Seelensplitter von Moonprincess ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Atem lehnte an einem Baum, die Arme vor der Brust verschränkt. Keine fünf Schritte von ihm entfernt hatte sich Nefertiti auf dem sonnenbeschienenen Gras zusammengerollt und schlief friedlich. Es war enervierend! Für einen Moment überlegte Atem, ob er seine jüngere Schwester nicht wecken sollte, dann schüttelte er nur den Kopf. Das würde nichts bringen. Das hatte er in den drei Jahren, seit er in die Gefilde der Binsen eingegangen war, gelernt. Seine Unruhe entsprang nicht der Tatsache, daß Nefertiti schlief, sondern der, daß er nichts mit sich anzufangen wußte. So sehr er es genoß, wieder mit seiner Familie und seinen Freunden aus dem alten Ägypten vereint zu sein, so sehr vermißte er die Freunde, die er im Japan der Gegenwart zurückgelassen hatte. Von ihnen vermißte er Yugi am meisten. Es verging kein Tag, an dem Atem sich nicht fragte, wie es seinem Aibou ging, was dieser gerade tat oder erlebte. Zwei Jahre lang hatten sie nicht nur einen Körper, sondern fast alle Gedanken und Gefühle geteilt. Jetzt war nur noch ein quälend leeres Gefühl in Atems linker Seite, so als hätte man ihn in zwei Hälften gerissen. Hoffentlich ging es seinem Aibou besser als ihm selbst! Hoffentlich mußte dieser nicht darunter leiden, seine andere Seele nicht mehr spüren zu können oder nicht mehr die Beruhigung zu haben, niemals alleine zu sein. Ihre Trennung durch das Siegel des Orichalcos hatte Atem jedenfalls nicht auf die Zeit ohne Yugi vorbereiten können. Er vermißte Yugi, er vermißte dessen Licht, Wärme und Freundschaft. Und das war nur die Spitze des Eisberges... Atem wurde aus seinen Gedanken gerissen als er den Schrei eines Falken vernahm. Er blinzelte in das Sonnenlicht bis er den glänzenden Raubvogel erspähen konnte. Der Falke legte gerade seine buntgefiederten Flügel an und glitt in Spiralen dem Boden entgegen. Vor Atem stoppte der Bote des Horus und schlug mehrmals mit den Flügeln, in seinen Klauen eine Papyrusrolle. Atem nahm die Botschaft an sich. „Danke sehr. Horus sei gepriesen.“ Er nickte dem Falken zu und dieser flog mit einem lauten Schrei davon. Atem öffnete derweil die Nachricht. Was konnte sein Schutzgott von ihm wollen? Seit seinem Totengericht hatte er Horus nicht mehr gesehen. Stirnrunzelnd las er, was der König der Götter ihm geschrieben hatte. Er sah hinüber zu Nefertiti, beschloß aber, sie schlafen zu lassen. „Was steht in dem Brief?“ Aknamkanons Stimme ließ Atem zusammenzucken „Die Götter wollen mich in Iunu sehen. So schnell wie möglich.“ Atem reichte seinem Vater die Schriftrolle. Aknamkanon blickte auf den Papyrus, dann sah er auf und lächelte. „Dann geh. Es wird schon nichts Schlimmes sein, sonst hätte nicht Horus selbst dich bestellt.“ „Du weißt etwas.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Ja, aber es steht mir nicht zu, es dir zu sagen. Geh nach Iunu, dort werden deine Fragen beantwortet.“ Aknamkanon legte seinem Sohn die Hände auf die Schultern. „Sorg dich nicht. Es wird alles gut werden.“ *** Iunu, die Stadt der Götter, lag in der Mitte des Totenreiches und teilte dieses in Ta-djeser und Duat. In Ta-djeser, dem hellen Bereich, lagen unter anderem die Gefilde der Binsen, und dort lebten alle, die vor dem Totengericht die Prüfung des Herzens bestanden hatten. Duat hingegen war voller Dunkelheit und Prüfungen, die eine gerade ins Totenreich eingegangene Seele bestehen mußte, um überhaupt vor das Totengericht zu gelangen. Iunu selbst war aus weißem Marmor gebaut und überall glänzte Gold von reichverzierten Stelen, Obelisken und Türen. Kunstvolle Bilder und Hieroglyphen schmückten die Wände. Die Stadt lagerte sich um einen riesigen Tempel aus poliertem Marmor, dessen Pracht jeden Menschen blenden konnte. Zweiundvierzig Stufen führten zum Sitz der Götter, jede einzelne mit Götternamen in goldenen Hieroglyphen verziert. Vor die Götter gerufen zu werden, nachdem man bereits in Ta-djeser lebte, war ungewöhnlich. Was auch immer der Grund für diesen außergewöhnlichen Schritt war, mußte von immenser Bedeutung sein. Atem war vor drei Jahren das letzte Mal im Tempel von Iunu gewesen. Er konnte sich noch gut an die riesige, lichtgeflutete Halle erinnern, in der die Götter Recht sprachen oder sich berieten. Die Wächter ließen ihn ohne Zögern in diese eintreten. Sofort warf er sich nieder und richtete den Blick auf den Marmorboden. So wie auch Sklaven oder das gemeine Volk den Pharao normalerweise nicht ohne dessen Erlaubnis hatten anblicken dürfen, genauso wenig durften die Sterblichen die Götter ohne deren Erlaubnis anblicken. „Erhebe dich, Sohn Aknamkanons“, erklang wie Donnerhall die Stimme des Horus. Atem erhob sich und trat vor die Götter, die von ihren im Halbkreis angeordneten, erhöhten Sitzen auf ihn herabblickten. Maat stand in der Mitte des Halbkreises, eine goldene, mannshohe Waage hinter ihr. Hier wurden normalerweise die Seelen abgewogen, aber Ammit saß auf ihrem Platz unter den Göttern und stand nicht, wie sonst üblich, neben der Waage. Horus thronte über allen anderen Göttern, auf seinem Falkenhaupt die Doppelkrone Ägyptens, die ihn als König aller Götter auszeichnete. „Wir wollen beginnen“, ordnete er an. „Maat.“ Die Göttin der Gerechtigkeit, geschmückt mit ihrer Straußenfeder und einem Ankh in ihrer rechten Hand, trat vor Atem. „Sei mir gegrüßt, Pharao Atem“, begann sie. „Du wurdest wegen einer Angelegenheit von äußerster Dringlichkeit zu uns gerufen. Das Gleichgewicht der Welt ist gestört und diese Störung muß behoben werden.“ Isfet, Göttin des Chaos und Maats Schwester, schnaubte voller Verachtung. „Ich sage, wir sollten nichts tun! Lassen wir dem Geschehen seinem Lauf.“ Seth nickte zustimmend, während Apophis, der Schlangendämon, ein bösartiges Zischen ausstieß. „Schweigt! Wir haben abgestimmt und uns für das Handeln entschieden“, donnerte Horus. „Was erwartest du von einem Kinderschänder wie Seth, mein Sohn?“ mischte nun Isis sich ein. „Er wird immer versuchen, gegen dich zu intrigieren.“ „Ich intrigiere? Ich versuche lediglich, Vernunft in diese Hallen zu bringen. Horus zieht wieder einmal einen seiner Lieblinge vor und ihr alle folgt ihm wie die Rinder zum Schlachter. Er kann nicht jeden seiner Schützlinge retten“, gab Seth zurück. „Außerdem bin ich kein Kinderschänder, Isis.“ „Du hast mein Kind geschändet!“ erwiderte diese erzürnt und verschränkte die Arme vor ihrem wohlgeformten Busen. „Du sprichst unverschämt, Seth!“ unterstützte Bastet Isis. Die Katzengöttin war aufgesprungen und grub ihre dolchartigen Krallen in den Boden. „Ha! Nefertiti, Atems Schwester, ist doch einer deiner Schützlinge, Bastet. Kein Wunder, daß du dich auf Horus’ Seite stellst. Du siehst auch nur den Vorteil für deine Schutzbefohlenen.“ „Genug!“ fuhr Horus ein zweites Mal dazwischen. „Haltet eure Zungen im Zaum! Wir haben bereits zwei Jahre nur mit Reden verbracht und nun wird die Situation immer kritischer. Wir können unsere Zeit nicht mehr mit albernen Streitigkeiten verplempern. Bitte, Maat, fahre fort.“ Maat rieb ihre Stirn bevor sie nickte. Atem derweil hatte den Disput der Götter schweigend verfolgt. „Wir dürfen dir nicht alles verraten, denn auch das würde das prekäre Gleichgewicht der Welt weiter zu unser aller Ungunsten beeinflussen. Kurz gesagt, du mußt in die Welt der Lebenden zurückkehren. Dort wird sich dir im Laufe der Zeit offenbaren, was die Welt quält. Es ist deine Aufgabe, den Verfall aufzuhalten. Du hast bereits mehr als einmal bewiesen, daß du für die Menschen dort kämpfen kannst und willst. Wir wissen, du wirst in unserem Sinne handeln. Außerdem bist du der einzige, der diese Aufgabe erfüllen kann.“ Atem hob überrascht eine Augenbraue. Zurück zu den Lebenden? Sein Herz über der unerträglichen Leere klopfte wie wild. Selbst wenn er erneut ein Unheil abwenden mußte für welchen Preis auch immer, er könnte vielleicht Yugi wiedersehen. Nur ein einziges Mal noch. Die Frage blieb nur, wie er zurückkehren sollte. „Bitte verzeiht, wenn ich respektlos klinge, gerechte Maat, aber... Wie soll ich als Geist dieses Unheil abwehren? Warum habt ihr mich ausgewählt?“ „Du wirst nicht als Geist, sondern als Mensch zurückkehren“, antwortete Anubis, der schakalsköpfige Totengott, der bisher geschwiegen hatte. „Wenn du deine Aufgabe erfüllst, kannst du entweder dein neugewonnenes Leben auf der Erde fortführen oder sofort danach in die Gefilde der Binsen zurückkehren. Wenn du versagst... Nun, dann sind wir alle verloren und es spielt keine Rolle mehr, wo du dich aufhältst. Dann wird das Unheil schlußendlich die Welt der Lebenden wie der Toten vernichten.“ Maat nickte zustimmend. „Du wirst verstehen, warum nur du diese Aufgabe erfüllen kannst, wenn du einmal angekommen bist. Ich weiß, wir verlangen viel von dir, deinen Frieden hier wieder aufgeben zu müssen, wo du in ihn doch erst vor kurzem eingegangen bist, doch auch wir haben keine Wahl. Selbst unsere Macht ist begrenzt, wie du wohl weißt.“ Atem nickte nachdenklich. Nein, er hatte keine Wahl. Egal, wie er es drehte und wendete, wenn er hierblieb würden alle darunter leiden. Seine Familie, seine Freunde, sein Aibou... „Ich werde gehen.“ „Dein Vater hat deinen Mut und deine Tapferkeit nicht zu unrecht vor uns gepriesen.“ Horus lächelte. „Dann wollen wir mit der Zeremonie beginnen, die dich wieder zum Leben erwecken wird.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)