Kein Zurück von Erdnuss91 (Der Sand der Zeit steht niemals still) ================================================================================ Kapitel 15: Sorgen ------------------ Verschlafen blinzle ich und schaue mich im schwach erleuchteten Schlafzimmer von Reita um. Wer winselt da? Und wimmert? Wie viel Uhr haben wir? Mit vor Schreck geweiteten Augen schaue ich auf das Bündel Mensch auf dem Boden. Was ist passiert? Was mache ich jetzt? Hilfe? Ängstlich schlucke ich die aufkommenden Tränen herunter und stehe auf, nähere mich ganz langsam der Person. Es ist Reita? Ging es ihm heute Morgen nicht besser? Oder war das etwa gestern? Vorsichtig fühle ich Reitas Stirn und ziehe die Hand augenblicklich wieder zurück. Er glüht ja förmlich! So schnell ich kann renne ich die Treppe hoch und stürme ohne anzuklopfen in Aikos Zimmer. Gehetzt rüttele ich an ihrer Schulter und meine: „Du musst mitkommen! Reita ist zusammen gebrochen.“ Alarmiert steht sie auf und drängt sich an mir vorbei um zu Reita zu kommen. Warum muss es ihm ausgerechnet jetzt wieder schlechter gehen? Hatte der Arzt nicht gesagt, dass er wieder fast komplett gesund ist? Beunruhigt gehe ich die Treppe herunter und setze mich in Reitas Zimmer aufs Schlafsofa. Er liegt immer noch ganz zusammen gesunken auf dem Boden und ist am ganzen Körper am zittern. Zudem ist sein Gesicht schmerzverzerrt und er ist schweißgebadet. Einerseits habe ich unendliche Angst, aber andererseits bin ich dank den Tabletten total ruhig. Es ist ein komisches Gefühl. Ich bin hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl der Gleichgültigkeit und der Panik. Müsste mich das ganze nicht mehr beunruhigen und mehr aus der Fassung bringen? Oder sind die Tabletten wirklich so stark und lassen mich total gleichgültig gegenüber meiner Umwelt werden? Direkt meint Aiko: „Kannst du mir einen Gefallen tun und Reita ein paar Schlafanzüge und Unterwäsche und alles in eine Tasche stopfen? Ich denke es ist das Beste, wenn wir ihn in die Notaufnahme bringen und er ein paar Tage dort bleibt. Ich werde ihm etwas gegen die Schmerzen geben, aber das wird nicht reichen.“ Seufzend stehe ich wieder auf und nehme eine Tasche aus dem Schrank und gehe ins Badezimmer, wo ich erst einmal alles nötige einpacke. Zurück in seinem Zimmer packe ich den Rest und ziehe mich auch direkt um, da ich sicherlich mitfahren muss. Auch Aiko geht noch einmal hoch und kommt dann im Trainingsanzug wieder. „Danke, Ru-chan. Ich würde dir ja das ganze gerne ersparen, aber ich kann dich leider nicht alleine lassen. Hol dir am Besten etwas zu lesen und zu trinken mit, das wird wahrscheinlich bis in die Morgenstunden dauern“, weist mich Aiko an. Niedergeschlagen leiste ich dem folge und frage mich, ob Reita lange im Krankenhaus bleiben muss dieses Mal. Ich hasse es, wenn es ihm so schlecht geht. Vor allem ist es mir nach wie vor total unangenehm mehrere Tage ohne Reita bei seiner Mutter zu sein. Manchmal fühle ich mich fremd, obwohl ich mich in diesem Haus mehr Zuhause fühle als bei meinen leiblichen Eltern. Der Psychologe meinte, dass das ein großes Problem ist, da ich mich nirgends wirklich vollkommen daheim fühle. Aber warum ist das so? Ich bin doch gerne bei Reita und ich bin auch gerne bei ihm daheim. Aber warum fühle ich mich dann wie ein Fremder in diesem Haus an manchen Tagen? Nur mit Mühe schafft es Aiko den recht schlappen Reita ins Auto zu verfrachten und anzuschnallen. Ihm scheint es wirklich nicht gut zu gehen, da er sich kaum auf den Beinen halten kann und auch kalkweiß im Gesicht ist. Eher unbeteiligt folge ich den beiden und bin auch recht froh darüber, dass wir nicht lange fahren müssen bis zum Krankenhaus. Dort wird er von Aiko extra mit einem Rollstuhl in die Notaufnahme gefahren, wo er direkt von einem Arzt in ein Behandlungszimmer geschoben wird. Besorgt nimmt mich Aiko an die Hand und führt mich in den Wartebereich. „Das wird jetzt etwas dauern, schlafe ruhig etwas“, schlägt sie mir vor. Missmutig lege ich mich auf eine der Bänke und schließe die Augen und versuche mich zu entspannen. Es bringt nichts sich jetzt Sorgen zu machen, da es nichts an der Situation verändern würde. Reita ist es selbst Schuld, dass er jetzt hier liegt und er hätte jeder Zeit die Notbremse ziehen können, aber er war ja viel zu stur und stolz. Nach einer gefühlten Ewigkeit rüttelt eine Krankenschwester an meiner Schulter und bittet mich darum aufzustehen und mitzukommen. Irritiert leiste ich ihr folge und wundere mich darüber, dass Aiko mich ganz alleine hier zurück gelassen hatte. Seit wann darf ich wieder alleine in fremder Umgebung sein? Wir gehen schweigend durch scheinbar unzählige Krankenhausflure und es ist schon etwas gruselig, da wir keiner anderen Person begegnen. Vor einem Zimmer bleibt sie plötzlich stehen und weist mich an reinzugehen, was ich auch prompt mache. Und am liebsten wäre ich direkt wieder rückwärts herausgegangen. Reita sieht so schrecklich blass und dünn aus und obwohl er gestern Morgen wieder etwas fitter aussah hat er wieder ziemlich dunkle Augenringe. Aber am meisten schockiert mich die Magensonde und die Infusion. Geht es ihm wirklich so schlecht? Das einzig Gute: Er schläft und hat allem Anschein nach keine Schmerzen mehr. Aiko sitzt Gedanken versunken neben ihm auf einem Stuhl und hält seine Hand. Ohne ein Wort zu sagen setze ich mich auf den anderen Stuhl am Tisch. Was soll ich denn auch groß sagen? Das Reita wieder gesund wird? Ich weiß ja noch nicht einmal was er hat, da ja niemand mit mir darüber reden möchte. Ich weiß nur, dass es keine harmlose Magen-Darm-Grippe ist und dass das alles ausgelöst wurde durch den ganzen emotionalen Stress. Bei mir hat es nur die Panikattacken verschlimmert, aber bei ihm ist es direkt auf den Magen geschlagen. Und selbst die Ärzte sind scheinbar machtlos momentan. Wie soll man auch jemanden helfen, der jegliche Probleme verleugnet? Erst bekomme ich gar nicht mit, dass Aiko aufgestanden ist und sich neben mich gehockt hat. „Lass uns heimfahren. Ich glaube wir gehören beide ins Bett und hier können wir sowieso nichts tun“, stellt sie resignierend fest. Ich nicke nur und folge ihr zum Auto. Auch die Heimfahrt verbringen wir schweigend und man merkt Aiko richtig an, dass sie einfach nur fertig ist. Daheim angekommen umarme ich sie kurz und gehe direkt zurück auf die Schlafcoach und decke mich zu. Mich wundert es eh das ich wach geworden bin, da ich doch recht starke Schlaftabletten zur Zeit nehmen muss. Es dauert auch nicht lange, bis ich endlich wieder ins Reich der Träume gelange. Das nächste was ich bewusst wahrnehme sind scheinbar schier unendliche Schmerzen im rechten Arm. Panisch hacke ich fast schon mit der anderen Hand in meinen rechten Oberarm, versuche so verzweifelt den Schmerz zu stoppen. Die Angst schnürt mit die Kehle zu und ich habe das Gefühl zu ersticken. Ich bin schweißgebadet, obwohl mir eiskalt ist. Am ganzen Körper bebend setze ich mich auf. Wann wird dieser Alptraum ein Ende haben? Warum nur muss ich zurück in die Hölle? Mein Herz fühlt sich so an als würde es bald platzen. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ein ekelhafter Pfeifton macht sich in meinem Kopf breit und ich will nur noch schreien. Davon laufen. Ich kann diesen Schmerz nicht mehr ertragen. Mir ist schlecht vor Schmerz. Wann erlöst mich endlich einer? Wird dieser Alptraum ewig so weiter gehen? Warum hilft mir denn keiner? Verzweifelt öffne ich den Mund und schreie. Versuche dem Schmerz Platz zu machen. Hilfe zu bekommen. Schreiend werfe ich mich zurück ins Bett, wälze mich. Mein Arm steht in Flammen. Er tut so schrecklich weh. Ich will nicht mehr. Warum kommt denn niemand? Jemand presst nasse Handtücher an meinen Körper, versucht mich herunter zu drücken. Ich habe Angst. Werde ich denn nie wieder gesund? Jemand kneift mich in die Wange, holt mich zurück in die Realität. Schwer atmend starre ich Aiko mitten in die Augen, mein Herz rast immer noch. Was soll ich nur machen? „Ru-chan? Tut dir dein Arm wieder weh?“, fragt sie mich. Ich nicke nur und setze mich auf. Warum tut er wieder weh? Ist er schon wieder entzündet? Ich will nicht operiert werden. Seufzend nimmt sie meinen Arm und macht die Metallschiene ab um ihn ganz vorsichtig abtasten zu können. „Ich hol dir gleich eine Salbe und dann kühlst du ihn etwas. Wahrscheinlich hast du nur drauf gelegen und deshalb zickt er jetzt etwas herum. Magst du vielleicht etwas ins Wohnzimmer mitkommen? Vielleicht hilft dir Ablenkung“, schlägt sie vor. Ich nicke nur und lasse mir von ihr ins Wohnzimmer helfen, wo ich mich auf einen Stuhl am Esstisch setze. Ich hoffe einfach einmal, dass die Wunde sich nicht schon wieder entzündet hat. Ich habe keine Lust auf eine Operation und ich habe auch keine Lust aufs Krankenhaus. Sie lässt mich ganz kurz alleine und kommt mit einer Salbe, Kühlpads und Verbänden wieder. Während sie mir den Arm verbindet kaue ich auf meiner Unterlippe herum. Warum ist die Operationsnarbe so komisch? „Ai-chan, ist das normal?“, frage ich verunsichert nach. „Das ist vollkommen normal. Es scheint nicht entzündet zu sein, aber wenn es nachher immer noch schmerzt können wir gerne einen Arzt drüber gucken lassen. Und jetzt versuch erst einmal an etwas anderes zu denken“, meint sie und legt ein paar Spielkarten vor mich. ~ Es fühlt sich wie Stunden an, in denen wir dieses Kartenspiel spielen. Da ich mich die ganze Zeit konzentrieren muss ist einfach kein Platz für negative Gedanken. Gleich möchte sie ins Krankenhaus fahren, da es Reita scheinbar etwas besser geht und sie gerne einmal nach ihm gucken möchte. Nachdem die Spielrunde zu Ende ist lege ich meine Karten auf den Stapel und verlasse den Raum. Eher lustlos ziehe ich mir etwas anderes an und gehe ins Badezimmer um mich kurz etwas frisch zu machen. Ich würde gerade zu gerne einfach nur duschen, aber ich glaube das würde meinen Arm nicht gut tun. Seufzend putze ich mir auch noch die Zähne und betrachte mich dabei ausgiebig im Spiegel. Vielleicht sollte ich gleich etwas essen, da ich ja heute immer noch nichts gegessen habe. Zudem habe ich das Gefühl wieder abgenommen zu haben und ich glaube Fumiko wird mir beim nächsten wiegen deshalb ordentlich die Meinung sagen. Zudem hatte ich ihr ja versprochen, dass ich auch etwas selbst darauf achte und nicht wieder abnehme. Langsam schlurfe ich in die Küche, wo ich mir erst einmal einen Joghurt nehme und den esse. Warum vertraut mir Aiko so sehr? Reita wäre schon längst mehrfach nach mir gucken kommen. Oder ist das einfach nur so, weil er mich damals aufgefunden hatte? Und wegen Uruha? An manchen Tagen bin ich froh darum, dass er sich so sehr um mich sorgt, aber anderen Tagen möchte ich ihm einfach nur diese Last von den Schultern nehmen. In Reitas Zimmer treffe ich Aiko an, die gerade eine weitere Tasche für Reita packt. Scheinbar muss er doch länger als ein ein paar Tage bleiben? „Hast du schon etwas gegessen Ru-chan? Ansonsten kann ich dir gerne etwas kochen. Wir fahren auch gleich los. Hast du eigentlich schon deine Tabletten genommen?“, fragt sie mich. „Also gegessen habe ich schon, aber die Tabletten habe ich vergessen zu nehmen“, gebe ich ehrlich zu. Sie nickt nur und packt weiter die Tasche. Warum schimpft sie nicht? Fumiko hätte garantiert schon längst geschimpft. Schließlich geht es ja darum, dass ich gut durch den Tag komme ohne Panikattacken. Und dass ich mich während den Panikattacken nicht selbst verletze. Kopfschüttelnd gehe ich ins Bad und nehme die Tabletten und kehre zurück in Reitas Zimmer. Aiko ist entweder extrem genervt, oder einfach nur erschöpft. Wie fühlt es sich an, wenn der eigene Bruder schwer krank im Krankenhaus liegt und der andere Bruder in der Psychiatrie ist? Durch meine ganzen Krankenhausaufenthalte die letzte Zeit sehe ich das alles viel lockerer als Aiko und ich weiß, dass es für Uruha das Beste ist. Oder ist etwas passiert, was mir niemand mitteilen will? Ich habe die ganze Zeit gedacht, dass Aoi und Reita nur so fertig mit sich und der Welt sind, weil sie Uruha quasi dau gezwungen haben der Therapie zuzustimmen. Hatte Uruha sich schon wieder ernsthaft in Gefahr gebracht? Plötzlich meint Aiko: „Bitte tu mir einen Gefallen und lass dir gleich nichts anmerken, ja? Ich weiß Reita sieht zur Zeit ziemlich schlimm aus und ja er möchte eigentlich nicht, dass du du gleich mit kommst und ihn so siehst. Aber so wie ich das sehe tust du ihm einfach gut und ich möchte ehrlich gesagt, dass Reita da jetzt alleine durch muss. Zudem darf er für dich ja auch in solchen Situationen da sein, obwohl das ja eigentlich nicht willst und deshalb solltest du auch für ihn da sein dürfen.“ Ich nicke nur zur Bestätigung und umarme sie. Womit habe ich diese Familie verdient? Obwohl Uruha und ich an der ganzen Situation Schuld sind, geben sie uns nicht die Schuld. Stattdessen wird sich genauso um uns gekümmert wie sonst auch, solange wir die Sache nicht auf die Spitze treiben. Ob Uruha das genauso sieht? Was geht momentan in ihm vor? Ob ich ihn anrufen darf? Uruha versucht mich immer aus allem heraus zuhalten, aber ist das richtig so? Ich habe auch schon viel Schlimmes erlebt im Leben, also wovor will er mich beschützen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)