Seelensplitter von Moonprincess ================================================================================ Ägypten IV: Sohn des Ra ----------------------- Atem folgte Siamun durch die Gänge des Palastes zu den Gemächern seines Vaters. Normalerweise hatte Atem kein Problem, sich in den labyrinthartigen Palastgängen zurechtzufinden, aber heute war er dankbar, daß der Wesir an seiner Seite war und ihn leitete. Er hätte sich heute sonst sicher verirrt. „Wir sind gleich da. Ich habe den Balsamierern gesagt, sie sollen noch etwas warten bevor sie Euren Vater mitnehmen. Ich habe mir gedacht, daß Ihr ihn noch einmal sehen wollt, mein Prinz.“ Atem nickte wie betäubt. „Danke.“ Alles war so unwirklich. Er konnte einfach nicht glauben, daß sein Vater tot war. Es war wie ein böser Traum und Atem wünschte sich nichts sehnlicher als aus ihm zu erwachen. Als sie die Zimmerflucht betraten, die Aknamkanon bewohnt hatte, überfiel Atem die Angst. Er konnte das nicht! Wenn er in das Schlafzimmer seines Vaters treten und den Körper sehen müßte... Vor dem Schlafzimmer standen bereits die Balsamierer. Als sie Atem und Siamun sahen, verneigten sie sich tief und sprachen murmelnd ihr Beileid aus. Atem beachtete sie kaum. Er wäre am liebsten vor der Tür zurückgewichen, aber andererseits sehnte sich ein Teil von ihm auch, seinen Vater noch ein letztes Mal zu sehen. Er schluckte mühevoll seine Angst hinunter und betrat das Zimmer. Siamun blieb respektvoll vor dem Zimmer stehen und schloß die Tür hinter Atem, so daß der alleine mit der Leiche seines Vaters war. Auf dem großen Bett in der Mitte des Zimmers lag Aknamkanon. Ein Tuch war über ihn gebreitet worden. Langsam ging Atem auf das Bett zu bis er daneben stand. Vorsichtig, als könnte er seinen Vater noch verletzen, hob er das Tuch an. Eine Welle unerträglicher Trauer schlug über Atem zusammen als er auf das nun erstarrte wächserne Gesicht seines Vaters blickte. Sein schwacher Trost war allein der Frieden, den Atem darin sah. „Ich wünschte, ich hätte mich bei Kriegsbeginn richtig von dir verabschiedet, Papa. Jetzt...“ Atem sank auf die Knie und preßte sein Gesicht auf die weißen Leinenlaken. „Jetzt ist es zu spät.“ Er ließ die Tränen, die er jetzt nicht mehr zurückhalten konnte, über sein Gesicht laufen. „Ich dachte, wir hätten noch soviel Zeit. Ich brauche so dringend deinen Rat. Ich habe so viele schreckliche Dinge dort draußen gesehen. Ich habe selbst dazu beigetragen und ich verstehe nicht, was mit mir und Neferkare geschehen ist.“ Atem konnte nicht mehr weitersprechen. Der Kloß in seiner Kehle machte es ihm unmöglich. Aber in Gedanken sprach er jedes Wort aus, in der Hoffnung, sein Vater würde ihn auch so hören können. Er sprach davon, was geschehen war und davon, was noch kommen würde. Wie könnte er Pharao sein, wenn er noch so jung war? Wie konnte er ein guter Herrscher sein, wenn er sich so schlecht fühlte? Wenn er getötet und verstümmelt hatte ohne darüber nachzudenken? Was stimmte mit ihm nicht, daß er sich zwar zu Männern, aber nicht zu Frauen hingezogen fühlte? War es wirklich nur deshalb, weil der Krieg ihn so nahe an den Abgrund des Wahnsinns gebracht hatte? Es war eine geraume Zeit vergangen, bis Atems schmaler Körper nicht mehr von verzweifeltem Schluchzen geschüttelt wurde. Langsam stand er auf. „Ich verspreche, ich werde dich nicht enttäuschen“, sagte er. „Ich werde stark sein und an all die Dinge denken, die du mich gelehrt hast. Ich weiß nicht, wie ich jemals ein so weiser und guter König wie du werden kann, aber ich werde es versuchen.“ Sachte breitete Atem das Tuch wieder über seinen Vater und zog es glatt. „Mögest du eine gute Reise nach Westen haben, Papa. Ich werde dich vermissen.“ Gemessenen Schrittes verließ Atem das Schlafgemach. Draußen erwarteten ihn bereits Siamun und die Balsamierer. An Letztere richtete Atem zuerst das Wort: „Tut alles, damit mein Vater, der Pharao, eine einfache Reise zu den Göttern hat. Es soll euer Schaden nicht sein.“ Die Balsamierer nickten, bedankten sich und betraten mit einer Bahre das Schlafzimmer. „Siamun? Was jetzt?“ „Wir wollen in mein Arbeitszimmer gehen, Hoheit. Es gibt viel zu besprechen“ Siamuns Stimme war ruhig, aber seine Augen verrieten, daß er nur zu gut über den Schmerz Bescheid wußte, der Atem quälte. „Ja, das ist wohl wahr.“ Atem ließ sich, nach einem letzten Blick auf die Schlafzimmertür, von Siamun durch noch mehr Gänge führen bis sie ihr Ziel erreicht hatten. In Siamuns Arbeitszimmer sah es so aus wie immer. Unzählige Papyri bedeckten den Schreibtisch und nahmen mannshohe Regale ein. Eine große und sehr detaillierte Karte des ägyptischen Reiches und aller Nachbarstaaten war auf eine freie Wand gemalt. Auf einem Regal stand eine hübsche Statuette, die Siamun mit seiner Frau und seinen drei Kindern zeigte. Das Bildnis gab Atem einen Stich, wußte er doch zu genau, daß Siamuns Familie noch vor seiner Geburt an einer Krankheit gestorben war, die auch seine zwei älteren Brüder dahingerafft hatte. Atem ließ sich auf einen Stuhl sinken, der vor dem Schreibtisch stand und barg das Gesicht in den Händen. „In letzter Zeit sehe ich nur noch Tod, wohin ich auch blicke.“ Siamun füllte zwei Becher mit dunkelrotem Wein und reichte Atem einen. „Trink erstmal einen Schluck. Du bist ja ganz blaß, Atem.“ Atem nahm den Becher, trank ihn in einem Zug aus und rollte ihn dann zwischen seinen Handinnenflächen. „Wie geht es Nefertiti? Und Hetep-Heres?“ Er sah Siamun nicht an. Der nahm einen Schluck aus seinem Becher bevor er diesen auf dem Tisch absetzte. Er stellte sich vor Atem und lehnte sich gegen den Schreibtisch. „Wie soll es ihnen schon gehen?“ seufzte er. „Prinzessin Hetep-Heres ist noch in der Nacht gekommen, aber am Morgen haben wir sie heim geschickt. Es ging ihr offensichtlich sehr schlecht. Es war ein großer Schock für sie, ebenso wie Nefertiti. Nefertiti hat fast den ganzen Tag geweint und konnte kaum etwas essen. Als sie am Erscheinungsfenster die Nachricht vom Tod eures Vaters verkündet hat, fiel es ihr sehr schwer zu sprechen.“ Atem nickte. „Das glaube ich.“ Er starrte in den leeren Becher. Siamun trat vor ihn und nahm ihm sanft den Becher ab. „Ich träume immer noch schlecht, dabei habe ich seit Jahren kein Schlachtfeld mehr gesehen, Atem. Wenn ich dir helfen kann oder du einen Rat brauchst, werde ich immer da sein.“ Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf Atems Gesicht. „Ich weiß, Siamun. Ich danke dir. Du bist einer der wenigen, denen mein Vater bedingungslos vertrauen konnte. Ich werde dir auch mein Vertrauen schenken.“ Siamun verneigte sich leicht. „Ich muß dir danken.“ Langsam richtete er sich auf und griff sich dabei mit schmerzverzerrtem Gesicht ins Kreuz. „Alles in Ordnung?“ Atem sah seinen alten Mentor besorgt an. „Nur der Rücken“, winkte Siamun ab. „Ich werde auch nicht jünger.“ „Wenn ich etwas tun kann...“ „Keine Sorgen um mich, Atem. Wir haben einiges zu besprechen und zu planen.“ „Fangen wir mit der Thronbesteigung an?“ Atem strich sich müde durch die Haare. „Ja. Morgen früh, wenn der erste Sonnenstrahl erscheint. Damit übernimmst du für die neunzigtägige Trauerzeit die Regentschaft bis du zum nächsten Neumond nach der Beerdigung deines Vaters gekrönt wirst. Du wirst dich morgen auch zeigen müssen, damit das Volk sieht, daß die Zeit der Isfet bald wieder vorbei ist und die Maat danach wieder hergestellt sein wird.“ Der Pharao war der Vertreter, Erhalter und Mehrer der Maat, der göttlichen Weltordnung und des Gleichgewichts, auf Erden. Starb er, gewann das Chaos, die Isfet, die Macht über die Menschen und die Welt bis der neue Pharao gekrönt worden war. Atem nickte. „Ich werde mir dann ein paar Worte zurechtlegen. Wenn ich nur wüßte, welche.“ „Darum mach dir jetzt keine Sorgen. Die Zeremonien muß ich nicht weiter erläutern, oder?“ Atem schüttelte nur den Kopf. „Das habe ich zur Genüge im Unterricht gehabt. Bevor wir aber an die Krönung denken können, muß erst mein Vater bestattet worden sein. Werden die Balsamierer in siebzig Tagen fertig sein?“ „Das haben sie zumindest gesagt und ich bin mir sicher, sie werden nicht trödeln.“ Siamun sah Atem mit einem kritischen Blick an. „Laß uns morgen weitersprechen. Du solltest dich waschen und ausruhen, damit du für morgen bereit bist. Im Moment siehst du aus, als könnte dich ein Windstoß umwerfen.“ Manch einer hätte sicher verächtlich geschnaubt, hätte er gehört, wie der Wesir mit dem Thronfolger sprach, aber Siamun kannte Atem seit dessen Geburt und somit besser als die meisten. Er hatte den Prinzen viele Dinge gelehrt, obwohl er nie sein offizieller Lehrer gewesen war. Es wäre Atem lächerlich vorgekommen, hätte Siamun sein Verhalten plötzlich gänzlich geändert, um nun vor seinem Schüler im Staub zu kriechen. Atem stand schließlich auf. „Schlaf und ein Bad klingen in der Tat sehr verlockend.“ Er nahm einen tiefen Atemzug. Er fühlte sich auf einmal so viel erschöpfter als noch vor einigen Stunden. „Dann sehen wir uns morgen früh. Ich werde alles Nötige veranlassen. Gute Nacht, Atem.“ „Danke. Dir auch eine gute Nacht, Siamun.“ Atem verließ Siamuns Arbeitszimmer und suchte das Bad auf. Offenbar hatte man sein Begehren bereits vorausgeahnt, denn das große Becken war bereits mit warmem Wasser gefüllt. Nur einige wenige Öllampen verbreiteten ein flackerndes, schummriges Licht. Deshalb war es kaum verwunderlich, daß Atem die weibliche Gestalt, die aus einer Ecke auftauchte und ein Essenstablett trug, für eine Dienerin hielt. „Stell das ab, dann kannst du gehen.“ „Atem?“ Die Frau trat ins Licht und der Angesprochene erkannte Nefertiti. „Was machst du hier?“ Atem musterte sie kurz. „Noch dazu nackt.“ „Ich wollte nur sehen, ob es dir soweit gutgeht“, antwortete sie und stellte das Tablett mit Früchten und Brot neben dem Wasserbecken ab. „Steig ins Wasser, ich schrubbe dich ab“, erbot sie sich bevor sie aufstand und nach Bürste und Seife suchte. Atem seufzte unhörbar und zog sich aus. Dann stieg er ins Wasser und nahm ein paar Trauben vom Tablett. Trauben hatte er nicht mehr gegessen seit er in den Krieg gezogen war und ihre Süße wirkte sich wohltuend auf seine Nerven aus. „Wo sind die Dienerinnen, die sonst für das Bad zuständig sind?“ „Ich hab sie für heute abend entlassen.“ Nefertiti kniete sich an den Beckenrand und rieb Seife auf die Bürste. „Ich dachte, du hättest es lieber, wenn du heute nicht so viele Leute um dich hast.“ „Ja, das stimmt. Danke, Nefertiti.“ Sie lächelte nur und er ließ sich schweigend von ihr waschen. „Geht es dir gut?“ fragte er, als sie fertig war und die Bürste zur Seite legte. „Ich vermisse ihn. Er war immer für uns da und jetzt... Einfach weg! Ich weiß, Papa ist jetzt auf seiner Reise zu den Göttern, aber das ändert nichts daran, daß er fort ist.“ Nefertiti wechselte in eine sitzende Haltung und zog die Knie an ihre Brüste. „Ich war bei ihm als er ging“, fuhr sie leise fort. „Ich soll dir sagen, daß er dich sehr liebt, Atem. Daß er weiß, daß du einmal ein guter Pharao sein wirst.“ Über Nefertitis Wangen liefen neuerlich Tränen. „Danke, das bedeutet mir viel.“ Atem sah auf. Trotz seiner eigenen Tränen versuchte er zu lächeln. „Du bist ganz naß, Nefertiti. Komm auch ins warme Bad, sonst holst du dir noch eine Verkühlung, wenn du auf dem Steinboden hockst.“ Sie streckte einen Arm aus und Atem ergriff ihn und zog sie neben sich in das Becken. „Was hat er dir gesagt?“ „Daß er mich ebenso sehr liebt und weiß, daß ich dir eine gute Gemahlin und dem Volk eine gnädige Große Königsgemahlin sein werde.“ Ihr Lächeln war traurig. „Wir sind nicht die Jüngsten, die je mit der Herrschaft Ägyptens betraut wurden, aber vierzehn ist dennoch schrecklich jung.“ „Wir werden hineinwachsen, Nefertiti. Wir wurden dafür ausgebildet, wir können es schaffen.“ Nefertiti lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Ja, aber einfach wird es nicht werden.“ Atem sagte nichts, obwohl er ihr zustimmte. Stattdessen legte er einen Arm um sie und drückte sie aufmunternd. *** Atem erwachte mit einem gequälten Stöhnen. Sein Mund war trocken, seine Lippen rauh und vor seinem inneren Auge stand noch immer das Bild seiner aufgeschlitzten Mutter. Er fühlte sich unglaublich müde, aber er hatte kein Bedürfnis, noch einmal einzuschlafen. Im Träumen gab es genauso wenig Ruhe für ihn wie im Wachen. Er stand auf und trat auf den Balkon. Es würde, erkannte er, bald Morgen sein. Er konnte sich also genauso gut auf die Zeremonie vorbereiten. Als er aus seiner Zimmerflucht trat, stellte er fest, daß auch ein anderer diese Idee gehabt hatte. Hohepriester Set kam gerade um die Ecke. Beim Anblick seines neuen Herrschers verneigte er sich tief. „Hoheit.“ „Set. Ich nehme an, du kommst wegen des Reinigungsrituals?“ Set nickte. „So ist es. Wenn es Euch jetzt genehm wäre...“ „Natürlich.“ Atem ging Richtung Bad, Set folgte ihm. Das Bad war erfüllt von dem Geruch von Weihrauch und das Becken war hüfthoch mit kaltem Wasser gefüllt. Ein gutes Dutzend Priesterinnen, die Augen auf den Boden gerichtet, kniete neben dem Becken. In ihren Händen hielten sie Musikinstrumente. Atem beachtete sie nicht weiter, sondern legte seinen Schendit ab und stieg, ein Zittern unterdrückend, in das Wasser. Er schloß die Augen und begann, die Götter anzurufen, während die Priesterinnen spielten und ihn mit ihren rituellen Gesängen unterstützten. Set goß vier Kübel Nilwasser, gemischt mit Natron, über Atems Haupt, so daß dieser Mühe hatte, noch zu sprechen. Nachdem die letzte Note verklungen war, rief nun auch Set die Ennead an, dem zukünftigen Pharao beizustehen. Damit war das Reinigungsritual, das Atem als Pharao jeden Morgen zu absolvieren hatte, beendet. Die Priesterinnen verließen das Bad, dafür erschienen nun Diener, die Atem, nachdem er das Becken verlassen hatte, abtrockneten, ihm halfen seine Kleidung anzulegen, seine Augen mit Kohl umrandeten und ihn mit Gold und Edelsteinen schmückten. Atem fühlte sich noch immer wie zerschlagen, wenn auch das Wasser vorerst seine Müdigkeit vertrieben hatte. Er unterdrückte alle Gedanken an seinen Vater, denn sonst wäre er unzweifelhaft erneut in Tränen ausgebrochen. Vor den Dienern und Set zu weinen, wäre aber eine Demütigung sondergleichen. Er dürfte sich nicht gehen lassen. Jede Schwäche machte ihn angreifbar, aber angreifbar durfte ein Pharao nun mal nicht sein. Mit einem schmerzhaft geraden Rücken betrat Atem wenig später den Thronsaal. Die Erwählten Priester und Siamun waren bereits vor dem Thron versammelt und verneigten sich bei seinem Anblick. Mahado, der erst vor kurzem für seine Verdienste im Krieg an der Seite des Pharaos Aknamkanon den Millenniumsring erhalten hatte, warf Atem von unten einen ermutigenden Blick zu. Atem nickte kaum merklich. Er war froh, daß sein alter Freund in seiner Nähe sein würde. Und er war nicht der einzige. Nehebka und Mana knieten etwas abseits mit anderen Nebenfrauen, Hofdamen, Beamten und Priestern und schenkten ihm trotz ihrer geröteten Augen ein Lächeln. Nefertiti und Hetep-Heres hingegen saßen als engste Verwandte Atems auf zwei geflochtenen Stühlen zur Rechten und Linken der Stufen zum Thron. Hetep-Heres war ihre Seelenpein deutlich anzusehen. Die Augen in ihrem schmalen Gesicht mit dem spitzen Kinn waren unnatürlich groß und glänzend, so als hätte sie Fieber. Das einzige, was sie momentan von einem Zusammenbruch vor dem versammelten Hofstaat bewahrte, war das Baby, das in ihren Armen lag und dem sie immer wieder leise Worte zumurmelte. Atem hatte seine neue Nichte noch gar nicht kennengelernt. Er würde später mit Hetep-Heres reden und sie mit allerlei Fragen über die Kinder ablenken. Es würde nicht nur ihr, sondern auch ihm guttun, sich mit dem Leben statt dem Tod zu befassen. Als Atem vor den Stufen zum Thron stand, wurde ihm seltsam flau im Magen. Früher hatten er und Nefertiti sich immer in den Thronsaal geschlichen, wenn er leer war und hatten es sich auf dem goldverzierten Thron bequem gemacht. Atems Herz zuckte schmerzhaft, als er daran dachte, daß sie nie bedacht hatten, daß der Thron Ägyptens einen unfaßbar hohen Preis kostete. Als der Tag anbrach stieg Atem die neun Stufen hinauf und, als der erste Sonnenstrahl durch eines der zahlreichen Fenster fiel, ließ er sich hocherhobenen Hauptes auf dem Thron nieder. „Ra! Ra! Ra!“ Der Name des Sonnengottes hallte von allen Wänden wieder und drang selbst durch die Palastmauern. Siamun trat neben Atem und als Zeichen für die erfolgte Thronbesteigung legte er Atem das Millenniumspuzzle um. Atem spürte, wie die Magie des Puzzles sich mit seiner eigenen verband und sie verstärkte. Heiße und kalte Wellen pulsierten durch seinen Leib bis das Puzzle ihn als seinen neuen Herren akzeptiert hatte. Die Macht war atemberaubend und es fiel ihm schwer, still wie eine Statue zu sitzen, während die Menschen ihn bejubelten. Schließlich wurde es Zeit, daß er sich seinem baldigen Volk zeigte. Atem ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn der zum Bersten gefüllte Platz unter dem Erscheinungsfenster beeindruckte. Es schien, als hätte sich ganz Theben trotz der frühen Stunde hier versammelt. Die Menschen blickten zu ihm hinauf und riefen entweder seinen Namen oder den Ras. Es war erhebend und doch füllte es Atem auch mit Demut. Diese Menschen, in deren Gesichtern sich Trauer und Freude, Angst und Hoffnung gleichzeitig widerspiegelten, erwarteten, daß er sie von nun an leitete, für ihre Sicherheit sorgte und im Sinne der Maat handelte. Die Verantwortung war überwältigend. Atem wartete, bis die Jubelrufe langsam verstummten, bevor er zu sprechen anhub: „Mein Vater, der große Pharao Aknamkanon, hat seine Reise zu den Göttern begonnen, wo er bald an ihrer Seite stehen und ihnen gleichgestellt sein wird, wie es ihm gebührt. Ebenso hat nun für mich eine Reise begonnen, euch zu regieren, zu schützen und für Gerechtigkeit und Ordnung selbst für den Geringsten unter euch zu sorgen. Aufgaben, die ich sehr ernst nehme.“ Erneuter Jubel brandete auf und unterbrach Atem. Er hob eine Hand und die Rufe wurden leiser. „Wie der Nil jedes Jahr über die Ufer tritt, so will auch ich euch nähren. Wie die Sonne jeden Tag aufgeht, so will auch ich euch wärmen. Wie die Sterne jede Nacht am Firmament die Schiffe lenken, so will auch ich euch lenken. So soll es geschrieben stehen und so soll es geschehen.“ Atem war erleichtert, als er nach seiner kurzen Rede unter erneutem Jubel zurücktrat und das Fenster mit einem letzten Winken hinter sich lassen konnte. Für den Moment waren seine Pflichten erfüllt, aber ihm graute schon davor, später die ganzen Vorbereitungen für die Beerdigung seines Vaters und für seine eigene Krönung mit den zuständigen Ministern, Priestern und Beamten zu besprechen. Wenigstens würden andere Staatsgeschäfte bis zur Krönung ruhen. „Gut gesprochen, kleiner Falke.“ Hetep-Heres schenkte ihm ein wässeriges Lächeln, als sie im Innenraum zu ihm trat. „Vater wäre stolz auf dich.“ Sie schniefte und versuchte vergeblich, ihre Tränen zurückzuhalten. „Danke, Hepi. Komm, wir setzen uns an ein ruhiges Plätzchen. Du hast sicher viel zu erzählen.“ Atem warf Nefertiti einen Blick zu und diese nickte. „Geht ruhig, ich werde mich derweil etwas ausruhen. Mir ist nicht besonders.“ Sie lächelte schwach. „Ruh dich nur gut aus, Kleines“, erwiderte Hetep-Heres. „Du solltest dich nicht überanstrengen.“ „Schlaf gut.“ Atem sah seiner Gemahlin nach wie sie im Inneren des Palastes verschwand, dann führte er seine älteste Schwester in den Palastgarten. Hier war es ruhig und friedlich, etwas, das Atem jetzt dringend gebrauchen konnte. Unter einer Dattelpalme ließen sie sich auf einer Steinbank nieder. „Möchtest du sie halten?“ erkundigte sich Hetep-Heres nach einigen Minuten Stille und hielt Atem das pausbäckige Baby hin. „Sicher doch!“ Atem lächelte und nahm das kleine Mädchen auf den Arm. „Du bist also Amisi“, murmelte er und wiegte das Kind in seinen Armen. „Ich finde, sie sieht dir sehr ähnlich“, erklärte Hetep-Heres. „Sie hat deine Augen und ihre Haare haben denselben Schimmer wie die deinen.“ „Na ja, vielleicht ein bißchen“, wiegelte Atem ab. „Sie ist so oder so süß.“ „Das stimmt.“ Hetep-Heres wurde ernster. „Alles ist so furchtbar! Ich hatte solche Angst als Vater krank wurde und jetzt sind meine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden.“ Sie wischte sich über die Augen. „Ich bin es so leid, ständig jemanden zu verlieren“, wisperte sie verloren. „Ich weiß nur zu gut, was du meinst“, antwortete Atem seufzend und kraulte die kichernde Amisi unterm Kinn. „Die Kleine hier hat es gut, sie versteht das alles noch nicht.“ „Aber wenn sie es eines Tages versteht, wird sie leiden. So wie wir! Nefertiti sieht aus, als würde sie bald zusammenbrechen. Dabei sollte sie auf ihre Gesundheit achten und sich nicht zu sehr anstrengen.“ „Ist sie krank?“ Atem war plötzlich noch mehr um seine Gemahlin besorgt. Hetep-Heres schüttelte den Kopf. „Nein, aber sie ist jetzt Große Königsgemahlin! Sie wird sicher bald schwanger sein und da sollte sie schon im Vorfeld möglichst viel Ruhe haben und ihre Kräfte sparen.“ Atem fühlte, wie sich seine Eingeweide zu einem kleinen, harten Knoten zusammenzogen. Daran, daß er mit Nefertiti Kinder zeugen mußte, hatte er gar nicht mehr gedacht. „Ja, da ist was dran“, erwiderte er müde und gab Hetep-Heres Amisi zurück. „Können wir dieses Gespräch ein andermal fortführen? Siamun wollte noch einiges mit mir besprechen.“ „Natürlich, mein kleiner Falke.“ Als er aufstand, sah sie ihn noch einmal genau an. „Obwohl ich dich vielleicht nicht mehr klein nennen sollte. Du bist ordentlich gewachsen, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Arme Nefertiti! Jetzt ist sie mehr als einen Kopf kleiner als du, dabei war sie doch mal so stolz darauf, die Größere zu sein.“ Hetep-Heres’ Versuch, sie beide aufzuheitern, endete in ehrlichem Gelächter. *** Die Tatsache, daß er, wie er es drehte und wendete, einen, besser noch mehrere, Nachfolger zu zeugen hatte, blieb beständig in Atems Hinterkopf, aber zwischen seiner Trauer um seinen Vater und der enormen Verantwortung, die über Nacht auf seinen Schultern zu ruhen gekommen war, fehlte ihm die Muße, das Thema mit Nefertiti zu besprechen. Er würde sich darum kümmern, wenn sich ihr Leben wieder einigermaßen normalisiert hatte. Im Moment allerdings mußten zahlreiche Vorbereitungen für das Begräbnis seines Vaters getroffen werden. Essen, Möbelstücke, Schmuck, Gebrauchsgegenstände, Spiele, Waffen und noch vieles mehr würden dem verstorbenen Pharao als Grabbeigaben mitgegeben werden, damit er auch im Jenseits leben konnte wie er es vom Diesseits gewohnt war. Ganz zu schweigen von der schier überwältigenden Anzahl Uschebtis, die er als Dienerschaft mitnehmen würde. Dem Grab wurde derweil der letzte Schliff mit prachtvollen Malereien und den Beschreibungen der großen Taten Aknamkanons verliehen. Nachdem das endlich soweit geregelt war, begannen die Planungen für die Krönung zum auf die Beerdigung folgenden Neumond. Dazu kam noch, daß dem hethitischen Königshaus schnellstmöglich die gesamten Kriegskosten zusätzlich zum künftigen Tribut angelastet wurden, was dieses sich nur nach langem, zermürbendem Streit gefallen ließ. Harda unterdessen weinte Krokodilstränen und Antes versprach, das Bündnis seines Bruders mit Ägypten sofort nach der Krönung des neuen Pharaos zu erneuern. Außenpolitik schlief nie, unabhängig davon, wer gestorben war, das begriff Atem schnell. Nefertiti derweil hatte die undankbare Aufgabe, die Nebenfrauen und Konkubinen ihres Vaters zu entlassen. Entweder wurden sie neu vermählt oder bekamen Land zugewiesen, mit dem sie sich in Zukunft ernähren konnten. Nach sechzig Tagen waren nur noch Nehebka und die Hofdamen übrig. Die Zimmerfluchten, die einst Aknamkanons Nebenfrauen gehört hatten, wurden renoviert, durchgelüftet und gründlich gesäubert in baldiger Erwartung der nächsten ausländischen Prinzessinnen, die als Zeichen des Bündnisses ihres Landes mit Ägypten mit dem Pharao verheiratet werden würden. Eine Braut war bereits zugesagt: Eine hethitische Prinzessin. Am Morgen des siebzigsten Tages nach Aknamkanons Tod fand die Beisetzung des ehemaligen Pharaos im Tal der Könige statt. Unzählige Menschen säumten das Ufer des Nils, auf dem die reich geschmückte Barke mit der Mumie dahinglitt, gefolgt von weiteren Barken, die die Königsfamilie und die wichtigen Hofvertreter beförderten. Das Volk nahm Abschied von seinem König und Atem versuchte dasselbe zu tun. Es sollte ihm nicht gelingen. Im Tal der Könige angekommen, wurde der Sarg auf eine Schlittenbarke gehievt und dann in einer feierlichen Prozession zu seiner letzten Ruhestätte gebracht. Vor dem Sarg gingen die Amun-Priester, hinter dem Sarg folgten die drei Kinder des Königs und seine vier Enkelkinder. Hetep-Heres’ jüngster Sohn Merenptah, der gerade erst laufen gelernt hatte, hielt die Hände von Nefertiti und Atem fest in seinen kleinen Fäusten. Die Erwählten Priester umgaben die Königsfamilie wie einen Schutzschild. Danach folgte der Schlitten mit den Kanopen hinter dem die Klageweiber, weitere Priester, Beamte, Minister und sonstige Würdenträger gingen. Den Schluß machten die Diener, die die Grabbeigaben und die Uschebtis trugen. Es war der letzte Triumphzug des verstorbenen Pharaos. Nachdem die Trauergemeinschaft das Grab erreicht hatte, wurde die Mumie noch einmal aus ihrem Sarg gehoben und aufrecht neben die Statue von Aknamkanons Ka gestellt. Atem fühlte sich dabei wie unter Glas. Set mußte ihn leicht antippen oder er wäre wahrscheinlich noch lange dagestanden und hätte wie versteinert die Mumie angestarrt. Nur mit Mühe konnte Atem vortreten und die vorgeschriebene Mundöffnungszeremonie an ihr vollziehen. An seine genauen Worte dabei konnte er sich später nicht mehr erinnern. Danach wurde die Mumie wieder in ihre drei Särge gelegt und dann ins Grabmal gebracht, wo sie unter feierlichen Riten und, nur noch von den Priestern und der Königsfamilie begleitet, zur letzten Ruhe gebettet wurde. Der schwere Granitdeckel des Sarkophags schloß sich über der goldenen Totenmaske auf dem obersten Sarg. Als die Trauergemeinschaft danach zum Totenmahl aufbrach, passierte sie auch die neueste Grabungsstelle im Tal der Könige. Das nächste Königsgrab mußte aus dem Stein gehauen werden. *** Atem konnte nicht schlafen. Unnachgiebig rückte der Termin der Krönung näher und er fühlte sich mit jedem verstrichenen Tag schlechter. Es war aber nicht die Krönung, die ihn so aufwühlte, sondern die Trauer um seinen Vater. Dennoch wußte Atem, daß es auf Dauer so nicht weitergehen konnte. Er mußte sich zusammenreißen und an die Zukunft denken. Sein Vater war nun sicher im Jenseits zusammen mit Atems Mutter und verstorbenen Geschwistern. Es würde ihm gutgehen, es würde ihnen allen gutgehen. Sie hatten einander. Dieser Gedanke brachte ein bitteres Lächeln auf Atems Gesicht. Er scheute allein schon vor dem Gedanken zurück, mit Nefertiti intim zu werden. Woher sollte da eine Familie kommen? Was bei allen Göttern stimmte nur nicht mit ihm, daß er sich noch nicht mal überwinden konnte, wenn Nefertiti nackt und weich neben ihm lag? Lag es daran, daß er sie nicht wie eine Gemahlin liebte? Aber er hatte auch nicht das Bedürfnis, mit anderen Frauen zu schlafen. Er hatte sich das auch oft genug vorgestellt und hatte im Lager von den Soldaten mehr als nur eine schlüpfrige Geschichte gehört, aber seine Reaktion blieb dieselbe: Er wandte sich ab. Mit einem resignierten Seufzer stieg Atem aus dem Bett, zog einen Schendit und das Millenniumspuzzle über und spazierte durch die leeren Gänge des schlafenden Palastes. Atem sog die kühle, würzige Nachtluft tief in seine Lungen. Es war eine Wohltat. Als er den Pferdestall sah, beschloß er, Wüstenläufer einen nächtlichen Besuch abzustatten. Wüstenläufer war angenehme Gesellschaft. Er stellte keine Fragen und sagte auch sonst nichts, das machte ihn zum perfekten Zuhörer für die Sorgen seines Herrn. Die meisten Pferde schliefen, nur einige wenige begrüßten den menschlichen Besucher zu solch später Stunde mit einem leisen Wiehern. Atem trat in Wüstenläufers Box und streichelte dem noch wachen Pferd über die Nüstern. „Na, mein Guter? Kannst du auch nicht schlafen?“ murmelte Atem und lehnte sich gegen den warmen, kräftigen Pferdekörper. Wüstenläufer schnaubte und stupste Atem mit der Nase in die Seite. „Tut mir leid, ich hab keine Leckereien mitgebracht.“ Atem lächelte. „Morgen, versprochen, du alter Vielfraß.“ Die traute Zweisamkeit wurde durch ein Knacken gestört. Atem fuhr herum und sah sich einem der Stallburschen gegenüber. Atem hatte den jungen Mann schon einige Male gesehen. Er schien ein gutes Händchen für die Pferde zu haben. „Hoheit!“ Überrascht warf sich der Stallbursche nieder. „Verzeiht mir, ich dachte nur ein Dieb...“ „Kein Dieb. Es freut mich aber zu sehen, daß du deine Arbeit hier so ernst nimmst. Wie heißt du?“ Atem tätschelte noch einmal Wüstenläufers Hals, dann kam er aus der Box und verschloß sie sorgfältig. „Samaya, Hoheit.“ Atem nickte und musterte den Mann zu seinen Füßen. Er mußte sich zu seiner eigenen Schande eingestehen, daß Samaya ihm gefiel. Dabei hatte er gedacht, dieses Kapitel mit Kriegsende und Neferkares Tod endgültig abgehakt zu haben. „Steh auf, Samaya. Ich will dich nicht vom Schlafen abhalten.“ Atem drehte sich brüsk um, um zu gehen. „Ah, Ihr haltet mich nicht vom Schlafen ab, Hoheit.“ Ein Rascheln verriet Atem, daß Samaya aufgestanden war. „Euer Wunsch ist mein Befehl.“ Atem preßte bei diesen Worten seine Augen zusammen. Samaya klang ihm etwas zu eifrig. Atem sollte gehen und sich nicht mehr umdrehen. Er sollte diesen Stallburschen in Zukunft meiden wie eine Krankheit. Warum dann wollte sein Körper so verzweifelt gerne nachgeben? Atem versuchte an Nefertiti zu denken, an irgendeine Frau, aber seine Gedanken waren dennoch mit Samaya und Neferkare gefüllt. Wenn sich Samaya ihm quasi anbot, war es kein Verbrechen, das Angebot anzunehmen. Nur noch einmal, dessen war sich Atem sicher, und er konnte ein normales Leben führen. „Ich verstehe. Denkst du, meine Wünsche können von dir erfüllt werden?“ erkundigte Atem sich schließlich. Seine ruhige, fast schon gleichgültige Stimme gab seine aufgewühlten Emotionen nicht preis. „Ich weiß es nicht, aber ich gebe immer mein Bestes.“ „Das werden wir ja sehen“, murmelte Atem bevor er sich umdrehte und Samaya mit einem hungrigen Blick bedachte. „Zieh dich aus!“ Samaya gehorchte und die beiden sprachen in dieser Nacht kein Wort mehr. Es blieb freilich nicht bei einem Mal und irgendwann gab Atem es auf, noch daran zu glauben, daß dieses Verhalten nur eine Phase sei, von der er eines Tages genug haben würde. Trotzdem fühlte er sich schuldig, betrog er doch Nefertiti und das zu allem Überfluß auch noch direkt vor ihrer Nase. *** Wenige Tage später war Neumond und damit war die Staatstrauer wie die Herrschaft Isfets beendet. Noch am frühen Morgen wurde Atem von den Priestern zum Tempel des Ptah begleitet, wo er heute zum Pharao Ägyptens gekrönt werden würde. Atem blieb zu seinem eigenen Erstaunen ruhig. In den letzten Tagen hatte er sich ständig gesorgt, daß etwas schiefgehen könnte, aber heute hatte er das Gefühl, das alles wie geplant ablaufen würde. Er würde sich einfach immer nur auf den Schritt konzentrieren, den er gehen mußte, nicht auf die, die später noch kamen. Die Krönungszeremonie begann im Tempel mit der rituellen Reinigung, die Akunadin, angetan mit der Maske des Horus als Herr Unterägyptens, und Set, angetan mit der Maske Seths als Herr Oberägyptens, vollzogen. Nachdem Atem mit dem lebensspendenden Wasser übergoßen worden war und sich abgetrocknet hatte, kamen neun Tempeldienerinnen. Jede hielt in ihren Händen einen Tiegel mit kostbarem Öl. Unter den Gesängen der Priester wurde Atem neunfach gesalbt, bevor ihm ein Schendit mit einem angesteckten Stierschwanz angezogen wurde. Atem war froh, das Bad hinter sich zu lassen und nun in das Allerheiligste des Tempels zu treten. Nachdem er vor dem geöffneten Schrein des Ptah seine Gebete verrichtet, die Götterstatue gespeist und neu eingekleidet hatte, wurden Atem vom Zeremonienmeister Krummstab und Geißel, der Stab der Fremden Länder und die weißen Königssandalen ausgehändigt. Angetan mit den ersten Insignien seiner neuen Stellung und Macht ging es nun zurück in einen der größeren Räume des Tempels. In Nord- und Südecke war je ein Thron aufgestellt, dazwischen war eine Mauer aus geflochtenem Schilf aufgebaut worden. Atem ließ sich zuerst auf dem südlichen Thron nieder. Karim reichte Set die weiße Krone Unterägyptens. Set trat neben Atem und setzte die Krone auf sein Haupt. Atem fand die Muße, zu bemerken, daß die Krone nicht so schwer war, wie sie immer auf ihn gewirkt hatte. „Atem, Sohn des Ra, Herrscher von Oberägypten“, deklamierte Set. „Ich werde Seth dienen und in seinem Sinne über Oberägypten herrschen“, erwiderte Atem ruhig. Die Krone wurde von seinem Kopf genommen und Atem erhob sich, um gleich darauf auf dem nördlichen Thron platzzunehmen. Isis reichte Akunadin die rote Krone Unterägyptens und auch diese wurde auf Atems Kopf gesetzt. „Atem, Sohn des Ra, Herrscher von Unterägypten“, verkündete Akunadin. Atem holte tief Luft, dann sprach er: „Ich werde Horus dienen und in seinem Sinne über Unterägypten herrschen.“ Auch diese Krone wurde ihm wieder abgenommen, während die falsche Wand von Tempeldienern fortgeräumt wurde. Statt dessen wurden zwei Stangen, eine mit Lotus für Oberägypten geschmückt, die andere mit Papyrus für Unterägypten, in der Raummitte aufgestellt. Zwischen die Stangen wurde ein reichverzierter Thron gestellt. Atem ließ sich daraufhin auf dem Thron in der Mitte nieder, während Akunadin und Seth die Pflanzen verwoben. Isis und Karim vereinigten derweil die Kronen zur Doppelkrone Ägyptens. Diese wurde dann gleichzeitig von Set und Akunadin auf Atems Haupt gesetzt. „Atem, Sohn des Ra, Lebender Horus, Herrscher der beiden Länder, König von Binse und Biene.“ „Ich werde den Göttern dienen und in ihrem Sinne über die beiden Länder herrschen. Die Maat werde ich achten, mehren und erhalten“, rezitierte Atem seinen Text. Sein Herz klopfte plötzlich laut in seiner Brust. „So wurde es gesprochen, so soll es geschrieben stehen“, sprachen die anwesenden Priester im Chor. Der danach folgende Umzug, um den Herrinnen der beiden Länder, Nechbet und Uadjet, in ihren dem Ptah-Tempel zugehörigen Schreinen zu opfern erschien Atem nun nur noch wie ein Spaziergang. Während der Opferungen wurden ihm auch die anderen Kronen und Kopfbedeckungen aufgesetzt, die ihm jetzt als Pharao gehörten. Atem mußte sich sehr zusammenreißen, um das ohne Gesichtsregung über sich ergehen zu lassen. Obwohl Nefertiti und Mana ihn gestern überfallen und seine Haarmähne etwas ausgedünnt hatten, war es keine einfache Aufgabe für die Priester, die engeren Kopfbedeckungen auf das Haupt ihres Pharaos zu setzen. Atem wäre es schlecht zu Gesicht gestanden, hätte er sein Amüsement ob der komisch-verzweifelten Gesichtsausdrücke offen zur Schau getragen. Der Umzug endete, wo er begonnen hatte und Atem wurde ein gebackenes Ankh als Symbol seiner Macht in die Hand gelegt, das er schlucken mußte. So endete die Tageszeremonie. Nach einer kleinen Verschnaufpause wurde es Zeit für die Nachtzeremonie. Diese würde Atem aber nicht bei Bewußtsein erleben. Nach der Einnahme eines starken Schlaftrunkes legte er sich im Allerheiligsten auf das dort zwischenzeitlich vorbereitete Bett und sank bald in einen todesähnlichen Schlaf. Manche Dinge drangen dennoch an sein Ohr wie einige Gesangsfetzen der Priester oder der Schrei eines Falken, aber sonst hatte er keine Erinnerung an diese Zeremonie. Atem erwachte schließlich am nächsten Morgen nach der rituellen „Erweckung des Toten“. Er fühlte sich ausgeruht und erfrischt und er hegte die leise Hoffnung, daß er von nun an wieder besser schlafen würde können. Damit blieb nur noch der letzte Teil der Zeremonie: Sich seinem Volk zu zeigen. Atem trat mit einem leichten Lächeln aus dem Tempel, wo ihn neben der Bevölkerung von offenbar ganz Theben und Umgebung auch seine Gemahlin und der Rest des Hofstaats erwarteten. Alles brach beim Anblick ihres neuen Pharaos in lauten Jubel aus, der erst erstarb als Siamun einen Papyrus entrollte, um Atems fünfteilige Königstitulatur zu verkünden. „Starker Stier, Schützer der Maat. Von Dunkelheit zu Licht. Stark im Kampf wie Sachmet. Mächtig ist die Weisheit von Ra und Horus. Sohn des Ra, Atem.“ Unter dem erneut aufbrandenden Jubel des Volkes bestieg Atem, Nefertiti an seiner Seite, seinen prunkvollen Streitwagen und trat seinen Triumphzug durch Theben an. „Geht es dir gut?“ erkundigte sich Nefertiti während sie lächelte und den Menschen zuwinkte. „Ja, aber du siehst dafür nicht gut aus“, erwiderte Atem. „Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen. Die Nacht war so furchtbar schwarz.“ „Dann solltest du dich heute besser früh hinlegen, sonst bekommst du wieder Kopfweh.“ Atem sah sie kurz besorgt an. „Mache ich! Das Festmahl heute abend ist ja nicht ganz so wichtig.“ Sie sah ihn dennoch entschuldigend an. Er wußte, daß sie ihn nicht enttäuschen wollte. „Die Festmahle sind sich sowieso fast immer gleich. Dieses wird auch nicht anders sein“, stimmte er freundlich zu. Er wußte noch nicht, daß sich das als Fehleinschätzung erweisen sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)