Our Heartbeats von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Madness ------------------ Herzlichen Willkommen zur Fortsetzung von Your Smile. Ich freue mich, dass ihr euch hierher verirrt habt. Ich kann diesmal nicht garantieren, dass die Kapitel regelmäßig kommen werden, da ich nebenher noch ein anderes Projekt am Laufen habe. Allerdings möchte ich an dieser Stelle nur noch einmal betonen, dass es (auch) in diesem Teil keinen Lemon geben wird; es wird auch kein »heimliches« Adult-Kapitel geben und auch keine »zensierten« Versionen. Ihr braucht also nicht zu hoffen. Grace und Dion bleiben allein im Bett :P So, ich wünsche jetzt viel Spaß beim Lesen des ersten Kapitels. _________________________________________________________ MADNESS I TRUST YOU, IF IT'S ALREADY BEEN DONE, UNDO IT »Und, hat einer von euch es schon gesagt?«, fragte Tess, während sie die Gurke von ihrem Cheeseburger pulte und auf das Tablett vor sich fallen ließ. Sie hasste die Gurken auf Cheeseburgern. Ich war mir sicher, sie würde die Gurken sogar in einem Edelrestaurant herunterpulen. Schweigend sah ich ihr dabei zu, während ich auf meinem eigenen Cheeseburger herumkaute. »Was gesagt?«, wollte ich wissen und runzelte die Stirn. Sie hob den Blick und schaute mich ein wenig ungläubig an. Dann klatschte sie die obere Hälfte des Brötchens wieder auf den Rest des Burgers. »Na, was wohl? Die berühmten drei Worte. Ich liebe dich«, meinte Tess, bevor sie einen Bissen nahm. Ich verdrehte die Augen. Irgendwie hatten Mädchen scheinbar einen genetisch programmierten Code für solche Dinge. Sie schien viel aufgeregter zu sein als ich, dabei führte ich die Beziehung und nicht sie. »Ach, das«, sagte ich lahm. »Nein. Er nicht und ich auch nicht.« »Wirklich nicht?« Tess machte große Augen. Wieder rollte ich die Augen. »Tess, du wärst sicherlich die Erste, die es erfahren würde.« »Es wundert mich nur …« »Wir sind gerade mal einen Monat … du weißt schon. Wir haben auch nicht miteinander geschlafen.« Tess entrückter Gesichtsausdruck überraschte mich. Sie starrte mich fassungslos an. Ich zog die Augenbrauen hoch und fragte mich, ob es ihr gut ging. Vielleicht dachte sie, ich log sie an? Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie mir um den Hals fallen würde. Na ja, nach meiner Beziehung zu ihr hatte ich nicht mehr wirklich etwas Ernsthaftes gehabt. Einen Monat war ich danach noch mit Rose zusammengewesen, aber die Sache hatte ein schlechtes Ende genommen … »Ihr hattet noch keinen Sex?«, fragte Tess erstaunt, nachdem sie ihre Stimme offensichtlich wiedergefunden hatte. »Ist das so unglaublich?«, erwiderte ich schlicht und zuckte die Schultern. »Na ja, ich bin davon ausgegangen, dass ihr wie ausgehungerte Tiere übereinander hergefallen seid«, gestand sie und trank dann ihr Glas Cola in einem Zug aus. So, wie es aussah, hatte die Info sie wirklich unvermittelt getroffen. »Sind wir eben nicht. Wir haben zusammen in einem Bett geschlafen, aber …« »In einem Bett? Und da ist nichts passiert? Ich meine … nicht mal gefummelt?« »Abgesehen davon, dass ich mich eigentlich nicht mit dir über mein Sexleben mit Dion unterhalten will — nein, wir haben auch nicht gefummelt. Wir haben rumgeknutscht und — wie nennt man das, wenn man zusammen im Bett liegt, sich festhält und streichelt?« »Kuscheln.« »Genau. Wir haben gekuschelt.« »Du kannst kuscheln? Wir haben nie gekuschelt«, meinte Tess und wirkte fast etwas wie beleidigt. Ich musste lachen. »Na ja, Dion hat gekuschelt. Ich hab eigentlich gar nichts gemacht«, sagte ich, während ich mir mit einer Hand den Nacken kratzte. Tess sah aus, als hätte sie mir gerne ihre Gurken ins Gesicht geschmissen. Doch dann atmete sie tief durch, sie wurde nachdenklich. »Scheint dir also ernst zu sein«, murmelte Tess gedankenverloren, während sie mich eingehend musterte. »Er tut dir gut. Du warst schon lange nicht mehr so ausgeglichen, wie jetzt — seit du mit Dion zusammen bist.« Ich antwortete nicht. Es war eigenartig, von Dion und mir als Paar zu denken. Seitdem wir zusammen waren, gab es eigentlich kaum einen Tag, den wir nicht zusammen verbrachten; und mit zusammen meinte ich außerschulisch. Entweder war er bei mir oder ich bei ihm. Seine Eltern wussten inzwischen auch Bescheid. Dion hatte mir erzählt, dass sie schon wussten, dass er kein Interesse an Mädchen hatte. Und er hatte mir auch erzählt, dass er vor mir schon mal einen Freund gehabt hatte, in Peoria. Sie hatten sich getrennt, kurz bevor Dion dann umgezogen war. Ein Teil von mir war überrascht gewesen, dass mein Bambi gar nicht so unerfahren war, wie ich auf den ersten Blick angenommen hatte; ein anderer Teil war nicht überrascht davon. Ich hatte im ersten Moment nicht gewusst, was ich davon halten sollte. Dion hatte mir seinen Ex-Freund, Will, auf einem der Fotos an seinem Schrank gezeigt. Einen Augenblick lang hatte ich tatsächlich das Bedürfnis, das Bild abzureißen und zu verbrennen. Aber es war nur ein Foto und darauf waren außer Will noch ein paar andere Leute zu sehen. Trotzdem — es war ein seltsames Gefühl gewesen, was wohl auch daher kam, dass sie sich nicht getrennt hatten, weil sie sich nicht mehr liebten. Sie hatten sich getrennt, weil sie beide nicht an einer Fernbeziehung festhalten wollten. Mittlerweile dachte ich kaum noch darüber nach. Wenn Dion immer noch so sehr an Will gehangen hätte, dann hätten wir keine Beziehung — und er hätte sich schon gar nicht um mich bemüht. Es war immer noch komisch, wenn ich Seiten an Dion kennen lernte, die gar nichts mit seinem Bambi-Verhalten zu tun hatten. Zwar würde er sein Bambi-Image in meinen Augen nie ganz ablegen können, aber … er war überhaupt nicht so naiv wie ich immer gedacht hatte. Und je besser ich Dion kennen lernte und je mehr ich über ihn erfuhr, desto bewusster wurde mir das. Außer Tess und Dions Eltern wusste niemand darüber Bescheid, dass Dion und ich zusammen waren. In der Öffentlichkeit waren wir kein Paar, nur, wenn wir unter uns waren. Nicht, dass ich Angst hatte, es bekannt zu machen. Die meisten Leute aus meinem Bekanntenkreis wussten sowieso schon, wie meine sexuellen Ausrichtungen lagen und anfangs hatte es dämliche Bemerkungen gehagelt, aber irgendwann hatten sie sich beruhigt — außer den Kirchenfreaks. Aber weil ich eigentlich noch keine richtige Beziehung zu einem anderen Kerl gehabt hatte, hatten sie nichts, worüber sie sich aufregen konnten. Bevor ich Tess kennen gelernt hatte, hatte es mal einen Jungen gegeben, mit dem ich kurz zusammengewesen war. Aber das war wieder an mir gescheitert, weil ich einfach viel zu sehr abgeblockt hatte, was persönliche Dinge anging. Die Sache war beendet gewesen, noch bevor sie überhaupt richtig angefangen hatte. »Wo ist Dion eigentlich?«, wollte Tess dann wissen und runzelte die Stirn. Es war Mittagspause und wir saßen in der Cafeteria. Normalerweise waren wir eine geschlossene Einheit, heute fehlte Bambi. Es wunderte mich, dass Tess so lange gebraucht hatte, bis es ihr auffiel. »Er ist nach Hause gegangen. Hatte Magenkrämpfe«, antwortete ich. »Oh«, sagte Tess und klang dabei, als würde sie einen Welpen bemitleiden. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie nach der Schule mit einem Topf Suppe zu ihm nach Hause geeilt wäre, um dem armen Rehkitz alles zu geben, was es brauchte. Ich schwieg und aß meinen Burger auf. Tess erinnerte mich an das Volleyballturnier, das in zwei Wochen stattfinden würde. Gedanklich stöhnte ich auf. Jedes Jahr fand dieses Turnier statt und jedes Jahr herrschte hemmungslose Aufregung. Alle Schulen der Stadt nahmen daran teil. Bisher hatten wir noch nie den ersten Platz gemacht und der Coach drillte uns mittlerweile. Ich wusste nicht, wer den Titel mehr wollte: wir oder der Coach. »Steht das Team denn schon?«, fragte ich Tess. Es würde ein festes Team geben, das spielen sollte. Natürlich gab es für Notfälle auch Auswechselspieler. Wie jedes Jahr stellte die Volleyball AG die Mannschaften für das Turnier. Da sich die AG nicht nur auf unseren Jahrgang bezog, würden auch Teams für die anderen Klassenstufen gestellt werden. »Nein, noch nicht. Aber es soll nächste Woche aushängen, wer drin ist«, antwortete Tess und schaute an mir vorbei auf etwas, das sich hinter meinem Rücken abspielte. Als sie ihre Augen wieder auf mich fokussierte, konnte ich ihr ansehen, dass sie wieder irgendetwas auf dem Herzen hatte. »Was schenkst du Dion eigentlich zum Valentinstag?«, wollte sie wissen. Verwirrt sah ich sie an. Valentinstag? Wie war sie denn jetzt schon wieder darauf gekommen? Ich warf einen Blick über die Schulter und sah das große Plakat an den Eingangstüren zur Cafeteria, die für den Valentinstagsball der Schule warben. Verräterische Dinger. Valentinstag war auch so ein Mädchengedöns. Ich verdrehte die Augen. »Gar nichts«, sagte ich gelassen, nachdem ich mich wieder zu Tess umgedreht hatte. »Warum sollte ich ihm was schenken?« »Was soll denn das bitte heißen? Du willst ihm nichts zum Valentinstag schenken?« Tess klang entrüstet. »Es ist euer erster gemeinsamer Valentinstag!« »Ja, und?«, sagte ich, während ich die Augenbrauen nach oben zog. Wie ich solche Diskussionen hasste. »Wir sind erst einen Monat zusammen—« »Ist das deine Ausrede für alles?« »—und außerdem … ich liebe Dion am Valentinstag doch nicht mehr als an jedem anderen Tag des Jahres. Dieser Tag ist absoluter Schwachsinn. Ich kann ihm auch an jedem anderen Tag ein Geschenk machen. Dafür bedarf es keiner besonderen Bezeichnung …« Tess starrte mich an, als wäre ich eine Erscheinung. »Du hast es gesagt«, flüsterte sie dann ehrfürchtig. Ich blinzelte verwirrt, dann begriff ich, was sie meinte. Irritiert runzelte ich die Stirn. So direkt hatte ich das erstens gar nicht gesagt und zweitens … ein zweitens gab es nicht … »Wie auch immer«, brummte ich schließlich. Tess streckte die Hand nach meiner aus und umschloss sie mit den Fingern. Ah, Mädchengedöns. Horror. »Du bist süß«, sagte sie lächelnd zu mir und strahlte dabei, als hätte ich ihr gerade meine grenzenlose Liebe gestanden. Bei aller Liebe, aber ich war alles andere als süß. Verdammt. Ein Rehkitz war süß, Schokolade war süß … Tess seufzte tief, während sie sich mit einer Hand durch die Haare fuhr. »Ich fürchte, ich muss lesbisch werden«, wehklagte sie dann auf einmal. Verdutzt starrte ich sie an. Wo war denn da jetzt der Zusammenhang? Hä? »Wie soll ich das denn verstehen?«, fragte ich skeptisch. Tess seufzte noch einmal schrecklich theatralisch auf, pustete sich eine Haarsträhne eindrucksvoll elegant aus der Stirn und schaute mich dann wehleidig an. »Stell dir das doch mal vor: du, Dion, mein Freund und ich«, sagte sie verschwörerisch. Ich fiel aus allen Wolken. Warum neigten Mädchen dazu, immer so kryptisch zu sprechen? Das war ja nicht zu ertragen. Bass erstaunt starrte ich Tess an und überlegte, ob ich ihre Aussage hinterfragen oder so tun sollte, als hätte ich natürlich total gecheckt, was sie mir damit sagen wollte. Letzten Endes entschied ich mich für ersteres, um mir nicht irgendwann anhören zu müssen, ich hätte ihr nicht zugehört oder so. »Du hast einen Freund?«, fragte ich langsam und versuchte, mir meine beste Freundin mit einem Kerl vorzustellen. Gab es überhaupt einen, der sie verdient hatte? Zweifelhaft. »Blödsinn«, blubberte Tess ärgerlich und beugte sich über den Tisch. »Aber … rechne doch mal durch, du Mathegenie. Das wären dann drei Kerle und ich.« »Ja … und?« Tess warf die Arme in die Luft, als hätte ich nach dem millionsten Erklärungsversuch immer noch nicht geschnallt, was sie mir sagen wollte. Was hatte ich denn schon wieder nicht kapiert? Für sie mit zwei X-Chromosomen lag es offensichtlich auf der Hand, worum es ging. Ich begriff solche Dinge leider nicht so schnell. Zumal ich gar nicht so das Drama-Gen hatte … »Meine Fresse, Grace, dann hätte ich drei Kerle an der Backe, auf die ich aufpassen müsste! Das geht doch nicht! Wie würde das aussehen? Ich bin doch kein Babysitter für drei Babyjungs!«, sagte sie aufgeregt und umfasste mein Gesicht mit ihren Händen, sodass sie mich zu sich heranziehen konnte. Aber was sollte denn bitte heißen, sie würde auf mich auspassen? Oder auf Dion? Die hatte doch ’nen Schuss, die Alte. »Als würdest du bei Dion und mir babysitten müssen«, meinte ich abwehrend und wollte mich Tess’ Händen entziehen, doch sie hielt mich eisern fest. Wir starrten einander einige Minuten lang wortlos an. »Wer hat dir denn bitte in den Arsch getreten, damit du endlich mal in die Gänge kommst? Wahrscheinlich würdest du dich ohne mich jetzt immer noch selbst belügen und in süße Selbsttäuschungen flüchten, die dir bestätigen, dass Dion nichts in deinem Leben zu suchen hätte. Entschuldige, wenn das arrogant klingt, aber ich war nicht unwesentlich daran beteiligt, dich davon zu überzeugen, zu ihm zu gehen!« Touché. »Ich kann Dion ja mal fragen, ob er was gegen einen Dreier hätte. Dann hätte sich jedenfalls dein Problem gelöst und es würde bei zwei Kerlen bleiben«, schlug ich ihr vor. Tess kniff in meine Wangen. Na herrlich. Ich grummelte. Dann ließ Tess mich schließlich los und während sie sich wieder zurücklehnte, rieb ich mir das Gesicht. »Du bist so ein Trottel«, meinte Tess. Sie saß mit verschränkten Armen da und schaute mich mit einem Gesichtsausdruck an, als würde sie an meiner Zurechnungsfähigkeit und meinem geistigen Zustand zweifeln. Ich war froh, als ich Tess und ihr »Du bist so süß«-Geschwafel, in das sie irgendwann wieder verfallen war, los war. Bevor ich nach der Schule zu Dion ging, besuchte ich meinen Dad im Krankenhaus. Sein Zustand hatte sich verschlechtert und wurde immer schlimmer, je mehr Zeit verging, in der er keine neue Leber bekam. Bisher hatte sich noch nichts ergeben und vor ihm gab es noch andere auf der Liste. Dr. Baldwin sagte, dass die Medikamente nicht mehr so anschlugen, wie sie sollten und sie auf etwas anderes umsteigen würden. Das machte es nicht leichter, aber ich hoffte immer noch, dass Dad eine Leber bekam, bevor es zu spät war. Nachdem ich das Krankenhaus verlassen hatte, ging ich zu Dion. Seine Eltern waren noch nicht zu Hause, das Erdgeschoss war überhaupt nicht erhellt. Als ich das Haus betrat, war es still und dunkel. Ich streifte mir die Schuhe von den Füßen und zog mir die Jacke aus, während ich die Treppe nach oben ging. Es war immer noch eigenartig, sich wie selbstverständlich in diesem Haus aufzuhalten und zu bewegen — als würde ich hier wohnen. An diese Freiheit hatte ich mich noch nicht gewöhnt. Als ich die Tür zu Dions Zimmer öffnete, sah er mir direkt entgegen, als hätte er die Tür schon die ganze Zeit erwartungsvoll angestarrt. Seine Züge wurden weich, als er mich anlächelte. Hey, wer brauchte schon Glühbirnen, wenn man jemanden hatte, der so lächeln konnte wie Bambi? Gedanklich schüttelte ich den Kopf über mich selbst und ging zu ihm hinüber. Er lag zusammengerollt und zugedeckt auf dem Bett, der Fernseher lief und die Katzen lagen am Fußende seiner Decke. Ich hockte mich neben dem Bett auf den Boden, sodass ich mit Dion auf Augenhöhe war. »Warst du noch im Krankenhaus?«, fragte er mich. Ich verschränkte die Arme auf dem Bettrand und legte das Kinn darauf. Dions Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ebenso wie die Tatsache, mich als Bestandteil eines Paares zu betrachten oder in diesem Haus wie ein Bewohner ein- und auszugehen, war es auch irgendwie eigenartig, beinahe verrückt, Dion so nah zu sein. Inzwischen war es eine Selbstverständlichkeit, es war auch etwas, das mir gefiel. Trotzdem … irgendwie war es einfach nur verrückt. Ich konnte es nicht einmal erklären. »Ja«, murmelte ich und betrachtete ihn dabei. Er wirkte ein wenig blasser als sonst. Die Haare fielen ihm locker ins Gesicht. »Irgendwas Neues?« »Nein.« Dion sagte nichts. Schweigend verbrachten wir die nächsten Minuten. Aus den Fernsehlautsprechern drangen die leisen, ruhigen Töne eines Songs, den ich nur allzu gut kannte. Für einen Moment schloss ich die Augen, lauschte der Musik und fragte mich, ob ich der einzige war, für den diese gesamte Situation so eigenartig fremd erschien. Es fühlte sich keineswegs falsch an, nur eben … ungewohnt. Fast empfand ich so etwas wie Schuld, dass mich so ein verrücktes Gefühl beschlichen hatte, aber andererseits ließ ich die Schuld nicht zu, weil ich wusste, dass ich es nicht bereute, bei Bambi zu sein. »Geht’s dir besser?«, fragte ich ihn schließlich leise. Ich sah auf, um ihn anzuschauen. Dion zog ein Wärmkissen unter der Decke hervor. Als ich danach griff, stellte ich fest, dass sie bereits kalt war. »Nicht so richtig«, meinte er. »Ich hab vorhin Tropfen genommen, es ist auch schon etwas besser, aber ich muss sie nachher noch einmal einnehmen.« Ich nahm das Wärmkissen. »Ich geh sie aufwärmen«, sagte ich. Doch bevor ich aufstehen konnte, griff Dion nach meinem Shirt und zog mich zu sich. Als er mich küsste, war mein Kopf wie immer, wenn er es tat, komplett leer gefegt. Ich dachte an nichts — und es tat gut. Seine Lippen waren warm und weich und waren wohl der totale Gegensatz zu meinen. Ich fühlte, wie er mit den Fingerspitzen durch meine Nackenhärchen fuhr. »Danke«, murmelte er sanft gegen meine Lippen, nachdem wir uns wieder voneinander gelöst hatten. Ich stand auf und ging nach unten in die Küche, warf das Wärmkissen in die Mikrowelle und stellte diese ein. Während das Kissen sich aufwärmte, lehnte ich mich gegen die Anrichte und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hatte das Licht nicht angemacht, der Schein der Laternen von draußen fiel durch das Fenster in den Raum. Hinter dem Fenster schneite die Welt schon wieder zu und ich hoffte trotzdem, dass der Schnee bald schmelzen würde. Gedanken kreiselten in meinem Kopf, doch keiner davon war klar. Seit einem Monat hatte ich nicht andauernd das Gefühl, dass mir der Schädel vor lauter Gedanken und Probleme platzen würde. Es war ganz angenehm, ich genoss es. Die Tatsache, dass das hauptsächlich mit Dion zusammenhing, war mir bewusst, obwohl es mich noch immer jedes Mal aufs Neue erstaunte, wie sehr es sich auf mich auswirkte, wenn ich ihn um mich hatte. Was für eine verrückte Welt. ___ tbc. Kapitel 2: Victory ------------------ VICTORY WE’RE NOT AT THE END BUT OH WE ALREADY WON Der schrille Ton der Schiedsrichterpfeife durchschnitt die atemlose Stille der Sporthalle und verkündete das Ende der Spielzeit. Ich warf einen Blick auf den Punktestand und stellte zufrieden fest, dass wir dieses Spiel gewonnen hatten. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war. Ich grinste in mich hinein und klatschte meine fünf Mitspieler ab. Mit diesem Spiel hatten wir es ins Finale geschafft und jetzt spielten wir gegen die Pearl High School, den Titelverteidiger. Dass Tess, Dion und ich feste Mitglieder der Mannschaft waren, war wohl nichts Besonderes. Das Volleyballturnier fand witzigerweise sogar am Valentinstag statt, sehr zu Tess’ Verdruss. Das Turnier war verschoben werden, aus welchen Gründen auch immer. Jedenfalls war jetzt mein Samstag dafür drauf gegangen, aber so hatte ich ihn zumindest sinnvoll genutzt und war abgelenkt von diesem Liebesgedöns im Fernsehen, Radio oder sonst wo. Abgesehen davon war ich auch noch nicht in die peinliche Situation geraten, mich eventuell vor Dion zu rechtfertigen. Oder überhaupt … »Dann steht dem Turniersieg nichts mehr im Weg«, sagte Dion gerade vergnügt, während wir den Unterstuflern für ihr Halbfinale Platz machten. Erst wenn das Halbfinalspiel vorbei war, würden wir gegen die Pearl spielen. Dion machte das Turnier zum ersten Mal mit und war dementsprechend aufgeregt. Er schien kein bisschen an Energie verloren zu haben, ganz im Gegenteil: Es war, als würde er mit jedem Spiel mehr Kraft dazu gewinnen. Keine Ahnung, woher er seine Schübe nahm; vermutlich lag es am Reiz des Neuen. »Freu’ dich nicht zu früh«, sagte ich seufzend und fuhr mir durch die Haare. Tess band ihren Zopf neu, sah aber ebenfalls ziemlich verdrossen aus, als das Thema zur Sprache kam. Dion hingegen sah uns abwechselnd fragend an. »Wir haben — soweit ich mich erinnern kann — bis jetzt jedes Jahr gegen die Pearl im Finale verloren. Wir sind die ewigen Zweitplatzierten. Du solltest die Mannschaft echt nicht unterschätzen, zwischen denen und dem Rest hier liegen ein paar Levels.« »Grace hat Recht«, pflichtete Tess mir bei. »Hast du dir mal angesehen, wie sie spielen? Das ist wirklich der Wahnsinn.« »Aber wir sind doch nicht schlechter als die«, meinte Dion mit ungebrochenem Enthusiasmus, allerdings trotzdem ein wenig verwundert. Es schien ihn zu irritieren, dass wir so düster reagierten. Aber er würde schon noch verstehen, was wir meinten, wenn es erst einmal so weit war. Doch dieses Jahr hatten wir fest vor zu gewinnen. Mit Dion im Team waren wir um einen starken Mitspieler reicher; nicht, dass die anderen schlechter wären, aber Tess, Dion und ich waren mittlerweile perfekt eingespielt. Ich seufzte noch einmal und kam nicht umhin, den Kopf zu schütteln. Langsam schlenderte ich zu den Umkleiden, um meine leere Wasserflasche gegen eine volle auszutauschen. Es war ruhig hier hinten, alle tummelten sich in der Halle, um dem Spiel zuzusehen. Ich packte die leere Flasche zu meinen Klamotten, bevor ich die unbenutzte aus meiner Tasche hervorkramte. Während ich etwas trank, schaute ich mich in der Umkleide um. Es war dieselbe, in der ich Dion zum ersten Mal geküsst hatte, nach meinem Fauxpas bei der Volleyball AG. Als ich mich wieder umdrehte, tingelte Bambi gerade in die Umkleide und sah dabei mehr als erfreut aus, als er mich sah. Er kam zu mir rüber, mein Gott — der Blick eines Rehkitz’. Wahrscheinlich hatte Dion als Kind immer alles bekommen, was er haben wollte, wenn er nur diesen Blick aufsetzte. »Willst du gar nicht beim Spiel zusehen?«, fragte ich ihn, nachdem ich die Flasche wieder abgesetzt hatte. Dion schien mit der Kraft von mindestens zehn Sonnen zu strahlen, als er mich breit anlächelte. Das war mir immer noch nicht so ganz geheuer, dass all diese Strahlekraft allein mir gelten sollte. Ich wäre vermutlich schon Viehfutter, wenn der Rest der Welt wüsste, dass Dion keinen Mädels auf den Arsch sah sondern mir. Aber offensichtlich wollte Bambi nicht antworten und an der Art wie er mich ansah, konnte ich etwas wie »Ich sehe dir lieber beim Trinken zu« in seinen Augen sehen. Mein Gott, wenn ich Dion genau so verzückt anstarrte wie er mich gerade, dann würde ich mich selbst begraben müssen. Vielleicht interpretierte ich auch zu viel in diese Situation hinein oder so, aber Dions Lächeln holte mich jedes Mal schlichtweg von den Beinen. »Eigentlich wollte ich die Zeit nutzen, jetzt, wo du dich hierher verdrückt hast und dich nicht scheust … ›irgendwie aufzufallen‹«, meinte Dion und zeichnete Gänsefüßchen in die Luft, während dabei ein leicht frustrierter Ausdruck über seine Züge huschte. Was sollte das denn jetzt wieder heißen? Ich schraubte den Verschluss der Flasche wieder auf. »Die Zeit nutzen?«, echote ich, nachdem ich beschlossen hatte, nicht auf seine Gänsefüßchen einzugehen. Das hätte sowieso zu nichts geführt, abgesehen davon gab es wichtigere Dinge zu klären. Eben womit in aller Welt Bambi jetzt die Zeit nutzen wollte. Während ich dastand und auf seine Antwort wartete, trat er dichter an mich heran und küsste mich auf den Mund. Wunderbar, anstatt einer sprachlichen Antwort bekam ich jetzt also die Praxis … okay, so ließ sich die spielfreie Zeit in der Tat gut verbringen. »Wie wäre das?«, fragte Dion und schaute mich erwartungsvoll. Ich verzog grüblerisch-zweiflerisch das Gesicht, was Bambi zum Lachen brachte. Er schloss seine Arme um mich, dann küsste er mich noch einmal. Ich konnte die Wärme seines Körpers gegen meinen spüren, als ich ihn so dicht an mich heranzog, wie es ging. Ich grub mit beiden Händen durch seine Haare. »Was—«, ich küsste ihn, »—wenn—«, wieder, »—jemand—«, Dion drückte seine Lippen gegen meine, als hätte er verhindern wollen, dass ich wieder etwas sagte, »—reinkommt?« »Ist doch egal«, raunte er gegen meine Lippen, ich spürte, wie er grinste. »Wir können auch in die Duschräume gehen.« Offensichtlich hielt er das für eine tolle Idee, denn er drängte mich langsam, aber bestimmt nach hinten. Ich hatte fest vergessen, wo wir waren und was wir hier zu suchen hatten, als Dion seine Hände unter mein T-Shirt schob. Seine Fingerspitzen berührten die Haut an meinem Bauch und in diesem Moment schob ich ihn sachte von mir. »Langsam, Tiger«, sagte ich atemlos und versuchte, meinen Kopf zu klären, um Dion nicht sofort wieder an mich zu ziehen und zu küssen. »Wir sollten uns auf unser Finalspiel konzentrieren. Alles andere läuft nicht davon.« Dion sah wenig begeistert von meinem Einwand aus, als ich mich an ihm vorbeidrückte. Ich fuhr mir mit dem Handrücken über meine kribbelnden Lippen, bevor ich nach meiner Wasserflasche griff und zur Tür ging, die in die Turnhalle führte. Da drehte ich mich noch einmal um und schaute nach Bambi. Er sah mich mit einem eigenartigen Ausdruck in den Augen an, schwieg und kam schließlich langsam auf mich zu. Gemeinsam verließen wir die Umkleide wieder. Der Blick auf die Punkteanzeige verriet, dass wir bald wieder spielen mussten — und die Art, wie die beiden Mannschaften spielten, verriet auch, warum. Ein richtiges Spiel kam gar nicht zustande, weil die Angabe entweder nicht richtig oder gar nicht angenommen wurde. Tess stand an der Spielerbank und zog sich ihre Knieschoner gerade wieder über die Knie, als Dion und ich dazukamen. »Warum sind die Junior Pearls heute so schwach?«, fragte ich ein wenig irritiert und setzte mich neben Tess’ Fuß auf die Bank. Sie warf einen Blick über die Schulter auf das Spielfeld, während Dion sich vor mir auf den Boden setzte. »Keine Ahnung«, kam es anstatt von Tess von Geoff. »Ein Wunder, dass die überhaupt so weit gekommen sind. Aber unsere Juniors sind heute unschlagbar. Sieh dir mal die Angaben von Keisha an, die sind ’ne Wucht.« »Im wahrsten Sinne des Wortes«, stimmte Dion erstaunt zu, nachdem Keisha gerade eine Angabe geschlagen hatte. Der Ball schlug auf dem Spielfeld auf, noch bevor sich jemand von den Spielern der Pearls überhaupt gerührt hatte. In der restlichen Spielzeit kamen nur sehr wenige, ansehnliche Spielzüge zustande und unsere Juniors gewannen mit Abstand. Ich sah die enttäuscht-wütenden Gesichter der Pearls, als sie das Feld verließen. Einige schüttelten die Köpfe, die anderen sahen ungläubig aus. Sogar unsere Gegner, die Senior Pearls, wirkten überrascht, gewannen aber alle Überheblichkeit zurück, als sie uns gegenüber traten. Klar, dass sie sich ihrer Position bewusst waren; sie hatten uns in den vergangenen Jahren immer geschlagen — und das ließen sie uns auch jedes Jahr spüren. Die Arroganz, mit der sie auftraten, war nicht zu ertragen und es war längst überfällig, dass wir diese selbstherrlichen Idioten von ihrem Thron holten. »Hey, Ethan, bereit, euch wieder fertig machen zu lassen?«, kam es spöttisch von Luke Carter, dem Teamcaptain der Pearls, als wir uns auf den Spielfeldern aufstellten. Carter musste seit früher Kindheit mit Überheblichkeitspillen gefüttert worden sein, anders konnte ich mir sein überdimensionales Ego nicht erklären. Er würde schon sehen, was er davon hatte, sich über uns lustig zu machen. Dieses Jahr würde er den Boden küssen, das hatte ich mir selbst versprochen. »Lass dich nicht von ihm provozieren«, mahnte Tess mich, als ich mich auf die Aufschlagsposition platzierte und mir den Ball geben ließ. Sie stand auf der Angreiferposition vor mir, drehte sich aber wieder nach vorn und stützte sich mit den Händen auf ihre Knie. Es war plötzlich wieder still geworden in der Halle, als der Anpfiff kam. Ich warf den Ball an und schlug ihn über das Netz ins gegnerische Feld. Die Pearls waren — wie nicht anders erwartet — wieder ausgesprochen gut in Form. Das waren wir aber auch. Dion war inzwischen ein eingefleischtes Mitglied der Mannschaft und wir waren alle gut aufeinander eingespielt. Bambi, Tess und ich bewiesen uns aber vor allem, als wir zu dritt vorn am Netz standen. Abgesehen davon konnte Dion einfach perfekte Pässe stellen, ich kannte sonst niemanden, der das so gut konnte wie er. Ich wusste nicht, woher er seine Einschätzungen nahm, wie er wem den Ball zuspielen musste. Fakt war nur, dass jeder bei uns glücklich war, wenn Dion ihm einen Pass zuspielte. Das erleichterte auch die Angriffe. Als ich wieder mit dem Aufschlag dran war, sah ich Carters siegessicheres, höhnisches Lächeln. Er stand hinten, ebenfalls auf der Aufschlagposition. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich ihn ansah; ich wusste, wie ich ihn triezen konnte. Carter war schwach in der Annahme und noch schwächer war er darin, einzuschätzen, wo der Ball landen würde. Würde er sich nicht mit anderen, außergewöhnlichen guten Spielleistungen auszeichnen, wäre er gar nicht in der Mannschaft. Bevor ich den Ball nach dem Pfiff in die Luft warf, schaute ich kurz in Carters Spielecke, dann spielte ich rüber. Der Ball landete punktgenau in der Spielfeldecke und Carter, der Schwachkopf, hatte sich geduckt, weil er gedacht hatte, der Ball würde ins Aus gehen. Ich wiederholte den Zug und die Pearls, die davon ausgegangen waren, dass der erste Punkt von mir ein Glückstreffer gewesen war, wurden jetzt eines besseren belehrt. Tess und ich hatten unsere Genauigkeit schon vor Ewigkeiten begonnen zu trainieren, um die Bälle auch in die Ecke sicher spielen zu können. Carter positionierte sich in der Ecke, was mir die perfekte Gelegenheit gab, kürzer zu spielen. Nachdem Carter den Ball nach meiner vierten Angabe immer noch nicht hatte, deckten die anderen seine Position in der Annahme ab, sodass es wieder zu einem Spiel kam. Aber Carter war angefressen und er verschwendete zuviel Kraft in seine Bälle, die dadurch ständig ins Aus gingen. Als das Spiel abgepfiffen wurde, gab es einen neuen Sieger: uns. Wir klatschten uns gegenseitig ab, beglückwünschten uns und waren einfach glücklich darüber. Ein zusätzliches Hochgefühl lieferte mir Carters vor Wut verzerrtes Gesicht. Er war so ein schlechter Verlierer. Hach, einfach wunderbar. Ich grinste ihn fröhlich an, als er meinem Blick begegnete, winkte und drehte mich um, um Tess zu umarmen. »Wir haben gewonnen!«, quietschte sie noch immer fassungslos in mein Ohr, während die Anwesenden unserer Schule in Freudejubel ausgebrochen waren. Es war ein schönes Gefühl. Wir hatten gewonnen! Kaum zu fassen; so lange hatten wir es schon versucht — diesmal hatte es endlich gereicht. Nachdem Tess mich losgelassen hatte, warf sie sich Dion um den Hals, der ebenfalls bester Laune war. Im Anschluss an das Turnier gab Geoff eine Siegesparty bei sich zu Hause. Sie war kleiner als die Siegespartys der Footballmannschaft oder so, aber es war auch besser so. Die Stimmung war trotzdem ausgelassen und wir amüsierten uns geschlossen über die entrückten Gesichter der Pearls nach ihrer Niederlage. Die Party wurde von diversen Pärchen natürlich auch als Valentinstagsparty genutzt. Überall sah man Blumen, Schokolade oder irgendwelchen anderen kitschigen Geschenke, die sie sich gegenseitig überreichten. Ich hockte auf der Armlehne der Couch und sah gerade einem purpurrot angelaufenen Mädchen dabei zu, wie sie ihrem Schwarm Schokolade überreichte, als Geoff sich schwer neben mir niederließ und meinem Blick folgte. »Warum schenkt mir niemand Schokolade?«, jammerte er theatralisch. Grinsend wandte ich ihm meinen Blick zu, bevor ich meine Hand ausstreckte, um auf seinen runden Bauch zu klopfen. »Ich glaube, du hattest schon genug, mein Dicker«, meinte ich feixend und streckte Geoff die Zunge aus, als mir einen gespielt bösen Blick zuwarf. Dann grinste er ebenfalls. Geoff war tatsächlich ziemlich dick, aber — und das sah man ihm nicht an — trotzdem einer der besten Volleyballspieler der AG. Ich mochte ihn. Er war gemütlich und gesellig und ich kam bestens mit ihm aus. Geoffs Gesellschaft war immer sehr unterhaltsam. Ich wusste zwar, dass er nicht mein bester Freund werden würde, aber ein Freund war er trotzdem. Und das konnte ich wirklich von den wenigsten sagen. Tess ließ sich mit einem Seufzen neben Geoff auf die Couch fallen. »Tess, schenkst du mir Schokolade?«, fragte Geoff sie. Tess hob den Kopf, um ihn anzusehen und sah dabei ziemlich skeptisch aus. Geoff war der Sonnenschein der Mannschaft, mit ihm kamen alle klar. Gewissermaßen war er Tess in männlicher Variante. »Seh’ ich so aus, als würde ich dir Schokolade schenken?«, fragte sie ihn schnaubend und hob das Kinn. Ich grinste in mich hinein. Geoff und Tess piesackten sich ständig, sie ließen keine Gelegenheit aus. »Aber du bist mir noch was schuldig, immerhin hab ich heute einen Ball gerettet, den du eigentlich hättest nehmen müssen«, stellte er frech fest und fing sich einen misstrauischen Blick von Tess ein. Sie setzte sich aufrecht hin. »Na, schön«, lenkte sie ein. »Was willst du?« »Einen Kuss«, meinte Geoff breit grinsend, während Tess ihn groß anstarrte. Er tippte sich mit dem Finger auf die Wange. »Genau da hin.« Sie zögerte kurz, beugte sich dann aber vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Ich grinste still, während Tess wieder anfing gespielt beleidigt zu sein. Ich kam nicht dazu, die beiden bei ihrer kleinen Show zu beobachten, denn Dion tauchte neben mir auf. Er sah ein wenig unschlüssig aus, als ich ihn anschaute, aber dann beugte er sich zu meinem Ohr und sagte, er wolle nach Hause gehen. Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr, es war noch ziemlich früh. Als wir uns wieder ansahen, erkannte ich die stumme Bitte, dass ich mitkam. Eigentlich wollte ich nicht. Einerseits, weil ich gerne länger in dieser ausgelassenen Gesellschaft geblieben wäre und andererseits, weil ich das unterschwellige Gefühl hatte, dass es unangenehm werden würde, jetzt mit Dion allein zu sein. Trotzdem verabschiedete ich mich vom Rest und machte mich zusammen mit Bambi auf den Weg. Schweigend gingen wir nebeneinander her. Es war bereits dunkel draußen, das gelbliche Licht der Laternen spiegelte sich in den zahlreichen Pfützen auf den Straßen. Ein feiner Nieselregen rieselte vom Himmel herab. »Sagst du mir jetzt, was los ist?«, fragte ich Dion, nachdem wir uns eine Ewigkeit lang angeschwiegen hatten. Das passte nicht zu ihm, normalerweise gab es immer irgendwas worüber er redete. Heute wären es das Turnier und der Sieg gewesen, aber dass Bambi kein Ton über die Lippen brachte, hieß für mich, dass er über etwas ganz anderes nachdachte. Er schaute mich überrascht an, dann wandte er den Blick aber wieder ab und schaute auf seine Füße. »Ich hab nur gerade darüber nachgedacht, was sich für mich verändert hat, seitdem ich hier bin«, sagte er langsam. Ich blieb stumm, während sich zahlreiche Fragen in meinem Kopf aufwarfen. Es war vielleicht doch eine schlechte Idee gewesen, mit Dion nach Hause zu gehen. Sich mit ihm über tiefgründige Beziehungskisten zu unterhalten bedeutete, dass ich viel zu tief drin steckte. Nach einem Monat wollte ich mich nicht über tiefgreifende Sachen unterhalten … »In Peoria wussten meine Freunde von Anfang an, dass ich schwul bin«, fuhr Bambi nach einer kurzen Pause fort. »Wir haben uns zusammen entwickelt, unsere … sexuellen Vorlieben gemeinsam entdeckt, wir hatten keine Geheimnisse. Ich musste mich nicht verstecken oder verstellen. Als wir dann hierher gezogen sind, da hat sich meine gesamte Situation verändert. Hier kannte ich niemanden und ich wusste nicht, wie man hier darauf reagieren würde, wenn bekannt wurde, dass ich eben nicht auf Mädchen stehe. Als ich dich kennengelernt habe, war ich erst recht verunsichert. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Unser Start war sowieso schon schwierig und ich wollte es nicht riskieren, den Umgang mit dir völlig dadurch zu verlieren, dass herauskäme, dass ich ein Homo bin.« »Als würde es mich kümmern«, murmelte ich schnaubend. Ich war immerhin auch nicht aufs Geschlecht fixiert, abgesehen davon machte die Sexualität den Menschen nicht komplett aus. »Aber das wusste ich nicht«, erwiderte Dion. Wir schauten uns kurz an und mir wurde klar, warum er sich immer so verschreckt verhalten hatte, wenn wir zusammen allein waren. Klar, bei einer neuen Umgebung und neuen Leuten … da waren die Reaktionen im Vornherein schlecht auszumachen. »Und jetzt, wo ich es weiß, läufst du einfach davon.« Ich blieb für einen Moment stehen und starrte Dion an. Er ging ein paar Schritte, bis er bemerkte, dass ich nicht nachkam. Langsam drehte er sich zu mir um. Schweigend starrten wir einander an, während ich mich fragte, was genau sein Ausspruch zu bedeuten hatte. Ich rannte nicht davon. Wie kam er denn auf diese Schnapsidee? »Ich laufe nicht davon«, widersprach ich ihm dann laut. »Doch, das tust du«, beharrte Bambi ruhig. »Ich meine … wir sind nur inoffiziell ein Paar. Offiziell sind wir nur befreundet. Wir sind nur zusammen, wenn niemand zusieht. Als wäre es eine Straftat, wenn man uns dabei erwischen würde. Aber ich möchte nicht nur dein inoffizieller Freund sein, den du hinter dem Rücken der Welt küsst, oder umgekehrt. Ich will nicht, dass du nur im Verborgenen meine Hand hältst oder mich umarmst oder küsst …« »Ich laufe nicht davon«, wiederholte ich langsam, während ich darüber nachdachte, was Dion gerade gesagt hatte. Eine Beziehung auf geheimer Basis zu führen war auch nicht das, was ich mir unter der Erfüllung meiner Wünsche vorstellte, aber ich war stets davon ausgegangen, dass Bambi es so wollte und dass es besser so war. Daher verwunderte es mich umso mehr, dass er mit dieser Geheimnistuerei offensichtlich nicht zufrieden war. »Ich mache das für dich«, fügte ich schließlich hinzu. »Weil ich dachte, es ist besser so. Als herausgekommen ist, dass ich bi bin, da war die Hölle los. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis sich alle beruhigt hatten und die meisten sich damit abgefunden hatten, dass ich nicht nur Mädchen anziehend finde. Geoff zum Beispiel hatte auch lange damit zu kämpfen, bis er irgendwann gemerkt hat, dass mich das nicht zu einem schlechteren Menschen macht und dass ich ihn nicht wie ein notgeiler Hund anspringe. Was denkst du, würde passieren, wenn deine Fangirls erfahren, dass du in keiner von ihnen ein Sexobjekt siehst?« Ich setzte mich wieder in Bewegung und schloss zu Dion auf, sodass wir zusammen weitergehen konnten. Vielleicht war es falsch von mir, die Entscheidung für ihn zu treffen, ging es mir durch den Kopf. Ich hatte ihn nicht danach gefragt, was er wollte, aber die Gelegenheit hatte sich auch nie ergeben. Dion hatte in der Schule nie einen Versuch gezeigt, der Öffentlichkeit das zu präsentieren, was zwischen uns war. Aber das hatte nicht unbedingt zu bedeuten, dass er unsere Beziehung geheim halten wollte. »Wenn sie dich akzeptiert haben, dann akzeptieren sie sicher auch mich«, sagte Dion bestimmt. »Abgesehen davon hab ich ja dich und Tess und ich bin kein kleines Kind—« Wenn er wüsste … Bambi. »—ich kann damit umgehen. Immerhin fanden auch nicht alle in Peoria toll, dass Will und ich zusammen waren. Ich bin gerne bei dir und mit dir zusammen und das möchte ich nicht verbergen, verstehst du? Ich meine, wenn du nicht willst, dann kann ich damit leben, aber …« »Warum sollte ich nicht wollen? Mir geht es am Arsch vorbei, was diese Idioten von mir denken. Ich kann damit leben, wenn mich irgendjemand blöd anmacht, weil es mir ganz einfach egal ist. Aber kannst du das auch ab?« »Glaubst du, ich breche in Tränen aus, wenn mich jemand beleidigt?« Er klang ein wenig perplex und sah mich ungläubig an, als ich ihm einen Blick zuwarf. Zweifelnd zog ich die Augenbrauen hoch und zuckte kurz mit den Schultern. Dion schubste mich, ich konnte aber den halb fassungslosen, halb amüsierten Ausdruck auf seinem Gesicht sehen. »Du bist so ein Idiot«, meinte er grummelnd und verschränkte die Arme vor der Brust, während er mich gespielt anklagend ansah. Ich fand es niedlich, wenn er versuchte ein bisschen wütend auf mich zu sein, aber es war offensichtlich wirklich so, wie er gesagt hatte: Er konnte nicht sauer auf mich sein. Aber dazu hatte er jetzt auch keinen Grund, immerhin hatte ich ihn nicht ernsthaft beleidigt. Dions Gesicht wurde wieder ernst, als wir weitergingen. »Ich kann das ab. In Peoria gab es schließlich auch blöde Sprüche«, meinte er nachdenklich, bevor er mir wieder einen Blick zuwarf. Ich schwieg für eine Weile, in der ich kurz über unsere Unterhaltung nachdachte. Ich hatte kein Problem damit, offen zu zeigen, dass wir zusammen waren und ebenso ging es Dion, wie er soeben mitgeteilt hatte. Für einen kleinen Moment durchfluteten mich ein Gefühl der Zufriedenheit und ein kleines bisschen Genugtuung gegenüber den Heerscharen an Weibern, die Bambi immer noch nachgeiferten. »Okay«, sagte ich und hielt Dion meine offene Hand hin. Er schaute mich kurz skeptisch an, dann umschloss er sie mit seinen Fingern. »Hiermit bist du offiziell mein Geliebter.« Dion schnaubte grinsend. Wir schauten uns kurz an, dann lächelte er glücklich. »Ich bin nicht dein Geliebter. Du bist mein Geliebter.« »Wollen wir das jetzt ausdiskutieren?«, fragte ich schelmisch. Lächelnd drückte Dion mit seiner Schulter gegen meine. Ich musste lachen. Es war so einfach mit ihm zusammen zu sein, dachte ich. Er gehörte zu der unkomplizierten Sorte, er konnte solche Dinge völlig sachlich klären ohne dabei weinerlich zu werden. Auch wenn er gelegentlich zögerte, bevor er etwas zur Sprache brachte. Aber er hatte seinen eigenen Kopf, seine eigenen Ansichten und er ließ sich nicht von anderen beeinflussen. Je besser ich Bambi kennenlernte, umso mehr fragte ich mich, wie jemand wie er nur so unsicher gewesen sein konnte, als wir uns begegnet waren. Klar, angesichts der Fakten konnte ich verstehen, warum, aber … er war sprichwörtlich in sich aufgegangen, nachdem wir uns im Januar ausgesprochen hatten; jetzt, da er Gewissheit hatte, dass er nichts Falsches mir gegenüber getan hatte. Wir waren bei ihm zu Hause angekommen. Im Wohnzimmer brannte Licht und durch die Gardinen konnte ich sehen, dass sowohl Dions Vater als auch seine Mutter bereits da waren. Ich blieb stehen und hielt Bambis Hand fest in meiner. Er drehte sich zu mir um, als ich nicht mit ihm zusammen weiter zur Veranda ging. Meine freie Hand drehte das kleine, kalte Stück Metall in meiner Jackentasche. »Was ist los?«, fragte Dion irritiert, während meine Finger weiter mit dem Ding in meiner Jackentasche spielten. Ich war unsicher. Nach meiner Unterhaltung mit Tess über den Valentinstag, hatte ich nachgedacht. Ich hielt den Tag immer noch für totalen Schwachsinn, aber vielleicht hatte Tess in dem Sinne Recht, dass der erste gemeinsame Valentinstag etwas Besonderes war. Dion und ich waren noch nicht lange zusammen und möglicherweise erbot sich diese Gelegenheit, um an genau diesem Tag zu zeigen, dass ich es wirklich ernst meinte … Mir war lange nicht eingefallen, was ich Bambi hätte schenken können, bis mir eine Idee gekommen war, von der ich bis jetzt nicht wusste, ob sie wirklich gut war. »Ich hab etwas für dich«, gestand ich schließlich. Dion trat dichter an mich heran, wir hielten uns immer noch an den Händen. Sein Gesicht zeigte Verwirrung. »Zum Valentinstag, du weißt schon.« »Du … schenkst mir was zum Valentinstag?«, fragte Dion verblüfft. Ich murrte leise. »Ich hätte es dir so oder so gegeben, aber es bietet sich gerade an«, gab ich zu und holte den Schlüssel aus meiner Tasche. Dion streckte seine freie Hand aus und ich ließ das kleine Stück Metall auf seine Handfläche fallen. Einen winzigen Moment lang betrachtete Bambi den Schlüssel in seiner Hand mit sichtlicher Verwirrung, doch dann wandelten seine Züge sich in pures Erstaunen. »Ein Schlüssel für deine Wohnung?«, fragte er überrascht. »Hältst du das für eine gute Idee?« Dion schien sich zwischen Freude und Zweifel nicht entscheiden zu können. Er bewies Ernsthaftigkeit, dass er mich danach fragte, denn dieselbe Frage hatte ich mir mindestens schon eine Million Mal gestellt. Aber die Antwort kannte ich noch immer nicht. »Keine Ahnung«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich wusste es wirklich nicht. Doch wenn ich den Schritt nicht gewagt hätte, hätte ich es nie herausgefunden. Dion lächelte leicht und ich zog ihn an der Hand an mich heran, um ihn zu küssen. Ich konnte spüren, dass seine Lippen immer noch zu einem Lächeln verzogen waren. Aber der Kuss schmeckte süß und nach Sieg — nach einem Sieg über meine eigene Skepsis; ein Sieg für das Vertrauen. Mein Gott, wie kitschig. ___ tbc. Kapitel 3: Scandal ------------------ SCANDAL IT'S ALL ABOUT THE TWO OF US »Willst du es behutsam und sanft oder willst du es hart und rücksichtslos?« »Was?« Ich rollte die Augen. Dion spielte am Zipper seines Reißverschlusses herum, während wir zusammen durch den Schulflur gingen. Heute sollte der ›große Tag‹ sein. Heute sollte der gesamte Pulk hier erfahren, dass er und ich zusammen waren. Als wir noch darüber gesprochen hatten, war Bambi ziemlich selbstbewusst gewesen, jetzt hingegen wirkte er wie ein verschrecktes Rehkitz — wie Bambi eben. »Wir müssen das nicht tun«, erinnerte ich ihn. Ich warf Dion einen Blick zu und beobachtete dann, wie er den Zipper an einer Reißverschlussseite hoch- und runterzog. Das reißende Geräusch klang unangenehm. Ich reichte herüber und hielt sein Handgelenk fest, damit er damit aufhörte, seine Jacke kaputtzumachen. Und um meine Nerven zu beruhigen. Wenn er so weitermachte, würde ich auch noch nervös werden. »Doch«, widersprach er mir. »Ich will keine Geheimniskrämerei.« »Warum bist du auf einmal so nervös? Vorhin warst du noch so gefasst und jetzt machst du dir fast ins Höschen«, meinte ich und zog meine Hand zurück, nachdem Dion seinen Reißverschluss losgelassen hatte. Wie ein verliebter Teenager, der sein Idol gleich treffen würde. »Ich bin nicht nervös«, sagte Bambi. Er hatte wieder angefangen, an seinem Reißverschluss zu spielen. Ich zog die Augenbrauen hoch und warf wieder einen Blick auf seine Hände, bevor ich ihm ins Gesicht sah. Als Dion meinen Blick bemerkte, ließ er den Zipper wieder los und verschränkte stattdessen die Arme vor der Brust. Dann seufzte er. »In Peoria warst du doch auch geoutet«, sagte ich, als wir an meinem Spind angekommen waren. Ich öffnete ihn und holte mein Zeug heraus, stopfte es in meine Tasche und warf die Blechtür zu; sie fiel scheppernd ins Schloss. Dion und ich gingen weiter, er nahm die offenen Seiten seiner Jacke und schlang sie um seinen Körper, als wäre ihm kalt. »Ja … in Peoria«, murmelte er widerstrebend. Ich sah den leicht deprimierten Ausdruck auf Bambis Gesicht. Vielleicht dachte er gerade daran, wie lieber er jetzt wieder in seiner Heimatstadt bei seinen alten Freunden wäre, die alle um seine Neigungen wussten. »Wir müssen das nicht tun«, sagte ich noch einmal. Dion blieb stehen, die Jacke immer noch um seinen Körper gezogen und starrte mich an. Ich wandte mich zu ihm um. »Tut mir leid, dass es für mich nicht so einfach ist wie für dich«, sagte er und klang dabei doch recht vorwurfsvoll. Ich kam nicht umhin, die Augen zu verdrehen. Als würde er sich selbst damit glücklich machen, wenn er sich vor lauter Aufregung ins Hemd machte. Das alles lief immerhin nicht davon und wenn er sich jetzt noch unsicher war, dann konnten wir die Welt auch noch später wissen lassen, dass wir ein Paar waren. Was machte das schon? Ich wandte mich zum Gehen. Dion folgte mir. »Also, wie willst du es?«, fragte ich wieder. »Egal«, antwortete er. Ich warf ihm einen Seitenblick zu. »Noch hast du die Wahl«, wandte ich ein. »Später nicht mehr. Entscheide lieber du, wenn ich es mache, wird es dir sicher nicht gefallen.« »Ach ja?« Ich sah ihn skeptisch an und zweifelte doch daran, dass er dann nicht seine Pfanne auspacken würde, um mich dafür zu verprügeln, was ich ihm ›angetan‹ hatte. Dion schubste mich, ich konnte den sauren Ausdruck auf seinem Gesicht erkennen. »Arschloch«, raunte er verärgert. Ein wütendes Rehkitz … wie niedlich. Es war, als würde man einer Blume dabei zusehen, wie sie wütend wurde. Oh, Moment. Konnten Blumen denn überhaupt wütend sein? Hm. Eine Frage für meine Biologielehrerin. Eigenartigerweise amüsierte es mich sogar, wenn ich Dion ärgerte. Nicht, dass ich ihn absichtlich wirklich zur Weißglut trieb, aber manchmal reichte schon eine kleine Stichelei. So ging es mir auch mit kleinen Kindern. Ich fand es wirklich wahnsinnig witzig, wenn kleine Kinder sich ärgerten. Vor allem … worüber Kindern sich so ärgerten … das allein war schon einen Lacher wert. Wie auch immer. Wütendes Rehkitz im Flur. Sollte ich das melden? Ich schaute mich um, es war nicht viel los. Der Risikofaktor war also klein. Dion atmete einmal tief durch, dann stakste er an mir vorbei in den Klassenraum, wo wir jetzt sein Lieblingsfach haben würden: Mathe. »Was macht er da?«, fragte Dion inmitten des Unterrichts und stützte sein Gesicht in seine Hand. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände, er hatte wieder absolut keine Ahnung, was Mr Warner an die Tafel schrieb. »Er rechnet«, antwortete ich, während ich gerade eine Wurzel zog und das Ergebnis auf das Papier schrieb. Bambi warf mir einen verärgerten Blick zu. Uh, leicht reizbar heute, dachte ich, als ich ihn stirnrunzelnd ansah. Allerdings sagte Dion nichts weiter. Er nahm nur seinen Kugelschreiber wieder in die Hand und machte sich daran, blindlings ohne irgendwas kapiert zu haben, Aufgabe und Lösungsweg von mir abzuschreiben. Ich war froh, als ich Tess in der Stunde vor der Mittagspause im Bioraum traf. Es war heute meine erste Stunde mit ihr. Sie sah mich skeptisch an, als ich mich neben ihr auf meinen Platz sinken ließ. Ich hatte eine Ahnung, warum sie mich so musterte, aber sie würde sicherlich gleich loslegen … »Was hast du denn mit Dion angestellt?«, fragte sie und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich warf meine Tasche auf den Tisch, seufzte kurz und packte dann das Buch und meinen Block aus. »Die Prinzessin ist nervös heute. Du weißt schon, die Enthüllung«, sagte ich und machte unterstützend eine große Enthüllungsgeste. Tess sah mich zweifelnd. Sie hatte die Augenbrauen grüblerisch zusammengezogen, lehnte sich über den Tisch und lehnte ihre Wange gegen ihre Fingerknöchel. »›Prinzessin‹?«, wiederholte sie zögernd. Ich zuckte die Schultern, zog für einen kleinen Moment die Augenbrauen hoch. Kurz dachte ich darüber nach, ob ich es Tess erklären sollte, doch dann entschied ich mich dagegen und schüttelte als Antwort einfach nur den Kopf. Vielleicht sollte ich nachsichtiger mit Bambi sein, aber das lag mir vermutlich einfach nicht. Immerhin ging das alles hauptsächlich von ihm aus. »Wann ist es denn soweit?«, flüsterte Tess mir in Bio zu, als wir uns gerade irgendein ultraspannendes Video über die Teilung einer Amöbe ansahen. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu, sie sah mich mit großen, runden Augen an und sah aus, wie ein hechelndes Fangirl. »Dion ist nicht schwanger«, erwiderte ich mit irritiert zusammengezogenen Augenbrauen, bevor ich mich wieder zum Bildschirm wandte, um auch ja nicht zu verpassen, wie die Amöbe sich abschnürte. Was hätten die Weiber aus dem achtzehnten Jahrhundert wohl nicht alles dafür gegeben, um sich mit ihren Korsetts ebenfalls so abschnüren zu können? Weiter kam ich mit meinen Gedanken gar nicht, denn Tess rammte mir ihre Faust geräuschvoll gegen den Oberarm. Ich zischte leise und lächelte unter Schmerzen, als Mrs Brewster uns einen mahnenden Blick zuwarf. Statistisch gesehen boxte Tess mir in Bio am häufigsten in den Oberarm, ging es mir durch den Kopf. Blöde Kuh. »Du Trottel!«, zischte Tess. »Du weißt, dass ich etwas ganz anderes meinte!« Hatte ich Wahrnehmungsstörungen oder waren heute wirklich alle wahnsinnig aggressiv? Und ich arme Amöbe bekam alles ab. Nur schade, dass ich mich nicht einfach mal so abschnüren konnte. Das müsste man sich mal vorstellen. Dann hätte man einen Zwilling und wenn man sich selbst ganz toll fand, konnte man sogar Sex mit sich selbst haben. Sensation! »Was weiß ich denn, wann? Er mehrt sich nicht aus, sondern brütet vor sich hin. Vielleicht besorg ich mir auch einen Stempel und drück ihm das Ding auf die Stirn. Oder ich lasse es mit einem Flugzeug in den Himmel schreiben. Keine Ahnung!«, sagte ich leise und boxte Tess anschließend als Ausgleich ebenfalls gegen den Oberarm. Allerdings bekam sie nur die Mädchenvariante zu spüren. Die Jungenvariante hätte sie vermutlich vom Stuhl gefegt … »Kannst du nicht zumindest mal deinem Freund gegenüber ein bisschen Taktgefühl zeigen? Du bist so unsensibel«, brummte Tess, während sie sich den Arm protestlos rieb. Ich legte die Arme auf den Tisch und stützte mein Kinn darauf ab. Ich hatte keine Lust mehr, weitere Diskussionen über dieses Thema zu führen oder darüber, was ich doch für ein sozial inkompetenter Mensch war. Ich wollte jetzt dieses spannende Amöbenvideo sehen. Mrs Brewster würde es bestimmt nicht noch einmal zeigen und ich hatte schon genug verpasst. Tse. Tess und ich redeten bis zum Ende der Stunde nicht mehr. Als wir den Bioraum in Richtung der Cafeteria wieder verließen, rieb sie sich wieder die Stelle, an der ich sie getroffen hatte. Geschah ihr Recht. Als würde sie mich ständig verkloppen dürfen, ohne dass ich mich wehren würde. Wir waren hier ja auch nicht im Wunderland oder so. »Ich hasse dich«, sagte sie schnaubend. »Ich weiß.« »Ich könnte dich echt umbringen!« »Du kannst mich vor ein Auto schubsen.« »Hör auf, mir bei meinen Mordplänen zu helfen!« »Wie sieht dein Mordplan denn aus? Erst gebratene Nudeln fressen, fernsehen und dann gemütlich einschlafen?«, fragte ich und stupste sie an. Verkniffen grinsend warf Tess mir einen bemüht verärgerten Blick zu. Wir holten uns etwas zu essen und suchten uns dann einen freien Tisch. Ich saß mit dem Gesicht zur Tür und sah, als Dion hineingewuselt kam wie ein aufgescheuchtes Huhn. Er schaute sich suchend um. Winkend hob ich den Arm. Dions Gesicht hellte sich ein wenig auf, als er mich sah und zu uns herübereilte. »Spanisch hat mich fertig gemacht«, sagte Bambi, als er sich wie ein nasser Sack auf den Stuhl neben mir fallen ließ. Ich zog irritiert die Augenbrauen in die Höhe. Das sagte ausgerechnet er? Was ging denn im Hause Rehkitz ab? »Du sprichst doch Spanisch, als wär es deine Muttersprache. Wie kann dich das fertig machen?«, wollte ich ungläubig wissen. Dion schaffte sogar ein kleines, verlegenes Grinsen und strich sich über die Haare. Das machte er immer, wenn er verlegen war: Das erste, was er tat, war sich über die Haare zu fahren. Und er schlug die Augen nieder. Es war echt niedlich, aber Kerle waren nicht niedlich. Na ja, in Gedanken schon … »Wenn ich aber permanent mit spanischer Volksmusik zugedröhnt werde, dann macht das auch keinen Spaß«, erklärte Dion seufzend. Er setzte sich aufrecht hin und betrachtete seine Hände, als wären sie ein so unfassbares Gebilde, dass er seine Augen nicht mehr davon nehmen könnte. Mir schien, dass er sich ein wenig beruhigt hatte, nach unserer kleinen Auseinandersetzung heute Morgen. »Ich weiß gar nicht, was du hast«, sagte ich schließlich zu Bambi. »Dir kann gar nichts passieren. Ich muss hier Todesängste ausstehen. Immerhin wird dein Fanclub nicht dich in Stücke reißen und unter mysteriösen Umständen verschwinden lassen, sondern mich. Du wirst dich also auf ein Leben auf der Flucht einstellen müssen. Na ja, nur die Kirchenclique wird versuchen, dich zu exorzieren, aber wenn du ihnen sagst, dass deine Unschuld sowieso schon verloren ist, werden sie dich vielleicht in Ruhe lassen.« »Du übertreibst«, murmelte Dion, doch ich konnte ihm anhören, dass ihm das fast peinlich war. Er wusste selbst zu genau, dass er eine erstaunlich große, weibliche Fangemeinde an der Schule hatte. Ich war mir sicher, dass all diese verrückten Weiber heimlich einen Dion-Kult gegründet und irgendwo sogar einen Altar zu seiner Huldigung aufgestellt hatten. Ich betrachtete Bambis Profil eine Zeit lang schweigend, während er weiter auf seine Hände starrte, offensichtlich sehr bemüht den Blick nicht zu heben. Schließlich stand ich auf, stieg auf den Stuhl und vom Stuhl auf den Tisch. Tess und Dion sahen verwirrt auf, einige anderen ebenfalls. Ich räusperte mich laut. Es dauerte ein kleines bisschen, bis die Gespräche in der Cafeteria erstarben und alle Gesichter sich mir zuwandten. Ich auf dem Tisch schien ja dann doch spannender zu sein als alles andere. »Hey«, sagte ich zur Begrüßung und winkte allen kurz. »Ich will nicht lange stören, ich weiß ja, ihr seid alle sehr mit euch selbst beschäftigt. Na ja, aber da ist diese Kleinigkeit, die ich unbedingt loswerden muss. Kennt ihr das, wenn ihr etwas unbedingt erzählen wollt, so sehr, dass es euch fast die Zunge verbrennt, wenn ihr es nicht tut? Bestimmt. Wie auch immer. Jedenfalls, weil ich dachte, ihr wollt vielleicht alle an meinem Leben und so teilhaben, sage ich euch einfach mal Bescheid, damit ihr wieder was zum Reden und Lästern habt. Also, Leute, gut aufpassen, denn das passiert wirklich!« Ich sprang vom Tisch, trat vor Dion, packte den Kragen seiner Strickjacke und zog ihn zu mir hoch, bevor ich ihn küsste. Als ich das Raunen der anderen in der Cafeteria hörte, grinste ich unweigerlich. Wenn schon, denn schon, dachte ich und öffnete den Mund. Ich konnte spüren, wie Dion seine Hände auf meine Seiten legte. Er erwiderte den Kuss, ich fühlte, wie seine Zungenspitze meine berührte. Das Raunen wurde lauter, von irgendwo hörte ich einen Protestausruf. Es wurde getuschelt, es wurde geredet, es wurden würgende Geräusche gemacht. Ich hatte das alles schon durch. Ich wusste, wie Kerle darauf reagierten, wenn sie sahen, dass zwei Männer sich küssten. Sie würden sich wieder einkriegen. Etwas anderes blieb ihnen gar nicht übrig. Dions Wangen waren gerötet, als ich mich von ihm löste. Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Freude und Schock. Ich ließ ihn los, strich seine Jacke glatt und setzte mich zurück auf meinen Stuhl, ihn mit mir hinunterziehend. Tess starrte uns abwechselnd an. Sie wirkte eher so, als würde sie sich fragen, ob einer von uns beiden ansprechbar war. Zufrieden mit mir selbst nahm ich vier Pommes und schob sie mir in den Mund. Na bitte. Gute Tat für heute — abgehakt. »Und du … setzt dich einfach wieder hin, als wäre nichts gewesen?«, fragte Dion mit belegter Stimme in ungläubigem Ton. Er konnte also noch sprechen. Das war durchaus positiv. Ich sah ihn an, er starrte mit kugelrunden Rehaugen zu mir. Ich zuckte die Achseln. »Mh … ja«, meinte ich kauend. »Wieso? Dachtest du, dass wir jetzt auf dem Schulklo eine Nummer schieben, oder was?« Dion kam nicht dazu, mir zu antworten. Stattdessen stand Tyler Quinn, seines Zeichens Captain der Strumpfhosenbande — also des Footballteams —, der ein paar Tische weiter saß, auf. Er hatte dieses typische Grinsen eines Mackers drauf, der sich für unschlagbar und den unumstrittenen König der Schule hielt. Quinn und ich führten sowieso schon ewig eine verbale Auseinandersetzung, weil er Volleyball als einen Sport für Eunuchen ansah und ich in Football eine stark abgewandelte Ballettform, bei der alle mitmachen konnten, die so etwas wie Feinmotorik nicht beherrschten — na ja und natürlich für alle, die ein Spatzenhirn und/oder kümmerliche Geschlechtsteile kompensieren mussten. Von letzterem traf beides auf Quinn zu. Und weil er das kleinste aller Spatzenhirne und den winzigsten aller Schniedel hatte, war er selbstredend der Captain des Strumpfhosenvereins. »Ihr seid so abartig, Ethan. Euch sollte man echt kastrieren«, rief er abfällig, aber immer noch triumphierend grinsend. Seine spatzenhirnigen Volltrottelfreunde applaudierten natürlich zustimmend und machten unkoordinierte Ausrufe. Quinn nickte, weil er ja so von sich selbst überzeugt war. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Tess aufspringen wollte, doch ich griff hastig nach ihrer Hand. Sie sollte sich da nicht einmischen. »Was hat zwei Daumen und scheißt auf deine Meinung?«, fragte ich ihn bissig. Ich deutete mit beiden Daumen auf mich. Quinn öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch in diesem Moment drehte Dion sich zu ihm um. »Wenn Typen wie du mit Homosexualität konfrontiert werden und so reagieren, versuchen sie damit meistens zu überspielen, dass sie selbst homosexuell sind. Falls du uns also etwas zu sagen hast, tu es jetzt, jetzt hören und sehen alle zu. Oder sollen Grace und ich dir dabei helfen? Vielleicht fällt es dir dann leichter …« Quinns Züge entgleisten vollständig und mit jedem Wort, das Dion sprach, mehr. Während seine Strumpfhosenbande ebenfalls in Grabesschweigen verfiel, johlte der Rest der Zuhörenden auf und lachte. Tess saß grinsend da. »Haltet eure Schlüppis fest, Mädels!«, rief sie laut über das Getöse. Quinns Gesicht nahm die Farbe eines feuerroten Krebses an. Ich wusste, er wäre am liebsten hinausgestürmt, aber er setzte sich einfach wortlos wieder auf seinen Platz und tat so, als würden alle anderen nicht über ihn lachen. Ich legte einen Arm um Bambis Schulter und gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. Es war gut, dass er sich gewehrt hatte — so wussten alle gleich, dass er auch austeilen würde, wenn ihm jemand dumm daherkam. Dion lächelte glücklich und sah ziemlich erleichtert aus. »Sie werden sich schnell daran gewöhnen«, flüsterte ich ihm ins Ohr. Er schaute mich fragend an, aber ich nickte nur ermutigend. Ich hatte damals die Grundlage gelegt, das einzige, was jetzt neu war, war die Tatsache, dass ich eine feste Beziehung mit Dion führte. Und weil Beziehungen an dieser Schule nichts Besonderes waren, würde sich die Aufregung schnell legen. Ich nahm Bambis Hand in meine und drückte meine Lippen auf seinen Handrücken. Ich war akzeptiert worden. Dion war schon akzeptiert, die Leute mussten nur damit klarkommen, dass er vergeben war — an einen anderen Kerl. Das war’s auch schon. Dion lehnte die Stirn an meine Schulter, er lächelte immer noch. »Es hätte doch auch gereicht, wenn du meine Hand im Flur genommen hättest …« Ich grinste verwegen. »Ich hab dich ja gewarnt, aber du wolltest nicht hören. Jetzt ist es zu spät«, meinte ich belehrend. Tess schaute uns abwechselnd an, sie lächelte ebenfalls. Es war wieder laut in der Cafeteria. Ab und zu hörte ich Dions oder meinen Namen fallen, aber es kümmerte mich wenig, was gerade geredet wurde. Die, die unsere Show hier nicht gesehen hatten, würden ziemlich bald von den anderen davon erfahren. Einmal fing ich Quinns Blick auf. Ich hob zwei Finger, richtete sie auf meine Augen und dann auf ihn. Mit vor Wut verzerrtem Gesicht wandte Quinn den Blick wieder ab und zog den Kopf zwischen die Schultern. So ein Baby. Nach der Mittagspause verabschiedeten Dion und Tess sich zu Chemie. Ich hatte jetzt noch zwei Stunden Englisch. Während ich durch den Flur ging, fing ich mindestens tausend Blicke auf, hörte oft meinen Namen in Verbindung mit ›Dion van Dorve‹ und ›geküsst‹. Ich senkte den Kopf und versuchte, mir ein Grinsen zu verkneifen. Eigentlich stand ich nicht gern im Mittelpunkt des Interesses, aber jetzt ließ es sich nicht vermeiden und in diesem speziellen Fall lohnte es sich. »Grace!«, rief jemand hinter mir. Ich warf einen Blick über die Schulter und sah Geoff auf mich zuwackeln. Ich blieb stehen, bis er mich eingeholte hatte. Er sprach noch mit mir, das war ein gutes Zeichen. Geoff war damals auf Abstand gegangen, nachdem er erfahren hatte, dass ich bi war. Er hatte nur das Nötigste mit mir besprochen und er hatte sich immer sehr unwohl gefühlt, wenn er irgendwo allein mit mir war. Aber er hatte irgendwann gemerkt, dass ich ihn nicht anspringen würde. Danach hatte er die Schutzschilde wieder sinken lassen und jetzt kamen wir sogar besser miteinander aus als vorher. »Du und Dion …«, begann er langsam. Ich presste die Lippen fest aufeinander, um nicht zu grinsen. »Ihr … zwischen euch … läuft was?« »Jap«, sagte ich nickend und warf Geoff einen Blick zu. Er nickte ebenfalls. »Dion ist …?« »Schwul«, beendete ich seine Frage. »Falls du das meintest.« Geoff nickte wieder. Er sah ein wenig skeptisch aus und es schien ihm die Sprache verschlagen zu haben. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob er jetzt doch wieder auf Abstand gehen würde, aber andererseits erschien mir der Gedanke abwegig. Immerhin hatte ich jetzt noch weniger Grund, ihn anzuspringen. »Du brauchst dir keine Sorgen machen, dass er dich anmacht«, sagte ich und klopfte Geoff leicht auf die Schulter. »Dion steht eher auf den sportlichen Typ, mit Arschlocheigenschaften und so. Du hättest gar keine Chance, du bist viel zu nett.« Das entlockte Geoff ein Grinsen. Er schüttelte den Kopf, als er mich ansah. »Ich weiß gar nicht, wie er das mit dir aushält. Mich würdest du glattweg in den Wahnsinn treiben«, meinte er. Ich grinste zurück. Zusammen betraten wir den Englischraum und setzten uns. Geoff saß in der Reihe neben mir. »Wie lange denn schon?«, fragte er dann und beugte sich ein kleines Stück in meine Richtung. »Seit einem Monat«, antwortete ich, als ich mein Zeug auspackte. Geoff schwieg für einen Moment, dann zog er skeptisch eine Augenbraue hoch. Offenbar war ihm irgendetwas eingefallen, das ihn misstrauisch stimmte. Das war sein Bist-du-dir-auch-wirklich-sicher?-Gesicht. »Vor einem Monat hast du doch beim Volleyball auf ihn eingedroschen wie von Sinnen«, stellte Geoff schließlich fest. Ich hörte den Vorwurf dahinter, er hatte diese Aktion ziemlich kritisiert. »Ja, das war bevor ich Dion dann anschließend unter der Dusche geküsst habe …«, meinte ich und schwelgte einen Moment lang in Gedanken an diesen Nachmittag. Geoff starrte mich fassungslos an. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. »Ja, an dem Tag hab ich ihn unter der Dusche geküsst. Deswegen waren wir beide auch am Freitag darauf nicht in der Schule, weil wir uns nicht in die Augen sehen konnten. Aber an dem Freitag bin ich auch zu ihm gefahren und hab mich entschuldigt und na ja … seitdem sind wir offiziell … so etwas wie ein … Paar«, erklärte ich kurz und winkte dann ab. Geoff sah immer noch ziemlich überrascht aus, runzelte dann aber verwirrt die Stirn. »Entschuldigt?«, hakte er nach. Ich seufzte. »Ich hab ihn geküsst und stehen gelassen. Jetzt würde ich das Thema aber gern beenden, wenn es dir nichts ausmacht. Ich möchte mich auf Englisch konzentrieren und auf Macbeth.« Geoff sah aus, als hätte es ihm etwas ausgemacht, aber er sagte nichts weiter, wofür ich ihm auch sehr dankbar war. Als ich nach dem Unterricht draußen auf Dion und Tess traf, bemerkte ich das Starren einiger Schüler. Quinn stand mit seiner Mannschaft vor dem Schuleingang. Tess, Dion und ich gehörten zu den wenigen Schülern, die zu Fuß zur Schule und wieder nach Hause zurück gingen. Und weil wir zum Teil denselben Weg hatten, gingen wir auch meistens zusammen. »Starrt dieser Trottel immer noch?«, fragte ich Tess. Sie tat so, als würde sie ihre Haare über die Schulter streichen und warf dabei einen Blick nach hinten. »Ja«, meinte sie. Ich grinste, dann schob ich meine Hand in Dions hintere Jeanstasche. ___ tbc. Kapitel 4: Car -------------- Für , für den 100. Kommentar. Für & , weil sie beide awesome gesagt haben. ________________________________________________________________________ CAR THE SONGS AND THE WORDS OWN THE BEATING OF OUR HEARTS Es dauerte Wochen, bis Dion und ich nicht mehr spannend genug waren, um über uns zu reden. Selbst, nachdem sich die meisten wieder beruhigt hatten, das Tuscheln aufgehört und die schrägen Blicke abgenommen hatten, gab es immer noch einige wenige, die nicht müde wurden, uns pseudo-tötende Blicke zuzuwerfen. Quinn war der Anführer dieser hohlschädligen Clique, aber mir war es egal, was in seinem Kopf vorging (das setzte natürlich voraus, dass er denken konnte oder etwas, das zumindest primitive Ansätze von »denken« hatte …). Selbst, wenn Dion und ich nicht zusammen wären oder es die Welt nicht hätten wissen lassen, hätten Quinn mich gehasst und ich ihn ebenso. Es machte allerdings jetzt sogar noch mehr Spaß, sich mit ihm anzulegen. Er ließ sich so leicht provozieren und doch konnte er nichts tun. Wahrscheinlich malte er sich aus, wie er mich oder wahlweise Dion umbrachte. Trotzdem unternahm er nichts, außer irgendwelche verbalen Angriffe zu starten. Ich war mir nicht mal sicher, ob er wirklich so homophob war, wie er allen zeigte. Vielleicht richtete sich das alles auch einfach nur gegen mich und nicht mal gegen Homosexualität. Aber vielleicht lag ich mit dieser Vermutung falsch. Wie auch immer. Dion fühlte sich unwohl, weil er die ganze Zeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, und das war etwas, dass er absolut nicht mochte. Immer wieder weckte er in mir diesen Beschützerinstinkt — warum auch immer; er hatte schließlich bewiesen, dass er gut auf sich selbst aufpassen konnte —, aber ich kämpfte immerwährend das Bedürfnis zurück, ihn irgendwie, auf welche Weise auch immer, zu beschützen. Er hatte diese Entscheidung mitgetroffen und er hatte gewusst, dass es so ablaufen würde. Mitleid war also unangebracht. Außerdem hatte er das vermutlich schon einmal durchlaufen, als die Leute an seiner Schule in Peoria von seiner Homosexualität erfahren hatten. Aber was wusste ich schon über sein Leben in Peoria? Es war ein milder, sonniger Märztag am Anfang des Monats, als ich mit Dion nach Hause ging. Die Äste von Bäumen und Sträuchern hatten wieder zu keimen begonnen, aber noch hatten die jungen Knospen sich nicht geöffnet. Aber der Frühling lag in der Luft; ich merkte das, weil ich zu Frühlingsanfang meistens besser gelaunt und aktiver war, als im Herbst oder Winter. Ich erwachte aus meiner Winterdepression, wenn die Bäume wieder grün wurden und Leben zurück in die Natur kam. Ich atmete die frische Luft ein und streckte mich. Die Straßen waren noch nass von dem Regen von letzter Nacht; Sonnenlicht spiegelte sich in den Pfützen auf dem Asphalt wider. Das Gras war feucht und Tropfen fielen von den Baumästen herab. »Hast du für heute Zeit?«, fragte Dion mich unvermittelt. Ich warf ihm einen Blick zu. »Für dich habe ich immer Zeit, das weißt du doch«, antwortete ich und sah, wie ein breites Lächeln sich auf seinem Gesicht ausbreitete. »Was steht denn morgen an?« Dion zögerte mit der Antwort. Er druckste ein wenig herum, bis er mir schließlich sagte, was er vorhatte. »Ich will mir ein Auto aussuchen …« Es schien ihm nicht angenehm zu sein, das zuzugeben. Ein wenig überraschte mich die Auskunft auch. Ich hatte nie erlebt, dass Dion über den Wunsch eines eigenen Autos gesprochen hatte, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass er genug Geld hatte, um sich eins zu kaufen. Für einen kurzen Moment kam mir sogar der Gedanke, was für Vorteile sich dadurch für mich ergeben würden, wenn Dion ein eigenes Auto hätte … »Du willst dir ein Auto kaufen?«, brachte ich schließlich heraus und betrachtete ihn von der Seite. Meine Frage ließ ihn peinlich berührt aussehen, scheinbar tat er sich auch schwer damit, mir darauf eine Antwort zu geben. Bambi spielte unruhig an dem Riemen seiner Tasche herum. »Meine Eltern … schenken mir eins zum Geburtstag«, murmelte er verlegen und warf mir einen scheuen Blick zu. Mein Gott, er führte sich wieder auf …! Ich wusste, er mochte es nicht, über Geld und materielles Zeug mit mir zu reden, aber er benahm sich jedes Mal wirklich übertrieben, wenn wir dann doch mal auf das Thema kamen. Als würde ich ihm dafür den Kopf abreißen. Abgesehen davon war es auch nicht so, dass ich kein Auto haben konnte. Mir war klar, dass meine Großeltern mir sofort eins geben würden, wenn ich sie nur danach fragte; genauso mit allem anderen. Aber ich lebte immer noch auf ihre Kosten und ich wollte sie nicht um irgendwelche Dinge bitten, die wirklich nicht absolut notwendig waren. »Aber du hast doch erst im April Geburtstag«, merkte ich an und runzelte nachdenklich die Stirn. Oder hatte ich da etwas durcheinandergebracht? Das wäre natürlich ein überdimensionales Fettnäpfchen gewesen. »Na ja, ich such es mir nur aus. Ich bekomme es erst zum Geburtstag«, erklärte Bambi. »Warum schenken sie dir nicht einfach eins?«, wollte ich wissen und schüttelte mir die Haare aus der Stirn. Ich nestelte an meiner Tasche herum, bevor ich meine Wasserflasche daraus hervorzog, um etwas zu trinken. »Ich will nicht irgendeins«, antwortete Dion, während ich trank. »Aber du siehst es nachher. Eigentlich hab ich das Auto, das ich haben will, schon gefunden. Ich muss mich nur nach einigen Kleinigkeiten erkundigen und fragen, ob es überhaupt zu haben ist.« Ich stellte mir vor, wie Dion in dem neuesten Modell eines BMW Coupé saß, mit jeder erdenklichen Zusatzausstattung, die ein Auto haben konnte, und damit durch die Gegend fuhr. Oller Bonze, dachte ich und verkniff mir ein Grinsen, als Bambis Gesicht mit fetter Sonnenbrille und Goldkette vor mir auftauchte. Die Vorstellung war zu amüsant. »Was für eins ist es denn?«, erkundigte ich mich neugierig. Wahrscheinlich war Dion ein Autonerd oder so. Da konnte er sich mit Tess zusammentun, die hatte auch eine Menge Ahnung von Autos. Ihr Dad war ein Mechaniker, der eine eigene Autowerkstatt hatte; was aber nicht zwangsläufig hieß, dass er meine erste Wahl zum Mitfahren wäre. Er fuhr wie ein Irrer — wie ein begnadeteter Irrer, aber … irre eben. »Das wirst du nachher sehen«, meinte Bambi fröhlich und lächelte geheimnistuerisch. Ich grummelte leise. Ich hasste Überraschungen. Eigentlich hätte ich gerne über mich gesagt, dass er mich damit nicht beeindrucken konnte, aber ich war — zu meiner Schande — unglaublich gespannt, was Dion sich für einen Wagen ausgeguckt hatte. Ich meine … welche Art Auto passte zu ihm? Gab es Wagen in Form von Rehkitzen? Mit Rändern anstatt Kufen am Ende der Beine? Oder so? Als Spezialanfertigung vielleicht. Oder vielleicht ein Lamborghini mit Schleudersitz? Oder ein Monsterauto mit normaler Karosse aber mit 10-Meter-Durchmesser-Rädern? Ich verkniff mir alle Fragen, um so unbeeindruckt wie möglich zu erscheinen, und machte mir weiterhin Gedanken über ein mögliches Auto. Dion warf mir hin und wieder einen belustigten Blick zu, als würde er mich abschätzen wollen. Wir schlugen den Weg zu Bambi nach Hause ein. Während ich alle mir bekannten Automarken im Kopf durchging, räusperte Dion sich leise. »Ich wollte dir noch erzählen«, begann er und hielt kurz inne, bis er meine volle Aufmerksamkeit hatte, »Sally kommt am Sonntag.« Sally war Dions beste Freundin aus Peoria. Er hatte mir nicht viel von ihr erzählt und immer, wenn er versucht hatte, sie zu beschreiben, war er bei dem Satz »Du musst sie erleben« stehen geblieben. Daraus ergab sich natürlich, dass ich eigentlich nichts über Bambis ominöse beste Freundin wusste. Außer selbstverständlich der Tatsache, dass sie sich schon seit klein auf kannten und sie so etwas wie eine Schwester für ihn war. Sie war auch die erste gewesen, die erfahren hatte, dass Dion schwul war. »Sie bleibt bis zum einundzwanzigsten«, fuhr Dion zögernd fort. »Ich hab ihr natürlich von dir erzählt—« Natürlich. »— und sie freut sich schon wahnsinnig darauf, dich kennenzulernen.« »Was hast du ihr denn erzählt?«, wollte ich wissen und dachte gerade darüber nach, dass ich zum ersten Mal direkt mit einem Teil von Dions Leben in Peoria konfrontiert sein würde. Ich wusste nicht, wie ich dem gegenüberstehen sollte. Ich wusste nicht mal, was ich davon halten sollte, dass Sally kam. Dion wusste, wie schwer ich mich damit tat, andere Leute … kennenzulernen. Und Sally war seine beste Freundin. Wahrscheinlich erwartete er von mir, dass ich mich nicht so einigelte wie bei ihm damals. »Nichts, was du mir im Vertrauen erzählt hast«, sagte Dion schnell und sah mich erschrocken an. Davon war ich auch nicht ausgegangen. Ich verspürte nur einen neidischen Stich, dass er Sally offensichtlich mehr über mich erzählt hatte als mir über sie. Das konnte man definitiv nicht Gleichberechtigung nennen. Sie würde wahrscheinlich klar im Vorteil sein, ganz wie »Oh, und du spielst Gitarre?«. »Hm«, machte ich und verunsicherte Dion damit offenbar noch mehr. »Ich hab wirklich nichts gesagt! Ich meine, es war wirklich schwer, weil Sally und ich eigentlich keine Geheimnisse haben und uns alles erzählen, aber …« Ich unterbrach ihn. »Davon bin ich auch nicht ausgegangen. Aber so, wie das klingt, hat sie ’ne Menge mehr Infos über mich als ich über sie.« Bambi sah ein wenig bedrückt aus. Ich seufzte lautlos. Gut zu wissen, dass ich beschreibbar war, Sally allerdings so einzigartig, dass man sie erleben musste. Im Moment hatte ich keine Ahnung, ob ich das also positiv oder negativ einschätzen sollte. Aber ich würde dann wohl zwei Wochen Zeit haben, um sie kennenzulernen und zu … erleben. »Kommst du mit zum Flughafen am Sonntag?«, fragte Dion schließlich, nachdem eine kleine Weile lang keiner von uns etwas gesagt hatte. Ich unterdrückte den Reflex, das Gesicht zu verziehen. Nicht, dass ich etwas gegen Sally hatte oder sie nicht kennenlernen wollte, aber sie würde zwei Wochen hier sein und wenn ich Zeit mit Bambi verbringen wollte, dann würde ich auch zwangsläufig Zeit mit ihr verbringen. Musste ich dann auch noch mitkommen zum Flughafen? Ich hätte am liebsten abgelehnt, aber Dion warf mir einen so herzerweichenden Bambiblick zu, mit dem er jedes rationale Denken in meinem Hirn schlicht und ergreifend lahm legte, und ich nichts anderes als ja sagen konnte. Sofort strahlte er wieder wie ein Rehkitz auf Koks, aber das ließ ich vokal unkommentiert. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, um meine Entscheidung zu bereuen und aufgerundet vierundzwanzig Stunden damit zu verbringen, gedanklich heulend über dem Entschluss zu sitzen und in Selbstmitleid zu versinken. Irgendwann würde Dion mich noch fertig machen. Ich warf so viel über den Haufen, was ich sonst immer streng beachtet hatte. Keine Ahnung, was ich mir mehr wünschte: dass Sally eines dieser Mädchen war, die manische Depressionen bekamen, wenn sie sich einen Fingernagel abgebrochen hatten und die sich bei Sprühregen zu fein waren, um vom Haus bis zum Auto zu gehen, weil der Regen ihre Frisur vernichten würde; oder dass sie eine von denen war, die vermutlich auch Frauenschlammcatchen zugestimmt hätte. Auf den Gedanken mit dem Schlammcatchen versuchte ich nicht weiter einzugehen. »Ich werde keine persönlichen Gespräche über mich mit ihr führen«, sagte ich schließlich stur. »Ich werde mich nicht an einen Lügendetektor anschließen lassen und wenn ich nicht mit ihr auskommen sollte, werde ich auch keine gute Miene zum bösen Spiel machen.« Dion betrachtete mich skeptisch. »Ach ja, und ich behalte mir alle Recht vor, auszuticken, wenn sie mich nervt, mich bedrängt oder etwas macht, das meine Toleranzgrenzen enorm überschreitet«, fügte ich hinzu. Ich hatte eigentlich eine relativ weit gesteckte Toleranzgrenze im Allgemeinen, aber bei gewissen Themen war die Hemmschwelle niedrig. »Austicken?«, echote Dion misstrauisch und unsicher. Ich nickte bestimmt. »Ich zwinge sie Opern zu hören—« »Sally liebt Opern.« »Dann werfe ich ihr Edward Cullen ins Gesicht.« »Sie hatte auch mal eine Vogelspinne …« »Dann schneid’ ich ihr eben die Haare ab! Trampel meine Ideen doch nicht gleich alle in den Sand«, maulte ich und beobachtete, wie Dion ein wenig blasser um die Nase wurde, als hätte er ernsthaft Angst um Sallys Gesundheit. Doch er belehrte mich — er hatte Angst um meine Gesundheit, nicht um ihre. »Fass Sallys Haare an und sie macht aus dir Grace-Pizza. Ernsthaft, sie verarbeitete dich zu einem Happy Meal oder so, tu alles, was du willst, aber lass die Finger von ihren Haaren«, warnte er mich eindringlich. Doch ich lachte nur über sein verschrecktes Gesicht. Wie Grace-Pizza oder Grace-Happy-Meal wohl schmecken würden? Dion nannte mich eigentlich immer nur Grace und nicht Ethan. Ich wusste nicht, wieso. Es störte mich eigentlich nicht, dass er weiterhin meinen Nachnamen benutzte, Tess tat es schließlich auch. Nur, wenn sie mir mit aller Dringlichkeit etwas eintrichtern wollte, rief sie mich bei meinem Vornamen. Ich konnte damit leben, abgesehen davon wäre es wohl eigenartig gewesen, wenn meine besten Freundin und mein … äh … Freund mich mit meinem vorgeblichen Nachnamen anredeten. Außerdem wussten Dions Eltern auch nicht, dass mein Name ein etwas anderer war, als den, den sie kannten. »Ich mein’s ernst«, versicherte Bambi. »Vor ein paar Jahren ist Sally total ausgerastet, als einer der Typen aus unserer Schule sich einen Scherz erlaubt hat und ihr die Haare abgeschnitten. Sie war sauer, sie hätte ein Monster sein können. Direkt danach hat sie einen Wasserleitungsschaden im Mädchenklo verursacht — frag mich nicht wie, ich war nicht dabei. Na ja, und was den Kerl betrifft, der ihre Haare vernichtet hat …« Dion schüttelte den Kopf. Schlammcatcherin. Ich wollte gar nicht wissen, was mit dem armen Kerl genau geschehen war. Dion und ich beendeten das Gespräch über Sally und ihre Haare, während ich für mich beschloss, einfach zu irgendwelchen anderen Mitteln zu greifen, für den Fall, dass sie und ich uns nicht mögen sollten. Mir würde sicherlich etwas einfallen. Jedenfalls hatte ich nicht vor, mich im Falle eines Falls von ihr niedermachen zu lassen. Das konnte auf Dion nicht vor mir verlangen, bei aller Liebe. Dions Mom war zu Hause, als wir bei ihm ankamen. Sie grüßte uns lächelnd. Ich konnte ihrem Blick kaum standhalten. Obwohl Bambis Eltern wussten, dass er und ich …, wie auch immer, es war trotzdem irgendwie jedes Mal ein eigenartiges Gefühl, in ihre wissenden Gesichter zu blicken. Es war einfach ungewohnt. Ich war dabei gewesen, als Dion es ihnen gesagt hatte, und weder Mr van Dorve noch Mrs van Dorve hatten sonderlich überrascht gewirkt. Überrascht in dem Sinne, dass ihr Sohn mit mir … etwas angefangen hatte. (Je mehr ich darüber nachdachte, desto schrecklicher klang es: Paar.) Bambi grüßte seine Mutter, indem er ihr einen Kuss auf die Wange gab. Er drückte sich an ihr vorbei in die Küche und holte aus dem Kühlschrank eine Plastikverpackung mit Salat heraus. Ich wusste nicht, woher er diesen Fimmel hatte, aber es war bei ihm ein tägliches Ritual, nach der Schule so einen Salat zu essen. So weit ich wusste, nicht, weil er auf Diät war, sondern weil es ihm schmeckte und er ihn so bald wie möglich in sich hineinschaufeln wollte. Dion stellte die Verpackung auf die Anrichte und rauschte in sein Zimmer. Im Vorbeigehen teilte er mir mit, er würde im Gehen essen, damit wir nicht herumtrödelten und er mir sein Auto zeigen konnte. Offensichtlich war er viel aufgeregter als ich. Rehkitz. Ich fand mich allein mit Mrs van Dorve — Mutter Reh, wie ich sie auch gerne in Gedanken nannte — allein wieder. Sie lächelte mir freundlich zu. Mir lief es heiß und kalt den Rücken hinunter, wenn ich bedachte, dass ich so etwas wie ein … nein, egal. Diese Art der Dimension verdrängte ich hastig aus meinem Kopf. »Hey, Grace«, sagte sie mit ihrer angenehmen Stimme und schaute mich an, während sie die Tasse, die sie hielt, in ihren Händen drehte. »Hey …« Ich zögerte. »Samantha«, schlug sie vor. Sie hatte mir das Du schon zuvor angeboten, aber ich war bis dato dabei geblieben, Dions Mom zu siezen. Ich antwortete nicht. Tess’ Mom mit ihrem Vornamen anzureden war etwas, als Bambis Mutter mit dem Vornamen anzureden. Dieser Gedanke war so absurd und ich dachte, ich würde jetzt komplett abdrehen. Normalerweise stellte ich mich nicht so kleinmädchenhaft bei Du-Angeboten an. »Samantha«, murmelte ich schließlich, um zu hören, wie es aus meinem Mund klang. Dions Mom lächelte breit, dasselbe offenherzige Lächeln, das Dion gerne zeigte. Er hatte es von ihr geerbt. Es war so einnehmend und so verdammt … ablenkend. Immer, wenn Bambi mich so anlächelte, vergaß ich für einen Moment, wie ich hieß, wer ich war und was ich eigentlich machte. Peinlich, aber wahr. Ich meine, wie blöd musste man denn sein, um seinen eigenen Namen zu vergessen …? Aber es war einfach immer — ZACK! — und weg. Wie eine atomare Gedankensprengung mit kurzweiliger Wirkung oder so. Dion kam wieder hinuntergelaufen, wuselte in die Küche, nahm seinen Salat und griff eine Plastikgabel aus einer Tüte, die in einem der Schränke lag und kam zu mir zurück. Er schaute einmal zwischen seiner Mutter und mir hin und her, dann verkündete er Samantha, was wir vorhatten. Sie grinste spitzbübisch. »Sei bloß begeistert«, riet sie mir schelmisch. »Sonst ist er bockig.« Dion zeigte wieder sein Ich-bin-ein-wütendes-Bambi-Gesicht und schob mich zur Tür hinaus, ehe seine Mutter mich weiter anleiten konnte. Unterwegs öffnete er die Salatverpackung und nahm das kleine Saucentütchen heraus, dann drückte er mir die Box in die Hand. Ich hielt seinen Salat, während er den Inhalt des Tütchens über das Zeug in der Verpackung goss. Dion warf die Saucentüte in den nächsten Mülleimer, nachdem er sie entleert hatte, und nahm mir die Salatverpackung aus der Hand. Konzentriert rührte er in der Schachtel, bevor er die Gabel in den Wirrwarr stach und sie sich anschließend in den Mund schob. Als er aufgegessen hatte, warf Dion unterwegs die Schachtel und die Plastikgabel weg. Kurz darauf erreichten wir den Autohandel und betraten den Hof, auf dem ein Haufen verschiedener Wagen herumstanden. Es waren einige neue dabei, auch einige ältere. Ich schaute mich um und versuchte abzuwägen, welches davon Dion nehmen würde. Bambi stakste aber zielstrebig über den Hof und blieb vor einem schwarzen Muscle Car stehen. Ich hätte fast losgelacht, weil ich wirklich nicht erwartet hatte, dass er sich so ein Auto aussuchen würde. Ich meine, Bambi und Muscle Car? Das erschien abwegig, aber vielleicht war Dion sich seines Rufs bewusst und wollte aus genau diesen Gründen den Wagen haben. Ich schloss zu ihm auf und pfiff anerkennend. Das Auto war tatsächlich beeindruckend, rein optisch zumindest. Abgesehen davon schien es in einem guten Zustand zu sein. Dion lächelte, offensichtlich zufrieden mit meiner Reaktion. »Ich bin wirklich gespannt, wie alle gucken werden, wenn du mit diesem Schlitten in der Schule vorfährst«, sagte ich und fuhr mit der Hand über die schwarz glänzende Motorhaube. Ich hatte nicht mal eine Ahnung, was das für ein Modell war, aber das war auch unwichtig. Hauptsache die Karre sah gut aus. Als ich aufsah, bemerkte ich aber Dions entrüsteten Blick, als er meiner Hand folgte. »Ich nehme das da«, sagte er und deutete auf das Auto, das direkt neben dem Muscle Car stand. Ich fiel aus allen Wolken, nahm die Hand von der Haube und drehte mich um. Im ersten Moment war ich zu perplex, um irgendetwas sagen oder denken zu können. Damit hatte ich wohl am wenigsten gerechnet, so ein Auto hatte ich nicht einmal in Betracht gezogen. Ich hatte nicht mal erwartet, dass Dion es mögen würde. Der Wagen war ein schwarzweißer VW-Bus. Die Seiten waren bis zu den Fenstern schwarz und wurden durch einen metallenen Streifen, der einmal um die gesamte Karosse lief, abgetrennt. Das Dach und das restliche obere Drittel des Busses waren weiß. Vorne lief der Streifen an der Stoßstange V-förmig zusammen. In der Mitte auf der Frontseite prangte groß das VW-Zeichen. Der Lack war poliert und das Auto sah aus, als wäre es frisch aus der Reinigung. »Du … willst einen VW-Bus?«, stammelte ich irritiert, während ich den Wagen ungläubig anstarrte. Als ich mich zu Dion wandte, nickte er eifrig, pure Begeisterung und Verzückung in den Augen. Er schaute mich an. »Den und keinen anderen«, meinte Bambi. »Mein Traumauto war schon immer ein VW-Bus.« »Ernsthaft?«, wollte ich perplex wissen. Dions Lieblingsauto war ein alter VW-Bus? Das erschien so abwegig, dass ich fast losgelacht hätte, hätte Bambi nicht so einen überzeugten Gesichtsausdruck gehabt. »Ja«, meinte er ein wenig verwundert, dann zuckte er die Schultern. »Dir muss es ja auch nicht gefallen.« Er klang ein wenig trotzig. »Ich wollte auch immer einen VW-Bus haben«, blubberte ich schließlich und ging um das Auto herum, um es von allen Seiten zu betrachten. Irgendwie wollte es nicht so richtig in meinen Schädel, dass Bambi sich ausgerechnet einen VW-Bus ausgesucht hatte. Man musste sich auf dem Hof nur einmal umsehen. Hier standen so viele andere, bessere Autos herum, die er sich hätte aussuchen können, aber er nahm ausgerechnet einen alten Bus, der auch noch zufällig dasselbe Traumauto war wie meins. Dion folgte mir neugierig, während ich den Bus umrundete. »Du magst ihn?«, wollte er mit unverhohlener Freude wissen. »Er ist toll«, meinte ich und ließ meine Hand über den Lack laufen, während ich daran vorbeiging. »Du willst ihn wirklich nehmen?« »So ziemlich. Ich wusste gar nicht, dass du VW-Busse magst«, sagte Dion, während er neben mir herging. Ich warf ihm einen Blick zu. »Ich wusste nicht, dass du sie auch magst«, erwiderte ich nur. Statistisch gesehen musste es ja etwas geben, was wir gemeinsam hatten. Mathe war es ja schon mal nicht. Der VW-Bus erweiterte die Liste unserer Gemeinsamkeiten um einen weiteren Punkt. Volleyball war immerhin auch etwas, das wir beide mochten. »Ich lass dich auch mal fahren … unter Aufsicht«, ließ Dion mich wissen und grinste mich verwegen an. Ich grollte in Gedanken. Angeber. »Tse«, machte ich. Bambi grinste immer noch, beugte sich aber vor und gab mir einen Kuss auf die Lippen. Dann wuselte er davon, um die Formalitäten zu klären. Ich blieb allein draußen stehen, vergrub die Hände in meine Jackentaschen und starrte den VW-Bus an. Unweigerlich kam die Frage auf, ob Dion und ich noch mehr unentdeckte Gemeinsamkeiten hatten. Das würde sich wohl noch herausstellen, dachte ich. ___ tbc. Kapitel 5: Collision -------------------- Für , weil ihr Traumauto ein '67 Chevrolet Impala ist. ______________________________________________________________________________ COLLISION CONTROL YOURSELF, TAKE ONLY WHAT YOU NEED FROM IT Den Sonntagvormittag verbrachte ich bei Tess. Sie wusste bereits, dass Sally heute kommen würde. Dion hatte ihr davon erzählt und meine beste Freundin war offenbar aufgeregter als Bambi selbst. Tess war unglaublich scharf darauf, Sally endlich kennenzulernen. Zwar hatte Dion Tess angeboten, mit zum Flughafen zu kommen, aber sie hatte abgelehnt. Sie war der Meinung, es wäre besser, wenn nur er und ich fuhren. Dabei hatte sie verheißungsvoll gelächelt und mir ein unschuldiges Zwinkern zugeworfen. Wer wusste, was schon wieder durch Tess’ krankes Hirn spukte. Ich wollte es mir gar nicht vorstellen. Während ich in Tess’ Zimmer in ihrer Hängematte lag und langsam hin und her schaukelte, ließ ich Edward Cullen über meine Hände krabbeln. Tess war nach unten gegangen, um uns Frühstück zu machen. Nachdenklich betrachtete ich die Spinne auf meiner Hand. Die wenigen Informationen, die Dion mir über Sally gegeben hatte, formten ein unklares Bild von ihr in meinem Kopf. Sie mochte Opern und hatte auch mal eine Vogelspinne gehabt. Irgendwie schienen diese Tatsachen überhaupt nicht zusammenzupassen, wie die Pluspole zweier Magneten, die sich gegenseitig abstießen. Wie sollte man einen solchen Menschen einschätzen? Ich hatte absolut keine Ahnung. Andererseits waren ihr die Haare wieder heilig. Das schien alles keinen Sinn zu ergeben. Als ich Tess von unten rufen hörte, hievte ich mich vorsichtig aus der Hängematte und steckte Edward Cullen zurück in sein Terrarium, bevor ich die Treppe hinunter lief. Am Tisch saß Tess’ Dad Nathan, die heutige Tageszeitung vor dem Gesicht und in der rechten Hand einen Kaffeebecher. Julie und die Jungs waren nicht zu Hause. Tess hatte gesagt, sie wären zu Julies Mom gefahren, Nathan kam mit seiner Schwiegermutter nicht gut aus und blieb bei solchen Besuchen deswegen immer zu Hause. »Hey, Nathan«, grüßte ich, als ich mich ihm gegenüber sinken ließ. Er ließ die Zeitung sinken, schenkte mir ein freundliches Lächeln und sagte: »Guten Morgen.« Tess setzte sich neben mich und griff nach einem Croissant, das in einem Korb zusammen mit Brötchen und Brot vor uns stand. Sie hatte eine CD eingelegt und wippte im Takt der Musik auf dem Stuhl mit. Nathan wiegte den Kopf, während er weiter in seiner Zeitung las. Ich beobachtete die beiden kurz dabei. Sie hatten beide größtenteils einen übereinstimmenden Musikgeschmack. Im Gegensatz zu vielen anderen Dads ging Nathan mit der Zeit und hörte auch aktuellere Musik. Oft zapfte er Tess’ Ressourcen an. Schließlich nahm ich mir ebenfalls ein Croissant. »Wann genau kommt Sally denn eigentlich an?«, fragte Tess, während sie die Spitze ihres Croissants in Marmelade tunkte. Ich seufzte gedanklich. Irgendwie kamen wir immer wieder auf Sally zurück. Was war es nur mit diesem Mädchen? Tess kannte sie nicht mal und war trotzdem total versessen auf sie. Verrückt. Vielleicht würde sie eine Ernüchterung erleben, wenn Tess Sally zum ersten Mal traf. Vielleicht mochten sie sich gar nicht. Wer konnte das jetzt schon sagen? »Spät«, brummte ich. »Irgendwann gegen acht erst.« Tess gab ein undefiniertes Geräusch von sich, das nicht sehr begeistert klang. Nathan blätterte die Zeitung um und schaute kurz auf. »Dions beste Freundin? Die Sally?« Ich starrte ihn ungläubig an. Woher wusste er das denn? Doch bevor ich mein Sprachzentrum wieder gefunden hatte, hatte Tess schon bejaht und blubberte aufgeregt vor sich hin, wie sehr sie sich schon darauf freue, Sally endlich kennenzulernen und ihr die Stadt zu zeigen, bla bla bla. Es hätte mich nicht gewundert, wenn Tess heimlich schon eine To-Do-Liste erstellt hätte, die sie kontinuierlich abarbeiten wollte, solange Sally hier war. Aber das hinterfragte ich nicht. Tess wiegte immer noch zur Musik, dann stieg sie beim Refrain selbst ein und sang mit. Es war sichtbar, dass sie ausgesprochen gute Laune hatte. Irgendwie kam es, dass alle Sallys Ankommen zufieberten, während ich mit jeder Stunde, die mich ihrer Ankunft näher brachte, nervöser wurde. Es war so verrückt, so irrsinnig und bekloppt. Ich kam mir so bescheuert vor, dass es fast wehtat. Eigentlich konnte es mir doch egal sein, ob sie mich mochte oder nicht. Nur, weil sie Bambis beste Freundin war, musste das nichts Besonderes heißen. Es gab genug andere Leute, die nicht mit mir klar kamen; sie wäre bei Weitem nicht die erste. Und auf einen Menschen mehr oder weniger, der mich hasste, kam es auch nicht an. Soweit zu meinem gewöhnlichen Gedankengang. Dion tauchte zum Mittag bei Tess auf und leistete uns Gesellschaft. Er hatte uns sechs Tüten McDonalds Futter mitgebracht, und so hockten wir zu dritt in Tess’ Zimmer und stopften uns mit Fast Food voll, während Bambi und sein(e) beste(r) Freund(in) Klopfer aufgeregt über Sallys Ankunft schnatterten. Tess hatte viel mehr mit Bambi gemeinsam als ich. Manchmal geisterte unweigerlich die Frage in meinem Kopf herum, ob die beiden nicht besser zusammenpassten — zumindest in einem Paralleluniversum, in dem Dion hetero war. Tess schaute mich herausfordernd an. Das Grinsen in ihrem Gesicht verriet, dass sie nichts Gutes im Sinn hatte. »Ich wette, du schaffst es nicht, dir einen ganzen Cheeseburger in den Mund zu stecken«, sagte sie spitzbübisch zu mir. Ich schnaubte. Das war eine Provokation zu Dummheiten, ich wusste es, aber ich war ein Mann und so etwas konnte ich nicht einfach auf mir sitzen lassen. Abgesehen davon würden Dummheiten mich von Sally ablenken, deswegen waren sie mir willkommen, obwohl ich wusste, dass ich es früher oder später vermutlich bereuen würde, dass ich mich hatte provozieren lassen. »Ich wette dagegen«, sagte ich trocken, nahm mir einen Cheeseburger und wickelte das Papier ab. Kurz betrachtete ich den Burger, dann begann ich ihn systematisch in meinen Mund zu stopfen. Man sollte meinen, es wäre einfach, einen ganzen Cheeseburger in den Mund zu kriegen. Immerhin ist er rund und weich und nicht sonderlich groß. Irrtum. Als der Burger endlich drin war, konnte ich den Mund nicht mal mehr richtig zumachen, ganz abgesehen von der Tatsache, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste ersticken. Tess schüttelte es am ganzen Körper vor Lachen und sie konnte ihre Kamera, die sie selbstverständlich dazu genutzt hatte, um Beweisfotos zu schießen, nicht mehr gerade halten. Dion lachte auch, aber auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Unglauben, Erstaunen und Belustigung wider. Nachdem ich es nach einer gefühlten halben Stunde endlich geschafft hatte, alles zu zerkauen und zu schlucken, lachten Tess und Bambi immer noch. Mein Mund fühlte sich wahnsinnig trocken an. Ich griff nach meinem Wasser und leerte den Becher in einem Zug. Damit sollte unser kleiner Wettbewerb natürlich noch nicht beendet sein. Tess ließ sich dazu treiben, die sechs Ketchuptütchen … zu … trinken? Kann man Ketschup trinken? Jedenfalls, sie nahm den Ketschup ohne irgendwelche Zusätze wie Pommes oder Nuggets zu sich. Alle sechs Tütchen. Sie verzog schon nach dem ersten angewidert das Gesicht, aber Tess wäre nicht Tess, wenn sie einfach so vor fünf anderen Tütchen Ketschup kapituliert hätte. Ich glaube, nachdem sie schließlich alles heruntergewürgt hatte, wäre sie am liebsten aufs Klo gerannt um alles wieder ins Porzellan wandern zu lassen, aber stattdessen schob sie sich einen BigMac in den Mund. Bambi bekam sein Fett natürlich auch weg. Tess und ich schmierten ihm eine dicke Schicht Eis auf einen Hamburger, den er anschließend essen sollte. Einer Schwangeren hätte das vielleicht geschmeckt, aber Dion wurde ein wenig blasser um die Nase, als er sich dazu zwang, den Hamburger zu essen. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass Tess und ich hingegen ziemlich unseren Spaß daran hatten. Bambi war aber wieder einmal tapferer als man es ihm ansah, denn er aß alles ohne Klagen auf. Allerdings kippte er anschließend einen Becher Cola. Dion und ich verbrachten den Großteil des Nachmittags bei Tess, bis wir zwei Stunden vor Sallys Ankunft zu Bambi nach Hause fuhren … besser gesagt, gefahren wurden. Tess hatte sich großzügigerweise dazu hinreißen lassen, uns herumzukutschieren. Dion versprach ihr, als sie uns vor dem van Dorve’schen Anwesen ablud, dass sie Sally direkt morgen kennenlernen würde. Meine beste Freundin schien ziemlich zufrieden damit zu sein, denn sie grinste selig, als sie umdrehte und wieder zu sich nach Hause fuhr. Es war fast gruselig. Tess hatte so etwas wie eine beste Freundin nicht, deswegen machte mir der Gedanke von ihr zusammen mit Sally umso mehr Angst. Ich wusste nicht, was schlimmer wäre: wenn Sally und Tess zu Busenfreundinnen wurden oder sich hassten. Das interessante an Frauenhassgemeinschaften war, dass sie sich nicht prügelten, nicht offen den Mittelfinger zeigten oder sich gegenseitig die Spinde mit einem Baseballschläger einschlugen. Frauen blieben immer beherrscht, lächelten ihre Feindin frostig-freundlich an und spannen hinterrücks heimlich und voller Hingabe ein feines Netz aus den boshaftesten Intrigen, die die Welt sich vorstellen konnte … oder auch nicht vorstellen konnte. Weiber kamen diesbezüglich auf Ideen, die Kerlen nicht einmal im hintersten und zurückgebliebensten Teil ihres Hirnes einfallen würden. Sie stellten sich auch nicht vor versammelte Mannschaft und versuchten allen klarzumachen, Schlampe 1 hätte kleine Brüste oder so. So was klappte sowieso nicht. »Was ist los?«, fragte Dion, als wir das Haus betraten. Offenbar hatte mein Gesichtsausdruck mich verraten. Ich schaute ihn kurz an, dann teilte ich ihm meine Gedanken mir. Bambi grinste wortlos, schüttelte den Kopf, aber ich hätte schwören können, dass er etwas wie »Worum du dir Sorgen machst …« gesagt hatte. Ich stand kurz davor, eine Diskussion zu beginnen, aber ich biss mir im letzten Moment auf die Zunge. Mein Beziehungsberatungsbuch sagte auf Seite zweiunddreißig, dass man nicht über jede Kleinigkeit diskutieren sollte. Das konnte schwerwiegende Folgen haben. Ich seufzte geschlagen. Die restliche Zeit verbrachten wir damit, Dions Zimmer für Sallys Ankunft herzurichten. Ich half ihm dabei, zwei Matratzen aufeinanderzustapeln und das Bettzeug zu beziehen. Irgendwie verstand ich nicht ganz, warum sie mit Bambi zusammen in einem Zimmer schlief, wenn das Haus ein Gästezimmer hatte, in dem Madame auch wohnen konnte. Während ich das Kissen mit dem Bezug überspannte, räumte Dion ein paar Regale in seinem Schrank frei, damit Sally ihr Zeug dort verstauen konnte. Ganz schön viel Aufwand für ein Mädchen … Es war bereits dunkel draußen, als wir zum Flughafen fuhren, um Sally abzuholen. Wir waren sogar fast zu spät, weil Bambi darauf bestand, einen Parkplatz in direkter Nähe zum Ausgang zu bekommen. Warum auch immer. Wir liefen hastig zum Terminal, wo Sally ankommen sollte. Uns blieben zehn Minuten, bis der Flieger landen würde. Ich bereitete mich mental darauf vor, Dion für zwei Wochen an seine beste Freundin abzugeben. Ein letztes Mal versuchte ich, mir das Mädchen, an dem Bambi so hing, vorzustellen; wie sie wohl aussehen würde, wie sie drauf war. Ich warf einen Blick auf eine der großen Digitalanzeigen, die auflisteten, wann welche Flüge landen würden. Sallys Flug blinkte an oberster Stelle und als das Blinken aufhörte, stand dahinter »gelandet«. »Ich glaub, ich muss mal …«, sagte ich und wollte mich gerade, umdrehen und gehen, als Dion fest nach meiner Hand griff und mich zurückzog. »Grace«, nörgelte er und verzog flehentlich das Gesicht. »Ich muss wirklich«, brummte ich. Dion seufzte, bevor er mich losließ. »Beeil dich und komm ja wieder hierher zurück«, sagte er und drückte mir seinen Finger gegen die Brust. Ich musste grinsen. »Weißt du eigentlich, wie niedlich du bist, wenn du so herrisch wirst?«, wollte ich amüsiert wissen und sah zu, wie Dions Ohren glühend rot wurden. Er setzte seinen Ich-will-wütend-auf-dich-sein-Gesichtsausdruck auf, aber trotzdem sah er mehr verlegen aus als alles andere. »Ich bin nicht niedlich«, stammelte Bambi mit hochrotem Kopf. Ich gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze, dann wandte ich mich um und suchte nach den Klos. Auf dem Weg ging ich an einer Sitzreihe vorbei und erspähte ein Mädchen mit gigantischem Koffer neben sich auf einem der Sitze. Sie hatte Ohrhörer in den Ohren, ihre Augen waren geschlossen und sie hatte ihre Lippen zu einem Schmollmund verzogen, während sie Luftschlagzeug spielte. Ihre Haare waren ein Farbton, der etwas zwischen weinrot und violettrot sein musste, und schulterlang. Sie hatte helle Haut und ihre Fingernägel waren schwarz lackiert. Ihre Augen waren geschminkt, sie trug eine dunkle Strumpfhose und blaue, hochhackige Schuhe mit einem grün-roten, schottisch karierten Minirock. Darüber hatte sie ein Stoffjackett an, das die Farbe ihrer Schuhe hatte, und einen gestrickten Schal, der sich zu beiden Enden hin verjüngte und in einen Knoten überlief, von dem aus ein Haufen Fransen hing. Wäre ich nicht mit Dion zusammen gewesen, hätte ich das Klo vergessen und hätte Operation: Prince Awesome meets Princess Gorgeous eingeleitet. Sie hob den Kopf, öffnete die Augen und sah mich kurz an. Bevor sie aus meinem Blickfeld verschwand, sah ich, wie sie mir ein breites, einladendes Lächeln schenkte. Als ich vom Klo zurückkam, hing Princess Gorgeous in Dions Armen. Ich blieb stehen und schaute dabei zu, wie die beiden hin und her wiegten. Keiner von beiden sagte irgendetwas. Gut, offensichtlich brauchten sie keine Begrüßungsreden, aber wer brauchte die auch schon, wenn er so eine Umarmung stattdessen bekam? Ich beobachtete die beiden dabei, wie sie sich gegenseitig ins Koma drückten, aber dann ließen sie erstaunlicherweise voneinander ab. Princess Gorgeous war also Sally. Dion und Sally strahlten sich an, als wären sie die beiden Teile eines Paars, das sich verloren und wiedergefunden hatte. Als ich schließlich näher kam, hörte ich, wie Sally sagte: »Ich hab dich so vermisst.« Dabei griff sie nach Dions Händen und begann sie hin und her zu schwingen. »Ich dich auch«, meinte Bambi und wollte gerade ansetzen, noch etwas zu sagen, da sprach Sally weiter. »Gerade ist hier so ein rattenscharfer Junge vorbei gerannt. Oh Gott, du hättest ihn sehen müssen. Er hätte dir bestimmt auch gefallen. Vielleicht sehen wir ihn noch einmal, wenn wir noch ein bisschen auf dem Flughafen herumlaufen«, meinte sie und ich sah, dass sie mit den Augenbrauen wippte. Ich trat an die beiden heran und räusperte mich leise. Dion wandte sich zu mir um und schnappte sich meine Hand. »Sally — Grace. Grace — Sally«, stellte er uns atemlos vor und strahlte dabei, als wäre er der Generator, der den Flughafen mit Licht versorgte. Sally war so groß wie ich, doch ihr Blick war ein wenig erstaunt, als sie mich anschaute. »Oh hallo, rattenscharfer Junge«, sagte sie und schnipste mit den Fingern. »Wusste ich es doch, dass er dir gefallen würde.« Der letzte Teil war wohl an Dion gerichtet, obwohl Sally immer noch mich ansah. Ich wusste nicht, ob ich zufrieden oder erschrocken über ihren Titel für mich sein sollte, aber mir blieb nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Im nächsten Augenblick hatte Sally mich umarmt und drückte mich an sich. Sie roch angenehm, aber nicht nach Parfüm. Es hatte eher den Eindruck, dass es ihre persönliche Note war — oder wie auch immer man das erklären konnte. Ich war so perplex, dass ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte. Es war, als würde ich auf einer Ladung Sprengstoff stehen, die hochging, wenn ich mich bewegte. Das war wohl ein schlechter Vergleich, aber ich war es nicht gewohnt, dass mich fremde Menschen umarmten — schon gar nicht so innig, wie Sally es tat. Sie lächelte breit, als sie mich wieder losließ. Ihre Hände lagen auf meinen Schultern und sie betrachtete mich, als wollte sie mich abschätzen. Ihre Augen hatten einen hellen graugrünen Ton. Während ich Sally anschaute und sie mich, ging mir durch den Kopf, dass die echte Sally keiner einzigen meiner Vorstellungen entsprach. Allein optisch konnte ich verstehen, warum Dion meinte, man müsste Sally erleben. Sie wirkte nicht wie ein kleines Modepüppchen, aber auch nicht wie ein halbes Mannsweib. Offensichtlich war Sally irgendetwas dazwischen. Vielleicht aber auch nicht, aber mir blieben zwei Wochen, um es herauszufinden. »Grace«, sagte Sally, und es schien, als würde sie ausprobieren, wie mein Name aus ihrem Mund klingt. Ich schaute sie verdutzt an, während sie mich fachmännisch musterte. Mir sollte niemand wieder jemanls erzählen, wie schrecklich es wäre, seinen Schwiegereltern zum ersten Mal vor die Augen zu treten. Schwiegereltern waren nichts im Vergleich zur besten Freundin. »Sally«, brachte ich schließlich im Ein-Wort-Modus meines Sprachzentrums hervor. Ein spitzbübisches Grinsen legte sich auf ihre Lippen. Doch dann seufzte sie theatralisch und sah ziemlich enttäuscht aus. Sie legte kumpelhaft einen Arm um meine Schulter, schaute einen Moment lang auf meine Lippen und dann in meine Augen. »Warum sind alle scharfen Kerle entweder schwul oder vergeben?«, fragte sie mich mit dramatischem Ton in der Stimme. »Arschlöcher«, fügte ich hinzu, »Du hast die Arschlöcher vergessen.« Sie sah mich schief grinsend an und ich wusste immer noch nicht, was ich tun sollte. Mir gefiel ihr Arm um meine Schulter nicht. Es war nicht mein Ding, wenn Leute einfach so taten, als wäre man gut befreundet, obwohl man sich noch gar nicht kannte. Ich nahm Sallys Arm und löste ihn von meiner Schulter, doch sie blieb dicht an mir dran. Irgendwie berührten wir uns immer, egal, wie weit ich versuchte, sie auf Abstand zu bringen. Sie war mir vom ersten Eindruck nicht unsympathisch, aber … es war einfach zu viel auf einmal. »Und was bist du?«, wollte Sally wissen, ihr Gesicht meinem so nah, dass unsere Nasenspitzen sich beinahe berührten. Ich machte einen Schritt nach hinten, um Raum zwischen Sally und mich zu bringen, doch für den Schritt, den ich nach hinten machte, für den machte sie einen nach vorn. Das war der Moment, in dem Dion sich einmischte. Zwar sagte er nichts, aber er zog Sally zwei Schritte zurück. »Ich bin alles davon — zumindest teilweise«, antwortete ich schließlich. Sally schaute mich prüfend an, mit einem süffisanten Ausdruck in den Augen, dann lächelte sie wieder und wandte sich an Dion. »Wollen wir?«, fragte sie. Sally ging zu ihrem Koffer, schnappte sich den Griff und warf sich ihre Handtasche über die Schulter. Die Absätze ihrer Schuhe klackerten auf dem Boden. Dion nahm Sally den Koffer ab und wir machten uns auf den Weg nach draußen zum Auto. »Wieso hast du eigentlich schon da gesessen, während alle anderen erst rausgekommen sind?«, fragte Dion, als wir den Wagen auf dem Parkplatz anpeilten. Sally zuckte die Schultern und tat ziemlich gelassen. »Na ja, es hat sich irgendwie so ergeben, dass ich früher gelandet bin«, meinte sie, während Bambi den Kofferraum des Autos öffnete und mit meiner Hilfe den tonnenschweren Koffer hineinhievte. Dann sah er sie mit einer Mischung aus Ärger und Verwunderung an. »Warum hast du nicht angerufen? Wir hätten dich geholt«, sagte er entrüstet und boxte sie scherzhaft gegen die Schulter. Das war vermutlich das Gewalttätigste, was er je getan hatte. Ich wandte den Blick von den beiden ab und verzog das Gesicht, als Dion ›wir‹ sagte. War es denn so selbstverständlich, dass ich mitgekommen wäre, wenn ich kurzfristig erfahren hätte, dass Sally früher gelandet war? Als würde ich für sie alles stehen und liegen lassen … »Ich wollte dir keine Umstände machen. Krieg dich wieder ein, es war nur eine halbe Stunde. Kein Drama«, erwiderte sie und wuschelte durch Bambis Haare. »Du lässt deine Haare endlich wieder länger wachsen.« Sie schien zufrieden mit der letzten Tatsache zu sein. Dion schüttelte ihre Hand ab, ein verlegenes Lächeln auf den Lippen. Sally kam herum, doch ich hatte nicht vor, mich auf die Rückbank zu verziehen. Ich glitt schnell auf den Beifahrersitz. Für einen kurzen Moment dachte ich, Sally würde eine Diskussion beginnen, doch dann öffnete sie die hintere Tür und rutschte in die Mitte des Rücksitzes. Sally beugte sich zu uns vor, als Dion losfuhr. »Und, rattenscharfer Junge, wie bist du zu deinem Namen gekommen?« Was hatten die Leute nur alle mit meinem Namen? »Meine Mutter hat sich nicht sagen lassen, ob ich ein Mädchen oder ein Junge bin, aber sie hat bis zum Schluss daran geglaubt, ich würde ein Mädchen. Als sie dann festgestellt hat, dass ich ein Junge bin, ist ihr auf die Schnelle kein anderer Name eingefallen und sie hat mir einfach den gegeben, den sie auch einem Mädchen gegeben hätte«, erklärte ich trocken. Diese Erklärung hatte ich schon so oft gegeben, dass ich es sogar fast selbst glaubte. Es fiel nicht mehr schwer, zu lügen. »Oder meintest du meinen neuen Spitznamen?« Ich warf einen Blick über die Schulter, um Sally sehen zu können. Sie grinste verwegen, ging allerdings nicht auf meine Bemerkung ein, stattdessen wandte sie den Blick von mir ab und schaute Dion an. »Hab ich eigentlich schon erwähnt, dass Jonah sich seinen Arsch abärgert, weil er nicht mitkommen konnte?«, sagte sie. Sally hatte ein irres Leuchten in den Augen, doch das änderte sich schlagartig und ein träumerischer Ausdruck legte sich auf ihre hübschen Züge. »Ich vermisse die guten alten Zeiten. Jonah, du und ich. Na ja, oder Jonah, Will, du und ich.« Ich biss die Zähne zusammen und versuchte nicht, über ›die guten alten Zeiten‹ nachzudenken, in der Bambi noch mit Will zusammengewesen war. Es war absolut irrational, dass ich so reagierte, aber ich konnte das Gefühl nicht einfach abschalten. Ich lehnte den Kopf gegen die Lehne hinter mir und schaute aus der Windschutzscheibe, wo die Lichter der Straßen vorbei flogen. »Ja, es ist schade, dass er nicht kommen konnte«, meinte Dion. Er klang niedergeschlagen, obwohl er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Wir müssen uns nach den Abschlussprüfungen treffen, in den Sommerferien oder so.« »Auf jeden Fall. Wir können unsere Schulzeit nicht einfach so vorbeigehen lassen, ohne uns alle nicht mindestens noch einmal zu sehen«, stimmte Sally zu. »Oh, aber zu deinem Geburtstag werden Jonah und ich es noch irgendwie auf die Reihe kriegen und dich besuchen. Wir haben noch nie einen deiner Geburtstage verpasst.« Bambi lachte bei der Erinnerung daran. Ich warf ihm einen Blick zu, als ich mich selbst an meine Freunde aus meiner Kindheit erinnerte. Damals hatte ich noch viele Freunde gehabt, von denen sah ich jetzt kaum noch jemanden und selbst wenn — inzwischen waren sie mir auch fremd geworden. Kein Wunder, wir hatten nach meinem Umzug kaum noch Kontakt gehabt. Das hatte hauptsächlich an mir gelegen und für einen Moment fragte ich mich, was wohl aus mir geworden wäre, wenn ich den Kontakt nicht beendet hätte. Es war immerhin noch dieselbe Stadt, nur unterschiedliche Standorte, andere Schulen … »So«, sagte Sally dann und ich hatte das Gefühl, dass sie das Thema wechseln wollte — was sich bestätigte. »Du spielst also auch Volleyball.« Sallys Hand lag auf meiner Schulter, ich wandte mich wieder ihr zu. »Ja.« »Das ist schön. Jonah und ich interessieren uns gar nicht dafür. Gut zu wissen, dass Dion endlich jemanden gefunden hat, mit dem er sein größtes Hobby teilen kann. Wie lange spielst du schon?«, erzählte sie. So, wie Sally darüber sprach, schien sie ein wenig schuldbewusst, dass sie die Leidenschaft für Volleyball nicht mit Bambi teilte, und sie schien sich ehrlich zu freuen, dass ich auch Volleyball spielte. »Seitdem ich auf der High School bin«, antwortete ich. »Dion ist eine Bereicherung für uns. Er ist einer der besten.« Sally strahlte zufrieden und mächtig stolz. Sie war bester Laune, klatschte einmal in die Hände und fragte: »Was machen wir heute Abend noch?« ___ tbc. Kapitel 6: Reconciliation ------------------------- RECONCILIATION IN OUR HOUSE THERE IS RAIN Eine Woche war vergangen, seitdem Sally jetzt hier war. Eine Woche, in der sie so ziemlich alle, die sie seitdem kennengelernt hatte, für sich gewonnen hatte. Ihr erstes Treffen mit Tess — das ich sowohl mit positiver als auch negativer Spannung erwartet hatte —, war überhaupt nicht so verlaufen, wie man es sich bei sich total fremden Menschen vorstellen würde. Die beiden fielen sich wie Schwestern, die sich nach lebenslanger Suche wiedergefunden hatten, in die Arme. Sie hatten die ersten fünfzehn Minuten damit verbracht, sich gegenseitig zu beteuern, wie sehr sie sich auf dieses Treffen gefreut hatten und wie froh sie waren, sich endlich kennenzulernen. Was allerdings daraufhin folgte, war ziemlich, ziemlich peinlich. Für mich. Und vermutlich auch für Dion, aber daran schienen die Mädels nicht mal im Geringsten zu denken. Vor allem aber gab es mir das Gefühl, in Erklärungsnot gekommen zu sein. »Mein Gott, mir ist am Flughafen so was Peinliches passiert«, sagte Sally zu Tess und die beiden setzten sich auf die kleine Couch in Dions Bett, während er und ich uns auf den Boden hockten und den beiden fasziniert dabei zusahen, wie sie sofort ins Gespräch kamen. Wirklich, als wäre das hier nicht ihre erste Begegnung. Offensichtlich waren die beiden vollkommen auf einer Wellenlänge. Oder es lag einfach nur daran, dass sie beide beste Freundinnen von einem schwulen (oder bisexuellen) Typen waren. »Mein Flieger kam etwas früher, deswegen hab ich eben auf Dion gewartet. Grace ist an mir vorbei gelaufen — da wusste ich noch nicht, dass er Grace ist und somit also Dions Freund — und, meine Herren, ich dachte nur so: Was für ein rattenscharfer Kerl«, erzählte Sally ungebremst weiter, als wäre ich gar nicht da. Ich fühlte, wie meine Ohren zu brennen begannen. Eigentlich wurde ich nicht rot und eigentlich war mein Ego groß genug, um es mir zu erlauben, mich selbst als geil zu bezeichnen, aber es geschah mir nicht oft, dass ein Mädchen so ungeniert darüber redete, wie scharf sie mich fand. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um Dions beste Freundin handelte. Gut, dass meine Ohren von meinen Haaren überdeckt wurden … Tess lachte und legte ihre Hand dabei auf Sallys. »Nicht wahr?«, meinte sie kichernd. »Das dachte ich auch, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Ich meine, Halleluja, ich war hin und weg. Aber seitdem Grace und ich einmal zusammen waren, weiß ich, dass er für mich nur mein bester Freund und nicht mein fester Freund sein kann — obwohl er einfach umwerfend aussieht.« Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Ich hörte zum ersten Mal, was Tess gedacht hatte, als wir uns das erste Mal begegnet waren, und dass sie so über mich gedacht hatte, brachte mich ungemein in Verlegenheit — und das sollte schon was heißen. Aber einmal ganz abgesehen davon, das viel Schlimmere war, dass Tess gerade völlig zwanglos verkündet hatte, dass wir mal ein Paar gewesen waren. Das war nämlich eine Tatsache, die Dion nicht wusste. Jedenfalls ging ich davon aus, denn ich hatte es ihm nie erzählt und ob Tess es getan hatte, wusste ich nicht. Doch als ich ihm einen flüchtigen Blick zuwarf und sah, dass er mich mit einem undefinierbaren Ausdruck in den rehbraunen Augen ansah, wusste ich, dass er es tatsächlich nicht gewusst hatte. Ich räusperte mich leise und wandte den Blick schnell wieder von ihm ab. Doch das kam zwischen ihm und mir erst zur Sprache, als er mich nach Hause brachte. Sally hatte er bei sich gelassen. Es war bereits dunkel draußen, als er das Auto parkte. Dion schaltete den Motor aus, dann blieb es still im Auto. Die Stille fühlte sich an, als würde gleich noch etwas kommen, aber dann zog Bambi nur den Schlüssel aus dem Zündschloss und öffnete die Fahrertür. Gemeinsam stiegen wir aus dem Auto aus. Wortlos gingen wir die Stufen im Hausflur zu meiner Wohnung hoch. Ich schloss die Tür auf und schaltete das Licht ein. Dion folgte mir schweigend. Wir zogen uns die Schuhe aus, ich strich mir die Jacke von den Schultern und hängte sie an einen freien Haken an der Garderobe. Bambi öffnete seine Jacke, ließ sie aber an. »Du und Tess also«, meinte er schließlich, als wir im Wohnzimmer auf der Couch saßen. Dion sah mich eindringlich an. Ich wusste, ich würde da jetzt nicht drum herum kommen. Eigentlich wusste ich nicht, was ich ihm dazu sagen sollte. Es war immerhin schon eine Weile her und da war seitdem auch nie mehr etwas gewesen. Überhaupt wunderte es mich, dass Dion sich anscheinend von Tess bedroht fühlte. Vielleicht interpretierte ich da auch zu viel rein. »Ja«, sagte ich dann langsam. Dion sah mich erwartungsvoll an, aber ich sagte nichts weiter. »Wie lange … wart ihr zusammen?«, fragte Bambi, seine Augen wichen keinen einzigen Moment von meinem Gesicht. Ich hatte nie erwartet, dass ich mich mit ihm jemals über meine Ex-Beziehungen unterhalten würde. Es war auch nicht unbedingt etwas, was ich mir immer gewünscht hatte. Warum konnte Dion es nicht einfach auf sich beruhen lassen? Tess und ich würden niemals wieder füreinander entflammen. Das hatten wir hinter uns. »Nicht lange. Wir haben schnell gemerkt, dass das mit uns als Paar nicht klappt«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. Dion schwieg für einen Moment, in dem ich versuchte zu entschlüsseln, was hinter seinen braunen Augen vor sich ging. »Warum hast du es mir nicht erzählt?«, wollte er dann wissen. Sollte es mich wundern, dass er mir diese Frage stellte? »Du redest doch auch nicht über deine Beziehung mit Will«, gab ich zu bedenken. Dion sah betroffen aus. »Also, warum soll ich dann in etwas herumstochern, das schon lange vorbei ist und keinen Einfluss auf dich und mich mehr haben wird? Tess und ich waren mal zusammen, ja, na und? Das ist lange her, hat nur kurz gehalten und inzwischen fragen wir uns, was wir uns dabei gedacht hatten. Wenn ich ihr immer noch hinterher hecheln würde, dann wäre ich nicht mit dir zusammen — und dann könnte ich auch sicherlich nicht so mit ihr umgehen, wie ich es eben tue.« »Es ist nur … komisch«, meinte Bambi leise. »Natürlich ist es komisch. Ich meine, wer sagt denn schon, ›Ich war mal mit meiner besten Freundin zusammen, aber nach der Trennung sind wir beste Freunde geblieben‹?«, erwiderte ich schulterzuckend. Dion schaute mich nachdenklich an. »Tut mir leid«, sagte er dann und betrachtete seine Hände. »Ich hätte nicht fragen sollen. Du hast Recht, ich rede auch nicht über Will, weil ich nicht will, dass du dich mit ihm vergleichst oder … was auch immer.« Ich dachte kurz darüber nach, was er gesagt hatte. »Du musst dich nicht entschuldigen«, versicherte ich Bambi. »Und du brauchst dich auch nicht mit Tess zu vergleichen. Das sind zwei verschiedene Dinge, also … denk einfach nicht darüber nach, wenn es geht.« Dion nickte langsam, dann beugte er sich vor und gab mir einen Kuss auf die Lippen. Ein heißer Schauer lief meinen Rücken hinunter. Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt, wie ich darauf reagierte, wenn er mich küsste. Jedes Mal fühlte sich genau aufregend an, wie der erste Kuss. »Ich denke, ich muss wieder los, sonst … wird Sally mich mit peinlichen Fragen löchern …«, sagte Dion dann und erhob sich. Ich seufzte lautlos. Sally, immer wieder Sally, doch ich schwieg. Sie war immerhin seine beste Freundin. Ich gab ein lautloses »Ja« von mir, dann stand ich ebenfalls auf und begleitete Bambi zur Tür. Er lächelte mich an, dann gab er mir noch einen Kuss. Als er sich wieder zurücklehnte, schauten wir einander kurz an, dann zog ich Dion wieder zu mir und presste meinen Mund auf seinen. Er konnte mich jetzt nicht einfach so hier stehen lassen ohne mich vernünftig geknutscht zu haben. Ich konnte seine Hände spüren, als er sie an meine Seiten legte. Seine Lippen bewegten sich stürmisch gegen meine, sie waren verführerisch weich und warm. Ich strich mit der Zungenspitze über seine Unterlippe und konnte spüren, wie sein Mund sich zu einem Lächeln verzog. Seine Lippen öffneten sich, ich konnte seine Zunge an meiner fühlen. Dion schmiegte sich an mich, seine Hände fuhren über meine Seiten zu meinem Steißbein. Sein Kuss raubte mir fast alle Sinne. Bambi lächelte mich versonnen und verklärt an, als wir uns voneinander lösten. Ich küsste ihn noch einmal kurz auf die Lippen, dann ließ ich ihn gehen. Dion lief die Stufen runter und bevor er ganz aus meinem Blickfeld verschwand, drehte er sich noch einmal zu mir um und schenkte mir ein Lächeln, das einem die Beine weich wie Butter werden ließ. Ich lehnte mich an den Türrahmen und machte die Wohnungstür erst zu, als ich hörte, wie unten die Haustür ins Schloss fiel. Mir schwirrte der Kopf von so viel Liebesduselei. Dion würde mich noch zu einem liebeskranken Volltrottel machen, wenn das so weiterging. War ja nicht auszuhalten. Ich fuhr mir durch die Haare. Der nächste, den Sally kennengelernt hatte, war Geoff. Na ja, und alle anderen Leute von der Volleyball AG, denn Dion hatte sie am Donnerstag mitgebracht. Die AG fand — weil Coach Friedman uns nicht sitzen lassen wollte und weil wir genug Überzeugungsarbeit geleistet hatten — auch in den Ferien statt. Sally saß allerdings nur am Spielfeldrand und schaute zu. Keine zehn Pferde hätten sie aufs Spielfeld bekommen, hatte sie gesagt. Sport war in ihren Augen Mord. Jedenfalls hatte sie Geoff auch sofort umarmt und hatte ihm erzählt, wie sehr sie sich darauf gefreut hatte, ihn kennenzulernen. Geoff wirkte ein wenig perplex und ziemlich überrumpelt. Zwar hatte er gewusst, dass Sally — Dions beste Freundin — kommen würde, aber offenbar hatte er keine Ahnung gehabt, dass Sally ihn aus Erzählungen schon kannte. Bambi sprach eigenartigerweise kaum über seine Freunde aus Peoria, denen schien er dafür aber eine Menge über uns hier zu berichten. Nachdem Geoff seine ersten zehn Schocksekunden überstanden hatte, war alles wieder in Butter und er genoss die Aufmerksamkeit einer schönen Frau … besser gesagt, zwei schöner Frauen, denn Tess war irgendwie auch immer da, wo Sally war. Für einen Heterokerl war das vermutlich das Paradies. Wäre es für mich auch gewesen, wenn meine sexuellen Fantasien sich gerade nicht um einen rehäugigen Kerl mit blonden Haaren und hinreißendem Lächeln drehen würden. Wie auch immer. Eigenartigerweise schienen alle wunderbar mit Sally auszukommen, nur ich eckte mit ihr an. Es lag wohl unter anderem an ihrer sehr offenen Art. Sie gab sich nicht damit zufrieden, dass ich nicht gerne über mich sprach und ihr nicht jede ihrer Fragen sofort wahrheitsgemäß beantwortete. Ich wusste nicht, ob sie einfach nicht merkte, dass sie damit Grenzen überschritt, oder ob sie es ganz bewusst tat. Aber egal, wie es nun war, wir hatten keinen guten Start hingelegt. Stattdessen machten wir einander gegenseitig dumm an. Sally konnte nicht verstehen, warum ich ihr gegenüber so abweisend war und ich maulte sie an, warum sie nicht verstand, dass es einige Dinge gab, die sie nichts angingen. »Das wären nicht nur einige Dinge«, hatte sie einmal schnippisch zu mir gesagt. »Das wäre dann alles.« Anfangs war sie noch wirklich geduldig und freundlich gewesen, aber irgendwann war sie zu angepisst gewesen, um weiterhin eine Fassade aufrecht zu erhalten. Deswegen gerieten wir immer öfter aneinander, es gab immer häufiger Reibungen, die meistens damit endeten, dass ich mit eingezogenem Schwanz verschwand und Sally Dion und Tess vollends überließ. Sie war hier immerhin zu Besuch. Ich konnte sie nicht einfach wegekeln. Abgesehen davon, würde Dion das auch gar nicht zulassen. Es hatte mich — zugegeben — sehr angefressen, als er mich einmal sogar darum gebeten hatte, zu gehen. Vielleicht hätte es mich aber auch nicht wundern sollen, dass Bambi eher auf der Seite seiner besten Freundin stand als auf meiner. Es war noch schlimmer geworden, nachdem ich nach etwa vier Tagen nachdem Sally angekommen war, ein Gespräch mit Tess über sie — oder vielmehr über mich — hatte. »Warum muss ich mich als Dions Freund eigentlich hinten anstellen? Das ist doch nicht fair«, maulte ich gerade rum, während ich Mario Kart gegen Tess bei ihr zu Hause spielte. Sally und Dion waren gerade auf irgendeinem ihrer Kurzausflüge ins Blaue. »Du musst das verstehen«, sagte sie und warf im Spiel eine Banane nach mir. »Sie ist seine beste Freundin und sie haben sich lange nicht gesehen. Es sind doch nur die zwei Wochen, danach hast du ihn wieder ganz für dich allein, Romeo.« »Hör auf mich Romeo zu nennen«, murrte ich angesäuert. »Aber er hat kaum Zeit für mich. Ich meine, sie kann ihn doch nicht rund um die Uhr für sich einspannen. Außerdem kann sie doch auch mal mit dir shoppen gehen oder so.« »Zum Shoppen würden wir ihn und dich vermutlich sowieso mitnehmen, also ist das plus minus Null. Aber weißt du, es ist witzig, wie du dich darüber aufregst, dass Dion kaum Zeit für dich hat. Du hast ja schon fast so was wie Entzugserscheinungen. Ich hab mich neulich erst mit Sally über euch beide unterhalten«, meinte Tess und legte sich mit dem Oberkörper in die Kurve, als würde das ihre Figur im Spiel beeinflussen. Ich steuerte meinen Yoshi versehentlich voll in einen Abgrund, als ich den letzten Teil hörte. Eigentlich wollte ich gar nicht so genau wissen, was bei diesem Gespräch herausgekommen war, aber ich war mir sicher, dass Tess es mir erzählen würde. »Sally meint, dass es nicht so aussieht, als würdest du Dion wirklich lieben«, sagte Tess in ihrem Plauderton, als hätte das, was sie sagte, absolut keine Bedeutung. Diesmal setzte ich Yoshi gegen eine Wand. Ich spürte, wie Wut in mir hoch kroch. Ach, wie schön, dass Sally das meinte. Was wusste sie denn schon? Sie kannte mich nicht einmal, wie konnte sie dann solche dummen Kommentare von sich geben? Dazu hatte sie nun wirklich kein Recht. »Sie hat gesagt, Dion hätte so von dir geschwärmt, wenn er über dich geredet hat, aber sie kann nichts von seiner Hingabe bei dir sehen. Du seiest wie ein Stein oder eine Puppe oder so. Jedenfalls wäre sie sicher überrascht, wenn sie hören würde, wie sehr es dich wurmt, dass Dion kaum Zeit für dich hat«, fügte Tess hinzu und fuhr als erste über die Ziellinie. Ich fragte mich, ob sie mir das absichtlich erzählte, um mich sauer zu machen oder ob sie mir rein pragmatisch mitteilen wollte, was Sally von mir dachte. Ich hatte keine Ahnung. Aber sie war viel zu sehr in das Spiel versunken, um mitzubekommen, wie wütend es mich machte, was Sally zu sagen hatte. »Soso«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Gut zu wissen, was Sally so denkt.« Ich wusste bis jetzt nicht, ob Tess vorgegeben hatte, nicht zu merken, dass ich sauer war, oder ob sie es wirklich nicht ahnte. Aber ich ging selbst nicht weiter darauf ein, doch danach war unser Gespräch darüber auch schon wieder beendet und wir redeten über andere Dinge. Das alles ließ mir trotzdem keine Ruhe und gedanklich beschimpfte ich Sally mit allen möglichen Flüchen, die mir in den Sinn kamen. Was hatte sie denn bitte für ein Recht über mich zu urteilen? Nur weil Dion ihr ein paar Sachen über mich erzählt hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie mich kannte. Normalerweise machte ich mir nichts daraus, wenn Leute so oberflächlich urteilten. Ich hatte für gewöhnlich nichts mit ihnen zu tun. Aber sie war Dions beste Freundin und ich kam nicht drum herum, mit ihr zu tun zu haben. Mein nächstes Zusammentreffen mit ihr war daher nicht unbedingt eine Begegnung wie im Bilderbuch, was letztendlich dazu geführt hatte, dass Dion mich mit nach draußen geschleift hatte. Wir standen zusammen auf der Veranda. Es war verregnet und kalt draußen, nicht gerade das idealste Wetter, um jackenlos rauszugehen, doch weder Dion noch ich hatten uns Jacken angezogen — Dion hatte mich genau genommen gar nicht gelassen, so eilig hatte er es gehabt. »Was soll das?«, fragte er aufgebracht. »Was soll was?«, fragte ich sauer zurück. Er verdrehte die Augen — wenn Bambi die Augen verdrehte, dann konnte das nichts Gutes heißen — und schüttelte den Kopf. Klar, dass er auf Sallys Seite stand. Ich würde mich hier wohl wieder selbst verteidigen müssen. Vor meinem Freund. Toll. Das wirkte sich nicht gerade sehr positiv auf meine Stimmung aus. »Warum legst du dich immer mit ihr an? Warum muss das immer sein?«, wollte er wissen und wirkte dabei mindestens genauso angepisst wie ich. Ich schnaubte abfällig. Was wollte er denn jetzt von mir? Als wäre ich der einzige, der es darauf anlegte, sich zu streiten. Sally trug mindestens genauso dazu bei. Ohne sie würde es doch gar nicht erst soweit kommen. »Was fragst du mich? Sie ist doch genauso Schuld!«, erwiderte ich mürrisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Dion fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Er schaute mich einen Moment lang schweigend an, dann schüttelte er wieder den Kopf und seufzte dabei, als wären Hopfen und Malz verloren. »Ich weiß echt nicht, was dein Problem ist, Grace, aber sie ist meine beste Freundin. Es tut mir leid, wenn du nicht gut mit ihr auskommst. Trotzdem ist sie jetzt hier, sie besucht mich, wir haben uns lange nicht gesehen. Ich weiß, dass immer zwei zu einem Streit gehören, aber dich kann ich bitten, dich zusammenzureißen, weil du nach zwei Wochen nicht wieder wegfliegst. Sie ist hier zu Besuch, sie fliegt nach zwei Wochen wieder zurück nach Peoria und ich weiß nicht, wann ich sie das nächste Mal sehe. Niemand — und schon gar nicht ich — verlangt von dir, Sallys bester Freund zu werden. Aber ich kann dich doch zumindest darum bitten, dich ein bisschen zunehmen — mir zuliebe. Es geht hier nicht darum, dass ich sie lieber mag oder dass ich deswegen nicht sauer auf sie bin. Sie ist meine beste Freundin, Grace. Bitte. Kannst du einen Gang runterschalten für mich? Bitte?« Ich schürzte die Lippen unschlüssig. Aber was sollte ich schon tun oder sagen? Diese Bitte würde ich ihm wohl kaum ausschlagen können. »Ja«, brummte ich seufzend. Dion lächelte schwach. »Danke. Ich werde mit Sally auch noch sprechen, okay? Und jetzt hör auf zu schmollen und gib mir einen Kuss«, sagte er und wirkte um einiges besser gelaunt als noch Sekunden zuvor. Ich kam seiner Aufforderung nur zu gern nach. Bambi legte die Arme um mich und ich strich mit meinen Fingern über seinen Nacken, bevor ich ihn zu mir zog und ihm einen Kuss auf die Lippen gab. Ich konnte seine Wärme spüren, als wir uns aneinanderdrückten, als Dions Zunge sich zwischen meine Lippen schob und mich wieder einmal beinahe in den Wahnsinn trieb. Während ich mit den Händen durch seine Haare fuhr, packte er mit seinen meinen Hintern. Dion entsprach Bambi immer weniger — und das wurde mir immer dann so richtig bewusst, wenn er seine Greifer nach meinem Hintern ausstreckte. Ich konnte ihn grinsen spüren, meine Überraschung über seine Initiative amüsierte ihn jedes Mal. Ich wollte gerade zur Gegenoffensive ansetzen, als die Haustür aufflog. Dion und ich fuhren auseinander (nicht, weil wir nicht gesehen werden wollten, sondern weil wir es nicht gewohnt waren, dass jemand dazwischen ging, wenn wir gerade mitten bei der Sache waren) und ich drehte mich zur Tür um. »Woah«, machte Sally und sah aus, als wäre sie in der Bewegung erstarrt. Nur ihre Augen pendelten zwischen Dion und mir hin und her, als wäre sie nicht sicher, was sie denken sollte. »Ihr könnt weitermachen. Ich wollte nicht stören.« Sie drehte sich wieder um und wollte wieder gehen, als Dion nach ihr rief und sie fragte, was los sei. Doch Sally lächelte nur verschmitzt und zuckte mit den Schultern. »Es kann warten«, sagte sie, schloss die Tür und weg war sie. Dion und ich standen einander ein wenig unschlüssig gegenüber. Er ordnete seine Haare, die ich mal wieder in totales Chaos gestürzt hatte, und ich rückte meine Hose zurecht. Bambi räusperte sich kurz, dann ging er voran, öffnete die Tür und wir gingen gemeinsam wieder rein. Der Rest des Nachmittags verlief zur Abwechslung ziemlich ruhig. Sally und ich schaffte es, uns gegenseitig nicht anzugiften. Sogar Tess, die auch dabei war, schien ein wenig verwundert über die plötzliche Ruhe zu sein, aber sie sagte nichts. Am nächsten Morgen stand Sally vor meiner Tür — allein. »Hey«, sagte sie und lächelte zögernd. Ich starrte sie perplex an. Fieberhaft suchte mein Hirn nach einer Erklärung, warum sie wohl allein zu mir gekommen war. Mir fielen mehrere Gründe ein, die von Sucht nach Streit bis Mordversuch alles zu bieten hatten, was das Herz begehrte. Trotzdem ließ ich sie rein. Sie hatte die blauen, hochhakigen Schuhe an, die sie auch bei ihrer Ankunft getragen hatte. Als sie in den Flur trat, zog sie sich die Mörderteile aus, stellte sie neben meine, und folgte mir in die Küche. Ich machte mir gerade Frühstück, weil ich erst eben aufgestanden war. »Dion hat mir mal erzählt, dass du ein Morgenmensch bist, deswegen dachte ich, ich versuch es mal«, meinte sie und setzte sich auf einen der Stühle am Tisch. Sie hatte ihre Jacke auch ausgezogen, fiel mir auf, als ich mich zu ihr umdrehte. »Was verschafft mir denn die Ehre?«, fragte ich und schaffte es nicht, den schnippischen Unterton aus meiner Stimme zu verbannen. Sally zog die Schultern hoch, strich sich die Haare zurück. Sie schien zu überlegen, wie sie am besten auf meine Frage antworten sollte. Ich holte unterdessen mein Frühstück aus dem Kühlschrank und stellte es auf den Tisch. »Ich hatte zwei … aufschlussreiche Gespräche mit Tess und Dion gestern«, erzählte Sally mir. Ich hätte fast die Wurstpackung, die ich in der Hand hielt, fallen gelassen. Aber meine rationale Hirnhälfte meldete mir, dass weder Dion noch Tess Sally einfach mal so mein größtes Geheimnis ausplaudern würden. Dion hatte mir gestern immerhin auch versprochen, dass er mit Sally reden würde — was hieß, er würde sie wohl auch bitten, sich am Schlüpper zu reißen. Es war scheiße, sich ständig den Kopf darüber zu zerbrechen, ob jemand meine Familiengeschichte erfuhr oder nicht. »Jedenfalls bin ich gekommen, um das Kriegsbeil wieder zu begraben«, sagte Sally und schaute mich aufmerksam an. »Oder dir zumindest das Angebot zu machen.« Ich betrachtete sie ein paar Augenblicke. »Willst du auch was essen?«, fragte ich sie dann. Ein Frühstücksangebot konnte immerhin auch nur ein Schritt in die richtige Richtung ein. Sally lächelte mich fröhlich an. »Gern, wenn es keine Umstände macht«, meinte sie. Ich holte zwei Teller und zwei Messer, dann schnitt ich ein paar Brotscheiben ab und legte sie in den Korb. Zusammen stellte ich alles auf den Tisch, bevor ich Orangensaft holte und zwei Gläser besorgte. Eigentlich war es nicht meine Art, einfach so mit jemandem zu essen und schon gar nicht, jemanden einfach so in meine Wohnung zu lassen, aber — verdammt noch mal — Sally war Dions beste Freundin. Und sie kam, um sich entschuldigen — mehr oder minder. »Tess hat mir gesagt, dass sie dir erzählt hat, wie ich … über deine Beziehung zu Dion denke, beziehungsweise dachte. Sie meinte, du seiest danach ziemlich angefressen gewesen. Zu erst einmal — tut mir leid, dass du es von ihr erfahren hast. Normalerweise sage ich alles, was ich zu sagen habe, persönlich. Es hat natürlich auch seinen Grund, warum ich so dachte«, erklärte sie und goss sich dabei etwas Orangensaft ins Glas. »Sieh mal, ich kenne Dion schon ziemlich lange. Ich war dabei, als er seine Homosexualität und so entdeckt hat. Für mich war er immer wie ein kleiner Bruder. Ich hab ihn immer beschützt. Das soll nicht heißen, dass Dion sich nicht selbst beschützen kann, aber meine Freunde — und vor allem solche, die für mich wie Geschwister sind — hab ich schon immer beschützen wollen. Das läuft nur nicht jedes Mal gut. Jedenfalls war ich froh, als er dich gefunden hatte. Glaub mir, wenn ich sage, dass ich dir echt den Hals umdrehen wollte, nachdem er mir erzählt hat, dass du ihn mit einem Volleyball verdroschen hast. Oder als du ihn geküsst und stehen gelassen hast. Aber er liebt dich und es hat seine Gründe, warum du so bist, wie du bist und dich so verhältst. Bei mir ist das schließlich nicht anders. Eure Coming-Out Aktion fand ich sehr mutig — und sehr amüsant. Ich war froh, dass Dion jemanden an der Seite hatte, der sich nicht scheute, zu zeigen, wer er ist. Das bin ich immer noch. Aber als wir uns dann wirklich persönlich kennengelernt haben — da war ich ehrlich gesagt enttäuscht. Rein optisch gesehen natürlich nicht, aber … du weißt schon. Du schienst viel … abgebrühter und abweisender zu sein, als Dion gesagt hatte. Zuerst dachte ich, es läge an mir und du würdest mich einfach nicht mögen. Ich hab nichts von dieser liebevollen Zuwendung gesehen, die Dion mir beschrieben hatte. Ich hab kaum gesehen, wie du ihn geküsst hast, gestern ausgenommen. Du hast nicht mal seine Hand genommen, du hast ihn nicht umarmt. Es hat auf mich nie so gewirkt, als wärt ihr ein Paar oder als würdest du ihn wirklich lieben. Eure Berührungen waren immer sehr flüchtig, weißt du. Ich dachte, dass es Dions subjektives Empfinden war, das er mir beschrieben hatte, bis ich euch gestern knutschen gesehen habe.« Ich kaute auf einem Stück Brot herum, während Sally sprach. Ich dachte darüber nach, was sie sagte, und mir wurde klar, dass sie Recht hatte. Seit sie da war, hatte ich Dion wirklich immer nur dann richtig geküsst oder umarmt oder berührt, wenn sonst niemand dabei war. Klar, dass es dann alles sehr unterkühlt gewirkt haben musste. Dabei waren wir sonst eigentlich nicht so. Wir versteckten uns nicht oder verkrochen uns in ein Mauseloch, um uns zu küssen oder zu umarmen. Ich wusste selbst nicht, woran das lag, dass wir es nicht in Sallys Anwesenheit getan hatte. »Vielleicht liegt es an mir, dass ihr nicht vor mir rummachen wollt. Vielleicht liegt es auch daran, dass ihr nicht mehr so viel Zeit zu zweit habt, weil ich gerade da bin. Aber mir ist gestern bewusst geworden, dass das zwischen euch definitiv nicht nur Dions subjektive Wahrnehmung ist, sondern tatsächlich existiert. Ich meine, ihr seid fast auf der Veranda übereinander hergefallen. Das bedeutet schon was. Wie zwei ausgehungerte Tiere. Dion hat gestern mit mir gesprochen und gesagt, dass es dir schwer fällt, dich anderen gegenüber zu öffnen; dass du wenige Freunde hast und kaum einer dich wirklich, richtig kennt. Er hat aber auch gesagt, dass es dir so gefällt, dass du es so willst. In dieser Hinsicht sind wir einander gar nicht mal so unähnlich. Ich weiß, ich bin nicht unbedingt immer leicht zu handhaben. Bei mir zu Hause kommen viele nicht mit mir klar. Ich hab auch nicht sehr viele Freunde, aber die, die ich habe, auf die kann ich mich blind verlassen. Nur ist es bei mir nicht beabsichtig herbeigeführt. Mich mögen sie nicht, weil ihnen nicht gefällt, wie ich bin. Aber du … du führst es herbei, dass du nicht gemocht wirst, indem du abweisend reagierst, arrogant bist oder einfach … Kaltschnäuzigkeit an den Tag legst. Dich mögen die Leute nicht, weil du nicht willst, dass sie dich mögen.« Wir schwiegen eine Weile. Sie hatte genau ins Schwarze getroffen, mit dem, was sie über mich gesagt hatte. Es stimmte. Ich wollte nicht, dass man mich mochte. Das garantierte, dass niemand etwas über mich erfuhr. Dion hatte ihr also auch wirklich nicht gesagt, warum ich so reagierte. Aber Sally schien trotzdem zu verstehen und zu begreifen, dass es Wurzeln gab. »Wenn ich dir zu nahe getreten bin, dann tut es mir leid. Ich hab vielleicht ein bisschen zu schnell geurteilt, aber ich bin nicht hierher gekommen, um mich permanent mit dem Freund meines besten Freundes zu streiten«, sagte Sally und schaute mich dabei an. »Glaubst du, wir können uns zusammenreißen und einen zweiten Kennenlernversuch starten?« »Ich denke, das können wir«, sagte ich nickend. Was hatte ich schon zu verlieren? Abgesehen davon, würde es vieles einfacher machen, wenn Sally und ich nicht neunzig Prozent der Zeit damit verbrachten, uns gegenseitig anzukeifen wie alte Waschweiber. Auf Sallys Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Danke für die Chance«, meinte sie. Ich lächelte verkniffen zurück. »Gleichfalls«, erwiderte ich. Nach dem Essen räumten wir den Tisch zusammen ab, danach verabschiedete Sally sich wieder. Sie bedankte sich für das Frühstück, während ich ihr voraus in den Flur ging. Ich fuhr zusammen, als ich plötzlich ihre Hand an meinem Hintern spürte. Augenblicklich wandte ich mich zu ihr um und starrte sie mit einer Mischung aus Wut und Überraschung an. Grinsend zuckte sie die Schultern, drängt sich an mir vorbei und zog sich an. »Entschuldigung. Als ich gestern gesehen habe, wie Dion das gemacht hat, wollte ich das auch unbedingt mal ausprobieren. Wie sich das anfühlt und so. Du hast einen echt tollen Arsch, rattenscharfer Junge«, sagte Sally, tippte meinen Kiefer dabei mit geballter Faust an und gab dabei ein klickendes Geräusch von sich. Grinsend wickelte sie sich den Schal um den Hals, bevor sie nach der Türklinke griff und die Tür öffnete. »Bis dann«, meinte sie, winkte mir kurz und verschwand dann. Kopfschüttelnd schloss ich die Tür hinter ihr, dann strich ich über meinen Hintern und fragte mich, seit wann der so viel Aufmerksamkeit auf sich zog. ___ tbc. Kapitel 7: Remedy ----------------- REMEDY WHEN YOU’RE FEELING ALONE AND THE WORDS AREN’T RIGHT Es war Samstagmorgen, ziemlich früh, und ich lag ausgebreitet auf der Matratze in Dions Zimmer, als ich mein Handy direkt neben meinem Ohr summen hörte. Ich hasste es, von meinem vibrierenden Telefon geweckt zu werden. Wer kam überhaupt auf die Idee, mich um — ich warf einen flüchtigen Blick auf die Wanduhr in Bambis Zimmer — viertel nach sieben in der Früh anzurufen? Murrend streckte ich die Hand aus und nahm den Anruf entgegen, bevor ich mich aufsetzte. Dion und Sally teilten sich Dions Bett und ich fragte mich kurz, warum ich gestern Nacht darauf bestanden hatte, auf der Matratze zu schlafen. Ich hätte es so viel schöner haben können. »Ja?«, meinte ich in die Sprechmuschel, während ich mir den Schlaf aus den Augen rieb. Draußen dämmerte es erst. »Guten Morgen, Ethan«, sagte eine vertraute, männliche Stimme am anderen Ende. »Hier ist Dr. Baldwin. Wir haben eine passende Spenderleber für deinen Vater gefunden.« Alles, was unmittelbar nach dem Anruf passierte, war eine schwammige und undeutliche Erinnerung in meinem Kopf. Ich wusste nur noch, dass ich durch das Zimmer gestolpert war, um mich hastig anzuziehen. Dion und Sally waren aufgewacht, ich hatte Tess kurz angerufen und … irgendwie stand ich plötzlich vor dem Krankenhaus. Dion hatte mich gefahren, Sally war auch dabei und Tess tauchte neben mir auf. Von ihr bis zum Krankenhaus war es kürzer als von Dions Zuhause. Ich konnte an nichts anderes denken, als daran, dass mein Vater wieder gesund werden würde. Sie hatten eine Leber gefunden. Er würde eine neue Leber bekommen. Doch dann schaufelte sich etwas anderes in mir an die Oberfläche. Die Angst, dass Dad nicht begriff, was geschehen war, und dass er so weiter machen würde wie bisher. Und dann würde das Drama von vorn anfangen. Die Zweifel über die Richtigkeit der neuen Leber wuchsen mit jeder Sekunde, die ich mit Tess, Dion und Sally vor dem Krankenhaus stand. Ich wollte fast umkehren, einfach wieder gehen, aber ich sagte mir, dass … dass ich Dad jetzt helfen konnte. Ich war jetzt älter, ich würde ihm helfen und ich würde alles tun, damit er nicht wieder anfing zu trinken. Zumindest würde ich es versuchen und alles tun, was mir möglich war. Dad musste einfach verstehen, was er sich und mir damit antat. Ich wollte gerade losgehen und das Krankenhaus betreten, als Dion nach meiner Hand griff und mich festhielt. Als ich mich zu ihm umdrehte, sah er besorgt aus. »Was?«, wollte ich wissen. Dion schien kurz unschlüssig zu sein, ob er wirklich etwas sagen sollte. »Als Alkoholiker hat man erst dann ein Anrecht auf eine neue Leber, wenn man mindestens ein Jahr lang trocken war«, erklärte Bambi mir dann langsam. Er klang vorsichtig. »Das heißt, du als Empfänger wirst erst auf die Warteliste gesetzt, wenn bestätigt ist, dass du zwölf Monate lang keinen Alkohol getrunken hast.« Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, was er mir sagen wollte. »Soll das heißen, dass Dad … die Leber nicht bekommt?« Dion schüttelte den Kopf, er drückte meine Hand. »Dr. Baldwin hat doch gesagt, dass sie eine Leber haben. Na ja … das heißt, dass dein Vater tatsächlich seit einem Jahr, mindestens, trocken gewesen sein muss. Andernfalls … würde er keine neue Leber bekommen.« Dion lächelte aufmunternd, während ich versuchte die Informationen zu verarbeiten. Tess nahm meine andere Hand. »Lass uns zu ihm gehen. Dr. Baldwin wird sicher alles erklären«, sagte Tess leise und zog behutsam an meinem Arm in Richtung Krankenhauseingang. Gemeinsam gingen wir durch die weißen, im Moment relativ leeren Flure zu der Station, auf der mein Vater lag. Es roch nach Sterilisierungsmittel. Im Zimmer meines Vaters standen Dr. Baldwin und eine Schwester, die nach seinen Werten sah. Es war noch jemand da, jemand, den ich überhaupt nicht kannte und der nicht aussah, als würde er zum Krankenhauspersonal gehören. Der Mann war groß gewachsen und schätzungsweise etwas um die Dreißig. Dr. Baldwin begrüßte uns und erklärte mir, wie die Operation ablaufen würde und wann sie stattfand. Von dieser Jahres-Regel, von der Dion mir erzählt hatte, sagte er nichts. Offenbar hatte irgendjemand bestätigt, dass mein Vater zwölf Monate lang nichts getrunken hatte. Ich war es nicht gewesen — ich hatte es nicht einmal gewusst. Unwillkürlich wanderte mein Blick zu dem anderen Mann, der neben dem Bett stand und in meine Richtung schaute. Der Doktor und die Schwester verließen das Zimmer. »Wir warten draußen«, sagte Tess leise zu mir, bevor sie mit Bambi und Sally ebenfalls den Raum verließ. Ich nickte nur abwesend. »Ethan?«, fragte mich der Mann, als die drei aus dem Zimmer waren. Ich sah ihn an. Er reichte mir die Hand. »Ich bin Mitchell.« Zögernd griff ich nach seiner Hand, um sie zu schütteln. »Hey. Sind Sie der Spender?« »Nein«, antwortete Mitchell und lachte kurz. »Aber … ich habe deinen Vater dabei unterstützt vom Alkohol loszukommen.« Der letzte Satz hallte wie ein dumpfes Echo in meinem Kopf wider. Dad hatte also eine Therapie oder Entzug oder … was auch immer gemacht. Und ich hatte es nicht gewusst. Er hatte sich nicht bei mir gemeldet. Doch anstatt danach zu fragen, drängte sich etwas ganz anderes in mein Bewusstsein. »Wenn er also seit mindestens einem Jahr nichts mehr getrunken hat«, — Mitchell schien nicht überrascht, dass ich es wusste —, »warum braucht er dann eine neue Leber? Ich meine …« »Ein Jahr macht viele andere nicht wieder wett«, antwortete Mitchell ruhig. »Seine Leber war angegriffen, ziemlich stark angegriffen. Es dauert seine Zeit, bis sie sich erholt.« Das klang logisch. Ich ging rüber zum Bett und setzte mich auf den Rand. Eine Weile lang betrachtete ich Dad. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, dass er sich nicht bei mir gemeldet hatte. Einerseits war ich wohl nicht berechtigt, wütend zu sein, immerhin hatte ich mich auch nicht bei ihm blicken lassen; andererseits fühlte es sich scheiße an, ausgeschlossen zu sein. »Everett hat viel von dir erzählt, weißt du«, sagte Mitchell schließlich. »Er hat mir gesagt, wie sehr er sich dafür schäme, dass er dich so im Stich gelassen hat. Es fiel ihm zeitweise sehr schwer, durchzuhalten und nicht wieder zur Flasche zu greifen. Manchmal dachte ich, er würde es nicht schaffen. Aber er hat immer gesagt, ›Ethan würde das schaffen, also schaffe ich das auch‹. Er wollte sich eigentlich bei dir melden, in derselben Woche, in der seine Leber versagt hat. Everett wollte, dass sein Sohn ihn als … kurierten Dad wiedersieht, deswegen hat er sich nicht früher bei dir gemeldet.« Mir fiel nichts ein, was ich hätte erwidern können, also hielt ich einfach die Klappe und ließ mir Mitchells Worte durch den Kopf gehen. Eigentlich war mir nach heulen zumute, aber hier stand ein Fremder im Raum und draußen warteten Tess, Bambi und Sally. Heulen konnte ich auch noch, wenn ich allein war. Wenn überhaupt. Trotzdem spürte ich unmissverständlich dieses Gefühl, das in mir hochkochte und mir sagte, dass ich weinen musste. Ich konnte die Tränen heiß in meinen Augenwinkeln fühlen, aber ich blinzelte sie zurück. Es machte mich glücklich, dass ich meinem Dad eine Stütze sein konnte, auch wenn ich nicht in seiner Nähe war. Ich fuhr mir mit beiden Händen über das Gesicht. Bald würde es ihm besser gehen. Bald würde er aufwachen. Bald würde ich endlich wieder mit ihm reden können. Ich hatte ihm so viel zu erzählen. Es gab so viel, das er erfahren musste. Ich hob den Kopf und schaute Dad an, wie er da lag, immer noch angeschlossen an die Schläuche und Monitore. Es würde nicht mehr lange dauern und zumindest ein Teil davon wäre weg. Als er in den OP gebracht wurde, ging ich so weit mit, wie mir erlaubt war. Durch die kleinen Glasausschnitte in den Flügeltüren, die zu den Operationssälen führten, konnte ich noch ein Stück weiter beobachten, wo genau sie Dad hinbrachten. Erst, als das Team aus Schwestern und Assistenzärzten gänzlich aus meinem Blickfeld verschwunden war, wandte ich mich um und ging zurück vor sein Zimmer. Dion, Tess und Sally hockten auf den Sitzflächen vor dem Zimmer und sahen mich erwartungsvoll an, als gingen sie davon aus, ich würde jeden Moment kollabieren. In jedem ihrer Gesichter fand ich eine andere Emotion: In Tess’ Zügen sah ich Aufmunterung, so, als würde sie mir versichern wollen, dass alles gut werden würde; Dion sah immer noch schwer besorgt aus und Sally … Sally schaute mich an, als würde sie … als hätte sich ihr etwas offenbart. Erst in diesem Moment wurde mir klar, dass Sally keine Ahnung hatte. Sie war hier, sie hatte meinen Dad gesehen, sie hatte die Sache mit der Leber mitbekommen. Wovon ging sie aus? Was dachte sie? Es war nicht schwer, sich zusammenzureimen, dass mein Dad ein … ehemaliger Alkoholiker war. Aber was das auch alles, worüber sie nachdachte? Ich kannte Sally zu wenig, um sie richtig einschätzen zu können. Sally stand auf und griff dabei nach Tess’ Hand. »Wir gehen uns einen Kaffee holen.« Tess nickte bekräftigend, dann drehten die beiden sich um und verschwanden. Ich ließ mich langsam neben Bambi sinken, der sofort meine Hand in seinem nahm und den anderen Arm um meine Schulter legte. Wie eine Mutter, die ihr Kind trösten wollte. Ich legte meinen Kopf auf Dions Schulter und schloss die Augen. »Ethan?« Ich öffnete die Augen. Es war ungewohnt meinen Namen aus Dions Mund zu hören. Er gewöhnte sich zwar langsam an, mich öfter so zu nennen — wenn wir ganz allein waren —, aber so richtig gewöhnlich klang es immer noch nicht. Ich war mir selbst nicht sicher, ob es mir nicht lieber war, wenn er mich nicht mit meinem Vornamen ansprach. Aber ich kam nicht drum herum, zuzugeben, dass mir die Vertrautheit, mit der Bambi meinen Namen sagte, ungemein gefiel. »Ich … hab Sally von dir erzählt …«, sagte er leise, während er mir mit den Fingern durch die Haare strich. Das erklärte, warum Sally mich so merkwürdig angesehen hatte. Ich starrte ins Zimmer meines Vaters. Es verbesserte meine Laune nicht unbedingt, aber irgendwie wunderte es mich nicht, dass Dion es ihr gesagt hatte. So war das wohl, zwischen besten Freunden. Ich fragte mich, wie schwer es Bambi wohl gefallen war, es bis hierhin vor Sally geheim zu halten. Immerhin erzählten sie sich sonst alles, ohne Umschweife, ohne Lücken, ohne Geheimnisse. »Okay«, war alles, was ich dazu sagen konnte. Sally war Bambis beste Freundin, Klopfer sozusagen, und deswegen konnte ich wohl darauf vertrauen, dass sie es auch für sich behalten würde. Ich schloss die Augen wieder, während Dions Finger weiterhin beständig durch meine Haare fuhren. »Du hattest übrigens Recht. Dad ist tatsächlich seit mindestens einem Jahr trocken. Der Typ im Zimmer, das war ein Therapeut oder Entzugsbetreuer oder so was. Dad wollte sich wohl in der Woche bei mir melden, in der er im Krankenhaus gelandet ist.« »Das freut mich«, meinte Dion langsam. »Dann wird er bestimmt schnell wieder fit sein.« »Hoffentlich«, erwiderte ich seufzend. »Lass uns irgendwo was essen fahren«, schlug Bambi schließlich vor. »Es wird sicher noch ein bisschen dauern, bis die OP vorbei ist, und danach wird dein Dad sicher auch noch etwas Ruhe brauchen. Ich bring dich nachher wieder her, okay?« Ich dachte kurz darüber nach. Eigentlich wollte ich im Krankenhaus bleiben und warten, aber Dion hatte Recht. Langsam löste ich mich von ihm. Bambi schaute mich mit einem Blick an, der mir verriet, dass er sich nicht ganz sicher war, ob es mir gut ging. Von gut konnte in der Tat keine Rede sein. Ich war durch den Wind und meine Gedanken kreiselten konfus in meinem Kopf ohne zur Ruhe zu kommen. Es war schwer, sich auf etwas zu konzentrieren. »Gut«, stimmte ich zu, als ich aufstand und ihm meine Hand hinhielt. Bambi nahm sie an. Gemeinsam gingen wir runter, gabelten Tess und Sally auf und fuhren zum nächstbesten Café, in dem wir frühstücken konnten. Es war noch relativ leer, als wir ankamen und uns einen Tisch suchten. Sally, Tess und Dion versuchten ein unverfängliches Gespräch zu führen, in das sie mich so wenig wie möglich einbezogen, während wir Frühstück bestellten und darauf warteten, dass es gebracht wurde. Keiner von ihnen sprach über die neue Leber, über meinen Dad, über irgendetwas Ethans-Vergangenheit-ist-so-tragischES. Sie versuchten so beiläufig wie möglich zu sprechen, völlig unwillkürliche Themen zu wählen und möglichst viel Unterhaltsames von sich zu geben. Ich hörte ihnen kaum zu, sondern dachte mehr darüber nach, was sich wohl wie verändern würde, wenn Dad wieder gesund war. Es waren schon so viele Jahre vergangen, in denen ich nichts mit ihm zu tun gehabt hatte. Ich war quasi noch ein Kind gewesen, als ich mich dazu entschlossen hatte, ein eigenes Leben zu führen. Was hatte sich verändert? Und in welchem Ausmaß? Nur langsam wurde mir klar, dass die Zeit sich nicht zu dem Zeitpunkt zurückdrehen würde, als Dad noch kein Trinker gewesen war und als Mom uns noch nicht verlassen hatte. Seitdem hatte ich mich verändert und Dad auch. Es würde kein einfaches Zusammentreffen würden, sondern viel mehr, als würde ich einen neuen Menschen kennenlernen. Außerdem war nicht zuletzt Dad schuld daran, dass ich jetzt war, wie ich war. Sicher, nicht allein, nicht komplett, aber er hatte seinen Teil dazu beigetragen. Mir war lange nicht so deutlich bewusst gewesen, welchen prägenden Einfluss eine intakte beziehungsweise eine nicht intakte Familie auf eine Persönlichkeit haben konnte. Nach dem Frühstück lenkten die drei mich noch eine ganze Weile lang ab. Wir gingen durch die Stadt, zeigten Sally unsere Schule und machten Schaufensterbummel. Tess und Sally kommentierten die Kombinationen von irgendwelchen Schaufensterpuppen, betrachteten Schuhe und Schmuck und andere Accessoires. Dion fuhr mich schließlich wieder ins Krankenhaus, nachdem er Sally und Tess bei Tess zu Hause abgesetzt hatte. »Soll ich bleiben?«, fragte er vorsichtig. »Ich möchte, dass du bleibst, wenn es dir nichts ausmacht«, erwiderte ich und streckte die Hand nach ihm aus. Dion schenkte mir ein strahlendes Lächeln, dann nahm er meine Hand und zusammen gingen wir ins Krankenhaus. Ich wusste nicht, was genau da jetzt auf mich zukam, aber ich fühlte mich gut aufgehoben, wenn Bambi dabei war. Es tat gut zu wissen, dass er da war. Sachte fuhr ich mit dem Daumen über seinen Handrücken, während ich ihm einen Blick zuwarf. Er lächelte. Der besorgte Blick war aus seinen Augen gewichen, jetzt sah er zuversichtlich aus. Die Operation war vorbei und Dad war zurück in seinem Zimmer, als wir ankamen, aber er war noch nicht wieder bei Bewusstsein. Eine Assistenzärztin, die bei der OP dabei gewesen war, kam vorbei und erklärte, was während der Operation alles geschehen war und verschleuderte dabei so viele ärztliche Fachbegriffe, dass ich irgendwann nicht einmal mehr die normalsterblichen Worte verstand. Ich nickte einfach nur, denn die Ärztin klang sehr optimistisch. Als sie weg war, übersetzte Dion mir das meiste davon, was sie gesagt hatte. Es war demnach alles gut verlaufen und Dad würde es bald wieder gut gehen. »Woher weißt du das alles?«, fragte ich Bambi irritiert. Er grinste verlegen. »Na ja, so ist das, wenn man Ärztesohn ist. Als ich noch klein war, hab ich meine Eltern immer ausgefragt, was was bedeutet und ist. Sie haben es mir erklärt. Wenn du jeden Tag von diesem Jargon umgeben bist, dann prägt sich das irgendwann ein«, erklärte er mir grinsend. »Du wirst es nicht glauben, aber wenn Mom und Dad sich unbeobachtet fühlen, dann reden sie lieber über ihre Arztgeschichten, als fernzusehen oder so.« Ich zog mir einen Stuhl zu Dads Bett heran, setzte mich rauf und lehnte mich vor, um halb auf dem Bett zu liegen. Nachdenklich betrachtete ich sein ruhiges, entspanntes Gesicht. Er sah gesünder aus jetzt, hatte mehr Farbe im Gesicht. Ich berührte mit den Fingern seine Hand — sie war warm. Es beruhigte mich, dass es ihm wieder besser ging. Dion saß auf der anderen Seite. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass er mich beobachtete. »Als ich noch klein war, bin ich mit Dad oft Baseball spielen gegangen«, begann ich, als die Erinnerung wie ein Minifilm in meinem Kopf aufflackerte. »Er war schon immer begeistert von Baseball. Jedes Wochenende sind wir zusammen unterwegs gewesen, um zu spielen. Meistens war er der Pitcher, weil ich den Ball nicht so weit werfen konnte, deswegen war ich dann immer der Batter. Allerdings hab ich den Ball öfter verfehlt als ich ihn getroffen habe. Einmal hab ich mich ganz um die eigene Achse gedreht, nachdem ich versucht habe, ihn zurückzuschlagen. Dad hat sich fast totgelacht.« Ich sah Dion lächeln, als ich erzählte. »Lange Zeit wollte ich professioneller Baseballspieler werden. Aber dann kam ich auf die High School und habe Volleyball für mich entdeckt und dann … ist Mom gegangen und Dad … seitdem hab ich nie wieder in irgendeiner Weise irgendwas mit Baseball zu tun gehabt.« Wir schwiegen eine Weile, während ich über die Zeit nachdachte, in der ich mit Dad Baseball gespielt hatte. Ein schmerzliches Gefühl machte sich auf einmal in mir breit. Ich vermisste diese Zeit, in der alles noch gut war. Ich wollte die Zeit zurückdrehen und alles auf Anfang stellen, es nie geschehen lassen. »Einmal waren Dad und ich campen, da war ich … acht. Das war ein Männerwochenende. Nur er und ich, ein Zelt und haufenweise Dosenfutter. Wir waren mitten in der Pampa, irgendwo im Nirgendwo. Am Arsch der Heide. Im wahrsten Sinne des Wortes«, erzählte ich weiter, als das nächste Filmchen in meinem Kopf abgespult wurde. Das war etwas, das ich fast vergessen hatte. Aber jetzt, jetzt tauchte es wieder auf, klar und lebendig, als würde es gerade wieder passieren. »In der ersten Nacht bin ich aufgewacht … da war so ein eigenartiges Zischen. Gerade, als ich mich aufsetzen wollte … ich wollte schreien, aber ich konnte nicht … ich hab keine Luft mehr bekommen. Da war diese Schlange, dieses riesige, lange Ding, das sich um meinen Hals gewickelt hat und … sie würgte mich. So richtig. Ich dachte wirklich, es wäre aus. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, was genau geschehen ist oder wie sie mich losgelassen hat. Da war Dad, ich hab gesehen, dass er geschrien hat, sein Mund hat sich bewegt, ganz verzerrt. Das ist das letzte, woran ich mich erinnern kann. Ich bin im Krankenhaus aufgewacht und hatte Abdrücke am Hals, aber ansonsten war ich wohl okay. Das Männerwochenende war danach natürlich gegessen. Und seitdem hab ich ein Problem mit Schlangen …« »Prägendes Erlebnis«, murmelte Dion und ich nickte. Das war es tatsächlich. Seit diesem Vorfall bekam ich sogar schon Gänsehaut, wenn ich Schlangen durch ein Sicherheitsglas beobachtete. Sie waren mir nicht geheuer. Diese Zunge und die Art, wie sie sich bewegten. Ich wollte nicht daran denken, dass dieses Vieh aus mir hätte Brei machen können. Ich erzählte Dion weiter irgendwelche Episoden aus meinem Leben, als die Welt noch in Ordnung gewesen war. Einige davon waren witzig, einige traurig, einige nachdenklich. Mal lachten wir zusammen, mal schwiegen wir oder schauten uns kurz an. Es tat gut, Bambi all diese Dinge zu erzählen. Er hörte geduldig zu. »Ich glaube, von ihm habe ich mein Matheverständnis«, sagte ich nachdenklich. »Er war auch schon immer sehr gut darin. Vielleicht liegt’s aber auch daran, dass er mir immer bei schulischen Dingen geholfen und mit mir geübt hat. Immer, wenn ich etwas nicht verstanden hatte, hat er sich mit mir zusammen hingesetzt und versucht es mir zu erklären.« »Ihr standet euch sehr nahe, hm«, sagte Bambi leise. Ich konnte den Unterton in seiner Stimme nicht ganz einordnen, aber er klang, als würde er genau wissen, wie ich mich fühlte. »Wir waren glücklich«, antwortete ich und legte den Kopf auf meine Arme. »Mom und Dad haben sich nicht mal gestritten. Wir waren glücklich … und trotzdem … hat sie uns einfach so verlassen. Ohne Begründung. Ohne ein Wort. Einfach so. Sie hat alles kaputt gemacht, was wir hatten. Wer zerstört so etwas? Wem ist eine glückliche, liebende Familie nicht genug? Ich versteh’s einfach nicht.« »Glaubst du, es würde es einfacher machen, wenn du wüsstest, warum deine Mom gegangen ist?«, wollte Dion wissen. Ich dachte über seine Frage nach. Vielleicht war sie berechtigt. Ich hatte mir eigentlich noch gar keine Gedanken darüber gemacht. Würde es die Sache einfacher machen? Besser? Besser nicht, aber dafür vielleicht verständlicher oder gar nachvollziehbarer. Mir blieb also nur eine Antwort: »Ich weiß es nicht.« ___ tbc. Kapitel 8: Derailment --------------------- DERAILMENT YOU'VE BEEN THE ONLY THING THAT'S RIGHT IN ALL I'VE DONE Ich blieb bis in die späten Abendstunden im Krankenhaus und wartete darauf, dass Dad aufwachte — doch das geschah nicht. Je länger er schlief, desto mehr Sorgen machte ich mir. Unruhig tigerte ich durch Dads Zimmer, fuhr mir durch die Haare, sah ihn an und versuchte, den Monitoren, an die er angeschlossen war, irgendeine Anomalie zu entnehmen. Doch sein Herzschlag war in Ordnung, soweit ich das beurteilen konnte, und von allen anderen Werten hatte ich keine Ahnung. Ich war drauf und dran gewesen, nach Dr. Baldwin rufen zu lassen, doch in dem Moment griff Dion nach meiner Hand und hielt mich fest. »Es ist nichts Ungewöhnliches, dass er so lange schläft«, beruhigte er mich. »Der Körper deines Dads muss sich nach all den Strapazen, die er vorher und während der OP durchlaufen hat, erholen. Das dauert ein bisschen. Mach dir keine Sorgen, er wird bald aufwachen.« Wahrscheinlich beruhigte mich seine alleinige Anwesenheit mehr als das, was er sagte. Obwohl Bambi kein Arzt war, glaubte ich ihm. Es klang immerhin nicht unlogisch. Er schaute mich an, dann strich er mir mit einer Hand durch die Haare. Die ganze Zeit war er hier geblieben, stundenlang, obwohl sich nichts getan hatte. Ich lehnte mich vor und gab ihm einen Kuss auf die Lippen, da mir kein besseres Dankeschön für seine Unterstützung einfiel. Er lächelte aufmunternd. »Lass uns nach Hause gehen«, schlug Dion vor und ich verzog das Gesicht, weil ich nicht gehen wollte. »Es ist schon spät. Wenn du morgen früh wieder herkommst, dann ist das okay. Du solltest dich selbst über all das nicht vergessen. Dein Dad ist hier gut aufgehoben und ihm wird nichts passieren, wenn du nach Hause fährst und schläfst. Du willst doch nicht, dass er sich nach dem Aufwachen direkt Sorgen um dich machen musst, weil du übermüdet aussiehst, oder?« Ich warf meinem Vater einen Blick zu. Auch wenn ich eigentlich nicht das Bedürfnis hatte, das Krankenhaus und Dad zu verlassen, musste ich mir eingestehen, dass Bambi Recht hatte. Dion drückte sanft meine Hand. Ich spürte, wie er beruhigend mit dem Daumen über meinen Handrücken strich. Während ich mir Sorgen um meinen Dad machte, gab es jemanden, der sich um mich sorgte: Dion. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, welche Auswirkungen die gesamte Situation auf ihn hatte. Schließlich willigte ich ein, dass er mich nach Hause brachte. Während wir zum Parkplatz gingen, wo Dion den Wagen abgestellt hatte, rief er Sally an, um ihr mitzuteilen, dass er heute Nacht bei mir bleiben würde. Es war süß von ihm, dass er nicht von meiner Seite weichen wollte und sogar Sally, die sonst nicht um ihn herum war, dafür vernachlässigte. Ich hatte ihn nicht einmal darum gebeten, bei mir zu bleiben. Bambi hatte sich aus freien Stücken dazu entschlossen und ich wusste das sehr zu schätzen. Wenn ich jetzt alleine gewesen wäre, dann wäre ich vermutlich durchgedreht. Vor allem, weil ich in den letzten Stunden angefangen hatte, an mir selbst zu zweifeln. Vielleicht trug sogar auch eine Teilschuld daran, dass Dad eine neue Leber gebraucht hatte. Ich hatte nicht oft genug, nicht nachdrücklich genug von ihm verlangt, einen Entzug zu machen. Ich hatte ihn einfach im Stich gelassen, als ich damals ausgezogen war, und hatte mich seitdem eigentlich auch nie weiter nach ihm erkundigt. Wenn ich geblieben wäre — stark genug gewesen wäre —, dann wäre es vielleicht gar nicht erst soweit gekommen. Dieser Gedanke nagte die ganze Zeit an mir und wollte sich auch nicht verdrängen lassen. Unterwegs zu mir holten wir uns noch etwas zu essen, da ich keine Lust hatte, noch irgendetwas zu kochen. Ansonsten verlief die Fahrt schweigend. Ich starrte teilnahmslos aus dem Fenster, während ich mich immer und immer wieder fragte, ob die ganze Sache anders verlaufen wäre, wenn ich vor vier Jahren bei meinem Dad geblieben wäre. Diese Frage bescherte mir fast Kopfschmerzen. Ich fuhr mir mit einer Hand übers Gesicht. Selbst das Essen verlief nahezu wortlos, was mich von meinen Selbstzweifeln löste und ich mir insgeheim versuchte vorzustellen, was wohl in Dion vorging. Ich musste wie ein Zombie oder so wirken, vielleicht dachte er auch, ich wollte ihn nicht dahaben, weil ich nicht mit ihm sprach. Doch er lächelte leicht, als er meinen Blick auffing. Bambi räumte das Geschirr in die Spüle, bevor er mir ins Schlafzimmer folgte. Ich hatte das Licht im Raum nicht angemacht. Das fahle Leuchten der Straßenlaterne erhellte das Zimmer schwach und warf die Schatten nackter Baumzweige an die Wände. Regen prasselte gegen das Fenster. Mir ging wieder durch den Kopf, wie klischeebelastet die Situation wieder wirkte — ich, das Wetter, die Tageszeit … verrückt. Ich lag rücklings auf dem Bett und starrte ins Nichts, bis ich hörte, wie Dion ins Zimmer kam. Die Matratze übertrug seine Bewegungen, als er sich neben mich legte. Er legte einen Arm um meine Schulter, als ich den Kopf an seine Schulter lehnte. Sein Duft stieg in meine Nase. Mir wurde wieder bewusst, dass er viel zu gut für mich war. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und atmete Bambis vertrauten Duft ein. Sein gleichmäßiger Atem ließ meine Gedanken sich etwas beruhigen. »Du bist so ruhig«, stellte Dion schließlich leise fest, während seine freie Hand nach meiner suchte. »Worüber denkst du nach?« Ich verschränkte meine Finger mit seinen, genoss die Wärme, die durch mich hindurchspülte wie Balsam. Woher nahm Bambi nur seine Stärke und sein Durchhaltevermögen? Womit hatte ich ihn überhaupt verdient? »Ich denke, es wäre nicht so weit gekommen, wenn ich damals bei ihm geblieben wäre, anstatt einfach abzuhauen«, weihte ich ihn in meine Gedanken ein. »Wenn ich ihn nicht im Stich gel—« »Du trägst keinerlei Schuld daran, dass dein Dad die neue Leber gebraucht hat«, unterbrach Dion mich. Er klang ziemlich ernst und fest entschlossen, als wäre es sein persönliches Ziel mich davon abzubringen, mir irgendwelche Schuldgefühle einzureden. »Du hast mir selbst gesagt, dass er sich nie bewusst war, was er tat. Was hätte es geändert, wenn du dich selbst wegen ihm aufgegeben hättest? Dann wäre dein Dad wahrscheinlich an seinem Leberversagen gestorben, weil er nie einen Entzug gemacht hätte und nicht auf die Warteliste gekommen wäre. Hat dieser Mitchell dir nicht gesagt, dass du mitunter der maßgebliche Grund gewesen bist, warum dein Dad erst aufgehört hat mit dem Trinken? Vielleicht wäre er sich der Situation gar nicht erst bewusst geworden, wenn du weiterhin bei ihm geblieben wärst. Manchmal müssen die Menschen erst etwas verlieren, bevor ihnen klar wird, dass sie etwas falsch machen. Ich denke nicht, dass es bemerkenswert anders gelaufen wäre. Es nicht deine Schuld. Du warst nie der Grund, warum dein Dad zur Flasche gegriffen hat. Du warst der Grund, warum er aufgehört hat. Daran solltest du denken. Daran und an nichts anderes.« Dion hätte Motivationstrainer oder so werden sollen. Seine kleine Ansprache ließ mich innehalten und nachdenken. Er hatte gar nicht so Unrecht mit dem, was er gesagt hatte, es war einleuchtend — und aufbauend. Ich hatte ihm davon berichtet, was Mitchell mir erzählt hatte. Irgendwie tat es gut, dass Bambi mich aus meinem Gedankensumpf holte. Es tat gut zu hören, dass ich mir nichts einreden sollte. Auch wenn er nicht alle Zweifel in mir beseitigt hatte, widersprach ich Dion nicht. Stattdessen genoss ich das angenehme Gefühl, dass er mir durch seine Zuneigung, seine Geduld und Unterstützung schenkte. Es gab niemanden, den ich in diesem Moment lieber bei mir gehabt hätte als Bambi. Ich fragte mich, was ich getan hätte, wenn er nicht bei mir gewesen wäre. Wahrscheinlich wäre ich in Depressionen verfallen, weil ich mir zu viele Gedanken darüber gemacht hätte, was gewesen wäre, wenn … Ohne, dass ich es richtig gemerkt hatte, war Bambi zu einem unersetzlichen Menschen für mich geworden. Ich konnte mir nicht mal mehr vorstellen, wie es ohne ihn wäre. Tess war meine beste Freundin, eine ungemein wichtige Person, aber Dion war der Mensch, den ich … Ich richtete mich auf und stützte mich mit einem Arm auf dem Bett ab, um ihn anschauen zu können. »Ich liebe dich, Dion«, sagte ich leise. Das Blut rauschte so laut durch meine Ohren, dass ich mich selbst kaum hören konnte. Ich konnte das Kribbeln in meinem Inneren fühlen, diese angenehme Aufregung, das Flirren meines Herzens. Es war nicht meine erste Beziehung zu jemandem, aber es war das erste Mal, dass ich jemandem diese drei Worte sagen konnte. Das erste Mal, dass ich es jemandem … verdient sagen konnte, ehrlich, aufrichtig … hingebungsvoll. Durch die Dunkelheit des Zimmers konnte ich Dions strahlendes Lächeln sehen. »Ich liebe dich auch«, erwiderte er. Es löste so ein Hochgefühl in mir aus, dass es sich anfühlte, dass mir nichts etwas anhaben könnte; als wäre ich unverwundbar, unbesiegbar, unübertroffen. Alles an und in mir sehnte sich nur nach diesem Jungen, der unter mir lag und mich anlächelte; der für mich da war, wenn ich ihn brauchte; der mehr Geduld mit mir hatte als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Dion war einfach zu gut, um wahr zu sein. Aber er war da und er gehörte zu mir. Ich beugte mich zu ihm, legte meine Lippen auf seine. Seine Hände fanden den Weg in meinen Nacken, zogen mich dichter zu ihm heran. Ich gab seinem Drängen nur zu gern nach. Wir küssten uns, als würde es keinen Morgen mehr geben; als wäre es unsere letzte Möglichkeit. Rastlos fuhren Dions Hände über meinen Rücken, meine Seiten, meine Schultern. Seine Nähe und die Intensität seines Kusses fegten meinen Kopf leer und zum ersten Mal seit einiger Zeit, machte ich mir keine Sorgen um irgendwas. Das einzige, was zählte, war, dass Dion hier bei mir war. Er setzte sich auf und ich hockte auf Knien über seinen Beinen. Unsere Lippen trennten sich für keinen Augenblick von einander. Meine Hände wühlten durch seinen Haarschopf, strichen über seine Wangen und über seinen Hals. Ich versuchte, so viel wie möglich von ihm zu halten, zu berühren, während Dions Hände sich unter meinen Pullover schoben. Als seine Finger meine Haut berührten, war es, als wäre an dieser Stelle ein Feuer entfacht worden, das sich überall dort ausbreitete, wo er mich berührte. Dion schob das Oberteil nach oben, führte seine Fingerspitzen sanft über meinen Bauch, bis er mir den Pullover schließlich ganz über den Kopf zog. Wir entkleideten uns gegenseitig, Stück für Stück, legten mehr und mehr Haut frei. Ich küsste jeden Zentimeter seiner nackten Haut, den ich erreichen konnte und sog dabei den Duft und den Geschmack von ihm ein. Dions Keuchen löste eine Welle der Hitze in mir aus, die sich in jedem Winkel meines Körpers breit machte und mich völlig in Beschlag nahm. Seine Hände umfassten mein Gesicht und zogen es wieder zu seinen Lippen. Draußen hätte es eine Sintflut geben können und ich hätte es nicht bemerkt, denn Dion und ich öffneten diese Nacht die Tür zu einem anderen Abschnitt unseres Zusammenseins. Ich hatte mir in den vergangenen Wochen oft vorgestellt, wie es wohl war mit Dion zu schlafen, aber nichts von dem, was sich in meinen Gedanken abgespielt hatte, kam der Realität nahe. Es gab keine Worte für das, was ich in dieser Nacht empfand, was ich spürte. In dieser Nacht definierte Dion den Begriff Liebe für mich völlig neu. I'VE GOT THE GUN, ALL I NEED IS TEN CENTS FOR THE BULLET Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie im Film Verwünscht, als wäre alles rosarot, als würden Vögel mit mir singen und Eichhörnchen mir beim Putzen helfen. Als ich aufwachte, schlief Dion noch und somit hatte ich Zeit, ihn zu betrachten. Seine Haare waren zerzaust und ich konnte einen dunklen Fleck an seinem Hals entdecken. Verwundert versuchte ich mich daran zu erinnern, wann ich das gemacht hatte. Eigentlich war es nie meine Absicht gewesen, ihm einen Knutschfleck zu machen — musste wohl im Affekt passiert sein. Vorsichtig schaute ich mich in meinem Zimmer um. Das Bett war komplett zerwühlt und unsere Klamotten lagen zerstreut herum. Bilder von letzter Nacht tanzten vor meinem inneren Auge vorbei. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht über das schlafende Rehkitz herzufallen. Offiziell hatte Dion den Bambistatus mir gegenüber vergangene Nacht verloren, aber inoffiziell würde er es weiterhin bleiben. Ich beugte mich zu ihm hinunter und gab ihm sachte einen Kuss auf die Wange, bevor ich die Bettdecke zurückschlug und nach meiner Unterwäsche suchte. Draußen war es immer noch regnerisch, die Tropfen liefen in Schlieren die Fensterscheibe zu meinem Zimmer hinab. Ich sammelte unsere Sachen auf, nachdem ich meine Boxershorts angezogen hatte. Dion regte sich, drehte sich aber nur auf die andere Seite und schlief weiter. Ich legte die Klamotten aufs Bett, nahm mir frische Sachen aus dem Schrank und zog mich hastig an. Leise schlich ich aus dem Raum, danach ging ich in die Küche. Ich pflügte mir mit den Fingern durchs Haar. Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zu meinem Dad, der immer noch im Krankenhaus lag. Ich fragte mich, ob er schon aufgewacht war. Eigentlich wäre ich gern ins Hospital gegangen, aber ich wollte Dion auch nicht einfach so allein lassen. Er war immerhin geblieben, um mich zu trösten — was ihm grandios gelungen war — und er wollte wieder mitkommen. Obwohl ich wieder anfing, mir Sorgen zu machen, fühlte ich mich ruhig und entspannt. Ich hatte keine Ahnung, wie Dion das angestellt hatte, aber es war gut. Nachdenklich holte ich eine Cornflakes-Packung von meinem Küchenschrank und eine Schüssel aus eben diesem. Als ich den Kühlschrank öffnete, stellte ich fest, dass ich keine Milch mehr hatte. Seufzend warf ich die Tür wieder zu und setzte mich an den Tisch, ehe ich begann, die Cornflakes trocken zu essen. Nicht das beste Frühstück, das ich je hatte, aber immer noch besser nichts. Ich blickte auf, als Dion verschlafen, mit kleinen Augen, zerbombten Haaren und nur in Unterwäsche in die Küche kam. Als ich ihn so sah, kam ich nicht umhin zu lächeln. Er kam zu mir hinüber, während er sich die Augen rieb, dann gähnte er herzhaft. Bambi trat hinter mich, legte die Arme um meine Schultern, bevor er seinen Kopf zu mir beugte, sodass ich seine Lippen an meiner Wange spürte. »Guten Morgen«, murmelte er. Sein Mund streifte meine Haut. Ich drehte meinen Kopf ein wenig, sodass sich unsere Lippen fast berührten. Dions braune Rehaugen betrachteten mich aufmerksam mit einem fröhlichen Glimmen darin. Er sah so unglaublich schön aus. Das Lächeln in seinem Gesicht bereitete mir gute Laune und ließ mich meine Sorgen vergessen. »Guten Morgen«, sagte ich, bevor ich Bambi sanft einen Kuss auf die Lippen drückte. »Hast du auch Lust auf trockene Cornflakes?« Er grinste, dann ließ er mich los und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Zusammen aßen wir die Cornflakes aus meiner Schüssel. Es war wieder einmal still zwischen uns, aber dieses Schweigen fühlte sich anders an als das von gestern Abend. Irgendwie war es angenehm, dass ich mit Dion zusammensitzen konnte, ohne mich die ganze Zeit mit ihm unterhalten zu müssen. Immer, wenn unsere Blicke sich begegneten, strahlten wir einander an. Schließlich räusperte er sich leise und senkte verlegen den Blick. »Das heute Nacht …« »Das war schön …«, beendete ich und senkte ebenfalls kurz den Blick. Als ich Dion wieder ansah, konnte ich sehen, dass er glücklich lächelte. »Ja«, stimmte er zu. Damit war alles gesagt, was gesagt werden musste. Nachdem wir gegessen hatten, zog Dion sich an und wir fuhren wieder ins Krankenhaus. Beim Fahren hielt ich seine rechte Hand, während Bambi mit der linken das Auto lenkte. Hin und wieder warfen wir einander kurze Blicke zu. Ich lächelte die ganze Zeit. Als wir im Krankenhaus ankamen, war dort bereits viel los. In den Fluren tummelten sich Ärzte und Schwestern, Patienten und Angehörige. Wir steuerten das Zimmer meines Vaters an. Die Blenden zu seinem Raum waren nicht geschlossen, die Assistenzärztin von gestern war ebenfalls dort und hatte einen Ordner in der Hand. Ich öffnete die Tür und ich hörte eine männliche Stimme. Alle meine Befürchtungen und Sorgen waren auf einen Schlag verschwunden. Als die Ärztin sich zu mir umdrehte, gab sie dabei den Blick auf meinen Vater frei, der mehr oder minder aufrecht im Bett saß und Frühstück aß. Er verstummte, als er mich sah. Ein eigenartiger Ausdruck trat auf sein Gesicht. Nur nebenbei bekam ich mit, dass die Frau das Zimmer wieder verließ. Mein Vater sah den Umständen entsprechend gesund aus. Seine Haut hatte nicht mehr diesen seltsam fahlen Ton und er sah insgesamt nicht mehr so krank aus. Die Gerätschaften um ihn herum waren weniger geworden, aber er hing immer noch an ein, zwei Tröpfen. Doch da war etwas in seinen Augen, etwas so Lebendiges … dieses Leuchten hatte ich seit mehr als vier Jahren nicht mehr bei ihm gesehen. Ich fühlte mein Herz gegen meine Brust hämmern, als ich um das Bett herum ging. Langsam ließ ich mich auf den Bettrand nieder, während ich mit blankem Kopf Dad anstarrte als wäre er nichts weiter als ein Geist. Noch bevor ich etwas sagen konnte, legte Dad eine seiner Hände auf meine. Er hatte Tränen in den Augen. »Ethan«, sagte er. Seine Stimme klang brüchig, kratzig; so, als hätte er sie lange Zeit nicht gebraucht. Die Art, wie er meinen Namen sagte, ließ mich erschauern. Ich war es mal gewohnt gewesen, dass man mich so nannte, und wenn ich Dad so hörte, dann schwemmten so viele Erinnerungen in mir hoch, dass ich fast vergaß, wo ich war und was los war. Es war diese vertraute, liebevolle Weise, mit der er mich ansprach. Ich fühlte die vergangenen vier Jahre in mir hochkommen, alle Gedanken und Erinnerungen, die ich verdrängt und versteckt hatte, spülten über mich hinweg, weil ich sie einfach nicht mehr zurückhalten konnte. Mühevoll blinzelte ich die Tränen aus meinen Augen, die drohten mir die klare Sicht auf Dad zu nehmen. Ich beugte mich instinktiv vor und schlang meine Arme um ihn. Seine Hände legten sich auf meinen Rücken. Es war nicht sehr einfach, die Tränen zurückzuhalten, die Fassung irgendwie zu wahren oder zumindest nicht völlig zu verlieren. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen oder denken sollte. Diese Situation riss mich von den Socken, als wäre ich von einer Abrissbirne getroffen worden. Ich hörte Dad stockend einatmen, so, als stünde er kurz davor, ebenfalls in Tränen auszubrechen. »Geht’s dir gut?«, fragte ich mit zittriger Stimme, bevor ich ihn langsam wieder losließ. Seine hellen, blaugrauen Augen sahen mich an. Meine Augen. »Ja«, antwortete er nickend. Es klang tonlos, aber es erleichterte mich ziemlich. Es ging ihm gut. Das war alles, was zählte. Die nächsten Minuten verliefen in Schweigen, während mein Vater und ich uns anstarrten. Mir war immer noch nicht eingefallen, was ich hätte sagen können. Ich dachte, mir würde so viel einfallen und ich würde so viel zu sagen haben, doch in diesem Moment war ich so sprachlos wie lange nicht mehr. »Du … du bist so groß geworden«, murmelte Dad schließlich. Er wirkte fast ein wenig verlegen. Ich versuchte, mich zu erinnern, wann ich ihn das letzte Mal so deutlich hatte sprechen hören. Es lag zu weit zurück, als dass ich es konkret hätte sagen können. Dad schaffte ein schwaches Lächeln. Ich ebenfalls. »Ja … kann man so sagen«, erwiderte ich. Man hätte meinen können, wir wären zwei völlig Fremde. Ich sah ihn an. »Es tut mir l—«, setzte er an, doch ich schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht, Dad«, unterbrach ich ihn. »Ich weiß. Aber … nicht jetzt.« Entschuldigungen wollte ich einfach nicht hören. Ich wusste, dass es ihm leid tat. Aber ich war nicht hier, um ihm zuzuhören, wie er sich entschuldigte. Dad nickte nur stumm, sah aber aus, als würde er gleich wieder anfangen, mich um Verzeihung zu bitten. Das hatte ich schon. Wie konnte ich denn sauer sein, wenn ich wusste, dass es ihm jetzt gut ging? Er war wieder da. Er war okay. Ich hatte ihn zurück. Dad wandte den Blick langsam nach rechts. Dion hatte sich auf einen Stuhl an der Wand gesetzt und hatte kein Wort von sich gegeben, während mein Vater und ich die paar Floskeln gewechselt hatten. Er schaute Dad an, Dad sah Bambi an. Als mit vierzehn ausgezogen war, hatte ich selbst noch nicht gewusst, dass ich bisexuell bin. Ich wusste nicht, ob es gut war, Dad in seinem Zustand jetzt zu sagen, dass ich mit Dion zusammen war, aber ich wollte ihn auch nicht anlügen. »Dad, das ist Dion … mein Freund«, sagte ich langsam. Mein Vater warf mir einen Blick zu. Er sah so aus, als würde er glauben, dass Bambi einfach nur ein guter Freund war, der mir Beistand leistete. Ich seufzte leise. »Wir sind … ein Paar.« Dads Augen huschten von mir zu Dion, der immer noch schweigend zu uns hinüber sah. Dann schaute er mich wieder an. Ich fragte mich, ob er mich jetzt verstoßen würde oder darüber nachdachte, ob der Gedanke, dass sein Sohn mit einem anderen Kerl zusammen war, Grund genug war, wieder zur Flasche zu greifen. Keiner von uns sagte etwas und außer dem Piepen des EKGs war nichts zu hören. Ich dachte schon, alle Hoffnung auf Akzeptanz wäre verloren, doch dann streckte Dad eine Hand nach Dion aus. »Everett«, stellte er sich vor. Dion stand auf und kam herüber zu uns, griff nach Dads Hand und schüttelte sie. »Sir«, meinte Dion leise. »Es ist schön, dass es Ihnen wieder besser geht.« Dad nickte kurz, dann lächelte er Dion zu. Ich war erleichtert und Bambi offensichtlich auch. Dion wandte sich kurz an mich und sagte, er würde gehen und uns Zeit lassen, bevor er sich verabschiedete. Leise verließ er den Raum. Dass Dad und ich allein waren, machte die Situation nicht besser. Wir schwiegen uns weiterhin an, sprachen einige Male ein paar Worte miteinander, nur um dann wieder in Stille zu verharren. So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt, aber ein Gespräch mit jemandem aufzubauen, mit dem man vier Jahre lang keinen Kontakt hatte, war schwerer, als ich gedacht hatte. Aber nach vier Jahren, da gab es so viel, was es zu erzählen gab, doch nichts von dem, was ich hätte sagen können, kam über meine Lippen. Stunden verbrachten wir so. In Stunden sprachen wir — wenn es hochkam — hundert Worte. Bis Dad sich offenbar irgendwann traute, nach Dion zu fragen. »Wie lange bist du schon mit ihm zusammen?«, wollte er wissen. Sein Ton klang vorsichtig. Ich schaute ihn an. Für einen Moment fragte mich, ob er sich wirklich dafür interessierte, oder ob er nur fragte, weil ihm sonst nichts einfiel. Aber ich meinte, etwas wie Neugier in seinen Augen erkennen zu können. »Noch nicht sehr lange. Seit Januar«, antwortete ich und senkte dabei den Blick auf meine Hände. Kurz, nachdem bei Dad die Diagnose gestellt worden war. Ich sah ihn wieder an. »Und wie lange kennt ihr euch schon?«, fragte er weiter. Da hatten wir ein Thema, weit weg von unserer Familiengeschichte, über das wir — mehr oder minder — unverfänglich reden konnten. Ich war froh darüber, dass es Dad tatsächlich zu interessieren schien, was Bambi und mich betraf. Er verurteilte mich nicht. Er stieß mich nicht von sich. Er wollte mehr über Dion und mich erfahren. Darüber war ich glücklich. »Ich hab ihn vergangenen September kennengelernt. Er ist von Peoria hierher gezogen. Seine Eltern arbeiten beide hier im Krankenhaus«, teilte ich Dad mit. »Aber … bis ich mich auf ihn einlassen konnte, sind einige Monate vergangen. Ich hab mich ziemlich bescheuert verhalten, aber … Dion hat sich nicht einfach vergraulen lassen, weißt du. Er hat ziemlich viel Geduld … und ’ne Menge Durchhaltevermögen und eigentlich … habe ich ihn gar nicht verdient.« »Was hast du denn getan, dass du ihn eigentlich nicht verdienst?« Dad begriff schnell. Ich seufzte und fuhr mir mit beiden Händen über das Gesicht. »Ich hab mich wie ein Arschloch aufgeführt. Ich hab ihn schlecht behandelt. Hab ihn abgewiesen. War schroff. Unfreundlich. Gemein. Ich hab ihm wehgetan. Physisch … und psychisch. Aber er … ich weiß nicht, warum er mir das alles verziehen hat. Ich weiß nicht, warum er nicht aufgegeben hat. Er ist bei mir, er war bei mir. Die ganze Zeit. Und ich brauchte erst eine Menge Schuldgefühle und eine Ohrfeige von meiner besten Freundin, um zu begreifen. Dass Dion mir das alles verziehen hat, ist ziemlich … unfassbar. Wie ich schon sagte … eigentlich habe ich ihn nicht verdient.« Mein Vater legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich sagte ihm nicht, warum ich mich Dion gegenüber so verhalten hatte. Diesen Teil ließ ich aus. Vielleicht hatte er es verdient, dass ich es ihm sagte, um zu erfahren, wie groß die Auswirkungen unserer Familientragödie auf mich gewesen waren, aber … er hatte ebenfalls viel durchmachen müssen. »Das muss es ihm wert gewesen sein«, meinte Dad lächelnd. »Sonst hätte er aufgegeben.« Ich erwiderte sein Lächeln. Ich verließ das Krankenhaus am späten Nachmittag wieder. Eine der Schwestern hatte mich mehr oder minder nach Hause gescheucht, denn Dad sollte seine Ruhe haben und Zeit, um sich zu erholen. Unterwegs nach Hause kaufte ich noch Milch und einige andere Sachen, die sich heute Morgen nicht im Kühlschrank befunden hatten. Das Wetter war noch immer trüb, doch im Moment regnete es glücklicherweise nicht. Ich wollte Dion anrufen, allerdings war der Akku meines Handys alle, daher fiel der Plan ins Wasser. Zu Hause war es ungewöhnlich still. Ich stellte die Einkäufe ab, machte mir einen Tee und ging in mein Zimmer. Im Türrahmen blieb ich stehen, um das Bett zu betrachten. Es war nicht gemacht und in demselben Zustand, in dem ich es heute früh verlassen hatte. Unweigerlich breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus, als sich wieder Bilder von letzter Nacht vor mein inneres Auge drängten. Ich wandte den Blick über die Schulter, als es auf einmal an der Tür klingelte. Dann drehte ich mich um, stellte die Teetasse im Wohnzimmer auf dem Tisch ab und ging in den Flur, um die Tür zu öffnen. Doch als ich öffnete und den unerwarteten wie unwillkommenen Besuch sah, der dort stand, wünschte ich mir, ich hätte das Läuten einfach ignoriert. ___ tbc. Kapitel 9: Death ---------------- Erst einmal widme ich das Kapitel für den 200. Kommentar, zu dem sie sich immer noch etwas wünschen kann. Und ich nutze die Gelegenheit, um mitzuteilen, dass nur noch zwei Kapitel folgen, bis Our Heartbeats auch abgeschlossen ist. ______________________________________________________________ DEATH NO ONE THINKS WHAT I’M DOING IS THE RIGHT WAY FORWARD Ich wusste nicht, welcher Teil meines Hirns aussetze, aber ich war unfähig, die Tür einfach wieder zuzuschlagen. Stattdessen starrte ich fassungslos in das fremd-vertraute Gesicht einer Frau, die mich vor acht Jahren verlassen hatte. Sie lächelte verlegen, sah im gleichen Zug aber auch ziemlich erleichtert aus, während mein Innerstes gerade in tiefstem Chaos versank. Für einen Moment dachte ich, dass es nur ein Traum wäre, eine Einbildung; dass die Sache mit meinem Dad zu viel für mich gewesen und ich einfach zu erschöpft war. Aber eine erschreckend laute Stimme in meinem Kopf sagte mir, dass das die bittere Realität war, die mir da an der Tür gegenüber stand. Nach acht Jahren ohne jegliche Information stand meine Mutter vor mir, mit Tränen, die über ihre Wangen liefen, und einem erleichterten Lächeln. Ich konnte nicht fassen, dass sie sich nach all der Zeit traute, hier aufzutauchen und mich anzulächeln, als würde es alles wieder gutmachen. Während ein Teil von mir sich fragte, wie sie an diese Adresse gekommen war, wollte ein anderer das gar nicht so genau wissen. »Ethan«, sagte sie mit erstickter Stimme und machte einen Schritt auf mich zu, vor dem ich unwillkürlich zurückwich. »Du bist so groß geworden.« Ach? Das schien der Lieblingssatz von Eltern zu sein, die ihre Kinder schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Sie hatte lange Haare jetzt. Als sie gegangen war, war ihr Haar kinnlang gewesen und sie hatte sich immer geweigert, sie wachsen zu lassen, obwohl Dad oft gesagt hatte, dass es ihr wohl gestanden hätte. Ich wusste nicht, was sie dazu veranlasst hatte, ihre Haare jetzt doch lang zu tragen, aber wenn ich genauer darüber nachdachte, dann kam ich zu dem Schluss, dass ich es nicht wirklich wissen wollte. Sonst hatte sich nichts an ihr verändert. Ich hätte sie überall erkannt. Ihr Gesicht war dasselbe, mit dem sie mir vor acht Jahren gesagt hatte, dass sie gehen und nicht zurück kommen würde. »Was machst du hier?«, fragte ich. Das war das erste, das ich unmittelbar von mir geben konnte, und es war vermutlich das einzige, das keinen Kraftausdruck beinhaltete. Verwirrung flackerte in ihren Augen auf, aber sie kam noch einen weiteren Schritt näher, dem ich wieder nach hinten auswich. Zwischen ihr und mir hätte es nie genug Abstand geben können. So kam es mir in diesem Augenblick vor. »Ich …« Sie brach ab, offensichtlich unfähig, sich klar auszudrücken. »Ich hab nach dir gesucht. Ich lebe wieder in der Stadt und du … du bist doch mein Junge. Es tut m—« »Nein«, unterbrach ich sie scharf. Ich konnte spüren, wie all die Wut, die sich in all den Jahren auf sie aufgestaut hatte, hochkochte. Sie tauchte nach acht Jahren bei mir auf und dachte, ich würde ihr einfach in die Arme fallen und ihr verzeihen, dass sie mich sang- und klanglos verlassen hatte? Dass sie Dad allein gelassen hatte? Dass sie egoistisch genug gewesen war, uns aus ihrem Leben zu streichen, als hätte es uns nie gegeben? Nach acht Jahren fiel ihr plötzlich wieder ein, dass sie einen Sohn hatte? Das war konnte doch wohl nicht ihr Ernst sein. »Sag nicht, es täte dir leid. Dafür ist es zu spät.« Sie sah getroffen aus, erstaunt nahezu, als hätte sie nicht damit gerechnet, dass ich so reagieren würde. War sie wirklich so naiv? Dachte sie tatsächlich, dass es so einfach war? Wie war sie auf diese absolut hirnrissige Idee gekommen? »Aber—« »Nein!«, sagte ich wieder. »Glaubst du, ich vergesse, was geschehen ist, nur weil du auf einmal hier stehst und sagst, ich wäre groß geworden? Glaubst du, es gibt auch nur den Hauch einer Entschuldigung für das, was du getan hast? Ich bin nicht mehr dein Junge. Dein Junge ist zehn Jahre alt, trägt Zahnspange und hat eine intakte Familie. Ich bin das genaue Gegenteil. Denk nicht, dass sich nichts verändert hat, seitdem du einfach verschwunden bist.« »Ethan«, hauchte sie und mehr Tränen rollten über ihr Gesicht. Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Jetzt sah sie aus, als hätte man sie geschlagen. Ein Schluchzen entfuhr ihr. »Bitte. Es tut mir so … so leid. Lass es mich erklären. Ich kann es dir erklären. Ich—« »Es lag nicht an mir? Nicht an Dad? Nur an dir? Du hattest acht Jahre Zeit und du hast dich kein einziges Mal gemeldet. Kein. Einziges. Mal. Aber jetzt, jetzt willst du auf einmal Buße tun und alles erklären? Die Zeit ist abgelaufen.« »Bitte«, sagte sie noch einmal, doch ich schüttelte den Kopf. Ich machte umsichtig einen Schritt auf sie zu. »Verlass meine Wohnung«, forderte ich sie auf, aber sie bewegte sich nicht, als wäre sie fest entschlossen, sich nicht einfach rauswerfen zu lassen. Ich konnte fühlen, wie mein Puls raste, spürte das Bedürfnis, irgendetwas zu schlagen oder kaputt zu machen, weil ich so wütend war und verzweifelt. »Geh«, sagte ich noch einmal. Ich straffte die Schultern und richtete mich komplett auf, bevor ich einen weiteren Schritt auf sie zumachte. »Jetzt. Sofort.« Sie wich zurück, so lange, bis sie wieder im Hausflur stand. Ihr Blick war flehend, aber je länger ich sie ansah, desto weniger Verständnis hatte ich, desto weniger Kontrolle über das, was ich im Moment fühlte. Ich warf die Tür wieder ins Schloss und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Dahinter konnte ich sie schluchzen hören. Sie sagte ein paar Mal meinen Namen, doch das machte es nicht besser. Ich wartete darauf, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, aber es tat sich nichts. Stattdessen wuchs immer mehr der Wunsch danach, irgendetwas zu schlagen. Langsam ließ ich mich auf den Boden sinken und raufte die Haare. Ich wiegte mich vor und zurück. Immer, wenn ich mir vorgestellt hatte, dass meine Mutter wieder auftauchen würde, hatte ein kleiner Teil in mir beständig gedacht, ich würde glücklich sein und ihr verzeihen können. Dass es etwas wie ein Happy End geben könnte, wenn sie wieder da war und sich entschuldigte. Doch als ich sie jetzt so gesehen hatte, da hatte ich nichts von diesem vermeintlichen Glück oder der Freude gespürt, die sich ein Teil von mir immer ausgemalt hatte. Ich wusste nicht, ob es mich wundern sollte. Ich wusste gar nichts. Nur, dass ich schrecklich aufgebracht und wütend war und dass ich mich auf eigenartige Art und Weise gedemütigt fühlte. Als wäre ihr Besuch ein Schlag ins Gesicht oder die Magengrube gewesen. Als hätte sie Salz in eine noch lange nicht verschlossene Wunde gestreut. Als wäre sie nur gekommen, um mir zu zeigen, was ich nie haben würde. Es fühlte sich furchtbar an. Ich stand auf und ging zu meinem Telefon, dann nahm ich den Hörer ab, ehe ich im Krankenhaus anrief. Eine Schwester, mit der ich schon öfter zu tun gehabt hatte, nahm auf der Station ab. »Falls eine Cecilia Grace nach meinem Vater fragt, lassen sie sie bitte nicht zu ihm. Ich denke nicht, dass es sich gut auf seinen Zustand auswirken würde«, ordnete ich an. Die Schwester konnte mir zwar nichts versprechen, aber sie versicherte mir, sie würde sehen, was sie tun könnte. Nachdem ich aufgelegt hatte, strich ich mir mit einer Hand durch die Haare. Gedanken schwirrten wirr in meinem Kopf herum. Ich konnte nicht begreifen, was geschehen war. Aber während die Wut langsam abzuflauen begann, drang der Schmerz wieder an die Oberfläche. Derselbe Schmerz, dem ich vor acht Jahren verboten hatte, mich in sich einzuschließen. Derselbe Schmerz, den ich damals empfunden hatte, als mir bewusst geworden war, dass meine Mom mich verlassen hatte. Ich ging in die Hocke und schlang die Arme um mich selbst, versuchte, dieses Gefühl nicht Überhand nehmen zu lassen, mich zu schützen, mich zur Wehr zu setzen. Aber im Endeffekt war ich wieder der kleine, zehnjährige Junge, der ich damals gewesen war. Allein gelassen, verzweifelt, verwirrt. Ich saß gefühlte endlose Stunden so da und hielt mich selbst umklammert, als würde ich einfach auseinanderbrechen, wenn ich losließ. Immer wieder tauchte das Gesicht meiner Mutter vor meinem inneren Auge auf, immer wieder diese eigenartige, fast siegessichere Erleichterung in ihrem Gesicht, als ich die Tür geöffnet hatte. Sie schien wirklich gedacht zu haben, dass es nur die eine Option geben würde: Dass ich ihr in meinem endlosen Glück in die Arme fallen würde. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich meine Wut wieder einigermaßen in Schach hatte und mein Mobiliar nicht mehr Gefahr lief, demoliert zu werden. Ich löste mich aus meiner Hocke, stand langsam auf und stützte mich mit einer Hand an der Rückenlehne meiner Couch ab. Einen Moment lang dachte ich darüber nach, Tess oder Dion anzurufen, aber dann entschied ich mich dagegen. Wenn ich mit einem von ihnen darüber sprach, dann … dann würde ich nicht so tun können, als wäre es nie geschehen. Abgesehen davon fühlte ich mich nicht bereit dazu, mich jetzt über meine flatterhafte Mutter zu unterhalten. Ich verließ das Wohnzimmer und ging in den Flur. Als ich wieder in die Küche abbiegen wollte, fiel mir ein kleiner, weißer Zettel auf, der auf dem Boden vor der Tür lag. Ich bückte mich, um ihn aufzuheben. In dem Moment, in dem ich das kleine Stück Papier umdrehte und überflog, was darauf stand, flirrte meine Wut wieder auf, als hätte es eine Explosion irgendwo in mir gegeben. Der Zorn rauschte so schnell durch mich hindurch, dass mir fast schwindelig wurde. Ich ballte die freie Hand zur Faust. Rasend knüllte ich den Zettel zusammen und feuerte ihn durch den Flur. Ich ging in die Küche und stand kurz davor, meine Teller gegen die Wand zu schmeißen. Doch ich hielt inne, holte einige Male Luft, um mich zu beruhigen. Meine Teller konnten auch nichts dafür, dass meine Mutter mir ihre Adresse hinterlassen hatte, als dachte sie ernsthaft, ich würde mal zum Tee vorbeikommen. Schwer atmend stützte ich mich mit den Händen auf dem Küchentisch ab, beugte mich ein kleines Stückchen vor und schloss die Augen. Acht Jahre. Vor acht Jahren hatte ich sie das letzte Mal gesehen, das letzte Mal mit ihr gesprochen, das letzte Mal etwas mit ihr zu tun gehabt. Dann hatte sie sich nie bei mir gemeldet. Jetzt wollte sie auf einmal wieder auf heile Welt machen? Warum? Warum jetzt? Wenn sie nicht völlig den Kontakt abgebrochen hätte, dann wäre es eine Sache gewesen, aber im Prinzip stand ich einer Frau gegenüber, die mir völlig fremd geworden war. Ich war kein Kind mehr. Ich war nicht mehr auf eine Mutter angewiesen. Was hatte sie zu diesem Schritt bewegt? Ich konnte einfach nicht nachvollziehen, was in ihr vorging. Ich konnte gar nichts mehr nachvollziehen. Später am Abend rief Tess an. Sie erkundigte sich nach Dad und nach mir selbst. Am Telefon war es einfacher, sie anzulügen. Über Dad sagte ich ihr natürlich die Wahrheit, aber mit mir war im Moment nichts in Ordnung. Doch davon erzählte ich ihr nichts. Ich schlug einen heiteren Ton an und versuchte so unbekümmert wie möglich zu klingen. Im Augenblick stand mir nicht das Bedürfnis danach, darüber zu reden oder jemanden erfahren zu lassen, dass meine Mutter wieder aufgetaucht war. Ich wollte keine Fragen gestellt bekommen, was ich jetzt tun würde, wie ich mich fühlte, wie es mir ginge. Tess jedenfalls schien nichts zu merken. Hätte ich ihr gegenüber gestanden, wäre mir das Lügen nicht leicht gefallen — abgesehen davon hätte sie mir wohl sowieso angesehen, dass etwas nicht stimmte. »Du klingst so … abwesend«, sagte Tess dann auf einmal. Ich biss mir auf die Unterlippe, doch eine Ausrede fiel mir schnell ein. »Dion und ich haben heute Nacht miteinander geschlafen«, erzählte ich ihr. Zumindest würde das Thema ablenken und würde begründen, warum ich so abwesend klang. Ich konnte hören, wie Tess am anderen Ende nach Luft schnappte. »Wow«, hauchte sie in den Hörer und klang, als wäre sie viel aufgeregter über diesen Fakt als ich. Ich schaffte sogar ein kleines Lächeln. Sie machte sich manchmal viel mehr ein Kopf über irgendwelche Sachen, die mich betrafen, als ich selbst. »Und …?« »Es war schön«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Und um die Sache komplett zu machen: Wir haben es gesagt.« »Oh mein Gott!«, quietschte sie hibbelig. Es war erstaunlich, dass Mädchen immer sofort wussten, worum es ging, selbst wenn man dem Kind keinen Namen gab. Eigentlich war es wirklich süß, wie sehr sie sich darüber freute; als wäre Dion ihr Freund, der ihr seine Liebe gestanden hätte. »Wirklich? Dasistsosüßdukannstdirgarnichtvorstellenwiesehrichmichdarüberfreue!« »Was?« Ich runzelte die Stirn, weil ich kein einziges Wort verstanden hatte. »Hol mal tief Luft und sag’s noch mal.« »Ich freu’ mich so für dich«, teilte Tess mir einen Augenblick später mit verträumter Stimme mit. »Wer lag denn oben?« »Tess!«, sagte ich scharf. Ich hörte sie aufgeregt kichern und konnte mir bildlich vorstellen, wie sie gerade eine wegwerfende Handbewegung machte. Sie wusste, dass ich nicht zu der Sorte Mensch gehörte, der freizügig über sein Sexleben plauderte. Was in meinem Bett geschah, das ging nur mich und betroffene Personen an. Auch wenn Tess meine beste Freundin war — Sex war etwas viel zu Intimes, als damit hausieren zu gehen. Zumindest ging es mir so. »Schon gut, schon gut«, meinte sie amüsiert. »Aber ich hoffe, ihr habt … verhütet? Nein — ach ja, geschützten Verkehr gehabt!« Einen Moment lang saß ich sprachlos da, bis ich in schallendes Gelächter ausbrach. Nach meiner Depressionsphase tat es gut, mal lachen zu können und ich war Tess dankbar dafür, dass sie es geschafft hatte, mich zumindest für kurze Zeit aus meinem Tief zu holen. Sie stimmte am anderen Ende der Leitung in mein Lachen ein. Einige Zeit lang prusteten wir beide ins Telefon, bis wir uns schließlich beruhigt hatten und ich ihr antworten konnte. »Ja, haben wir, keine Sorge«, sagte ich schwer atmend und hielt mir den vor Lachen schmerzenden Bauch. Ich war froh darüber, dass Tess mich so aufheitern konnte, auch wenn sie sich dessen vermutlich kein Stück bewusst war. Wir plauderten noch ein bisschen, bis Tess sich irgendwann seufzend verabschiedete, weil sie wieder Hunger bekam und was essen wollte. Grinsend legte ich auf, dann besann ich mich und rief Dion an. Wir sprachen nicht lange miteinander. Ich sagte ihm nur, dass ich bei irgendwelchen Aktivitäten mit Tess und Sally zurücktreten würde, um bei Dad zu sein, damit er im Krankenhaus nicht ganz allein war. Bambi reagierte ziemlich verständnisvoll und bat mich, meinen Vater von ihm zu grüßen, wenn ich morgen wieder ins Krankenhaus ging. Offenbar hielt Dion es für besser, Dad und mich erst einmal allein zu lassen. Auch wenn ich nichts dagegen gehabt hätte, wenn Bambi mitgekommen wäre, dankte ich ihm still dafür. Weil Tess mich vorher schon etwas aufgemuntert hatte, fiel Dion nichts an meiner Stimme oder Verhalten oder irgendwas auf, dass etwas nicht okay war. Das war auch besser so. Als ich schlafen ging, träumte ich einen bizarren Traum, in dem meine Mutter etwas wie eine Zwanzig-Meter-Frau war und Dad und ich nicht größer waren als ein Daumen. Sie hob Dad am Kragen an und steckte ihn eine Flasche, die für ihr Größenverhältnis normal war, für unseres aber nicht. Lachend schloss sie die Flasche mit einem Deckel und stellte Dad dann weg. Anschließend wandte sie sich mir zu. Ich versuchte wegzulaufen, aber es gelang mir nicht. Sie umfasste mich mit einer ihrer riesigen Hände und hob mich vor ihr Gesicht. Etwas Bösartiges glomm in ihren Augen. Und dann pustete sie und es war, als würden sich plötzlich viele, viele kleine, eisige Eiszapfen in meinen gesamten Körper bohren. Als wäre meine Mutter die Schneekönigin und ich jemand, dem sie wehtun wollte. Ein Eiszapfen verursachte größeren Schmerz als der andere, und als ich drohte in die Taubheit von Kälte und Schmerz abzusacken, wachte ich auf. Ich schwitzte nicht, ich saß auch nicht kerzengerade im Bett, aber mein Herz raste wie eine Dampflok. Es war dunkel um mich herum, alles war still und nichts regte sich. Ich beruhigte mich ein wenig, doch ich war im Moment viel zu aufgewühlt, um wieder einzuschlafen — und ich fürchtete mich davor, noch einmal von meiner Mutter zu träumen. Ächzend drehte ich mich auf die Seite und starrte aus dem Fenster, so lange, bis mir auf einmal Bambis Duft in die Nase stieg. Ich hob den Kopf und sah auf das zweite Kissen in meinem Bett, auf dem er gestern Nacht geschlafen hatte, nachdem wir … Einen Moment lang zögerte ich, dann vergrub ich meine Nase in dem Kissen, um Dions Geruch zu inhalieren. Irgendwie beruhigte er mich ungemein. Ich umarmte das Kissen und schloss die Augen, um weiterzuschlafen. Irgendwie gab Bambis indirekte Präsenz mir die Sicherheit, dass ich diese Nacht keine Albräume mehr haben würde. Die nächste Woche verbrachte ich zum Großteil der Zeit bei meinem Vater im Krankenhaus. Deswegen war ich umso erstaunter, als ich gerade aus dem Krankenhauscafé wieder in Dads Zimmer kam und Sally auf dem Stuhl neben seinem Bett sitzen sah. Sie unterhielten sich gerade offensichtlich sehr angeregt und Sally warf lachend ihr Haar über die Schulter. Ich wusste nicht, ob ich sie erwürgen oder doch lieber aus dem Fenster werfen sollte. Dion und Tess waren weit und breit nicht zu sehen, was mich zur Annahme führte, dass Sally allein hierher gekommen war. Als sie mich bemerkte, erhob sie sich und strich den Rock glatt, den sie trug. Sally trug wieder die blauen, hochhakigen Schuhe, die sie auch schon angehabt hatte, als Dion und ich sie vom Flughafen abgeholt hatten. Sie verabschiedete sich höflich von Dad, reichte ihm die Hand, dann wandte sie sich mir zu, hakte sich bei mir unter und führte mich aus dem Raum. »Was machst du hier?«, zischte ich, kaum, dass wir das Zimmer verlassen hatten. Sie strich sich die Haare hinter ihr Ohr. »Dion war dagegen, dass ich herkomme, also … sei nicht sauer auf ihn«, sagte sie. Ich schnaubte. Das war keine Antwort auf meine Frage, doch Sally sprach weiter. »Ich bin nicht hier, um dich zu ärgern oder so. Eigentlich wollte ich auch gar nicht zu deinem Dad, sondern zu dir. Aber als ich ankam, warst du gerade nicht da und ich wollte nicht wie ein Stalker vor dem Zimmer herumlungern. Die Tür zum Raum stand offen und das hätte wohl Skepsis bei deinem Dad hervorgerufen. Egal. Tut mir leid.« Ich verengte die Augen. »Was machst du hier, Sally?«, wiederholte ich ungeduldig. »Ich wollte mich von dir verabschieden, rattenscharfer Junge. Ich fliege heute zurück nach Peoria. Und ich wollte das nicht per Telefon machen oder es ausrichten lassen. So bin ich nicht«, meinte sie, während sie den Gurt ihrer Tasche auf ihrer Schulter zurecht rückte. Sally lächelte entschuldigend. »Ich bin nicht hergekommen, um irgendwas zu demonstrieren oder so, wirklich nicht. Du bist Dions Freund, und alles, was er mir über dich anvertraut, behalte ich für mich. Selbst, wenn er mir nicht ausdrücklich sagt, dass das vertraulich behandelt werden muss. Das kannst du mir ruhig glauben. Ich bin keine Tratschtante.« Sie grinste und boxte mir freundschaftlich gegen die Schulter. »Dein Dad ist nett. Ich hoffe, dass er bald wieder auf den Beinen ist und du wieder ein familiäres Verhältnis zu ihm aufbauen kannst. Wir sehen uns bestimmt wieder. Aber bis dahin … mach’s gut.« Sally wackelte mit den Fingern und wandte sich um. Irgendwie hatten sich meine Mordgedanken in Pusteblumen und Gänseblümchen verwandelt. Wie auch immer das geschehen sein konnte … »Hey, Sally«, sagte ich und sah ihr dabei zu, wie sie sich noch einmal zu mir umdrehte. »Komm her.« Im Endeffekt war ich derjenige, der zu ihr kam, aber das spielte keine Rolle. Ich umarmte sie kurz. Ihre Haare kitzelten mein Gesicht und das Parfüm, das sie benutzte, stieg in meine Nase. Sie roch ganz anders als Dion oder Tess, aber es passte eindeutig zu ihr. Dann ließ ich sie wieder los. Sally sah mich einen Moment lang mit einer Mischung aus Verwunderung, Begeisterung und Belustigung an, dann breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. »Wow«, meinte sie. »Ich fühle mich geehrt.« »Das will ich doch wohl hoffen«, erwiderte ich feixend. Sally lachte leicht, dann strich sie kurz über meinen Oberarm, bevor sie sich umdrehte und ging. Ich schaute ihr einen Augenblick nach, danach ging ich zurück ins Zimmer meines Vaters. Ihm hatte ich auch nichts von dem Besuch meiner Mutter erzählt, und offenbar hatte sie ihn auch nicht aufgesucht. Oder er wiederum erzählte mir nichts davon. Aber als ich später am Abend, als ich wieder nach Hause gehen wollte, an der Rezeption fragte, ob eine Frau für Dad da gewesen sei, verneinte die Schwester. Das beruhigte mich ein wenig. Es ging weitere zwei Wochen gut mit meiner Verdrängungstaktik. Zwei Wochen lang merkte niemand und erfuhr niemand, dass meine Mutter wieder da war und mich zurück in ihrem Leben haben wollte. Doch dann fand Dion den zusammengeknüllten Zettel mit der Adresse meiner Mutter am Ende meines Flurs. Ich hatte das dumme Stück Papier nicht weggeschmissen, sondern einfach immer geflissentlich übersehen. Das war ein ziemlich verheerender Fehler gewesen. »Was ist das?«, fragte er mich, während er zu mir ins Wohnzimmer kam und dabei eindringlich den Zettel studierte. Ich fühlte regelrecht, wie ich erblasste. »Nichts«, erwiderte ich und riss ihm dabei das Papier aus den Händen. Aber ich wusste, dass er sich damit nicht zufrieden geben würde. Er hatte meine übertriebene Reaktion bemerkt. Misstrauisch sah er mich an, als ich an ihm vorbei ging. Ich wollte die Adresse gerade wegschmeißen, als Dion mir den Zettel wieder aus der Hand nahm und ihn hinter seinem Rücken versteckte. Ärgerlich machte ich einen Schritt auf ihn zu, doch er wich mir gekonnt aus. »Gib ihn zurück«, sagte ich mit aufkeimender Wut, aber Bambi schüttelte nur den Kopf. »Nein«, sagte er entschieden. »Sag mir zuerst, was das ist.« Dachte er denn, dass das die Adresse von jemandem war, mit dem ich ihn betrog? Fühlte er sich hintergegangen? Das war doch Unsinn. Warum sollte er das denken? Ich hatte ihn nicht vernachlässigt, ich war auch nicht abweisend und ich hatte mein Interesse an ihm auch nicht verloren. »Das geht dich nichts an«, zischte ich schließlich und streckte die Hand aus, aber Bambi weigerte sich immer noch, mir den Zettel zurückzugeben. Dieses dumme Rehkitz. So langsam war das wirklich nicht mehr witzig. Warum bestand er darauf, zu erfahren, was es mit dieser Adresse auf sich hatte? Er ließ mich doch sonst immer, wenn er merkte, dass ich nicht über etwas reden wollte. Warum konnte er das jetzt nicht auch einfach tun? »Was ist das?«, fragte Dion noch einmal und ein drängender Ton lag dabei in seiner Stimme. »Eine Adresse«, antwortete ich trocken. Ich machte wieder einen Schritt auf ihn zu, aber Dion dachte nicht daran, aufzugeben. Wütend griff ich hinter seinen Rücken, doch er wand sich wie eine Eidechse und machte sich los, bevor ich die Chance hatte, an den Zettel zu kommen. »Wessen?« Er sprang auf die Couch und starrte mich erwartungsvoll an. »Das geht dich nichts an!«, fauchte ich sauer. Dieses kleine Spielchen mochte für ihn witzig sein, mich machte es mit jeder verstrichenen Minute wütender. Was dachte er sich dabei? »Ach ja?«, konterte Dion. Ich konnte den Ärger in seinen Augen sehen. »Nicht, w—« Er dachte tatsächlich, dass das die geheime Adresse einer Affäre war. Mein Gott, wie naiv dieser Junge manchmal war! »Das ist die Adresse meiner Mutter!«, unterbrach ich ihn und sah ihn an. Bambis Blick flackerte einen Moment, dann sah er auf einmal erschrocken und betroffen aus. Hastig sprang er von der Couch. Ich biss mir auf die Unterlippe. Aus mit der Verdrängungstaktik. Scheiße. »Du hast herausgefunden, wo deine Mutter wohnt?«, fragte Dion ungläubig, den Zettel immer noch in der Hand. »Nein. Sie hat herausgefunden, wo ich wohne. Sie war hier«, erwiderte ich zögernd. Ich ging an Dion vorbei und setzte mich auf die Couch, bevor ich mir durch die Haare fuhr. Warum hatte er das denn so ausreizen müssen? »Wann?«, wollte Bambi verblüfft wissen, während er sich neben mich setzte und mit großen Rehaugen anschaute. »Vor drei Wochen«, sagte ich nur und lehnte mich zurück. Stur starrte ich auf meine Hände. Es war so lange gut gegangen und ich hätte fast vergessen können, dass sie überhaupt da gewesen war, aber nein, Dion musste bohren, weil er dachte, ich würde ihn betrügen. »Warum hast du nichts gesagt?«, fragte er, doch er wartete gar nicht erst auf eine Antwort. »Das ist doch toll! Was hat sie gesagt?« Ich starrte ihn an. »Nein, Dion, das ist nicht toll!«, widersprach ich ihm aufgebracht. »Sie kann doch nicht so mir nichts, dir nichts nach fast zehn Jahren wieder hier auftauchen und denken, alles wäre wieder in Butter! Ich kann doch nicht einfach so vergessen, was sie getan hat! Ich bin kein Kind mehr und schon gar nicht das Kind, was sie gekannt hat. Ich bin ein völlig anderer Mensch geworden! Und sie denkt, sie könnte einfach hier auftauchen, ›Entschuldigung‹ sagen und alles ist wieder in Ordnung! Das ist es eben nicht! Verstehst du nicht? Ich will sie nicht zurück!« Dion sah mich einen Augenblick lang schweigend an. Seine Augen waren groß, so als würde er nicht glauben, was ich gesagt hatte. »Aber … sie ist deine Mom«, begann er langsam und klang genauso ungläubig, wie er aussah. Als hätte ich es nicht ahnen sollen. »Jeder Mensch macht Fehler u—« »Ja, ja, ja, ja, ja!«, winkte ich ärgerlich ab und schüttelte den Kopf. »Aber in all der Zeit hat sie sich nicht gemeldet. Ich war nicht existent in ihrer kleinen Welt. Doch jetzt auf einmal? Jetzt gibt es mich wieder? Das ist Verleugnung und kein Fehler!« »Es ist acht Jahre her!« »Genau darum geht es doch!« »Du solltest ihr zumindest eine Chance geben, sich zu erklären! Sie ist deine Mutter. Wenn du dich schon so unerbittlich anstellst, bitte, aber du solltest wenigstens mit ihr reden! Erstens ist sie dir das schuldig und zweitens solltest du aufhören, der Vergangenheit nachzuhängen. Außerdem — du wolltest doch immer eine Erklärung haben, warum sie gegangen ist«, sagte Dion und legte seine Hand auf meinen Arm. Doch ich konnte das jetzt nicht. Ich zog meinen Arm zurück und stand auf. Es machte mich wütend, dass er einfach nicht begreifen wollte. »Du verstehst das doch überhaupt nicht!«, warf ich ihm sauer vor. »Was verstehst du überhaupt? Du hast doch keine Ahnung davon! Deine Eltern waren immer für dich da und haben dich verhätschelt. Sie lieben dich und unterstützen dich und sind da, wenn du sie brauchst. Aber meine Mutter … meine Mutter … sie … hat mich im Stich gelassen! In acht Jahren kam nichts von ihr! In acht Jahren, in denen sie zumindest den Kontakt zu mir hätte halten können. Du verstehst das überhaupt nicht, wie das ist, wenn die eigene Familie auseinander fällt und du deinem Dad dabei zusehen musst, wie er sich fast zugrunde richtet und du nichts dagegen tun kannst! Du weißt nicht, wie das ist, auf sich allein gestellt zu sein und niemanden zu haben, an den man sich wenden kann oder bei dem man sich ausweinen kann oder sonst was …! Also erzähl mir nichts von Chancen! Denn du hast keine Ahnung davon. Du hast kein Recht dazu, mir zu sagen, ich würde der Vergangenheit nachhängen! Also halt einfach die Klappe.« Dion seufzte und schüttelte den Kopf. Ich konnte sehen, dass er die Hände fest zu Fäusten geballt hatte. Mir wurde erst im Nachhinein klar, dass er sich selbst zusammengerissen hatte, um nicht aus der Haut zu fahren. »Aber—«, setzte er an, doch ich fuhr ihm wieder dazwischen. »Du solltest besser gehen«, sagte ich, ruhiger jetzt, aber mit vor Aufregung und Wut zittriger Stimme. Dion starrte mich fassungslos an. Einige Moment verstrichen so, doch dann stand er auf, griff nach seiner Jacke und ging an mir vorbei. Ich hörte nur noch die Tür ins Schloss fallen. Dann war es wieder still in der Wohnung. ___ tbc. Kapitel 10: Rebirth — I ----------------------- REBIRTH — I TO HURT YOU IS TO BE DESPISED, AS I’D LOVE TO Dion und ich schwiegen uns in der Schule beharrlich an, und wenn wir miteinander reden mussten, dann nur das Nötigste. Anders als sonst tat er so, als hätte er nie erfahren, dass meine Mutter bei mir gewesen war. Er mochte es nicht, wenn ich so tat, als wäre nichts passiert, aber ich war froh, dass er das Spiel diesmal mitspielte. Abgesehen davon war ich trotzdem noch sauer auf ihn, weil er meine Mutter versucht hatte, in Schutz zu nehmen. Tess hatte inzwischen auch erfahren, was los war — und sie hatte genauso angesetzt wie Dion, es aber schnell gelassen, als sie gemerkt hatte, dass die Nummer bei mir nicht zog — und beobachtete unsere eiserne Stille mit besorgt gerunzelter Stirn. Aber sie mischte sich nicht ein, auch wenn ich hätte schwören können, dass sie genau das nur zu gern getan hätte. »Willst du dich nicht wieder mit ihm vertragen?«, fragte Tess mich am Donnerstag schließlich in Bio. Seit vier Tagen sprachen Bambi und ich kaum miteinander und das Pikante an unserer kleinen Auseinandersetzung und der Tatsache, dass wir uns nicht versöhnten, war, dass er am Samstag Geburtstag hatte. Ich hatte aber nicht vor, mich bei ihm zu entschuldigen — wofür auch? Er hatte doch angefangen. »Die Option ist nicht ausgeschlossen«, sagte ich trocken und malte irgendwelche Kreise auf meinem Arbeitsblatt aus. »Aber er will sich ja nicht entschuldigen. Ich kann also nichts tun.« »Der Klügere gibt nach, das weißt du schon, oder?«, meinte Tess und ich konnte den leicht genervten Unterton in ihrer Stimme ausmachen. Sie tat mal wieder so, als wäre ich schuld an diesem Schlamassel. Immer stand sie hinter Bambi, immer war er das arme, verwundete Rehkitz, das ich auf Knien rutschend und arschküssend um Entschuldigung bitten sollte. So langsam ging mir das ziemlich auf den Keks. Ich war zur Abwechslung auch mal das Opfer. Tse. »Wenn die Klügeren nachgeben würden, dann wäre die Welt in den Händen der Dummen«, erwiderte ich nur und ergänzte einen Stichpunkt, der gerade an die Tafel geschrieben wurde. Ich konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Tess mich sprachlos anstarrte. Tja, daran hatte sie wohl zu knabbern. »Er hat am Samstag Geburtstag. Willst du den ausfallen lassen, nur weil du deinen Stolz mal wieder verteidigen musst? Dion wollte dir helfen und dir einen Rat geben. Warum begreifst du das nicht?«, erklärte sie mir. Ihre Stirn war tief gefurcht. Sie machte sich wieder viel zu viele Gedanken darum. Hatte sie eigentlich kein eigenes Leben, um das sie sich Sorgen machen konnte? Oder war meins tatsächlich um so vieles mehr fulminant? »Er soll nicht versuchen, mir irgendwelche Ratschläge zu erteilen, wenn er keine Ahnung davon hat, um was es geht!«, zischte ich mit aufkeimendem Ärger. Warum musste ich schon wieder diese Diskussion führen? »Außerdem verteidige ich meinen Stolz überhaupt nicht. Er hat damit angefangen und wollte keine Ruhe geben. Also wofür soll ich mich entschuldigen? Dafür, dass ich allein sein wollte? Dass ich eigentlich nicht mit ihm über private Dinge sprechen wollte? Oder dafür, dass ihn das alles einen Scheißdreck angeht?« Tess sah auf einmal aus, als stände sie kurz davor, ihren Bleistift durch den Raum zu schmeißen und den Tisch umzuwerfen. »Hast du dich schon mal reden hören? Er ist dein Freund und er weiß vermutlich mehr über dich als deine Mom und dein Dad zusammen. Er wollte dir helfen und dir klar machen, dass du nicht sofort dicht machen solltest. Außerdem geht es ihn sehr wohl etwas an! Ihr seid zusammen, da gibt es keine ›privaten Dinge‹. Was ist so falsch daran, dass er dir helfen wollte? Du redest über ihn, als wäre er ein Fremder am Straßenrand. Das ist ganz schön unfair. Schön, vielleicht hätte er diese Zettelsache—«, ich hatte ihr davon erzählt, »—nicht ausreizen sollen, aber du hast eindeutig überreagiert. Ich dachte, du hättest aus deinen Fehlern gelernt. Wenn du ihn immer wieder so behandelst, wie du es getan hast, dann bist du Dion bald wieder los und kriegst ihn nie wieder zurück. Vielleicht solltest du mal darüber nachdenken, bevor du ihn wieder sinnlos anmaulst oder sagst, dass dein Wohlergehen ihn einen Scheißdreck angeht.« »Ich—« »Gespräch beendet«, unterbrach Tess mich eisern. Sie stützte ihr Kinn in ihre offene Handfläche und starrte stur nach vorn. Ich grummelte leise. Warum durfte sie mir eine Predigt halten und ich ihr nicht? Wir sollten wirklich mal die Gleichberechtigungsprioritäten in unserer Beziehung klären, sonst würde das früher oder später ein schlimmes Ende nehmen. Ich musste mir allerdings eingestehen, dass es mich nicht unbedingt sonderlich glücklich machte, nicht mit Dion zu reden. Zumal wir unsere Beziehung eigentlich gerade erst in eine neue Richtung gelenkt hatten. Trotzdem gab ich nicht so einfach nach. Bambi sollte sich entschuldigen. Er hatte das alles angefangen und verbockt. Ich hatte vielleicht ein bisschen überreagiert, okay, aber das war der kleinere Teil der ganzen Auseinandersetzung. Hier ging es nicht um einen geklauten Pudding. Und ich sah nicht ein, weshalb ich ständig als Schuldiger hingestellt wurde, wenn ich es gar nicht war. Tess war auch nicht sonderlich begeistert, als ich mich am Freitag vor Dions Geburtstag immer noch nicht mit ihm versöhnt hatte. Sie war soweit gegangen, dass sie uns beim Mittag in der Cafeteria, als wir zu dritt an einem Tisch saßen — wie immer —, alleine ließ, mit den Worten: »Ihr solltet das langsam mal dringend klären.« Allerdings hatte es nichts gebracht. Ich hatte darauf gewartet, dass Bambi den Mund aufmachte, aber er war mindestens so stur wie ich und aß schweigend seinen Apfel. Ich schwieg ebenfalls eisern und so waren wir unverrichteter Dinge nach der Mittagspause wieder in den Unterricht gegangen. Tess war daraufhin ziemlich stinkig, was sie mal wieder an mir ausließ. »Halt doch endlich mal die Klappe, Tess«, sagte ich irgendwann total genervt. Was musste sie sich denn auch überall einmischen? Ich war alt genug, um meine Probleme selbst zu klären, da musste sie nicht noch ihre glorreichen Ideen spinnen, die mich sowieso nicht weiterbrachten. Langsam hatte ich es wirklich satt, dass ich von allen Seiten her drangsaliert wurde und alle meinten, mir erzählen zu müssen, was ich tun sollte und was nicht. Tess starrte mich mit großen Augen an. Ich hatte sie mitten im Satz unterbrochen, ihr Mund stand noch offen, doch dann wandte sie sich wortlos von mir ab und konzentrierte sich wieder auf den Unterricht, den sie mal wieder gekonnt genutzt hatte, um meinen Moralapostel zu spielen. Jetzt hatte ich wieder meine Ruhe. Dion wartete nach der letzten Stunde wie immer vor dem Schuleingang auf Tess und mich. Tess verabschiedete sich allerdings gleich und verschwand nach Hause, so dass Bambi und ich wieder allein waren. Er spielte mit seinem Schlüsselbund, während wir gingen. Einerseits war es ein ziemlich eigenartiges Gefühl neben ihm herzugehen, ihn nicht anzufassen und nicht mit ihm zu reden, weil wir uns beide durchsetzen wollten; andererseits war es doch auch irgendwie beruhigend, dass wir nicht völlig dicht machten und so taten, als gäbe es den jeweils anderen nicht. »Kommst du morgen?«, fragte Dion irgendwann auf halbem Weg nach Hause. »Zu meinem Geburtstag, meine ich.« Er klang zum Teil widerwillig und zum Teil hoffnungsvoll, was ich damit begründete, dass er wollte, dass ich kam, aber sich ärgerte, dass er mich fragen musste. Wären wir gerade nicht penibel dabei gewesen, jeglicher Konversation möglichst aus dem Weg zu gehen, wäre die Frage wohl kein Problem gewesen. Aber so musste ich ihn zumindest nicht fragen, ob es okay für ihn war, wenn ich kam. »Ja«, murmelte ich und warf Bambi einen flüchtigen Seitenblick zu. »Wenn du willst.« »Ja, ich will«, erwiderte er. Ich verkniff mir ein Grinsen, weil er geklungen hatte, als wollte er mich heiraten. Aber ich behielt es für mich und wir setzten unseren Weg schweigend fort. Ich erinnerte mich daran, dass Dion und ich Pläne geschmiedet hatten, was seinen Geburtstag anging, dass ich über Nacht bei ihm wäre und wir reinfeiern würden. Aber das hatte sich jetzt wohl erledigt. Unweigerlich fragte ich mich, ob ihm wohl das Gleiche durch den Kopf ging wie mir. Einen kurzen Moment lang überlegte ich, ob ich nicht einfach den ersten Schritt zur Versöhnung machen sollte, aber das hätte wiederum bedeutet, dass ich mich für etwas entschuldigen musste, was nicht meine Schuld war. Also verwarf ich den Gedanken wieder. »Dann … bis morgen«, meinte ich, als ich vor meiner Haustür stand. Bambi schaute mich an und sah aus, als wollte er noch etwas sagen. Aber dann nickte er nur. »Bis morgen«, bestätigte er und wandte sich ab, um nach Hause zu gehen. Ich schaute ihm einen Augenblick lang nach, dann öffnete ich die Haustür und ging die Stufen zu meiner Wohnung hinauf. Fahles Sonnenlicht fiel durch das Küchenfenster in den Raum und erhellte auch leicht den Flur, als ich die Wohnungstür aufschloss. Es war still. Diese Ruhe schien plötzlich in meinen Ohren zu dröhnen. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der es mich nicht gestört hatte, dass es still war in der Wohnung, wenn ich nach Hause kam. Da war es mir nicht einmal bewusst aufgefallen, dass es ruhig war und dass es niemanden gab, der mir entgegenkommen würde, um mich zu begrüßen. Es hatte mich ganz einfach nicht gestört. Ich war daran gewöhnt gewesen. Ich hatte mich nie allein gefühlt. Doch jetzt, jetzt kam es mir auf einmal falsch vor. Jetzt hörte ich die Stille und jedes Mal wurde mir bewusst, dass es niemanden gab außer mir. Die Ironie an der ganzen Sache war, dass die Einrichtung der Wohnung nicht für Einen ausgelegt war. Ich hatte ein großes Bett, mein Schrank hatte ein paar leere Fächer, im Bad gab es in dem Schränkchen auch noch nicht verwendeten Platz. Ich hatte mehr Geschirr, als ich verbrauchen konnte; in meiner Küche stand ein Tisch mit drei Stühlen. Sicher, das war vielleicht nichts Ungewöhnliches, wenn man davon ausging, dass ein allein lebender Mensch auch mal Besuch bekam. Aber ich bekam keinen Besuch. Tess und Dion zählte ich nicht als Besuch, weil sie … einfach mehr waren. Seufzend stellte ich meine Tasche im Flur ab, holte mir etwas zu trinken und aß schnell etwas, bevor ich mich auf den Weg machte, um Dad zu besuchen. Er war mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen worden, brauchte aber noch sehr viel Ruhe und musste dementsprechend viel Zeit im Bett verbringen. Dad lebte immer noch in derselben Wohnung, aus der ich damals ausgezogen war, deswegen fiel es mir nicht schwer, dort hin zu finden. Ihm hatte ich bisher nichts von dem Besuch meiner Mutter erzählt und ich überlegte hin und her, ob ich es tun sollte oder nicht. Was würde er dazu sagen? Was würde er mir raten? So, wie ich Dad kannte, würde er wohl auch vorschlagen, ich sollte mit ihr reden. Es war mitten in der Nacht, als ich den Beschluss fasste, meiner Mutter ihre Chance zu geben. Ich schrieb Dion gerade seine Geburtstags-SMS, da ließ ich es endlich zu, darüber nachzudenken, was er und was Tess gesagt hatten. Sie hatten ja Recht. Ich hatte immer schon wissen wollen, warum sie damals einfach so gegangen war. Das war auch meine Chance. Vielleicht würde es für mich ebenfalls einfacher werden, wenn ich wusste, was los gewesen war. Ich war im ersten Moment schlicht viel zu geschockt und überrascht gewesen, um die Option überhaupt in Erwägung zu ziehen. Meine Mutter fiel wie aus den Wolken einfach vor meine Wohnungstür und erwartete von mir, dass ich ihr verzieh. Da war es vermutlich eine Kurzschlussreaktion von mir gewesen. Alles. Dass ich meine Mutter rausgeworfen hatte, dass ich Dion angeschnauzt und auch rausgeschmissen hatte, dass ich Tess gegenüber die Nerven verloren hatte. Dafür würde ich mich dann wohl doch entschuldigen müssen. Am nächsten Morgen kramte ich den Zettel mit der Adresse meiner Mutter hervor und machte mich auf den Weg dorthin. Ich wusste nicht, wie ich mich genau fühlte. Es war wohl eine Mischung aus Unsicherheit, Aufregung und Ärger. Eigentlich hatte ich nicht einmal eine Ahnung, was ich sagen sollte. Während ich auf den Weg zu meiner Mutter war, versuchte ich, mir zusammen zu legen, was ich ihr sagen könnte, wenn ich ihr erst gegenüber stand. Doch mir fiel nichts ein, was ich als passend empfand. Was sagte man seiner Mutter, die man acht Jahre lang nicht gesehen hatte und bei dem ersten Aufeinandertreffen nach dieser Zeit einfach rauswarf? »Hey, Mom, ich hab’s mir überlegt. Ich geb’ dir doch ’ne Chance!«? Das war doch alles eine verdreckte Scheiße. Die Adresse führte mich zu einem ansehnlichen weißen Haus mit hohen Fenstern und einem dunkelblauen Dach. Eine kleine Hecke trennte das Grundstück von den anderen, die direkt daneben lagen, und eine Pforte spannte sich vor einem Weg zu der Veranda. Ich brauchte einen Moment, bis ich den Mund vor Erstaunen schließen konnte. Dann vergewisserte ich mich, dass ich hier auch wirklich richtig war. Hier wohnte meine Mutter jetzt also. In einem weißen, großen Haus in einer schicken Wohngegend. Und erst, als ich dort so stand und mich in der Straße umsah, sickerte langsam in mein Gedächtnis, dass Dion in einer der Nebenstraßen wohnte. Meine Mutter war quasi mit meinem Freund benachbart. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Aber das wussten aller Wahrscheinlichkeit weder meine Mutter noch Bambi, da sie sich beide nicht kannten und nicht gesehen hatten. Meine Mutter wusste nicht mal um seine Existenz, also … Ich starrte wieder das Haus an. Es war zu groß für eine einzelne Person. Mein Mund fühlte sich auf einmal trocken an, als mir in den Sinn kam, dass sie vermutlich … nicht allein in diesem Haus lebte. Zum ersten Mal in acht Jahren kam mir der Gedanke, dass sie jetzt vielleicht eine … andere Familie hatte. Und das war kein sonderlich angenehmes Gefühl. Langsam öffnete ich die Pforte und ging auf die Veranda zu. Ich warf einen Blick auf die Klingel und das kleine Schild darunter. Carwright. Zuerst wurde mir heiß und dann kalt. Ich kämpfte den Impuls zurück, wieder umzudrehen und nach Hause zu gehen. Stattdessen drückte ich einfach auf die Klingel. Ich konnte den Laut im Haus hören, den ich ausgelöst hatte, und kurz darauf hörte ich tobende Schritte, Gelächter und ein helles »Ich mach’ auf!«, bevor die Tür schwungvoll aufgerissen wurde. Für einen kurzen Moment vergaß ich völlig, weswegen ich hierher gekommen war. Ich war so erschüttert, dass ich kein Wort rausbekam. Vor mir stand ein kleines Mädchen, sieben Jahre alt vielleicht, mit roten Locken und hellblauen Augen. Dicht hinter ihr stand ein Junge, definitiv jünger, mit rotblonden Haaren und dunklen Augen. Sie sahen sich sehr ähnlich. Sie sahen meiner Mutter ähnlich. In gewisser Weise sahen sie mir ähnlich. Es fühlte sich an, als würde die Welt sich plötzlich sehr viel schneller drehen als üblich. Und ich hatte das Gefühl, dass ich nicht mit dem neuen Tempo mithalten konnte. »Gwyneth?«, hörte ich eine männliche Stimme rufen. »Terence?« Ich zuckte fast zusammen. Als der Mann, zu dem die Stimme gehörte, in den Flur kam, hob ich den Blick von den Kindern, um ihn anzusehen. Er sah ziemlich erstaunt aus, als er mich sah, was mich zu dem Schluss führte, dass er offenbar sehr genau wusste, wer ich war. Dann warf er kurz einen Blick über die Schulter. »Cecilia, für dich!«, rief er kurz. Ein Hund rauschte an dem Mann vorbei und kam auf mich zugelaufen. Ein Golden Retriever. Zwei Kinder, ein Hund, ein großes Haus. Eine Bilderbuchfamilie. Ich warf vermutlich einen tiefen Schatten über dieses Glück. Das Mädchen griff nach dem Halsband des Hundes und sagte einmal bestimmt »Rufus, sitz!«, und der Köter ließ sich augenblicklich auf den Hintern fallen. Dann tauchte meine Mutter im Flur auf. Sie trocknete die Hände gerade mit einem Küchentuch ab, als sie mich sah. Ihre Augen wurden groß. Ohne hinzusehen, drückte sie dem Kerl das Tuch in die Hand und kam zur Tür. Sie legte je eine Hand auf die Schultern der Kinder. »Geht wieder spielen, Kinder«, sagte sie zu ihnen, doch sie sah mich dabei unentwegt an. Die Kinder schauten mich noch einmal neugierig an, sahen aber ein bisschen widerwillig aus, als sie sich umdrehten und zusammen mit dem Hund zurück ins Haus gingen. Meine Mutter trat auf die Veranda und schloss die Haustür hinter sich. Es verging einen Moment, in dem wir beide uns anschwiegen. »Ethan, du … ich hab nicht damit gerechnet, dass du kommst. I … ich … wenn ich das gewusst hätte, dann …«, sagte sie und gestikulierte mit den Händen, als gäbe es etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte. »Ich hab auch nicht gedacht, dass ich kommen würde«, sagte ich wahrheitsgemäß. Meine Mutter sah aus, als wüsste sie nicht, ob sie sich freuen oder ob sie gekränkt sein sollte. Aber sie lächelte erleichtert, was wohl hieß, dass ihre … Freude über meinen Besuch größer war als das, was ich gesagt hatte. »Eigentlich wollte ich nicht kommen, sondern einfach vergessen, dass du da warst. Aber es gibt ein paar Leute, die machen sich mehr Sorgen um mich, als ich selbst es tue, und … ich dachte, es wäre wohl doch besser, wenn …« … wenn wir das alles versuchen zu klären. Aber das konnte ich nicht sagen. Nicht, weil ich Hemmungen hatte, sondern weil es zu merkwürdig klang. Meine Mutter deutete auf ein paar Korbsessel auf der Veranda. Ich zögerte zuerst, doch dann folgte ich dem Wink, ging hinüber und setzte mich in einen davon. Sie setzte sich mir gegenüber. Ihre roten Haare hatte sie zu einem Knoten nach hinten gebunden, aber ein paar Strähnen hatten sich gelöst und hingen in ihrem Gesicht. Mit den Fingerspitzen strich sie sich die Haare hinters Ohr, dann verschränkte sie ihre Hände miteinander. Ein scheues Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ich hatte schon viele peinliche und unangenehme Situationen erlebt, aber das hier war wirklich die Krönung. »Schönes Haus …«, sagte ich schließlich und fühlte mich ziemlich dumm dabei. Meine Mutter nickte. »Danke«, erwiderte sie leise und starrte auf ihre Hände. Wie sollte man so ein Gespräch anfangen? Offenbar wusste sie auch nicht so richtig, was sie sagen sollte. Damit war ich dann schon mal nicht allein. Eigentlich wollte ich nicht auf ihrem Grundstück vor ihrem Haus auf ihrer Terrasse sitzen, aber jetzt war es nun mal so. Trotzdem hatte ich den eindringlichen Wunsch, einfach so schnell wie möglich die Flucht zu ergreifen. »Carwright also«, setzte ich an und fing dabei ihren Blick auf. Sie biss sich auf die Unterlippe, ließ den Blick dabei hastig sinken und sah wieder auf ihre verschränkten Finger. »Ja«, murmelte sie, bevor sie tief Luft holte und sich mit beiden Händen über das Gesicht fuhr. Dann schaute sie mich wieder an. »Ich habe vor sieben Jahren wieder geheiratet. Er heißt Jack … Jack Carwright.« Ich verkniff mir mit Mühe einen bissigen Kommentar. Ein Jahr nach der Scheidung, wenn überhaupt, hatte sie wieder geheiratet. Damit schien auf einmal klar zu sein, warum sie Dad und mich verlassen hatte, aber das sagte ich nicht laut. Ich war nicht hierher gekommen, um mich mit ihr zu streiten oder sie anzuklagen, sondern einfach nur, um zuzuhören, was sie zu sagen hatte. Alles andere gehörte nicht hierhin. Auch wenn es mir schwer fiel, mich zurückzuhalten. »Gwyneth ist sieben. Ich war mit ihr schwanger, als Jack und ich geheiratet haben«, erzählte sie weiter, ehe sie noch einmal tief durchatmete. »Terence ist fünf. Ich hab ihnen von dir erzählt. Sie wissen, dass sie einen großen Bruder haben. Aber … sie wissen nicht, dass du es bist. Ich meine … sie wissen nicht, wie du aussiehst … bis jetzt … ich—« »Ich verstehe schon«, unterbrach ich sie und sie nickte. Trotzdem war es wie ein Schlag ins Gesicht, als sie sagte, ich wäre ein großer Bruder. Und dass sie von mir wussten, obwohl ich absolut keine Ahnung gehabt hatte bis zu diesem Tag. Ich musste jetzt selber durchatmen, um ruhig zu bleiben. »Der Hund … Rufus … er gehört eigentlich Jack. Jack hatte ihn schon, be—bevor wir uns kennengelernt haben«, fuhr sie fort. Dabei spielte sie mit dem Ehering, den sie trug, drehte ihn, zog ihn ab und setzte ihn wieder auf. Ich versuchte, ihn nicht anzustarren. »Wir sind erst vor einem Monat wieder hierher gezogen. Vorher haben wir in Columbia gewohnt.« Columbia war gar nicht so weit weg von hier, stellte ich fest. »Aber Jack und ich … wir wollten beide wieder hierher. Das ist unsere Heimatstadt und … es hat uns einfach zurückgerufen, weißt du«, meinte sie und lächelte dabei wieder verlegen. Ich schwieg, während sich schleichend in mein Hirn zwängte, dass dieser Jack im Grunde genommen mein Stiefvater war. Was für eine … sonderbare Vorstellung. »Warum bist du gegangen?«, fragte ich sie. Es fiel mir schwer, sie anzusehen. Offenbar ging es meiner Mutter genauso. Ihre Augen flackerten, als sie versuchte, meinem Blick nicht auszuweichen. Ein gequälter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. Sie sah aus, als wollte sie nicht auf die Frage antworten. Sie schluckte schwer. »Ich kannte Jack schon, als ich noch mit deinem Vater zusammen war. Aber irgendwann … habe ich festgestellt, dass … dass … dass ich …« »Dass … Jack … dir besser gefällt«, half ich ihr widerwillig aus. Sie nickte mit einem schwachen Lächeln. »Ja, genau. Es war keine leichte Entscheidung, Ethan, das kannst du mir wirklich glauben. Es war nicht so, dass ich einfach aufgehört habe, etwas für deinen Vater zu empfinden oder für dich. Aber ich hatte irgendwann das Gefühl, dass dein Dad … mich nicht mehr so beachtete, wie ich es mir wünschte. Ich will nicht sagen, dass er mich ignorierte, das hat er nicht getan, aber … dieser gewisse … Zauber … der … war irgendwann einfach nicht mehr spürbar. Aber bei Jack … das war …« »Das will ich nicht wissen«, sagte ich knapp. Was für eine Beziehung sie mit ihrem neuen Mann führte, interessierte mich im Moment nicht. Ich wollte nichts davon hören, wie toll er war oder wie gut er ihr das gab, was sie haben wollte. Das hier sollte kein Vergleich werden. »Warum hast du nichts gesagt? Du bist einfach so gegangen, ohne irgendwelche Erklärungen. Du bist einfach weggelaufen.« Meine Mutter sah mich völlig verständnislos und verwirrt an. »Ich … ich bin nicht ohne Erklärung gegangen«, meinte sie mit irritierten Ton in der Stimme. »Ich … habe deinem Vater erklärt, warum ich ihn verlassen — und dich —, und ich habe ihn gebeten, es dir zu sagen. Ich konnte nicht mit dir darüber reden, weil … weil … du warst ein Kind, Ethan. Wenn du geweint hättest … dann … hätte ich nicht gehen können. Und das hätte mich unglücklich gemacht. Ich wollte nicht, dass du darunter leidest, wenn ich unglücklich wäre.« Was für eine Wohltat. Unter welchen Umständen hätte ich wohl mehr gelitten? Wenn meine Mutter mich verließ oder wenn sie da war? »Was soll das heißen, du hast es Dad erklärt?«, fragte ich nach und zog die Augenbrauen zusammen. Dad hatte immer gesagt, dass meine Mutter ohne ein Wort gegangen wäre. Sie sah mich an, als hielt sie meine Frage für einen Witz, bis etwas wie Erkenntnis ihr Gesicht erhellte. Sie beugte sich zu mir vor und legte eine ihrer Hände auf meine. Ich zog sie unwillkürlich zurück. »Hat er es dir etwa nie erzählt?«, wisperte sie fassungslos. Ich starrte sie verwirrt an. »Was erzählt?« »Ich hab Everett damals gesagt, dass ich wegen Jack gehe«, sagte sie langsam und sah dabei aus, als würde es ihr wahnsinnig wehtun, mit mir darüber zu reden. »Ich habe ihm erklärt, dass Jack mich glücklicher macht als … dein Vater. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht bleiben könnte, weil … weil unsere Familie daran zerbrochen wäre. Dein Vater wusste immerhin dadurch von Jacks Existenz. Es hätte ihn nicht glücklich gemacht, weil er wusste, dass ich Jack nachtrauerte; mich hätte es nicht glücklich gemacht, weil ich im Prinzip nicht das bekam, was ich mir wünschte; und du … du wärst von Eltern erzogen worden, die … die dir nicht das Gleichgewicht beigebracht hätten, das du bräuchtest, um ein guter Mensch zu werden. Ich habe ihn damals gebeten, es dir zu erklären und dir zu sagen, dass ich dich nicht völlig alleine lasse. Ich hatte nicht vor, dich aus meinem Leben zu streichen. Du bist mein Sohn, du bist der größte Schatz, den ich habe. Nur, weil ich zu Jack gegangen bin, hat das nicht bedeutet, dass ich dich nicht bei mir haben wollte. Hat … hat Everett dir das wirklich nie gesagt …?« Ich starrte sie an. Ich versuchte mich an ein solches Gespräch zwischen Dad und mir zu erinnern. Vielleicht hatte ich es einfach verdrängt. Vergessen hätte ich das nicht, immerhin … es war um meine Mutter gegangen, so eine Unterhaltung hätte ich nicht vergessen. Aber … Dad hatte mir nie etwas davon gesagt. Er hatte mir nie erzählt, warum meine Mutter gegangen war. Er hatte immer nur gesagt, sie wäre wortlos verschwunden. Wenn die Welt sich zuvor zu schnell gedreht hatte, dann blieb sie jetzt urplötzlich stehen. Ich hatte fast das Gefühl, dass mein ganzes Leben das reinste Chaos war, obwohl ich bisher immer gedacht hatte, es hätte seine … chaotische Ordnung. Es war so einfach gewesen bis jetzt. Dad und ich waren die Opfer, meine Mutter die Täterin, die sang- und klanglos ihre Sachen packte und in der Welt untertauchte. Aber jetzt … jetzt wurde alles auf den Kopf gestellt. Dad hatte die ganze Zeit gewusst, was losgewesen war, und er hatte es nie auch nur mit einer Silbe erwähnt. »Hast du meine Briefe nicht bekommen?«, unterbrach Mom mich in meinen Gedanken und schaute mich mit besorgt gerunzelter Stirn an. »Briefe?« Mich verwirrte das alles mehr und mehr. »Ich habe dir Briefe geschrieben. Karten zum Geburtstag und zu Weihnachten und … ich habe dich zu uns eingeladen. Du … hast sie nie bekommen …?« Dad hatte alles vor mir versteckt und verheimlicht. Die ganzen acht Jahre lang hatte ich in dem Glauben gelebt, dass meine Mutter mich nicht mehr in ihrem Leben haben wollte, dabei … war das nicht die Wahrheit gewesen. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte und was nicht. »Ethan«, sagte meine Mutter und setzte sich neben mich. Sie hob die Hände und wollte sie auf meine legen, aber ich wich wieder zurück. Egal, was ich gerade erfahren hatte, dafür war ich noch nicht bereit. »Ich war so überrascht, als ich erfuhr, dass du allein lebst und nicht mehr bei deinem Vater. Mom hatte mir deine Adresse gegeben, nachdem ich sie ewig angefleht habe. Dad war dagegen. Sie haben es nie befürwortet, dass ich euch verlassen habe, aber … Everett hat ihnen wohl auch nie die Wahrheit erzählt.« »Warum hast du sie ihnen nicht erzählt?«, fragte ich matt. »Wir haben seitdem nicht mehr geredet. Außer … wegen deiner Adresse. Aber sonst nicht. Wie gesagt, meine Eltern … waren nicht begeistert«, antwortete Mom leise. Zögernd hob sie die Hand und fuhr mit den Fingerspitzen durch meine Haare. Ich legte den Kopf zur Seite, um ihr auszuweichen, auch wenn ich wusste, dass sie es nur gut meinte. Acht Jahre hatte ich ein total falsches Bild der Ereignisse gehabt. Es war, als würde eine Welt über mir zusammenbrechen oder so. Ich wollte wütend sein, auf Mom … auf Dad … auf alle Beteiligten. Aber ich war im Moment einfach nur wahnsinnig verwirrt und geschockt und … ich wusste nicht, was ich denken sollte. »Es tut mir so leid, mein Schatz«, flüsterte sie. Ich warf ihr einen Blick zu. »Bitte«, meinte ich. »Nenn mich nicht so.« Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Ich dachte über Mom und ihre Familie nach, über meine beiden … Halbgeschwister, über Dad und die Lüge, in der er mich gelassen hatte, darüber, wie die letzten acht Jahre verlaufen waren und wie anders der Blickwinkel nach dem Gespräch mit meiner Mutter auf einmal war. Das war zu viel auf einmal. Ein Teil von mir wollte sofort zu Dad rennen und ihn zur Rede stellen, aber der größere Teil wollte einfach nur Ruhe von dem Drama, ein normales Leben und … zurück zu Bambi. Bambi war der einzige, der mich jetzt ein bisschen beruhigen konnte. Er war der einzige, von dem ich jetzt wollte, dass er mir durch die Haare strich, oder seine Hand auf meine legte oder … eben alles. Aber es wäre egoistisch, das an seinem Geburtstag von ihm zu verlangen. Langsam erhob ich mich. »Ich muss gehen.« Mom stand ebenfalls auf. Sie sah mich besorgt an, raufte mit den Händen den Rock, den sie trug, und ließ ihn wieder los. »Willst du nicht … bleiben?«, fragte sie zögerlich, aber hoffnungsvoll. Doch ich schüttelte den Kopf. Ich musste hier erst mal weg, sonst wäre ich durchgedreht. Ich musste etwas tun, was nicht mit meiner Familie zu tun hatte. »Ich kann nicht«, erwiderte ich nur. »Ich … muss weg. Ich brauche Ruhe, Zeit, Ablenkung …« Sie schwieg, als ich mich umdrehte und die Veranda und dann das Grundstück verließ. Ich eilte nach Hause. Mein Kopf war voll von konfusen Gedanken, die ich nicht ordnen konnte. Ich wollte wieder etwas kaputt machen, wollte um mich werfen mit irgendwelchen Dingen und schreien. Als ich mich entschieden hatte, mit meiner Mutter zu sprechen, war ich nie davon ausgegangen, dass es so enden würde. Ich dachte, dass es vielleicht helfen würde, aber jetzt war ich noch viel aufgewühlter und irritierter. Eigentlich hatte ich schon immer auf einem Seil zwischen Chaos und eigenwilliger Ordnung balanciert, aber gerade hatte ich einen Tritt Richtung Chaos bekommen. Ich hatte zwei Anrufe in Abwesenheit von Dion und sieben von Tess. Es war später Nachmittag, als ich mich auf den Weg zu Bambi machte, mit einem riesigen Bund bunter Luftballons. Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern, wo ich die herhatte, aber ich meinte, dass da ein Erinnerungsfetzen in meinem Hirn zeigte, wie ich den einem Clown in irgendeiner Shoppingpassage abkaufte, an der ich vorbeigelaufen war. Dion mochte Luftballons. Es begann zu dunkeln, als ich bei ihm ankam. Dabei hatte ich die ganze Zeit im Hinterkopf, dass meine Mutter nur eine Straße nebenan wohnte. Ich versuchte, den Gedanken möglichst zu verdrängen und zu lächeln. Es war Bambis Geburtstag und da wollte ich nicht wie ein Trauerkloß aussehen oder so. Abgesehen davon musste ich mich sowieso noch bei Dion entschuldigen. Samantha machte die Tür auf. Sie lächelte mich an. »Da bist du ja«, meinte sie. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht.« Ich brachte ein Lächeln zustande und hoffte, dass es überzeugend aussah. Sie duckte sich unter dem Haufen Luftballons, die durch die Tür rauschten, und betrachtete ihn beeindruckt. »Wo hast du die denn alle her?«, wollte Samantha wissen. »Ich glaube, ich habe sie einem Clown abgekauft … oder so«, antwortete ich, als ich mich am Hinterkopf kratzte. Sie grinste mich kopfschüttelnd an, dann sagte sie mir, dass die Party draußen stattfand. Ich marschierte durch das Wohnzimmer auf die Terrasse, lieferte mir noch einen Kleinkrieg mit den Luftballons, die ich durch die Glastür bugsierte, und schaute mich dann um. Die gesamte Volleyball AG war vertreten, ein paar andere Leute, die ich aus ein paar Kursen kannte, aber mit denen ich sonst nichts zu tun hatte, und ich sah Sally. Ein kleines Grinsen schlich sich auf meine Lippen. Sie hatte ja gesagt, wie würden uns wiedersehen. Abgesehen von ihr waren noch ein paar andere Leute da, die ich nicht persönlich kannte, die ich aber auf ein paar von Dions Fotos gesehen hatte. Es erstaunte mich, dass seine alten Freunde den weiten Weg für einen Tag auf sich genommen hatten. Doch dann erkannte ich jemanden, von dem ich nicht erwartet hätte, ihn je in natura zu sehen. Ich erkannte ihn sofort. Ich wusste nicht, was er hier zu suchen hatte, warum er überhaupt hier. Es besserte meine Laune nicht unbedingt, ihn zu sehen, aber — und das musste ich ihm irgendwie als Pluspunkt anrechnen — er lenkte mich von dem Chaos meines Familienlebens ab. Da stand Will neben Sally. Dions Exfreund Will. Und als er meinen Blick auffing, konnte ich sehen, dass er mich auch erkannte. ___ tbc. Kapitel 11: Rebirth — II ------------------------ Für & , einfach weil ♥ ________________________________________ REBIRTH — II WORDS ARE VERY UNNECESSARY THEY CAN ONLY DO HARM Ich bekam fast die Krise, als ich Will sah. Was zum Teufel machte er denn hier? Für einen Moment hatte ich vergessen, weswegen ich eigentlich hier war, denn in diesem blinden Moment hatte ich das dringende Bedürfnis ihn aus dem Garten zu schleifen und ihn zum Mond zu schießen. Aber das hier war Dions Geburtstag, Will war sein Gast — dafür würde ich Bambi aber noch zur Rechenschaft ziehen — und ich war in erster Linie hier, um mich bei Dion zu entschuldigen. Es war nicht ganz einfach, sich auf diesen Fakt zu konzentrieren, wenn Will hier war, ein weiterer Störfaktor meines Lebens. Ich hatte nie erwartet, wie sehr es mich doch stören würde, dass Dion schon mal einen Freund gehabt hatte. Ich wollte mich gerade auf die Suche nach Bambi begeben, als mir Wills Shirt auffiel. Es war schlicht schwarz und er trug eine offene Jacke drüber, aber der Schriftzug blieb unverborgen: Blink, if you want me. Ich zwang mich, einmal durchzuatmen, rief mir wieder den eigentlichen Grund meines Erscheinens in Erinnerung und wandte mich dann zähneknirschend von Will ab, ehe mein Verstand sich verabschieden konnte und ich mich noch tiefer in die Scheiße ritt. Trotzdem grollte ich lautlos vor mich hin. Was dachte dieser Penner sich eigentlich, hier einfach so aufzutauchen und dann auch noch so ein Shirt zu tragen? Der war doch nicht ganz dicht. Er konnte froh sein, dass es hier so viele Zeugen gab, dass er Dions Gast war und mir nicht allein begegnete, denn sonst … Ich schnaubte. Ausschau haltend schlängelte ich mich zwischen den Leuten durch und kam mir langsam aber sicher ziemlich bescheuert vor mit dem Bund Luftballons in der Hand. Ich konnte Bambi in der Menschenmenge nicht finden, also bahnte ich mir den Weg wieder zur Terrasse — und erspähte Dion neben Will. Bambi schien bestens gelaunt zu sein, er lächelte und strahlte und sah so verboten gut aus, dass ich ihn am liebsten von seinem Ex weggeholt hätte. Vermutlich malte Will sich auch schon aus, wie es wäre, Dion zu verführen. Es wäre mir sogar lieber gewesen, wenn Dion und Will sich gehasst hätten, dann würde ich mich jetzt nicht mit Bambis Exfreund konfrontiert sehen. Aber nein, sie verstanden sich, kamen gut miteinander aus — gut genug, dass Dion Will zu seinem Geburtstag einlud. Seufzend drehte ich mich um und band die Fäden der Luftballons an der Brüstung, die um die Terrasse lief, fest. Dann ging ich zurück ins Haus, streifte im Flur die Schuhe ab und ging nach oben. Das Haus war mir mittlerweile so vertraut, dass ich vermutlich auch im Dunkeln ohne zu stolpern überall hingefunden hätte. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich gleich zurück in meine Wohnung gegangen wäre, aber ich wollte irgendwo sein, wo so viel von Dions Präsenz lungerte, dass ich ihn nicht vermissen musste. Meine Laune war im Moment sowieso nicht gerade auf der Spitze des Empire State Buildings, als war es sicherlich besser, wenn ich die Stimmung seiner Feier mit meiner vergiftete — oder ihn damit konfrontierte. Es war sein Geburtstag und mir ging es Scheiße. Das passte nicht zusammen. Ich wäre egoistisch gewesen, wenn ich ihm von den aktuellsten Ereignissen und meinem Innenleben berichtet hätte. Auch wenn ich Bambi in diesem Augenblick lieber bei mir gehabt hätte, nur für mich und am besten so weit weg von Will wie nur möglich. Ich betrat Dions Zimmer und ließ die Tür hinter mir zufallen, ehe ich mich aufs Bett legte. Alles hier roch nach ihm. Sein Duft klärte meinen Kopf ein bisschen, als ich meine Nase in seinem Kissen vergrub. Dion war vielleicht im Moment der einzige Angelpunkt, der mich davon abhielt, irgendetwas Dummes zu tun. Nichts Selbstmord-Dummes, sondern eben … etwas Dummes. Ich umarmte das Kissen, drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Von draußen drang das durch das Fenster abgeschwächte und dumpfe Stimmgewirr in den Raum. Zu gern hätte ich Dions Geburtstag mit angemessener Laune mit ihm gefeiert. Jetzt traute ich mich nicht mal, auf Bambi zuzugehen, während er mit seinem Ex sprach. Im Normalfall hätte mich das nur angespornt, dazwischen zu gehen. Ein leises Klicken der Klinke verriet mir, dass die Zimmertür geöffnet wurde. »Hier bist du«, sagte Dion, ehe ich den Kopf wenden konnte, um nachzusehen, wer es war. Leise schloss er die Tür hinter sich und kam zu mir herüber. Ich drehte mich auf die Seite, um ihn anschauen zu können, als er sich auf den Bettrand setzte. Er wirkte besorgt. Und er wusste, dass ich da war. »Hier bin ich«, echote ich leise. »Alles Gute zum Geburtstag.« Ich klang, als hätte man mich gerade verprügelt, aber Bambi schaffte ein kleines Lächeln. Es war wohl viel zu offensichtlich, dass ich nicht in Feierlaune war, und es tat mir sehr leid, dass er das zu spüren bekam. »Danke«, erwiderte er, während er mich forschend musterte. Eine Weile lang sagte niemand von uns etwas. »Das mit neulich«, begann Dion schließlich langsam und kratzte sich hinter dem Ohr. »Tut mir leid. Dass ich dich so provoziert habe … und alles. Ich war ziemlich kindisch und … taktlos. Tut mir leid, wirklich. Ich hätte wissen sollen, dass ich zu weit gegangen bin. Bitte entschuldige.« »Schon okay«, sagte ich und betrachtete seine verlegene Miene. »Eigentlich hattest du Recht. Ich muss mich bei dir entschuldigen. Weil ich dich blöd angemacht und rausgeschmissen habe, obwohl du dir Sorgen um mich gemacht hast und mir nur helfen wolltest.« »Wollen wir den Teil auslassen, in dem wir uns gegenseitig beteuern, wie leid es uns tut?«, fragte Dion mit einem schwachen Grinsen. Ich kam nicht umhin, ebenfalls leicht zu grinsen. Klang nach einer guten Idee, also nickte ich nur. Langsam legte er sich neben mich, sodass wir einander anschauten. Eigentlich sollte er nicht hier bei mir sein, sondern unten bei seinen Gästen an seinem Geburtstag … aber Bambi war hier oben bei mir. Als würde er spüren, dass etwas nicht stimmte. Als würde er wissen, dass ich nicht grundlos allein hier in seinem Zimmer war. Was würde ich nur tun, wenn Dion sich irgendwann mal keine Sorgen mehr um mich machen würde? »Was ist los mit dir?«, fragte er mich ruhig. Ich sah ihn an. Ich wollte es ihm sagen, ihm alles erzählen und wissen lassen. Ihn festhalten und mich von ihm trösten lassen. Aber das konnte ich nicht tun — nicht heute, nicht jetzt. Das war sein Tag. Er hatte Gäste. Also schüttelte ich nur den Kopf. »Es ist nichts. Du solltest lieber wieder raus gehen. Sie warten sicher alle auf dich«, antwortete ich matt und zwang mich zu einem heiteren Lächeln. Doch offenbar kaufte Bambi mir das nicht ab. Weder erwiderte er das Lächeln, noch machte er irgendwelche Anstalten, aufzustehen und zu gehen. Sonst war ich ein so guter Lügner, aber seitdem ich Dion kannte … bröckelte es. »Lüg mich nicht wieder an, bitte«, bat er leise. Ich seufzte. »Es kann warten. Ich sag’s dir morgen«, sagte ich schließlich. Warum war er so verdammt selbstlos und ich so verdorben egoistisch? »Jeder einzelne da unten hat mich schon gesehen und mir gratuliert. Sie sind beschäftigt. Vermutlich es wird kaum jemandem auffallen, dass ich kurz nicht da bin. Außerdem bist du auch mein Gast und dazu der wichtigste von allen. Der ganze Tag ist nichts ohne dich. Du kannst nicht warten, Ethan, nichts von dir kann es. Und ich will dich nicht warten lassen.« Er war viel zu gut zu mir. Eindeutig. »Aber du hast Geburtstag«, wandte ich ein. Dion verzog die Lippen zu einem Strich. Ich hatte im Moment wirklich keine Lust auf eine Diskussion mit ihm, aber darauf lief das hier hinaus. Er schaute mich ein paar Augenblicke schweigend an, dann seufzte er tief. »Meinst du, ich kann einfach ignorieren, dass du ganz offensichtlich unglücklich bist? Ich hab nächstes Jahr wieder Geburtstag. Und darauf das Jahr und das danach auch. Ich möchte nicht, dass du hier oben bist, allein und offenbar ziemlich … kaputt wegen irgendwas. An meinem Geburtstag. Also sag mir jetzt, was los ist. Dann kann ich dir vielleicht helfen«, sagte Dion und sah mir in die Augen. Er konnte mindestens so stur wie ich sein, wenn er wollte. Ich war ihm dankbar, dass er sich Zeit für mich nahm und dass er mich nicht allein ließ, obwohl er eigentlich einen guten Grund dafür gehabt hätte. Meine Probleme waren ihm nicht egal. Er wollte nicht, dass ich sie mit mir herumtrug und sie still in mich hineinfraß. Er brachte mich dazu, zu reden und nicht völlig allein damit dazustehen. Wie machte er das nur? »Ich war bei Mom«, murmelte ich, während ich ihn anschaute. »Heute. Sie hat einen neuen Mann und zwei kleine Kinder … meine Halbgeschwister. Gwyneth und Terence. Wir haben geredet, sie und ich. Sie hat mir erklärt, warum sie damals gegangen ist, aber noch viel wichtiger … sie hat gesagt, dass sie nicht wortlos gegangen ist. Sie hat damals mit Dad gesprochen und ihn gebeten, mit mir zu reden.« »Warum hat sie das nicht selbst gemacht?« »Wenn ich geweint hätte, wäre sie geblieben«, erwiderte ich. »Sie hätte nicht gehen können, wenn sie mich so traurig gesehen hätte. Und sie meinte, es hätte uns alle nicht glücklich gemacht. Aber sie hat es Dad alles erklärt, nur hat er mir nie ein Wort gesagt. Mom hat auch Briefe und Karten und Einladungen an mich geschickt. Aber Dad hat sie abgefangen. Ich hab nie auch nur etwas davon zu Gesicht bekommen. Dad hat mich die ganze Zeit angelogen … und Mom wusste auch nichts davon.« Still lagen wir nebeneinander und sahen uns an. Irgendwie war ich froh, dass Dion nicht sagte, es täte ihm leid oder dass alles gut werden würde oder irgendwas in die Richtung. Das wollte ich nicht hören. Vielleicht würde es gut werden … irgendwann, wenn ich wusste, was ich denken, fühlen oder glauben sollte. »Wie geht es dir?«, wollte Bambi leise wissen. Ich konnte sehen, dass er mich anschaute, obwohl es mittlerweile dunkel im Zimmer war und nur das Licht der Lichterketten von draußen hereinfiel. »Ich weiß nicht«, erwiderte ich langsam und versuchte, selbst festzustellen, wie es mir ging. »Ich will wütend sein. Auf Mom. Auf Dad. Auf Moms neuen Kerl. Aber … irgendwie bin ich nicht sauer. Ich will das alles nicht mehr wissen. Ich will es irgendwie abhaken und hinter mir lassen. Es soll vorbei sein, einfach … vorbei sein.« Dion griff nach meiner Hand und ich schlang meine Finger um seine. Er rutschte dichter zu mir heran, sodass ich meine Stirn gegen sein Schlüsselbein lehnen konnte. Bambi legte seinen freien Arm behutsam um mich, sein Atem strich über meine Haare. Ich schloss die Augen, während ich seinen Duft einatmete. »Kann ich hier bleiben?«, fragte ich ihn. »Selbstverständlich.« »In deinem Bett?« »Nirgends sonst.« »Danke.« Ich musste lächeln, fühlte, wie sich ein warmes Gefühl in mir breit machte, jetzt, wo ich bei Dion war. Es tat gut, ihm alles erzählen zu können und jemanden zu haben, der zuhörte, ohne irgendwelche falschen Beteuerungen oder Vorschläge zu machen. In diesem Augenblick gab es keinen anderen Ort, an dem ich lieber gewesen wäre als hier. Tess würde vermutlich etwas Schnulziges wie »Hier ist dein Herz zu Hause« sagen, so wie ich sie kannte, aber sie hätte vielleicht auch Recht damit. Vorhin hatte ich sie im Garten gesehen, aber mich ungesehen an ihr vorbeigeschlichen, weil ich mich nicht mit ihr konfrontiert sehen wollte. »Was macht eigentlich Will hier?«, fragte ich nach einer kleinen Weile. Dion regte sich nicht. »Ich hab ihn eingeladen«, antwortete er nur. Ich zog die Augenbrauen zusammen. Das war mir als Antwort nicht genug. Abgesehen davon — jetzt, wo Bambi schon mal hier mit mir im Bett lag, würde ich ihn nicht mehr runtergehen lassen und schon gar nicht zurück zu Will. »Hast du sein Shirt gesehen?«, wollte ich wissen. »›Blink, if you want me‹, ich glaub, ich spinne.« »Das ist doch nur ein Shirt mit einem dummen Spruch. Was hat das schon zu sagen? Hast du Sallys Shirt gesehen? Sie hat zwei Handabdrücke auf über ihren Brüsten. Das ist doch auch keine Aufforderung«, meinte Dion. Er schien sich darum absolut keine Gedanken zu machen. Bambi! Sollte es mich wundern? Ich grummelte leise. Vielleicht sollte ich mich nicht so aufspielen, immerhin war Dion beinahe jeden Tag von Tess umgeben, die schließlich meine Exfreundin war. Aber das war einfach nicht dasselbe. Tess und ich hatten uns getrennt, weil es nicht geklappt hat. Weil wir einander nicht auf sexueller Ebene liebten. Dion und Will … hatten sich wegen des Umzugs getrennt und nicht, weil sie sich nicht mehr geliebt hatten. Und jetzt war Will hier. Der Will, den Dion verlassen hatte, weil er umgezogen war. Was sollte ich denn bitte davon halten? »Hier geht es nicht um Aufforderungen«, brummelte ich unwirsch. »Es geht darum, dass dein Ex ganz offensichtlich nach deiner Aufmerksamkeit geiert. Er hat mich auch gesehen und ich schwöre dir, er war bestimmt nicht sehr glücklich darüber, dass ich hier aufgetaucht bin.« »Bist du etwa eifersüchtig?«, fragte Bambi und er klang sehr belustigt. »Nein«, murrte ich kleinlaut. »Bin ich nicht.« Was so viel hieß, dass ich Will vor Eifersucht am liebsten in kleine Fetzen gerissen hätte … Dion schien das auch so aufzunehmen. Er lachte leise. Ich schnaubte. »Sally, Jonah, Will und ich waren nun mal immer zu viert. Außerdem hasse ich ihn doch nicht und inzwischen ist fast ein Jahr um. Will ist nicht der Typ, der jemandem ewig nachweint. So, wie ich ihn kenne, hat er sich schon jemanden angelacht. Und Sally hat auch gesagt, dass er gerade mit irgendjemandem anbandelt. Sie wird es wissen, immerhin sind die beiden verwandt«, meinte Dion amüsiert, während er mit seinen Fingern Muster auf meinen Rücken malte. Ich setzte mich auf und starrte ihn an. »Sally und Will sind Verwandte?«, wiederholte ich ungläubig. »Cousin und Cousine. Ich hab Will durch Sally kennengelernt«, informierte Bambi mich. Er klang nicht so, als würde ihn das groß stören. Warum zum Teufel erfuhr ich erst jetzt, dass die beiden verwandt waren? »Das sagst du mir erst jetzt?«, fragte ich fassungslos und fühlte mich, als hätte mir jemand ein Brett vor den Schädel geschlagen. Dion schaute mich verwundert an, ehe er sich ebenfalls aufsetzte und die Beine kreuzte. Offenbar schien er das nicht wirklich für eine wichtige Info gehalten zu haben. »Tut es denn was zur Sache?«, wollte er irritiert wissen. Ich öffnete den Mund, um ihm zu antworten, aber mir fiel nichts Gescheites ein. Natürlich, wollte ich sagen, spielte es eine Rolle. Sally saß direkt an der Quelle und konnte Fäden spinnen! Aber das blieb auf halber Strecke zwischen Sprachzentrum, Zunge und Stimmbändern stecken, weil ein Teil meines Hirns das wohl für einen ziemlich bescheuerten Einwand hielt. Also klappte ich den Mund wieder zu. »Sally hat sich noch nie in die Sache zwischen Will und mir eingemischt. Als ich Will kennengelernt habe, da wusste sie selbst noch nicht, dass er auch schwul ist. Und als er und ich uns vor dem Umzug getrennt haben, da hat sie auch nichts zu gesagt. Sie hat nicht versucht, mir das ein- oder auszureden. Du brauchst also keine Angst zu haben, dass sie ihre Finger irgendwie im Spiel hat oder so. Sie hält sich da vollkommen raus«, versicherte Bambi mir mit einem milden Lächeln. Dieser Junge kannte mich einfach zu gut. Als könnte er direkt in mein Hirn sehen und wusste, was ich dachte. »Hmpf«, machte ich dann nur stumpfsinnig und beugte mich vor, sodass ich mit der Stirn gegen Dions Schulter stieß. Er strich mir mit den Fingerspitzen durch den Nacken, während wir so dasaßen. »Ich liebe dich. Nur dich. Ganz egal, wie viel mir die Leute da unten alle auch bedeuten, ohne dich … hätte dieser Tag nichts Besonderes. Und jeder andere auch nicht«, flüsterte Bambi mir zu. Ich schloss die Augen, während ein heißer Schauer meinen Rücken hinab lief. Wie fand er nur immer die richtigen Worte, damit ich mich besser fühlte? Ich hob den Kopf und schaute ihn an. Und dann küssten wir uns. So heiß und ungestüm und hemmungslos, dass ich völlig vergaß, dass es um uns herum noch so etwas wie eine Welt existierte. Dions Hände schienen überall zu sein und meine Finger suchten nach jedem Stückchen, jeder Faser von ihm. Ich fiel hinten über, ließ Dion über mich krabbeln und zog ihn dichter zu mir heran, während sich mir wieder einmal völlig neue Dimensionen von Kuss-Talenten offenbarten. Nichts fühlte sich besser an, als Bambi zu küssen. Seine Hände hatten meinen Pullover hochgeschoben und seine Fingerspitzen strichen fahrig über meinen Bauch, zu meinem Hosenbund und darunter. Ich musste mich zusammenreißen, um ihn davon abzuhalten, seine Hand in meiner Boxershorts zu versenken. Mühevoll hielt ich seine Handgelenke fest und löste mich unwillig von seinen Lippen. »Du …«, ich küsste ihn wieder, »… solltest …«, wieder, »wieder«, wieder, »zu deinen«, wieder, »Gä—« Dion wollte mich wohl nicht ausreden lassen, denn er drückte seine Lippen wieder auf meine, ich meinen Satz beenden konnte. Er versuchte, seine Hände zu befreien und es gelang ihm auch fast. Doch ich riss mich zusammen und schob ihn ein kleines Stückchen von mir. »Geh wieder runter«, ordnete ich keuchend und völlig zugedröhnt von so viel … wie auch immer, an. Bambi verzog den Mund widerwillig und hob die Arme in einem Versuch, sich wieder loszumachen. Ich hielt ihn weiterhin fest, aber er lehnte sich gegen mich. Sein Mund traf meinen mit so einer Zielsicherheit, dass ich mich fragte, ob wir Magneten hinter den Lippen hatten. »Das … läuft nicht … weg«, sagte ich gegen seine Lippen, obwohl ich mir da selbst nicht ganz sicher war. Dion seufzte, löste sich von mir und hockte sich auf meine Beine. Er sah reichlich unzufrieden aus. »Du musst mir versprechen, dass wir das beenden«, wies Bambi mich trotzig an und verschränkte die Arme vor der Brust, nachdem ich sie losgelassen hatte. Ich musste grinsen. Dann beugte ich mich vor, gab ihm einen kurzen Kuss auf den Mund und gab ihm das Versprechen. Er lächelte offensichtlich milde gestimmt dadurch, dass ich ihm mein Wort gegeben hatte, und krabbelte vom Bett. »Kann ich hier oben bleiben?«, fragte ich und schaute Bambi an. »Ich bin lieber allein, als eine Spaßbremse bei deinen Gästen.« »Fühl dich wie zu Hause«, meinte Dion lächelnd. Ich lächelte zurück. Das musste er mir nicht erst sagen. So fühlte sich das hier sowieso an. Er wandte sich um und verließ das Zimmer. Ich lauschte seinen Schritten im Flur und dem leisen, dumpfen Geräusch, als er die Treppe runterging. Als es wieder still war, ließ ich mich rücklings aufs Bett zurück fallen. Was spielte es schon für eine Rolle, dass Dad mir nie die Wahrheit gesagt oder dass Mom eine neue Familie hatte? Ich hatte Dion. Und ich wusste, dass ich niemals an einem ultimativen Tiefpunkt sein würde, solange er bei mir war. Solange er meinen Namen sagte oder mich festhielt oder mich küsste … Solange er bei mir war, gab es nichts, was mich wirklich kaputt machen konnte. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es draußen bereits mehr hell als dunkel. Ich blinzelte verschlafen, ehe ich den Kopf automatisch wandte, um nach Dion zu sehen. Er lag neben mir, bereits wach, und hatte den Kopf auf seine Hand gestützt. Lächelnd schaute er mich an. Seine Haare standen wirr in alle Richtungen ab. »Morgen«, murmelte ich mit vom Schlaf belegter Stimme, bevor ich mich ausgiebig streckte und gähnte. »Wie lange bist du schon wach?« »Noch nicht sehr lange«, erwiderte er leise. Es war ziemlich still. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber es musste vergleichsweise noch recht früh sein. Dion beugte sich zu mir und küsste mich flüchtig auf den Mund. »Wo sind die anderen?«, wollte ich wissen. Ich rieb mir die Augen. Sally, Will und Jonah waren sicherlich noch da und nicht wieder nach Peoria zurückgeflogen. »Sie schlafen im Gästezimmer«, antwortete Bambi. Wir schauten uns schweigend an. Dion sah irgendwie amüsiert aus, beinahe so, als würde ihm irgendetwas durch den Kopf gehen, dass er mir sagen wollte oder so. »Was?«, fragte ich, um es aus ihm herauszukitzeln. Er grinste ein bisschen breiter. »Ich denke nur an deinen Eifersuchtsanfall von gestern«, meinte er verschlagen. »Das war ziemlich … süß. Ich hab immer gedacht, es würde dich total kalt lassen und kam mir deswegen immer so schlecht vor, wenn ich daran dachte, dass du mal mit Tess zusammen warst. Aber jetzt, da ich weiß, dass du auch fuchsig wirst, wenn es um Will geht … das beruhigt mich. Weil ich weiß, dass es dir eben doch nicht egal ist. Und dass ich nicht der Einzige von uns beiden bin, der deswegen mal einen Rappel bekommt.« Ich starrte ihn sprachlos an. »Ich bin nicht süß«, war das einzige, das mein Hirn ordnungsgemäß verarbeitete. Zu dem Rest fiel mir absolut nichts ein. Dion grinste. »Ich weiß«, murmelte er und beugte sich wieder vor, um mich zwischen die Augenbrauen zu küssen. »Du bist rattenscharf, männlich und unwiderstehlich.« »Du kannst ruhig weitermachen mit der Aufzählung«, sagte ich verwegen. Dion lachte leise. Ich setzte mich auf und schaute mich im Zimmer nach meinen Klamotten um. Zum Schlafen hatte ich mich bis auf die Unterhose ausgezogen und mein Zeug achtlos neben das Bett geworfen. Offenbar hatte Dion alles fein säuberlich zusammengelegt, denn meine Klamotten lagen auf seinem Schreibtischstuhl. »Hast du die Luftballons noch?«, fragte ich Dion dann vorsichtig. Vermutlich hatte ihm schon jemand gesagt, dass ich diesen Haufen angeschleppt hatte. Er nickte vehement. »An die durfte niemand ran. Sie sind alle noch da«, sagte er nachdrücklich. »Du musst sie steigen lassen«, meinte ich. »Und dir etwas wünschen.« »Nur, wenn du dabei bist«, meinte Dion, während er die Decke zurückschlug. Ich grinste. Wir zogen uns schnell an und putzten uns die Zähne. Dion hatte extra eine Zahnbürste für mich besorgt, damit ich meine nicht immer mitnehmen musste, wenn ich mal bei ihm schlief. Danach schlichen wir uns durch das stille Haus. Bambis Katzen streunten draußen herum, als wir auf die Terrasse traten. Der Bund Luftballons war immer noch festgemacht an der Brüstung. Es war inzwischen hell draußen und warmes Sonnenlicht strahlte. Ein paar einzelne, größere Wolken zogen über den Himmel ohne dabei bedrohlich zu wirken oder die Sonne zu verdrängen. Dion löste vorsichtig die Fäden und hielt die Luftballons fest. »Jeder Ballon ist ein Wunsch«, meinte ich, doch Dion schüttelte nur lächelnd den Kopf. »Nicht nur. Einige sind Wünsche, einige sind Pläne, einige sind Facetten von uns«, widersprach er mir milde, bevor er seine Finger mit meinen verschränkte. »Aber sie alle pflastern den Weg nach vorn, denkst du nicht auch?« Ich schaute von meinem Freund zu den Luftballons, die über unseren Köpfen schwebten. Damit hatte er vermutlich Recht. »Dann auf den Weg nach vorn«, stimmte ich Bambi lächelnd zu. Er schmiegte sich an mich. »Auf uns«, fügte er hinzu, ehe er die Fäden losließ. Die Luftballons stiegen schnell in die milde Aprilluft hinauf zu den Wolken und schlugen unbekannte Pfade ein. Der Wind trug sie höher, weiter. Der Himmel war erfüllt von bunten Tupfern, die sich davon tragen ließen. Die Sonne warf ihr warmes Licht auf die verschiedenfarbigen Ballons. Und jeder von ihnen war ein Wunsch, ein Plan, eine Facette, ein Moment, eine Erinnerung, ein Herzschlag. Von Dion und mir. Von uns. WHEN ALL OF THIS SURROUNDS YOU, YOU’LL STILL BE MINE ___ END Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)