Eternal Mind von Flordelis (Lass mich nie mehr los) ================================================================================ Kapitel 4: Mutter ----------------- Ruputna und Jatzieta betraten die Stadt, in der Landis nur wenige Minuten zuvor eingetroffen war. Das Mädchen hielt immer noch den Schal in seinen verkrampften Händen, während es sich umsah. Die Ärztin schmunzelte. „Was für ein netter Ort~ Auch gut, um sich niederzulassen, meinst du nicht?“ Statt zu antworten lief Ruputna los, auch wenn sie keinerlei Ahnung hatte, wo sie suchen sollte. Es gab zu viele Häuser und zu viele Menschen, die durch die Straßen liefen. Landis könnte in jedem Gebäude sein oder zwischen allen möglichen Personen, die wild durcheinanderliefen, unkoordiniert wie die Geister im Spirit Corridor. Wie so oft verspürte sie den Wunsch, sich einfach in den Wald zurückflüchten zu können. Sie hatte zu lange nur mit Geistern zusammengelebt, um in ein Leben mit derart vielen Menschen auf einem Fleck wieder hineinfinden zu können – zumindest vorerst. Ihr Blick huschte nervös umher, so dass sie erschrocken zurücktaumelte, als plötzlich etwas direkt vor ihrem Gesicht auftauchte. Erst als der erste Schreck abgeklungen war, erkannte sie, dass es ein tiefroter Apfel war, der ihr da präsentiert wurde. Die Frucht sah so schmackhaft aus, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief. „Nehmen Sie ruhig“, hörte sie eine sanfte Stimme; sie gehörte demjenigen, der ihr den Apfel entgegenhielt. „Es ist der einzige, der von meinem Stand noch übrig ist.“ Ruputna hatte gar nicht mitbekommen, dass sie direkt in den im Abbau befindlichen Markt hineingeraten war. Auffordernd wedelte der Mann noch einmal mit der Frucht, so dass sie ihm diese schließlich abnahm. In Gedanken hörte sie schon wieder die Predigt von Salles, dass es nicht gut war, Dinge von Fremden anzunehmen, aber zumindest für den Moment wollte sie den anderen damit nur loswerden. Der Händler lächelte ihr zu und lief anschließend weiter. Ruputna blieb stehen, bis Jatzieta endlich zu ihr aufgeschlossen hatte. „Du hast es ziemlich eilig, Rupu, hm?“ Das Mädchen reichte ihr statt einer Antwort den Apfel. „Willst du?“ Obwohl sie Appetit auf die Frucht hatte, schnürte ihr die Sorge um Landis die Kehle zu. Jatzieta nahm ihr das Obst lächelnd ab. „Vielen Dank. Oh, da spüre ich erst, wie hungrig ich bin. Weißt du, ich habe gar nicht gefrühstückt.“ Ruputna hörte ihr schon gar nicht mehr zu, sondern lief direkt weiter. Seufzend zuckte Jatzieta mit den Schultern und folgte ihr. Das Mädchen gab es auf, den Jungen selbst erspähen zu wollen und nahm stattdessen innerlich Kontakt mit ihrem Shinjuu auf. Es würde mit Sicherheit herausfinden können, wo er sich aufhielt. Doch egal, wie sehr sie sich konzentrierte, Wadatsumi antwortete ihr nicht. Sie verstärkte ihre Anstrengungen, aber plötzlich konnte sie nicht einmal mehr ihr Shinken spüren. Doch statt sich mit der Frage nach dem Warum aufzuhalten – die sie ohnehin nicht hätte beantworten können – lief sie weiter, auf ihrer Suche nach Landis. In den Büchern, die Nozomi so sehr mochte, konnten die weiblichen Hauptfiguren immer spüren, wenn sich ihre Liebsten in der Nähe befanden. Könnte Ruputna das nicht auch schaffen? Es konnte doch nicht so schwer sein, oder? Also schloss sie wieder ihre Augen und konzentrierte sich diesmal nicht auf ihr Shinjuu oder ihr Shinken, sondern auf Landis selbst. Auch wenn es ihr ungewohnt schwerfiel. Sie liebte diesen Jungen, aber er war kaum einige Stunden weg, da hatte sie schon elementare Dinge über ihn wieder vergessen. Sein Geruch, seine Stimme, alles war wie fort als ob es ihn für sie nie gegeben hätte. Doch gerade als ihr die Tränen in die Augen stiegen, blickte sie wieder auf den Schal in ihren Händen. Er gehörte doch Landis, dann musste er auch nach ihm riechen. Das war doch logisch, oder? Sie hob ihn an ihre Nase und wollte gerade daran riechen, als sie hörte, wie sich in ihrer Nähe ein Fenster öffnete und ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Kalea drückte ihren Sohn überglücklich an sich. „Oh, Landis, du hast mir solche Sorgen gemacht. Du kannst doch nicht einfach so lange wegbleiben.“ Wie oft hatte er diese Predigt bereits gehört? Es war ja nicht so, dass er absichtlich so lange wegblieb, er vergaß bei all den Erkundungen nur immer wieder die Zeit, besonders wenn er mit Brant unterwegs war. Früher hatte es jemanden gegeben, der ihn dann immer in Schutz genommen hatte, doch wer war das nur gewesen? Und warum war er aus seinem Gedächtnis verschwunden? „Tut mir Leid, Mama“, entschuldigte er sich zum gefühlten hundertsten Mal. „Ich mache es nie wieder.“ Auch das hatte er schon so oft gesagt, es musste langsam all seine Bedeutung verloren haben, doch seine Mutter glaubte es ihm immer noch, was ihm automatisch ein schlechtes Gewissen machte. „Wie geht es dir?“, fragte Kalea sanft. „Ist dir unterwegs etwas passiert?“ Er lächelte. „Es war alles bestens. Ich habe sogar neue Freunde gefunden.“ Auch wenn er sich immer noch nicht so ganz sicher war, ob er die anderen Shinkenträger wirklich als Freunde bezeichnen konnte. Aber er wollte sich nicht an Kleinigkeiten aufhalten. „Oh wirklich? Früher hattest du nie viele Freunde.“ „Zwei reichen doch auch, oder?“ Brant und dessen Schwester Lin, die beide im Herrenhaus der Stadt wohnten, waren immer seine einzigen Freunde gewesen. Alle anderen Kinder und Jugendliche in seinem Alter hatten ihn stets ignoriert. Laut Brant war das normal, wenn... wenn... Landis hatte vergessen, was genau es gewesen war, weswegen er so unpopulär gewesen war. Offenbar hing es also mit seiner verschwundenen Erinnerung zusammen. Wie viele Ding betraf es wohl noch? „Und wo sind deine Freunde jetzt?“, fragte Kalea. Er zuckte zusammen. In all der Aufregung hatte er die anderen auf Monobe ganz vergessen. Hoffentlich machten sie sich keine Sorgen um ihn. Wobei... vielleicht hatten sie noch gar nicht bemerkt, dass er nicht mehr da war. Aber zumindest Ruputna würde es wohl bemerken, oder? Die stickige Luft setzte Landis plötzlich so sehr zu, dass er an das Fenster trat und es öffnete. Gerade als er die Läden öffnete, fiel sein Blick auf ein Mädchen, das verloren mitten auf der Straße stand. Natürlich erkannte er sie sofort wieder, sie war eben einmalig. „Ruputna!“ Verwirrt blickte sie zu ihm hinüber, doch schlagartig hellte sich ihre Miene auf. „Landis!“ Fröhlich tänzelte sie ans Fenster und reichte ihm den Schal. „Ich habe dich so lange gesucht!“ Er lachte leise. „Tut mir Leid, dass ich dir Sorgen bereitet habe.“ Natürlich wusste er, dass es noch nicht so lange gewesen war, aber er wusste auch, dass ihr Zeitgefühl nicht dem eines normalen Menschen entsprach. Er wusste zwar nicht, warum es so war, doch inzwischen war er daran gewöhnt, dass fünf Minuten für sie einer Stunde entsprachen. „Bist du ganz alleine hier?“, fragte er, als er ihr den Schal abnahm. Ruputna schüttelte den Kopf und blickte sich um, bis sie Jatzieta erspähte und auf diese zeigen konnte. „Da drüben ist sie.“ Die Ärztin kam nur langsam näher, sie spielte mit dem Apfel in ihrer Hand. Als sie Landis erkannte, lächelte sie ebenfalls. „Mhm, dir scheint es gut zu gehen, Lan.“ „Ja, alles bestens. Bleibt nicht draußen stehen, kommt rein.“ Er deutete zur Tür hinüber, was sich besonders Jatzieta nicht zweimal sagen ließ. Sie schnappte sich Ruputnas Handgelenk und zog das Mädchen mit sich. „Wen hast du da eingeladen?“, fragte Kalea, die von der Unterhaltung nicht wirklich viel mitbekommen hatte. „Zwei der Freunde, von denen ich gesprochen habe.“ Sie nickte verstehend und blickte zum Durchgang hinüber, als die Tür geöffnet wurde. Es dauerte nicht lange, bis Ruputna hereinwirbelte und Landis umarmte. Jatzieta kam ein wenig langsamer hinterher. Im Gegensatz zu dem Mädchen beachtete sie Kalea sogar. Artig begrüßte sie die fremde Frau, doch der Blick von Landis' Mutter blieb skeptisch. „Apfel?“, fragte die Ärztin hilflos und hielt ihr die Frucht hin. Kalea betrachtete diese einen Moment, ein besorgter Zug erschien auf ihrem Gesicht, dann schüttelte sie den Kopf. „Lieber nicht.“ Sie blickte wieder zu Ruputna, die immer noch Landis umklammerte. „Sind sie nicht süß?“, kicherte Jatzieta. Kaleas Gesichtsausdruck sagte ohne Worte, dass sie ganz anders darüber dachte. Ihr Tonfall blieb trotzdem höflich, wenngleich sie doch ein wenig gereizt klang: „Landis, willst du uns nicht vorstellen?“ Er nickte und löste Ruputna von sich. „Mama, das sind Ruputna und Jatzieta. Sie sind Shinkenträger, die-“ „Shinken?“ Es klang weniger wie eine Frage, die aus Nichtwissen heraus gestellt wurde, es schien eher, dass sie genau wusste, was damit gemeint war und es nur nicht fassen konnte. Allerdings hatte Landis keine Ahnung, woher sie so etwas wissen könnte. Seiner Erinnerung nach gab es in seiner Heimatwelt keine Shinken. Jedenfalls wirkte sie nicht sonderlich begeistert von dieser Eröffnung. „Dann hast du auch ein Shinken, Landis?“ Er nickte, doch es war Jatzieta, die antwortete: „Ein Shinken mit dem Rang Sechs, um genau zu sein, falls Ihnen das etwas sagt.“ Landis konnte sich nicht vorstellen, dass es ihr etwas sagte, doch ihr Gesichtsausdruck schien das tatsächlich auszudrücken. Doch sie wirkte immer noch alles andere als begeistert. „Ich verstehe. Danke, dass ihr auf meinen Sohn aufgepasst habt, aber das wird nun nicht mehr nötig sein.“ Jatzieta hob eine Augenbraue. „Bitte?“ „Landis ist wieder zu Hause“, fuhr Kalea fort. „Er braucht nun keine Aufpasser mehr.“ „Oh, nein, nein, nein“, sagte die Ärztin schnell. „Wir haben nicht auf ihn aufgepasst. Er hat zusammen mit uns gekämpft und eigentlich wollte er auch wieder mit uns mit... oder?“ Verunsichert sah sie zu Landis hinüber. Der Junge fühlte sich ein wenig überrumpelt. Bislang hatte er noch gar nicht darüber nachgedacht, ob er wieder mit den anderen mitgehen wollte. Ruputna zog an seinem Arm. „Landis~ Du wirst nicht wirklich hierbleiben, oder? Oder?“ Er bereute sofort, dass er sie wieder ansah. Ihre großen Augen flehten um eine beruhigende Bestätigung, dass er nicht in dieser Welt bleiben würde. „Ich weiß es nicht“, antwortete er ausweichend. Das Knistern in der Luft war deutlich spürbar und fiel besonders Jatzieta unangenehm auf, die sofort eingriff: „Aber Landis, hast du schon vergessen, wieso du zu uns gekommen bist?“ „Nein. Ich war bei euch, um Sharivar zu besiegen, weil er meine Heimatwelt zerstört hat... zumindest dachte ich das.“ Kalea zuckte zusammen. „Zerstört?“ Landis nickte ihr zu. „Ja. Zumindest hat Eneko das gesagt. Aber im Moment schweigt sie.“ „Genau wie Barasterda“, meinte Jatzieta. „Und Wadatsumi bestimmt genauso.“ „Jii-chan ist nicht da“, bestätigte Ruputna traurig. Salles hätte nun mit Sicherheit eine Verbindung gezogen und die ersten Theorien aufgestellt, doch gerade als Jatzieta dasselbe tun wollte – wenngleich um einiges weniger intelligent als der Brigadeführer – wurden ihre Gedanken wieder von Kalea unterbrochen: „Das reicht jetzt. Ich will davon nichts mehr hören.“ Die Anwesenden richteten ihre Aufmerksamkeit auf sie. „Das ist immer noch mein Haus und ich möchte, dass jetzt alle außer Landis es verlassen.“ Den autoritären Tonfall war der Junge nicht im Geringsten gewohnt, weswegen er nicht wagte, ihr zu widersprechen, sondern einfach knapp nickte. Es war Ruputna anzusehen, dass sie Einspruch erheben wollte, doch auch sie brach unter der Autorität zusammen und nickte eingeschüchtert. Einzig Jatzieta wagte es, Zweifel anzumelden: „Hältst du das für eine gute Idee, Lan?“ Ihr entging nicht Kaleas gerunzelte Stirn, als sie den Jungen mit dem Kosenamen ansprach. „Was soll schon passieren?“, erwiderte er mit einer Gegenfrage. „Immerhin bin ich hier zu Hause. Ihr solltet zu den anderen zurückgehen und ihnen sagen, was ihr hier gesehen habt.“ Für einen Moment schien es Jatzieta, als wolle er ihr damit etwas mitteilen, doch sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Er schien tatsächlich keinen Hintergedanken zu haben. Ruputna sah Landis wieder mit großen Augen an, lächelnd tätschelte er ihren Kopf. „Keine Sorge, wir sehen uns morgen wieder.“ „Ich werde ganz früh da sein“, versprach sie. Nach einer kurzen Verabschiedung verließen die beiden das Haus wieder. Kalea blickte aus dem Fenster, um absehen zu können, wann die beiden endlich außer Hörweite waren. Schließlich wandte sie sich ihrem Sohn zu. „Landis, ich möchte, dass du mir alles erzählst, was seit unserer letzten Begegnung geschehen ist. Auch alles, was mit deinen neuen Freunden zu tun hat.“ Es war Landis unheimlich wie sie das Wort Freunde betonte, doch wie zuvor widersprach er nicht, sondern nickte. Die beiden setzten sich an den Tisch und der Junge begann, von seinem letzten Tag zu Hause zu erzählen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)