Himmelstreben von Arcturus (Willst du leben, Anders Bordalen?) ================================================================================ 2 - Anmerkung der Autorin: In diesem Kapitel tauchen Fußnoten auf. Ihr findet diese am Ende des Kapitels. Das Wetter war kalt und klamm, wie der November. Über der Stadt hing diese nasse Kälte mit ihren weißen Wolken, die noch mehr Schnee versprachen, als den, der vor ein paar Tagen gefallen war und der sich hartnäckig hielt. Mit den Wolken vermischten sich Dampf und Dreck der Maschinen zu einer undurchdringlichen Masse, die die Hoffnung auf einen baldigen Lichtblick nahm. Sie hatten Mitte August. Der Winter war furchtbar gewesen, das Frühjahr war nicht gekommen und der Sommer? Es gab Tage, da herrschte selbst am Mittag leichter Frost. Die anderen Tage wurden nicht sommerlich. Die Obstbäume hatten nicht geblüht, nirgendwo, und das meiste Getreide war kurz nach der Saat verrottet. Die Lager leerten sich im selben Maße, wie die Preise stiegen. Niemand wusste, warum diese Wetteranomalie sie heimsuchte. Eine Strafe Gottes für den Hochmut der Menschen, die es wagten, mit Maschinen zum Himmel zu fliegen und Gott gleich zu sein, hieß es vielerorts – gerade jetzt verkündete es wieder einer jener besseren Bettler, deren Wahlspruch nicht „Haste mal n Groschn?“ war, sondern „Das Jüngste Gericht kommt über uns, die Apokalypse wird über uns hereinbrechen und der Sohn Gottes zurückkehren...“ und so weiter und so fort. Natürlich hatte diese Mutmaßung ihre Berechtigung – den Verzweifelten gab sie Kraft, sich in ihr Schicksal zu fügen, den Predigern füllte sie die Taschen, sodass sie bis zum gepredigten Jüngsten Tag gut davon leben konnten. Leider war Anders Bordalen kein sonderlich religiöser Mensch. Ohnehin war er nicht besonders viel. Nicht besonders groß, nicht besonders begabt, nicht besonders reich, nicht besonders dumm. Er hing an dem Gold, das er verdiente und war der Meinung, dass es in seinen Taschen besser aufgehoben war als in den Händen der „Söhne Gottes“, die aus dem Boden sprossen wie die Kanalratten aus ihren Löchern. Natürlich hätte er die paar Mark, die er mit seinen Aufträgen verdiente und die nicht in die Lebenserhaltung flossen, auch in die Rachen der Wissenschaftler und Ingenieure werfen können, die zweifellos die glaubwürdigere Theorie hatten. Es war mit Sicherheit plausibel, dass die Gase der Luftschiffe, Eisenbahnen und Dampfmaschinen an ihrer Situation nicht unschuldig waren. Sie verbargen den Himmel bereits seit Jahren. Wo keine Sonne schien, dort wurde es kalt, das wussten auch Kinder. Nur waren Kurbelantriebe seiner Meinung nach auch keine Zukunft. Eine Uhr mochte man aufziehen können, aber ein Luftschiff wie die Victoria Adelaide nicht. Letztendlich war Anders Bardalen allerdings noch nicht in der Position, wirklich klagen zu dürfen. Die Stadt war wie ein Parasit, der sich vom Handel ernährte und es ging ihr gut damit – zumindest zu diesem Zeitpunkt. Er wusste nicht, wie lange sich diese Situation noch erhielt – aber wenn der Zeitpunkt, an dem dieses System kollabierte erreicht war, würde er sich fügen, weil nichts anderes blieb. Sein Fach war weder das Ingenieurwesen, mit dem er neue Technologien entwickeln könnte, ohne Kurbeln, noch die Naturkunde, die es ihm vielleicht ermöglichen könnte, widerstandsfähiges Getreide zu finden. Er war so hilflos wie die Arbeiter, Bäcker und Händler. Die Leute sahen dies selbstredend anders. Immerhin konnte er Brot aus dem Nichts erschaffen – oder zumindest so ähnlich. Dass dem nicht so war, verstand man nicht, war er doch ein „Mann vom Fach“. „Mann vom Fach“ vor allem, weil man die Bezeichnung für seine Tätigkeit nicht in den Mund nehmen wollte, weil es Unglück versprach, mit ihm zu verkehren. Er war ein Okkultist, ein Alchemist. Ein Hexer. Eigentlich eine wirre Mischung dazwischen, die es ihm erlaubte, von allem ein wenig zu sein – und nichts von alledem ganz oder auch nur ausreichend. Wenn man es genau nahm, war er eigentlich ziemlich armselig. Vermutlich würde man ihn aus einem Fenster werfen, wenn man verstand, dass auch sein Brot erst einen Bäcker benötigte, der es buk. Vielleicht warf man ihn auch gleich in den Rhein, insofern selbiger zu diesem Zeitpunkt näher lag. Wenn dies geschah, würde er sie ein weiteres – und zweifellos letztes – Mal enttäuschen: Er konnte weder fliegen noch schwimmen. Ohnehin enttäuschte er die Leute ausgesprochen oft. Sein Vater war Norweger, doch er war in Hamburg aufgewachsen und sprach hervorragend Deutsch. Er trug keine spitzen Hüte und keine dieser furchtbar unwürdigen Umhänge, die man – nicht zu Unrecht – seiner Zunft zuschrieb. Er kleidete sich zu modern für den allgemeinen Geschmack, obwohl es die Kleider waren, die man von einem Kaufmann, wie es sein Vater war, ebenso erwartete, wie von den Ingenieuren, zu denen sich sein Bruder Søren zählte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war das der Grund, warum die Leute aus seiner Wohnung verschwanden, kaum, dass sie diese betreten hatten. Wenn man ihn überhaupt aufsuchte und nicht gleich zu einem „echten“ Mann vom Fach ging. Einem mit großen Kugeln, bunten Bändern und absonderlich zugerichteten Gestalten in eingestaubten Gläsern, die einem die Wolken vom Himmel logen, aber zumindest sagten, was man hören wollte. Was aus diesen Menschen wurde, war ihm egal. Er würde gerne behaupten, dass ihm an jenen, die seine Angebote erfragten, etwas lag – aber das tat es nun einmal nicht. Diese Leute sorgten sich nicht um ihn und er hielt es genauso. Er besorgte, falls möglich und gut genug bezahlt, die gewünschte Magie. Dann ging jeder wieder seiner Wege. Was anschließend geschah, interessierte die jeweils andere Partei nicht mehr. Vor kurzem hatte er gehört, dass einer derer, die seine Kunden hätten werden können, Tage später tot im Rhein schwamm. Ohnehin starben heute viele Leute unnatürlicher Tode, hieß es zumindest. Vermutlich ließen sich die meisten Verbrechen völlig unspektakulär aufklären, ohne ein Fünkchen Hexerei. Allerdings behagte Anders der Gedanke daran, dass unter den Toten Leute vom Fach gewesen waren, nicht. Andererseits, so dachte er, glaubte man auch an das Jüngste Gericht und wusste, dass der Prediger zwei Ecken weiter der Sohn Gottes war. Genauso wie der Mann, der gerade an der Türe klopfte und der andere, der auf den Rhein sprang, um wie geplant übers Wasser zu gehen, und dort, nicht wie geplant, zu ersaufen. Eigentlich brachte Magie nicht viele Leute um – entweder man war weise genug sich nicht von ihr beherrschen zu lassen, oder das Problem erledigte sich alsbald von selbst. Bevor man andere tötete, explodierte man selbst, weil es immer der erste Schritt war, Magie auf sich selbst zu wirken. Noch hatten sich jedenfalls keine Beweise erhärtet, die auf eine Gefahr durch Hexerei hinwiesen. Es gab andere Sorgen. Statt weiter daran zu denken, schob er den Kragen seines Mantels wieder höher, um sich gegen den Wind zu schützen und setzte seinen Weg zum Lufthafen fort, wo die Victoria Adelaide lag. Das Luftschiff, das den Namen der Kronprinzessin trug, war am Abend zuvor eingelaufen. An Bord waren hochrangige Beamte und Intellektuelle – und ein Bekannter, dessen Freundschaft er beinahe ebenso schätzte, wie die Waren, die er unter der Hand zu horrenden Preisen verkaufte. Nichts für die breite Masse, verstand sich, die die gehandelten Güter zweifelsohne interessieren würde – aber die damit eigentlich nichts anzufangen wusste. Diese Tage benötigte Anders nicht viel. Nur einen Talisman, welcher einer seiner wenigen Kunden – einer jener, die tatsächlich an seinen Fähigkeiten interessiert zu sein schienen und nicht an möglichst buntem Firlefanz – zu beschaffen in Auftrag gegeben hatte. Er wusste nicht, ob es um den richtigen Talisman handelte – das erfuhr er wahrscheinlich erst, wenn er ihn übergab. Diese Art von Ungewissheit hasste er, aber sein Geldbeutel verbot es ihm, den Auftrag abzulehnen. Den Lufthafen hatte man nicht in Köln selbst errichtet, sondern auf der anderen Seite des Rheins bei Kalk. Er konnte auch konventionelle Schiffe aufnehmen. Bahnschienen verliefen dorthin und Luftschiffe schwirrten wie dunkle Fliegen über dem Koloss. Dennoch lag er im Schatten der Kathedrale, die hoch über die Stadt aufragte und aus der Luft schon von weitem zu sehen war. Weiter noch als der alte Dom, der nur ein halbes Jahrhundert zuvor die Zukunft gewesen war. Heute mutete es seltsam an, die Zukunft in der Vergangenheit zu suchen. Man brauchte keine alten Formen, keine antiken Tempel, keine Theater im Stile der Renaissance und auch keine gotischen Kirchen. Statt dem Dom, dessen Fassade und Dächer man schon restauriert hatte, einen zweiten Turm zu geben und ihn endlich zu vollenden, hatte man sich letztendlich doch entschlossen, stattdessen dem neuen Zeitalter ein Denkmal zu setzen – und den Franzosen damit zu zeigen, wo man stand. Nun ragte die Kathedrale über die Stadt. Ein Monster aus Eisen, Beton und Glas, das auf seine Vollendung hungerte wie auf das fehlende Sonnenlicht. Der Lufthafen hingegen war vollendet, aber nicht weniger modern. Das Mauerwerk aus Ziegeln und Beton, das Dach getragen von Stahl und bedeckt mit Glas. Die Einfahrt war durch Konstruktionen im Dach möglich, die durch den Betrieb von Motoren geöffnet werden konnten. Er fasste über zwanzig Luftschiffe, ebenso viele konventionelle und zwei Märkte für Güter aus aller Welt. In der Eingangshalle, die allein für sich bereits riesig war, hielt Anders Bordalen sich links. Dampf und Rauch schwängerten die Luft. Flugreisende hatten sich versammelt, um auf der Augusta nach London oder Kristiania zu fahren, doch er hielt sich von ihnen ebenso fern, wie von den Zugängen zu den Hangars. Er warf nur einen raschen Blick durch die halb beschlagene gläserne Trennwand, die den Durchgang zu der kleineren der beiden Luftschiffhallen markierte, in der die Victoria Adelaide ruhte. Von hier aus konnte er weder die Ingenieure sehen, die die Victoria Adelaide in ihrer Ruhephase für die nächste Fahrt vorbereiteten, noch die Arbeiter, die das Dach für die Augusta öffneten. Schatten umfing Anders, als er die Eingangshalle und ihr Tageslicht verließ. Sein Ziel waren die Gastunterkünfte für die Händler, die nicht lange bleiben würden, nur für ein paar Tage, um ihre Waren auf einem der Märkte feilzubieten und alsbald ein anderes Schiff nahmen und weiterreisten, nach Paris, New York oder China. Hier gab es keine gläsernen Dächer. Preußische Kappen, gemauerte Gewölbe aus Backstein, getragen von einfachen Stahlstreben, trugen hier die Decken und trennten die verschiedenen Etagen. Wer es sich leisten wollte, der blieb nicht hier, sondern mietete sich ein Quartier in der Stadt – wenn er nicht ohnehin eine eigene Niederlassung vor Ort besaß. Die Bewohner der Räume, die sich hinter den abgehenden Türen verbargen, brachten ihren eigenen Geruch mit, auch wenn sie ihre Ware in einem Lager beließen. Gewürze überdeckten den omnipräsenten Geruch von Maschinenöl und Qualm, und wenn Anders die Sicht bemühen würde, würde er sie zweifelsohne sehen – schimmernde Spuren von edlen Stoffen, Gewürzen und Getreide, Lebensmitteln, Kaffee und Tabak. Und zweifelsohne würde er auch eine leichte Spur von Magie wahrnehmen. Dieses purpurne Funkeln, das an jenen klebte, die Hexerei wirkten oder bei sich trugen. Leute vom Fach lebten vom Handel. Hier erhielten sie alles, was sie nicht greifbar hatten. Wenn ein Hexer ausschließlich seine Zeit damit verbrachte, selbst zusammenzutragen, was er für seine Magien brauchte, statt sie von spezialisierten Händlern zu erwerben, so würde er nicht mehr dazu kommen, sie auszuführen. Eine Frau, die gerade vor einer der Türen stand, deren Weg er kreuzte, nickte ihm zu. Vermutlich hatte sie das schwache Purpur wahrgenommen, das auch ihn jederzeit umgab. Ihrer Geste antwortete er, indem er mit den Fingern seinen Hut berührte. Er vermied es, ebenfalls einen Blick auf sie zu werfen und begnügte sich mit dem Anblick, den sie jedem bot. Sie schien es zu halten, wie er: Keine spitzen Hüte und keine Goldplättchen mit antiken Runen an jeder freien Stelle ihres Körpers, nur ein schlichtes braunes Kleid über einer weißen Bluse und mit Mieder, wie es sich für eine Dame ihres Alters und ihrer Herkunft schickte. In den Armen hielt sie verschiedenste Kleinigkeiten, die sie wohl erstanden oder nicht verkauft hatte. Weil ihm Hexer und Magierinnen dieses Schlags gefielen, blieb er stehen und öffnete ihr die Tür. „Thank you, Sir“, sagte sie leise in einem Englisch, das fast nicht verriet, dass es nicht ihre Muttersprache war. Er tippte sich als Antwort erneut an den Hut, sie aber sah nicht noch einmal auf und beeilte sich, in ihren Räumlichkeiten zu verschwinden – anscheinend hatte sie mehr gesehen, als nur das Purpur um ihn her. Er nahm es ihr nicht übel, ebenso wenig wie das schnelle Verschwinden. Leute vom Fach hatten es nicht gern, wenn man ihre vier Wände sah, zu viel ließ sich entdecken, wenn man wusste, wie man sehen musste. Er selbst ließ Kunden nur bis ins Arbeitszimmer seiner Wohnung. Es war selbigen ohnehin lieber, nicht zu viel zu sehen. Ein Junge, vielleicht sechzehn Jahre, der sorgfältig darauf achtete ihn nicht anzusehen, öffnete ihm, als er an Fjordor Sergejewitschs Tür klopfte. Er trug einfache Kleidung – eine Hose aus stabilem, braunem Stoff, ein Hemd, darüber eine Weste, Schuhe aus Leder und eine Schutzbrille mit einem Rahmen aus Kupfer. Es war das Pentakel, das an einer dünnen ledernen Kette um seinen Hals hing, das ihn verriet. Das purpurne Strahlen des magischen Schutzes leuchtete noch im Hier und durch den Stoff darüber. Er nickte dem Jungen knapp zu und trat ein. Die Unterkunft hatte vermutlich mehrere Zimmer, denn es zweigte eine Tür am hinteren Ende des Raumes ab, doch sein Freund erwartete ihn bereits in diesem Raum. Der alte russische Händler hatte es sich an einem Tisch bequem gemacht, dessen metallene Oberfläche von einer Tischdecke verdeckt war, die vermutlich teurer war, als sie aussah. Zu seiner rechten hatte eine Dame in feinem Pelz Platz genommen, auf ihrem Schoß ein Muff. Die vielen Kisten und Säcke, die den restlichen Platz im Raum einnahmen, wiesen darauf hin, dass er nicht der einzige Kunde war, der seine Ware privat abholte. Auch hier roch es nach Gewürzen. Nur unterschwellig unterschied sich der Geruch von den Kräutern, die man in eine Suppe tat. Als er ihn erkannte, erhob sich Sergejewitsch. „Андрюша! Стравствуйте! Как Бы поживаете?“(1) Anders brauchte einen Moment, um den russischen Wortschwall zu verstehen, obwohl es nur eine einfache Begrüßung war. Schließlich nickte er und nahm den Hut ab. „Стравствуйте. Хорошо, а Бы?“(2) Fjordor antwortete nicht sofort, sondern zog ihn in eine feste Umarmung. Erst als er ihn aus dieser entließ, fuhr er auf Deutsch, wenn auch mit starkem russischen Akzent, fort: „Das Geschäft geht gut, aber die letzten Jahre waren vielen gesonnener. In Moskau ist es wärmer als hier, mein Freund.“ „Überall ist es wärmer als hier, Fedjar“, antwortete Anders und setzte sich auf den ihm dargebotenen Stuhl. Fjordor indes wies auf seine weibliche Gesellschaft. „Познакомтесь, это Наталя Вадимовна. Наташа? Это Андрей Александрович.“(3) Natalia Wadimowna nickte ihm zu. „Приятно познакомиться.“(4) Ihre Stimme war so kühl, wie sie leise war. Das aufgesetzte Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Dafür hob ihr Muff den Kopf und knurrte leise. Erst durch diese Bewegung bemerkte er, dass der Pelz noch lebte. Er hätte es sicher früher bemerkt, doch nach wie vor schottete er die Sicht ab. Er wollte nicht sehen, was Sergejewitsch in seinen Kisten verbarg. Wadimowna jedoch nahm die Regung ihres Lieblings als Aufforderung, sich eilig zu entschuldigen und mit ihrem Schoßhund durch die Tür in den hinteren Teil der Wohnung zu verschwinden. Die beiden Männer sahen ihr nach, als sie in dem dunklen Gang, der sich kurz öffnete, verschwand. Der Junge, der Anders die Tür geöffnet hatte, folgte ihr eilig und verschloss die Tür hinter sich. „Наташа mag Europäer nicht besonders. Ihr Vater hat mich gebeten, sie und ihren Bruder Юрий(5) mit auf meine Reise zu nehmen. Sie sollen die Welt sehen. Юрий soll Kaufmann werden und sie einen heiraten. Sie werden viel herum kommen. Ihm gefällt es, aber ihr...“ Anders nickte. Vermutlich zielte er darauf ab, zumindest den Jungen in sein Kontor zu übernehmen – Fjordor umgab sich gerne mit Leuten vom Fach, zumal seine magische Begabung da endete, wo sie bei den meisten Hexern erst begann. „Wie geht es Magdalena? Und dem kleinen Konrad? Ich würde beide gerne sehen, aber ich fürchte die Людмила(6) wird nicht auf mich warten. Sie hebt übermorgen ab und fährt zurück nach Moskau. Da fällt mir ein...“ Kaum hatte das letzte Wort den Mund des Mannes verlassen, sprang er auch schon wieder auf, diesmal, um in einer seiner Kisten zu suchen. Dabei bewegte er sich schneller, als man es einem behäbigen Herren seines Alters zutraute. Das Hemd, über dem er nur eine Weste trug, spannte sich sichtbar, als er sich über seine Güter beugte. Die Ketten, an denen vermutlich Taschenuhren, die verschiedene Zeiten anzeigten, hingen, klirrten leise. Anders stand nicht auf, folgte ihm aber mit dem Blick. „Gut. Noch. Wir verdienen genug, um nicht zu hungern und ansonsten erlässt Ansgar uns für ein paar Wochen die Miete.“ „Die Stadt hungert, habe ich gehört“, antwortete Fjordor, ohne die Hände aus der Kiste zu nehmen. Anders beobachtete weiter seinen Rücken und strich sich dabei über den ordentlich gestutzten Bart, der dunkler war als sein helles Haupthaar. „Die Stadt hungert immer“, antwortete er knapp. „Aber dieses Jahr ist es schlimm.“ „Und niemand weiß, warum. Wenn Sie mich fragen – es ist der Vulkan.“ „Der Krakatoa?“ „Die Aschewolke war gigantisch. Seit dem Ausbruch sind die Sonnenuntergänge rot.“ „Sonnenuntergänge sind keine dauernden Schneefälle und Regen, der den Rhein über die Ufer treten lässt.“ „Der Rhein ist auch rot.“ „Das ist das Fuchsin, das die Färbereien flussaufwärts einleiten, nicht der Vulkan.“ „Ich habe es!“ Ohne weiter auf seinen letzten Einwand einzugehen, erhob sich Fjordor wieder und überreichte im breit lächelnd ein Päckchen. „Für Magdalena. Ich habe eine Zeit lang überlegt, was ich euch mitbringe, aber bei dem Wetter wird es das richtige für sie sein.“ Anders nahm es dankend entgegen. Magdalena würde sich freuen. Fjordor war ein geschäftstüchtiger Händler – er hatte den Sinn für das rechte Geschenk zur rechten Zeit. Auch er griff nun nach einem Geschenk, diese Tradition hatte er rasch begriffen. Und so stellte er eine Flasche auf den Tisch, die er in einer Tasche mit sich geführt hatte. „Ich danke Ihnen. Sie wird sich sicher freuen. Ich hoffe, Sie mögen deutschen Wein?“ Das Glänzen in den Augen seines Freundes bejahte diese Frage, noch bevor er mit einem zufriedenen „Да, oh ja. Ich habe leider keine Gläser hier, aber ich werde ihn sicher genießen, Андрюша“ antwortete und sich wieder auf seinen Stuhl fallen ließ. Die Verbindungen, die die Beine stützen, knarrten leise, aber hielten dem Gewicht stand, obwohl der Stuhl sicher nicht in der besten Qualität ausgeführt worden war. Vermutlich zog sich ein purpurnes Band um jede kleine Schraube – gewirkt von Jurij oder seiner Schwester. „Ich freue mich, dass er Ihnen gefällt. Sagen Sie, haben Sie es bekommen?“ Fjordors Haltung veränderte sich. Er legte die Hände auf den Tisch und versteifte seinen Rücken in einer Haltung, von der er vermutlich annahm, dass sie gerade war. „Ich sehe, Sie haben es eilig.“ Für einen Moment schien der alte Händler ihn hinhalten zu wollen, nickte dann aber. „Natürlich. Agnetha Wiegand hat es mir verkauft. Sie hat es vom ursprünglichen Besitzer.“ Anders fragte nicht, um wen es sich bei diesem Besitzer handelte – oder wie Wiegand in den Besitz des Talismans gekommen war. Bereits sein Vater hatte gelernt, dass man Fjordor Sergejewitsch derlei Fragen nicht stellte – und er hatte das Wissen darum an seine Söhne weitergegeben. Allerdings hieß das nicht, dass er von der Hexe Agnetha Wiegand nicht gehört hatte. Sie wusste alles und sie besaß alles – wenn der Preis stimmte. Sie war eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. „Darf ich es sehen?“ Mit einem Nicken griff Fjordor in seine Westentasche und zog ein Taschentuch heraus. Vorsichtig legte er es auf den Tisch und faltete es auf. Ein unscheinbares Amulett an einer viel zu klobigen Goldkette kam zum Vorschein. Vermutlich war es aus Silber. Dünne Buchstaben waren in das Metall eingeritzt, lesbar nur mit einer Lupe. Die Worte bildeten ein Siegel. Für einen Moment öffnete sich Anders der Sicht. Purpur strömte aus dem Amulett. Es zog die Linien nach, sichtbarer jetzt, aber die Sprache war ihm unverständlich. Wie ein seichter, aber beständiger Strom floss die Aura der Magie aus dem Objekt, übertönte das schwache Purpur, das von Sergejewitsch ausging und vermischte sich mit anderen Auren zu Schlieren von hellem Zinnober, dreckigem Braun und tiefem Violett. Nur leicht hob er den Blick, um den Schlieren zu folgen – und bereute es keinen Augenblick später. Hastig kniff er die Augen zusammen und ließ die Sicht fallen. Fjordors dröhnendes Lachen drang an seine Ohren, während er sich dazu zwang, seinen Atem zu beruhigen. Als er die Augen wieder öffnete, musste er sich zurückhalten, um nicht ständig zu blinzeln. „Was haben Sie gesehen?“ „Die Katzenköpfe.“ Fjordors Lachen wurde noch lauter. „Haben sie zurückgeschaut?“ „Sie haben gezwinkert.“ Nur mit Mühe gelang es ihm, das Bild von einem Dutzend Katzenköpfe, die sich in einem der Säcke befanden und die ihn mit geschlitzten Augen musterten, aus seinem Kopf zu vertreiben. Noch immer zogen sich kalte Schauer über seine Arme und es war ihm, als stünde er wieder draußen im Schnee. Eine Unruhe hatte ihn erfasst und er wusste, dass sie ihn erst loslassen würde, wenn er den Lufthafen verließ. Es gab Magier, die ertrugen den Anblick von schwarzer Magie und andere, die nicht darauf verzichten wollte. Er wusste von Fjordor, dass dieser quasi nur mit der Sicht sah. Ihm selbst wurde von dem Anblick schlecht. Allerdings gehörte er zu jenen, welche die Sicht ohnehin nicht vertrugen. Auch vom Anblick der neutralen purpurnen Magie wurde ihm schlecht, wenn sie sich mit den Auren nichtmagischer Objekte und Wesen mischte. Sie erweckten sicher auch das Interesse seines Blicks, aber sie lösten in ihm, nicht wie bei vielen anderen, kein verstärktes Verlangen danach aus, sie immer sehen zu wollen. Deshalb war er kein guter Alchemist: Man braute mit der Sicht. „Zwinkern tun sie oft“, antwortete Sergejewitsch gelassen, nachdem sein Lachen verebbt war. Vermutlich hatte er Anders Unbehagen gesehen. „Ich nehme für diesen Dienst siebzig Mark, Андрюша. Für Sie fünfundsechzig.“ „Wir hatten fünfundzwanzig ausgemacht.“ „Das war vor Agnetha Wiegand, Андрюша.“ „Wiegand einzuschalten war nicht abgesprochen, Fedjar.“ „Wollen Sie das Amulett, Андрюша?“ „Was ist mit den Katzenköpfen, Fedjar?“ Fjodor Sergejewitsch schwieg bedächtig. Seine Hand zupfte an dem Stofftaschentuch, auf dem der Talisman lag, strich die Falten im Stoff glatt, nur um gleich darauf neue entstehen zu lassen. Anders ließ ihm die Zeit. Sein Blick ruhte ebenfalls auf dem Tuch und dem Talisman. Er wusste, dass er nicht in der Position war, Ansprüche zu stellen. Es würde seinen Kunden nicht freuen. Fünfundsechzig Goldmark konnten zu dem Minusgeschäft werden, das er sich nicht leisten konnte. „Fünfzig.“ Anders war froh, als er endlich wieder die Luft außerhalb des Lufthafens atmen konnte, auch wenn diese nach den Abfällen stank, welche die großen Industrien in den Fluss kippten. Er verließ den Hafen mit seiner nun leeren Tasche und einer verkrampften rechten Hand, die sich, in seiner Manteltasche verborgen, um den Talisman schloss. Die Augusta hatte abgelegt. Als er zügig die Eingangshalle durchquert hatte, war diese bedeutend leerer gewesen. Nur auf dem Vorplatz hatte sich eine Menschentraube gesammelt. Die Dampfkutschen standen ebenso still wie die Fahrgeräte, vor die nach wie vor Pferde gespannt wurden. Auch Anders blieb stehen, um einen genaueren Blick auf das Geschehen werfen zu können. Zu der Menschenmenge gesellte er sich allerdings nicht. Irgendetwas musste passiert sein. Aufgeregte rote Emotionsfetzen wirbelten bis in die Realität und wurden für ihn sichtbar. Auch ein leichtes, purpurnes Strahlen nahm er war. Mit dem aufgeregten Rufen und Reden der Leute, das zu ihm hinüber drang, verband sich alles zu einer Atmosphäre, die er nicht wahrnehmen wollte. Selten drangen Magie und Emotionen so weit in die reale Welt vor, dass sie auf eine solche Entfernung auch in der alltäglichen Sicht für ihn spürbar wurden. Unsicher darüber, ob es wirklich weise war, öffnete er sich der Sicht. Beim nächsten Atemzug, beim nächsten Lidschlag traf ihn die Realität. Das Pflaster, auf dem er stand, schien durchsichtig grau und wirkte realer, als möglich sein sollte. Er konnte die kleinen Schutzpartikel auf ihrer Oberfläche erkennen, obwohl er ein wenig kurzsichtig war. Selbst aus dieser Entfernung erkannte er die Gesichter der Menschen. Selbst die derer, die ihm den Rücken zuwandten. Er sah alles. Die krummen und die geraden Nasen, die Münder, die sich in Entsetzen und Ablehnung verzogen, die kleinen und großen Makel, Gedanken, Gefühle, die eigenen Monster und Laster der Anwesenden. Die Sicht machte nicht nur unerkennbares sichtbar, sie ließ auch Dinge erkennen, die niemand sehen sollte. Gleichzeitig wirbelten ihm tiefrote Töne entgegen und verblassten in der abgestandenen Luft. Er hörte sie nicht, er sah sie nur. Die Welt, die er mit der Sicht wahrnahm, war stumm. Er schluckte, als er die Ebenen erreichte, die hinter der normalen Welt lagen, die Schichten der Magie. Er sah ein Pentagramm und als er sich kurz darauf zu fixieren versuchte, erkannte er Jurijs Gesicht, doch dann nahm sie ihn ein – dunkle Schwärze, greifbarer als jede Nacht. Nicht einmal die Katzenköpfe in Fjordors Sergejewitschs Unterkunft verstrahlten eine solche Finsternis, die nicht das Fehlen von Licht war, sondern eine eigene Art von Licht, übernatürlich verdichtet, ein Brandmal alles Schlechten dieser Welt. Wie erschlagen taumelte er zurück. Reflexartig presste er die Augen zusammen und schirmte sie mit einem Arm wie vor zu starkem Sonnenlicht, doch das Gesehene verließ ihn nicht. Mit aller Macht stemmte er sein Ich gegen die Übermacht dessen, was in sein Bewusstsein strömte. Schließlich gelang es ihm, die mentale Tür wieder zu schließen, die er so leichtfertig geöffnet hatte. Ruckartig wandte er sich ab und rannte. Seine Tasche ließ er zurück. Wie von selbst fand er den Weg zum Hafenbecken, wo er sich endlich der Übelkeit, die durch die Abwässer nur noch an Macht gewann, ergab und seinen Mageninhalt in das Wasser des Flusses spie. (1) Андрюша – Andrjuscha, Koseform von Andrej Стравствыйте! – russische Grußformel, ähnlich dem deutschen „Guten Tag!“ Как Бы поживаете? – Wie geht es Ihnen? (2) Хорошо, а Бы? – Gut, und Ihnen? (3) Познакомтесь, это Наталя Вадимовна. – Darf ich vorstellen? Das ist Natalia Wadimowna Наташа – Kurzform von Natalia Это Андрей Александрович. – Das ist Andrej Aleksandrowitsch, Fjordor benutzt hier die russische Form des Namen Andreas für Anders. Aleksandrowitsch ist nicht sein Nachname, sondern ein Patronym, bildet sich also aus dem Vornamen seines Vaters Aleksander. (4) Приятно познакомиться. – Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. (5) Юрий – Jurij (6) Людмила – Ljudmila Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)