gelegen, zuletzt hatte sie nur noch sanft über seine nackte Haut gestrichen, über Gesicht, Nacken und Arm. Bedächtig war sie mit dem Zeigefinger die Konturen seines Gesichts nachgefahren und hatte ihm in einem leisen Tonfall von ihrem Tag berichtet. Sie war mit Konrad bei dem neuen Warenhaus gewesen, das vor ein paar Tagen in der Nähe eröffnet hatte. Ohne etwas zu kaufen hatten sie sich die Geschäfte angesehen und die feinen Waren, die dort angeboten wurden. Schmuck und Stoffe bestaunten sie dort und sogar ein wundervolles Kleid fanden sie, das leider viel zu teuer gewesen war. Ein Verkäufer im obersten Geschoss verkaufte Spielsachen. Dort hatten sie fliegende Miniaturnachbauten der Schiffe gesehen, die im Hafen lagen, mit der Wilhelm als Flaggschiff der kleinen Flotte. In dem Geschäft gab es auch kleine mechanische Ritter und einen großen Drachen, der die Klauen hob und das Maul aufriss. Dort wollte sie zu Konrads Geburtstag im Oktober nach einem Geschenk für ihn suchen. Am Ende ihres Ausflugs waren sie noch zum Laden der alten Trude gegangen und hatten sich ein wenig zum Naschen gegönnt und mit der alten Dame geschwatzt. So belanglos diese Erzählung auch sein mochte - sie verhinderte, dass er erneut zu zittern begann. Nun schlief sie und er hörte nur ihren gleichmäßigen Atem. Er hingegen lag wach und konnte nicht schlafen. Wenn er die Augen schloss, dann blieben die Bilder, die sich in seinen Kopf gebrannt hatten und nicht mehr weichen wollten. Wenn er die Augen öffnete, dann schwanden sie nicht, sondern legten sich wie eine zweite Welt über das Fenster, das ihm gegenüber lag. Kein Licht schien durch die Vorhänge. Nur ein fader Schein, der kaum zu erkennen war, ließ ihn Konturen erkennen. Die meisten Straßenlampen waren bereits gelöscht worden, und durch die dichten Wolken drang weder das Licht des Mondes noch das der Sterne. Er hörte, wie der Wind durch die Straßen pfiff und das Lärmen einer Gruppe Betrunkener bis zu ihnen trug. Er schloss die Augen erneut und seufzte leise. Weit entfernt pochte etwas, doch er ignorierte es. Wenn er sich morgen früh um den Talisman kümmern wollte, sollte er zumindest noch ein wenig schlafen. Er hatte seinem Kunden bereits vor ein paar Tagen mitgeteilt, dass er ihn bekommen würde, wenn die Victoria Adelaide einlief. Die Victoria Adelaide war eingelaufen, das wusste er und sein Kunde wusste es vermutlich auch. Vielleicht erschien er schon morgen bei ihm – und dann sollte er Ergebnisse vorweisen können. Es pochte erneut, dann war es wieder still. Diesmal übertönte es die blechernen Pendelschläge der Uhr, die Magdalena in die Ehe gebracht hatte. Sie liebte diese Uhr, ihr Bruder August hatte sie angefertigt und ihr zur Hochzeit geschenkt. Am Tage sah man das kunstvoll verzierte Gehäuse mit den winzigen Vögelchen und den Engeln. Sie repräsentierten die Musen, auch wenn das nur erkannte, wer wusste, was er sehen sollte. Zu jeder vollen Stunde spielte eine liebliche Melodie, nur in der Nacht schwieg sie, um den Schlaf des Paares nicht zu stören. Vorsichtig, um seine Frau nicht zu wecken, drehte er sich auf die andere Seite. Vor ihm zeichneten sich schwach die Konturen seiner Liebsten ab. Er sah ihr offenes Haar, das in Wellen über das Kissen fiel. Ihr friedliches Gesicht mit dem Mund, dessen Lachen er ebenso liebte wie die intelligenten Worte, die sie bei Feiern und im Umgang mit seinen Kunden zu sagen wusste, und ihren zarten Arm erkannte er neben der weißen Decke kaum. Hinter ihr hing ihre Uhr, deren Gehäuse er nicht auszumachen vermochte. Nur das kupferne Pendel sah er von der einen auf die andere Seite schwingen, wenn er sich darauf konzentrierte. Ein neuerliches Pochen störte den Takt. War das an der Eingangstür? Aber wer würde um diese Zeit noch stören? Selbst Ansgar und seine Elisabeth hatten die Geduld, um bis zum Frühstück zu warten, auch wenn es dringend war. War vielleicht etwas mit dem Haus? Immerhin roch er keinen Rauch. Neben ihm seufzte Magdalena unzufrieden im Schlaf, als höre sie das Pochen bis in ihren Traum. Missmutig strich er ihr eine Locke dunklen Haares aus der Stirn, dann setzte er sich vorsichtig auf und schwang die Beine aus dem Bett. Der Holzboden war kalt unter seinen Füßen. Die Kälte stieg auf in seine nackten Waden und kroch die Adern empor. Es pochte weiter. Irgendwer musste gegen die Eingangstür schlagen. Vielleicht brannte es doch? Er könnte die Sicht zurate ziehen aber... Hastig griff er nach den Hosen, die lagen, wo sie gefallen waren. Eilig warf er sich auch das Hemd über, das er nur fand, weil es über dem Bettpfosten hing, an dem er sich hoch stützte. Beides band er nicht zu, dazu fand er nicht die Zeit. Stattdessen hielt er sich beides nur notdürftig mit den Händen geschlossen. Leise öffnete er den Zugang zum angrenzenden Raum. Das Pochen war verstummt. Er schloss die Tür hinter sich und warf einen Blick zu Konrads Zimmer. Seine Tür war geschlossen, alles war still. Bei seinem Weg durch das Gesellschaftszimmer stieß er gegen das Kanapee. Ein Krachen im Flur hielt ihn davon ab, sich mit den in seiner Hüfte aufwallenden Schmerzen aufzuhalten. Fluchend legte er die letzten Meter zurück und riss die Flurtür auf. Die Wohnungstür stand offen. Durch sie drang das magische Licht, das er für Ansgar, der immer später heim kam, aufgestellt hatte. In diesem schwachen Schein zeichnete sich eine Person ab. Ohne nachzudenken hob er die Hand. Ein Kribbeln zog sich durch seine Finger, als sich Magie in ihnen sammelte. Im Gegensatz zu einigen anderen Leuten vom Fach nutzte er Gesten, keine Worte. Er öffnete sich der Sicht. Der Flur nahm Konturen an. In dunklem Braun schimmerten die Wände. Garderobe und Arbeitszimmer zeichneten sich ebenso ab wie die Dielen unter ihren Füßen. Purpurnes Glänzen formte einen Körper. Rote Tonfetzen schwebten zu ihm, als die Gestalt sprach. Dann erkannte er das leuchtende Pentakel. Die Erkenntnis brachte ihn ins Wanken. Er zwinkerte und die Sicht verließ seinen Blick. Zurück blieb nur ein Schatten dessen, was er gesehen hatte. Mühsam blinzelte er erneut. Ohne die Sicht brauchte er einen Moment, um wieder etwas in der Dunkelheit erkennen zu können. Der Ton setzte wieder ein. „...Александрович! Господин Александрович(7)!“, ertönte Jurijs entsetzte Stimme in der Dunkelheit. Statt ihn mit magischer Gewalt aus seiner Wohnung zu werfen, machte Anders ein paar rasche Schritte und griff den Jungen beim Kragen. In dieser Situation dachte er gar nicht daran, sein gesprochenes Wort auf Russisch auszuformulieren. „Was machst du hier?“, fragte er stattdessen. Seine fordernde Stimme zitterte leicht und er wusste nicht, ob es die Aufregung war oder die Wut. Vermutlich verstand der Junge ihn nicht. Für einen Moment stand er reglos da, wehrte sich nicht einmal gegen die grobe Behandlung. Im Schein des magischen Lichts weiteten sich seine Augen ein wenig. Dann hatte Jurij seine Worte geordnet. Er hob die Hände und griff nach Anders Armen. Der erwartete Befreiungsversuch blieb aus. Stattdessen bettelte er. „Please, Господин Александрович! Do not keep it! Throw it into the Рейн(8)! Do not keep it! Господин Александрович, please!“ Die Wut verrauchte wie bei einer Dampfmaschine, der man die Kohlezufuhr genommen hatte. Ruckartig ließ er den Jungen los und befreite sich aus seinem Griff. Der Junge folgte seiner Bewegung. Sein Griff blieb in Anders Hemd hängen, das ihm längst offen über die Schulter hing. Hinter sich hörte er ein leises Klappern, doch er drehte sich nicht um. „Wovon redest du? What are you talking about?“, fragte er ruppig und versuchte, Jurij von seinem Hemd zu lösen. Er wusste, dass Magdalena gleich durch die Tür kommen würde - was die Situation zweifellos weiter verkomplizieren würde. „Господин Александрович! Please! The talisman! Throw it away, please! Господин Александрович, it is nothing good. Please do not keep it!“ Bevor er etwas erwidern konnte, flackerte im Raum hinter ihm ein Licht auf. Leise Schritte näherten sich kurz darauf ebenso wie der Lichtkreis einer Kerze. „Anders?“, hörte er Magdalenas Stimme. Auch wenn er ganz genau wusste, dass sie versuchte möglichst ruhig zu sprechen, tönte die Anspannung unausgesprochen mit. „Ist etwas geschehen?“ Das Kerzenlicht fiel auf seinen Rücken und über seine Schulter. Sanft beleuchtete es auch Jurijs Gesicht und Brust. Erst jetzt erkannte Anders die dunklen Flecken, die sich auf der Weste des Jungen abzeichneten. Vielleicht war es nur Öl, aber in Anbetracht der Situation kam Anders dieser Gedanke lächerlich vor. Außerdem roch er kein Öl. Er kam nicht mehr dazu, eine Frage nach der Herkunft der Flecken zu stellen. Jurij, der Magdalena mit großen Augen angestarrt hatte, kaum dass er den Lichtschein bemerkt hatte, ließ sein Hemd los. Der Junge drehte sich auf dem Absatz um und rannte aus dem Flur. Anders Hand, mit der er nach ihm fassen wollte, griff ins Leere. „Please, Господин Александрович!“, schallte es noch aus der Eingangshalle, dann schlug die Vordertür zu. Anders unterdrückte den Impuls, ihm sofort zu folgen. „Es ist etwas passiert“, beantwortete er Magdalenas Frage, bevor sie diese stellen konnte. Hastig machte er nun doch einen Schritt vor, um nach seinen Schuhen zu greifen. „Diese Flecken...“, sagte sie ohne sich von der Stelle zu rühren. In ihrer Stimme schwang weder Ekel noch Angst mit. Sie war verwirrt, das hörte er, doch sie schien zu erfassen, was geschah. „Ich habe sie gesehen“, antwortete er, während er sich den rechten Schuh überzog. Er hatte keine Zeit, den Verschluss richtig zu schließen und ließ es bleiben. Rasch zog er auch den linken Schuh an. Schließlich erhob er sich wieder und griff nach dem Mantel. „Ich sehe nach, ob ich ihn noch finde. Mach dir keine Sorgen, Magda.“ Ohne auf ihre Antwort zu warten, warf er sich den Mantel über und folgte Jurij auf die Straße. Von dem Bengel war nichts mehr zu sehen. Seufzend öffnete er sich erneut der Sicht. Übelkeit legte sich über seinen Magen, als sie sich über seinen Blick legte, Konturen neue Festigkeit gewannen und Geräusche und Gerüche sich in seinem Sichtkreis manifestierten. Eine feine Linie zog sich durch das Gewirr – die Präsenz des Pentakels, die rasch verblasste. Er wartete nicht darauf, dass er die Spur verlor – er rannte. Das Pentakel verfolgte er durch die Heinsbergstraße nach Süden, bog in die nächste Straße nach rechts. Noch bevor er den kleinen Platz mit der Dampfbahnhaltestelle erreichte, in den sich die Straße öffnete, trat er beinahe aus seinen Schuhen. Nur ein unsicherer Schritt bewahrte ihn vor einem Sturz und er verfluchte sich für die Nachlässigkeit, sie nicht richtig geschlossen zu haben. Schwer atmend stützte er sich auf die Knie und hob den Kopf. Er brauchte einen Augenblick, um die Spur des Pentakels wieder zu finden. Hier am Platz waren die Laternen noch entzündet und blendeten ihn mit ihrem hellen Licht. Die Spur indes war dünner geworden. Leise seufzte er. Er hätte Jurij keinen dermaßen großen Vorsprung lassen dürfen. Jetzt würde er ihn jedenfalls nicht mehr einholen. Schritte erklangen hinter ihm. Er sah auf, in der Hoffnung, den Jungen zu sehen, doch die Schritte gehörten selbigem nicht. Sie waren schwerer und schlurfend, so als trugen sie wesentlich mehr Masse. Die Person zu der sie gehörten, war bedeutend bulliger, als der schmächtige Jurij. Irritiert erhob Anders sich, um der Gestalt besser entgegen schauen zu können. Die Sicht überlagerte sein Blickfeld noch immer. Sie flackerte leicht, als er versuchte, den Neuankömmling zu erkennen. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es sich bei dem Fremden nicht um einen einfachen Passanten, sondern um Friedrich Severin Pahlke handelte – seinem Kunden, dem er den Talisman zu besorgen versprochen hatte. Die Frage, was dieser um diese Zeit hier zu suchen hatte, streifte seine Gedanken nur flüchtig. Er tat es als Zufall ab, immerhin wohnte der Mann nicht weit entfernt. „Geht es Ihnen gut?“, fragte Pahlke schließlich, als er Anders erreichte. Sein Tonfall verriet, dass er die Szene – zumindest das Stolpern – gesehen haben musste und Anders' durchwühlte Kleidung zu deuten versuchte. Für einen Moment stockte der Mann, dann fügte er hinzu: „Herr Bordalen? Was machen Sie um diese Zeit auf der Straße?“ Anders nickte nur. Er brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen und in eine geeignete Reihenfolge zu bringen. „Es fehlt mir nichts, Herr Pahlke. Ich hatte lediglich eine Begegnung mit einem jungen Mann. Ich fürchte, ich habe ihn ein wenig verschreckt.“ Sie schwiegen für einen Moment. Pahlke nahm die Ausrede hin, auch wenn er einen ausgesprochen skeptischen Blick, erst auf seine Taschenuhr, dann auf Anders Kleidung warf. „Ich verstehe“, sagte er schließlich. „Verzeihen sie mir meine Unverfrorenheit, aber da ich Sie gerade antreffe, dürfte ich fragen, ob sie ihn haben?“ „Den Talisman?“ Nun, da er an diesen erinnert wurde, spürte er das Gewicht des Amuletts und seiner Kette in der Tasche seines Mantels. Vermutlich aufgrund des Schrecks beim Lufthafen musste er vergessen haben, ihn ins Arbeitszimmer zu bringen. Dennoch würde er ihn seinem Kunden noch nicht geben – nicht an diesem Ort, nicht zu dieser Uhrzeit und nicht, wenn er gerade aussah, als hätte seine Liebste ihn unsanft aus dem ehelichen Bett geworfen. „Wie es sich trifft, habe ich ihn heute erhalten“, antworte er stattdessen. Dabei japste er noch immer ein wenig. „Wenn Sie es wünschen, kann ich ihn Ihnen morgen übergeben.“ Pahlkes Antwort hörte er nicht. Ein lauter Schlag, der ein Schuss sein mochte, übertönte die Worte und dröhnte in seinen Ohren. Er spürte weder den Schmerz, als ihm die abgefeuerte Munition die Lunge zerriss, noch den Aufschlag als er fiel. Er sah das Pflaster der Straße nicht, auf der er zum Liegen kam. Er schmeckte auch nicht das Blut, das aus seiner aufgebissenen Zunge trat. Noch bevor er realisierte, was geschehen war, hörte er nur noch eine Stimme, die in jeder Faser seines Körpers klang. Und sie stellte nur eine Frage, denn es war nur eine Frage, die blieb. „Willst Du leben, Anders Bordalen?“ (7) Господин Александрович – Herr Aleksandrowitsch (8) Рейн – Rhein Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)