Our Heartbeats von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 10: Rebirth — I ----------------------- REBIRTH — I TO HURT YOU IS TO BE DESPISED, AS I’D LOVE TO Dion und ich schwiegen uns in der Schule beharrlich an, und wenn wir miteinander reden mussten, dann nur das Nötigste. Anders als sonst tat er so, als hätte er nie erfahren, dass meine Mutter bei mir gewesen war. Er mochte es nicht, wenn ich so tat, als wäre nichts passiert, aber ich war froh, dass er das Spiel diesmal mitspielte. Abgesehen davon war ich trotzdem noch sauer auf ihn, weil er meine Mutter versucht hatte, in Schutz zu nehmen. Tess hatte inzwischen auch erfahren, was los war — und sie hatte genauso angesetzt wie Dion, es aber schnell gelassen, als sie gemerkt hatte, dass die Nummer bei mir nicht zog — und beobachtete unsere eiserne Stille mit besorgt gerunzelter Stirn. Aber sie mischte sich nicht ein, auch wenn ich hätte schwören können, dass sie genau das nur zu gern getan hätte. »Willst du dich nicht wieder mit ihm vertragen?«, fragte Tess mich am Donnerstag schließlich in Bio. Seit vier Tagen sprachen Bambi und ich kaum miteinander und das Pikante an unserer kleinen Auseinandersetzung und der Tatsache, dass wir uns nicht versöhnten, war, dass er am Samstag Geburtstag hatte. Ich hatte aber nicht vor, mich bei ihm zu entschuldigen — wofür auch? Er hatte doch angefangen. »Die Option ist nicht ausgeschlossen«, sagte ich trocken und malte irgendwelche Kreise auf meinem Arbeitsblatt aus. »Aber er will sich ja nicht entschuldigen. Ich kann also nichts tun.« »Der Klügere gibt nach, das weißt du schon, oder?«, meinte Tess und ich konnte den leicht genervten Unterton in ihrer Stimme ausmachen. Sie tat mal wieder so, als wäre ich schuld an diesem Schlamassel. Immer stand sie hinter Bambi, immer war er das arme, verwundete Rehkitz, das ich auf Knien rutschend und arschküssend um Entschuldigung bitten sollte. So langsam ging mir das ziemlich auf den Keks. Ich war zur Abwechslung auch mal das Opfer. Tse. »Wenn die Klügeren nachgeben würden, dann wäre die Welt in den Händen der Dummen«, erwiderte ich nur und ergänzte einen Stichpunkt, der gerade an die Tafel geschrieben wurde. Ich konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Tess mich sprachlos anstarrte. Tja, daran hatte sie wohl zu knabbern. »Er hat am Samstag Geburtstag. Willst du den ausfallen lassen, nur weil du deinen Stolz mal wieder verteidigen musst? Dion wollte dir helfen und dir einen Rat geben. Warum begreifst du das nicht?«, erklärte sie mir. Ihre Stirn war tief gefurcht. Sie machte sich wieder viel zu viele Gedanken darum. Hatte sie eigentlich kein eigenes Leben, um das sie sich Sorgen machen konnte? Oder war meins tatsächlich um so vieles mehr fulminant? »Er soll nicht versuchen, mir irgendwelche Ratschläge zu erteilen, wenn er keine Ahnung davon hat, um was es geht!«, zischte ich mit aufkeimendem Ärger. Warum musste ich schon wieder diese Diskussion führen? »Außerdem verteidige ich meinen Stolz überhaupt nicht. Er hat damit angefangen und wollte keine Ruhe geben. Also wofür soll ich mich entschuldigen? Dafür, dass ich allein sein wollte? Dass ich eigentlich nicht mit ihm über private Dinge sprechen wollte? Oder dafür, dass ihn das alles einen Scheißdreck angeht?« Tess sah auf einmal aus, als stände sie kurz davor, ihren Bleistift durch den Raum zu schmeißen und den Tisch umzuwerfen. »Hast du dich schon mal reden hören? Er ist dein Freund und er weiß vermutlich mehr über dich als deine Mom und dein Dad zusammen. Er wollte dir helfen und dir klar machen, dass du nicht sofort dicht machen solltest. Außerdem geht es ihn sehr wohl etwas an! Ihr seid zusammen, da gibt es keine ›privaten Dinge‹. Was ist so falsch daran, dass er dir helfen wollte? Du redest über ihn, als wäre er ein Fremder am Straßenrand. Das ist ganz schön unfair. Schön, vielleicht hätte er diese Zettelsache—«, ich hatte ihr davon erzählt, »—nicht ausreizen sollen, aber du hast eindeutig überreagiert. Ich dachte, du hättest aus deinen Fehlern gelernt. Wenn du ihn immer wieder so behandelst, wie du es getan hast, dann bist du Dion bald wieder los und kriegst ihn nie wieder zurück. Vielleicht solltest du mal darüber nachdenken, bevor du ihn wieder sinnlos anmaulst oder sagst, dass dein Wohlergehen ihn einen Scheißdreck angeht.« »Ich—« »Gespräch beendet«, unterbrach Tess mich eisern. Sie stützte ihr Kinn in ihre offene Handfläche und starrte stur nach vorn. Ich grummelte leise. Warum durfte sie mir eine Predigt halten und ich ihr nicht? Wir sollten wirklich mal die Gleichberechtigungsprioritäten in unserer Beziehung klären, sonst würde das früher oder später ein schlimmes Ende nehmen. Ich musste mir allerdings eingestehen, dass es mich nicht unbedingt sonderlich glücklich machte, nicht mit Dion zu reden. Zumal wir unsere Beziehung eigentlich gerade erst in eine neue Richtung gelenkt hatten. Trotzdem gab ich nicht so einfach nach. Bambi sollte sich entschuldigen. Er hatte das alles angefangen und verbockt. Ich hatte vielleicht ein bisschen überreagiert, okay, aber das war der kleinere Teil der ganzen Auseinandersetzung. Hier ging es nicht um einen geklauten Pudding. Und ich sah nicht ein, weshalb ich ständig als Schuldiger hingestellt wurde, wenn ich es gar nicht war. Tess war auch nicht sonderlich begeistert, als ich mich am Freitag vor Dions Geburtstag immer noch nicht mit ihm versöhnt hatte. Sie war soweit gegangen, dass sie uns beim Mittag in der Cafeteria, als wir zu dritt an einem Tisch saßen — wie immer —, alleine ließ, mit den Worten: »Ihr solltet das langsam mal dringend klären.« Allerdings hatte es nichts gebracht. Ich hatte darauf gewartet, dass Bambi den Mund aufmachte, aber er war mindestens so stur wie ich und aß schweigend seinen Apfel. Ich schwieg ebenfalls eisern und so waren wir unverrichteter Dinge nach der Mittagspause wieder in den Unterricht gegangen. Tess war daraufhin ziemlich stinkig, was sie mal wieder an mir ausließ. »Halt doch endlich mal die Klappe, Tess«, sagte ich irgendwann total genervt. Was musste sie sich denn auch überall einmischen? Ich war alt genug, um meine Probleme selbst zu klären, da musste sie nicht noch ihre glorreichen Ideen spinnen, die mich sowieso nicht weiterbrachten. Langsam hatte ich es wirklich satt, dass ich von allen Seiten her drangsaliert wurde und alle meinten, mir erzählen zu müssen, was ich tun sollte und was nicht. Tess starrte mich mit großen Augen an. Ich hatte sie mitten im Satz unterbrochen, ihr Mund stand noch offen, doch dann wandte sie sich wortlos von mir ab und konzentrierte sich wieder auf den Unterricht, den sie mal wieder gekonnt genutzt hatte, um meinen Moralapostel zu spielen. Jetzt hatte ich wieder meine Ruhe. Dion wartete nach der letzten Stunde wie immer vor dem Schuleingang auf Tess und mich. Tess verabschiedete sich allerdings gleich und verschwand nach Hause, so dass Bambi und ich wieder allein waren. Er spielte mit seinem Schlüsselbund, während wir gingen. Einerseits war es ein ziemlich eigenartiges Gefühl neben ihm herzugehen, ihn nicht anzufassen und nicht mit ihm zu reden, weil wir uns beide durchsetzen wollten; andererseits war es doch auch irgendwie beruhigend, dass wir nicht völlig dicht machten und so taten, als gäbe es den jeweils anderen nicht. »Kommst du morgen?«, fragte Dion irgendwann auf halbem Weg nach Hause. »Zu meinem Geburtstag, meine ich.« Er klang zum Teil widerwillig und zum Teil hoffnungsvoll, was ich damit begründete, dass er wollte, dass ich kam, aber sich ärgerte, dass er mich fragen musste. Wären wir gerade nicht penibel dabei gewesen, jeglicher Konversation möglichst aus dem Weg zu gehen, wäre die Frage wohl kein Problem gewesen. Aber so musste ich ihn zumindest nicht fragen, ob es okay für ihn war, wenn ich kam. »Ja«, murmelte ich und warf Bambi einen flüchtigen Seitenblick zu. »Wenn du willst.« »Ja, ich will«, erwiderte er. Ich verkniff mir ein Grinsen, weil er geklungen hatte, als wollte er mich heiraten. Aber ich behielt es für mich und wir setzten unseren Weg schweigend fort. Ich erinnerte mich daran, dass Dion und ich Pläne geschmiedet hatten, was seinen Geburtstag anging, dass ich über Nacht bei ihm wäre und wir reinfeiern würden. Aber das hatte sich jetzt wohl erledigt. Unweigerlich fragte ich mich, ob ihm wohl das Gleiche durch den Kopf ging wie mir. Einen kurzen Moment lang überlegte ich, ob ich nicht einfach den ersten Schritt zur Versöhnung machen sollte, aber das hätte wiederum bedeutet, dass ich mich für etwas entschuldigen musste, was nicht meine Schuld war. Also verwarf ich den Gedanken wieder. »Dann … bis morgen«, meinte ich, als ich vor meiner Haustür stand. Bambi schaute mich an und sah aus, als wollte er noch etwas sagen. Aber dann nickte er nur. »Bis morgen«, bestätigte er und wandte sich ab, um nach Hause zu gehen. Ich schaute ihm einen Augenblick lang nach, dann öffnete ich die Haustür und ging die Stufen zu meiner Wohnung hinauf. Fahles Sonnenlicht fiel durch das Küchenfenster in den Raum und erhellte auch leicht den Flur, als ich die Wohnungstür aufschloss. Es war still. Diese Ruhe schien plötzlich in meinen Ohren zu dröhnen. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der es mich nicht gestört hatte, dass es still war in der Wohnung, wenn ich nach Hause kam. Da war es mir nicht einmal bewusst aufgefallen, dass es ruhig war und dass es niemanden gab, der mir entgegenkommen würde, um mich zu begrüßen. Es hatte mich ganz einfach nicht gestört. Ich war daran gewöhnt gewesen. Ich hatte mich nie allein gefühlt. Doch jetzt, jetzt kam es mir auf einmal falsch vor. Jetzt hörte ich die Stille und jedes Mal wurde mir bewusst, dass es niemanden gab außer mir. Die Ironie an der ganzen Sache war, dass die Einrichtung der Wohnung nicht für Einen ausgelegt war. Ich hatte ein großes Bett, mein Schrank hatte ein paar leere Fächer, im Bad gab es in dem Schränkchen auch noch nicht verwendeten Platz. Ich hatte mehr Geschirr, als ich verbrauchen konnte; in meiner Küche stand ein Tisch mit drei Stühlen. Sicher, das war vielleicht nichts Ungewöhnliches, wenn man davon ausging, dass ein allein lebender Mensch auch mal Besuch bekam. Aber ich bekam keinen Besuch. Tess und Dion zählte ich nicht als Besuch, weil sie … einfach mehr waren. Seufzend stellte ich meine Tasche im Flur ab, holte mir etwas zu trinken und aß schnell etwas, bevor ich mich auf den Weg machte, um Dad zu besuchen. Er war mittlerweile aus dem Krankenhaus entlassen worden, brauchte aber noch sehr viel Ruhe und musste dementsprechend viel Zeit im Bett verbringen. Dad lebte immer noch in derselben Wohnung, aus der ich damals ausgezogen war, deswegen fiel es mir nicht schwer, dort hin zu finden. Ihm hatte ich bisher nichts von dem Besuch meiner Mutter erzählt und ich überlegte hin und her, ob ich es tun sollte oder nicht. Was würde er dazu sagen? Was würde er mir raten? So, wie ich Dad kannte, würde er wohl auch vorschlagen, ich sollte mit ihr reden. Es war mitten in der Nacht, als ich den Beschluss fasste, meiner Mutter ihre Chance zu geben. Ich schrieb Dion gerade seine Geburtstags-SMS, da ließ ich es endlich zu, darüber nachzudenken, was er und was Tess gesagt hatten. Sie hatten ja Recht. Ich hatte immer schon wissen wollen, warum sie damals einfach so gegangen war. Das war auch meine Chance. Vielleicht würde es für mich ebenfalls einfacher werden, wenn ich wusste, was los gewesen war. Ich war im ersten Moment schlicht viel zu geschockt und überrascht gewesen, um die Option überhaupt in Erwägung zu ziehen. Meine Mutter fiel wie aus den Wolken einfach vor meine Wohnungstür und erwartete von mir, dass ich ihr verzieh. Da war es vermutlich eine Kurzschlussreaktion von mir gewesen. Alles. Dass ich meine Mutter rausgeworfen hatte, dass ich Dion angeschnauzt und auch rausgeschmissen hatte, dass ich Tess gegenüber die Nerven verloren hatte. Dafür würde ich mich dann wohl doch entschuldigen müssen. Am nächsten Morgen kramte ich den Zettel mit der Adresse meiner Mutter hervor und machte mich auf den Weg dorthin. Ich wusste nicht, wie ich mich genau fühlte. Es war wohl eine Mischung aus Unsicherheit, Aufregung und Ärger. Eigentlich hatte ich nicht einmal eine Ahnung, was ich sagen sollte. Während ich auf den Weg zu meiner Mutter war, versuchte ich, mir zusammen zu legen, was ich ihr sagen könnte, wenn ich ihr erst gegenüber stand. Doch mir fiel nichts ein, was ich als passend empfand. Was sagte man seiner Mutter, die man acht Jahre lang nicht gesehen hatte und bei dem ersten Aufeinandertreffen nach dieser Zeit einfach rauswarf? »Hey, Mom, ich hab’s mir überlegt. Ich geb’ dir doch ’ne Chance!«? Das war doch alles eine verdreckte Scheiße. Die Adresse führte mich zu einem ansehnlichen weißen Haus mit hohen Fenstern und einem dunkelblauen Dach. Eine kleine Hecke trennte das Grundstück von den anderen, die direkt daneben lagen, und eine Pforte spannte sich vor einem Weg zu der Veranda. Ich brauchte einen Moment, bis ich den Mund vor Erstaunen schließen konnte. Dann vergewisserte ich mich, dass ich hier auch wirklich richtig war. Hier wohnte meine Mutter jetzt also. In einem weißen, großen Haus in einer schicken Wohngegend. Und erst, als ich dort so stand und mich in der Straße umsah, sickerte langsam in mein Gedächtnis, dass Dion in einer der Nebenstraßen wohnte. Meine Mutter war quasi mit meinem Freund benachbart. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Aber das wussten aller Wahrscheinlichkeit weder meine Mutter noch Bambi, da sie sich beide nicht kannten und nicht gesehen hatten. Meine Mutter wusste nicht mal um seine Existenz, also … Ich starrte wieder das Haus an. Es war zu groß für eine einzelne Person. Mein Mund fühlte sich auf einmal trocken an, als mir in den Sinn kam, dass sie vermutlich … nicht allein in diesem Haus lebte. Zum ersten Mal in acht Jahren kam mir der Gedanke, dass sie jetzt vielleicht eine … andere Familie hatte. Und das war kein sonderlich angenehmes Gefühl. Langsam öffnete ich die Pforte und ging auf die Veranda zu. Ich warf einen Blick auf die Klingel und das kleine Schild darunter. Carwright. Zuerst wurde mir heiß und dann kalt. Ich kämpfte den Impuls zurück, wieder umzudrehen und nach Hause zu gehen. Stattdessen drückte ich einfach auf die Klingel. Ich konnte den Laut im Haus hören, den ich ausgelöst hatte, und kurz darauf hörte ich tobende Schritte, Gelächter und ein helles »Ich mach’ auf!«, bevor die Tür schwungvoll aufgerissen wurde. Für einen kurzen Moment vergaß ich völlig, weswegen ich hierher gekommen war. Ich war so erschüttert, dass ich kein Wort rausbekam. Vor mir stand ein kleines Mädchen, sieben Jahre alt vielleicht, mit roten Locken und hellblauen Augen. Dicht hinter ihr stand ein Junge, definitiv jünger, mit rotblonden Haaren und dunklen Augen. Sie sahen sich sehr ähnlich. Sie sahen meiner Mutter ähnlich. In gewisser Weise sahen sie mir ähnlich. Es fühlte sich an, als würde die Welt sich plötzlich sehr viel schneller drehen als üblich. Und ich hatte das Gefühl, dass ich nicht mit dem neuen Tempo mithalten konnte. »Gwyneth?«, hörte ich eine männliche Stimme rufen. »Terence?« Ich zuckte fast zusammen. Als der Mann, zu dem die Stimme gehörte, in den Flur kam, hob ich den Blick von den Kindern, um ihn anzusehen. Er sah ziemlich erstaunt aus, als er mich sah, was mich zu dem Schluss führte, dass er offenbar sehr genau wusste, wer ich war. Dann warf er kurz einen Blick über die Schulter. »Cecilia, für dich!«, rief er kurz. Ein Hund rauschte an dem Mann vorbei und kam auf mich zugelaufen. Ein Golden Retriever. Zwei Kinder, ein Hund, ein großes Haus. Eine Bilderbuchfamilie. Ich warf vermutlich einen tiefen Schatten über dieses Glück. Das Mädchen griff nach dem Halsband des Hundes und sagte einmal bestimmt »Rufus, sitz!«, und der Köter ließ sich augenblicklich auf den Hintern fallen. Dann tauchte meine Mutter im Flur auf. Sie trocknete die Hände gerade mit einem Küchentuch ab, als sie mich sah. Ihre Augen wurden groß. Ohne hinzusehen, drückte sie dem Kerl das Tuch in die Hand und kam zur Tür. Sie legte je eine Hand auf die Schultern der Kinder. »Geht wieder spielen, Kinder«, sagte sie zu ihnen, doch sie sah mich dabei unentwegt an. Die Kinder schauten mich noch einmal neugierig an, sahen aber ein bisschen widerwillig aus, als sie sich umdrehten und zusammen mit dem Hund zurück ins Haus gingen. Meine Mutter trat auf die Veranda und schloss die Haustür hinter sich. Es verging einen Moment, in dem wir beide uns anschwiegen. »Ethan, du … ich hab nicht damit gerechnet, dass du kommst. I … ich … wenn ich das gewusst hätte, dann …«, sagte sie und gestikulierte mit den Händen, als gäbe es etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte. »Ich hab auch nicht gedacht, dass ich kommen würde«, sagte ich wahrheitsgemäß. Meine Mutter sah aus, als wüsste sie nicht, ob sie sich freuen oder ob sie gekränkt sein sollte. Aber sie lächelte erleichtert, was wohl hieß, dass ihre … Freude über meinen Besuch größer war als das, was ich gesagt hatte. »Eigentlich wollte ich nicht kommen, sondern einfach vergessen, dass du da warst. Aber es gibt ein paar Leute, die machen sich mehr Sorgen um mich, als ich selbst es tue, und … ich dachte, es wäre wohl doch besser, wenn …« … wenn wir das alles versuchen zu klären. Aber das konnte ich nicht sagen. Nicht, weil ich Hemmungen hatte, sondern weil es zu merkwürdig klang. Meine Mutter deutete auf ein paar Korbsessel auf der Veranda. Ich zögerte zuerst, doch dann folgte ich dem Wink, ging hinüber und setzte mich in einen davon. Sie setzte sich mir gegenüber. Ihre roten Haare hatte sie zu einem Knoten nach hinten gebunden, aber ein paar Strähnen hatten sich gelöst und hingen in ihrem Gesicht. Mit den Fingerspitzen strich sie sich die Haare hinters Ohr, dann verschränkte sie ihre Hände miteinander. Ein scheues Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Ich hatte schon viele peinliche und unangenehme Situationen erlebt, aber das hier war wirklich die Krönung. »Schönes Haus …«, sagte ich schließlich und fühlte mich ziemlich dumm dabei. Meine Mutter nickte. »Danke«, erwiderte sie leise und starrte auf ihre Hände. Wie sollte man so ein Gespräch anfangen? Offenbar wusste sie auch nicht so richtig, was sie sagen sollte. Damit war ich dann schon mal nicht allein. Eigentlich wollte ich nicht auf ihrem Grundstück vor ihrem Haus auf ihrer Terrasse sitzen, aber jetzt war es nun mal so. Trotzdem hatte ich den eindringlichen Wunsch, einfach so schnell wie möglich die Flucht zu ergreifen. »Carwright also«, setzte ich an und fing dabei ihren Blick auf. Sie biss sich auf die Unterlippe, ließ den Blick dabei hastig sinken und sah wieder auf ihre verschränkten Finger. »Ja«, murmelte sie, bevor sie tief Luft holte und sich mit beiden Händen über das Gesicht fuhr. Dann schaute sie mich wieder an. »Ich habe vor sieben Jahren wieder geheiratet. Er heißt Jack … Jack Carwright.« Ich verkniff mir mit Mühe einen bissigen Kommentar. Ein Jahr nach der Scheidung, wenn überhaupt, hatte sie wieder geheiratet. Damit schien auf einmal klar zu sein, warum sie Dad und mich verlassen hatte, aber das sagte ich nicht laut. Ich war nicht hierher gekommen, um mich mit ihr zu streiten oder sie anzuklagen, sondern einfach nur, um zuzuhören, was sie zu sagen hatte. Alles andere gehörte nicht hierhin. Auch wenn es mir schwer fiel, mich zurückzuhalten. »Gwyneth ist sieben. Ich war mit ihr schwanger, als Jack und ich geheiratet haben«, erzählte sie weiter, ehe sie noch einmal tief durchatmete. »Terence ist fünf. Ich hab ihnen von dir erzählt. Sie wissen, dass sie einen großen Bruder haben. Aber … sie wissen nicht, dass du es bist. Ich meine … sie wissen nicht, wie du aussiehst … bis jetzt … ich—« »Ich verstehe schon«, unterbrach ich sie und sie nickte. Trotzdem war es wie ein Schlag ins Gesicht, als sie sagte, ich wäre ein großer Bruder. Und dass sie von mir wussten, obwohl ich absolut keine Ahnung gehabt hatte bis zu diesem Tag. Ich musste jetzt selber durchatmen, um ruhig zu bleiben. »Der Hund … Rufus … er gehört eigentlich Jack. Jack hatte ihn schon, be—bevor wir uns kennengelernt haben«, fuhr sie fort. Dabei spielte sie mit dem Ehering, den sie trug, drehte ihn, zog ihn ab und setzte ihn wieder auf. Ich versuchte, ihn nicht anzustarren. »Wir sind erst vor einem Monat wieder hierher gezogen. Vorher haben wir in Columbia gewohnt.« Columbia war gar nicht so weit weg von hier, stellte ich fest. »Aber Jack und ich … wir wollten beide wieder hierher. Das ist unsere Heimatstadt und … es hat uns einfach zurückgerufen, weißt du«, meinte sie und lächelte dabei wieder verlegen. Ich schwieg, während sich schleichend in mein Hirn zwängte, dass dieser Jack im Grunde genommen mein Stiefvater war. Was für eine … sonderbare Vorstellung. »Warum bist du gegangen?«, fragte ich sie. Es fiel mir schwer, sie anzusehen. Offenbar ging es meiner Mutter genauso. Ihre Augen flackerten, als sie versuchte, meinem Blick nicht auszuweichen. Ein gequälter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht. Sie sah aus, als wollte sie nicht auf die Frage antworten. Sie schluckte schwer. »Ich kannte Jack schon, als ich noch mit deinem Vater zusammen war. Aber irgendwann … habe ich festgestellt, dass … dass … dass ich …« »Dass … Jack … dir besser gefällt«, half ich ihr widerwillig aus. Sie nickte mit einem schwachen Lächeln. »Ja, genau. Es war keine leichte Entscheidung, Ethan, das kannst du mir wirklich glauben. Es war nicht so, dass ich einfach aufgehört habe, etwas für deinen Vater zu empfinden oder für dich. Aber ich hatte irgendwann das Gefühl, dass dein Dad … mich nicht mehr so beachtete, wie ich es mir wünschte. Ich will nicht sagen, dass er mich ignorierte, das hat er nicht getan, aber … dieser gewisse … Zauber … der … war irgendwann einfach nicht mehr spürbar. Aber bei Jack … das war …« »Das will ich nicht wissen«, sagte ich knapp. Was für eine Beziehung sie mit ihrem neuen Mann führte, interessierte mich im Moment nicht. Ich wollte nichts davon hören, wie toll er war oder wie gut er ihr das gab, was sie haben wollte. Das hier sollte kein Vergleich werden. »Warum hast du nichts gesagt? Du bist einfach so gegangen, ohne irgendwelche Erklärungen. Du bist einfach weggelaufen.« Meine Mutter sah mich völlig verständnislos und verwirrt an. »Ich … ich bin nicht ohne Erklärung gegangen«, meinte sie mit irritierten Ton in der Stimme. »Ich … habe deinem Vater erklärt, warum ich ihn verlassen — und dich —, und ich habe ihn gebeten, es dir zu sagen. Ich konnte nicht mit dir darüber reden, weil … weil … du warst ein Kind, Ethan. Wenn du geweint hättest … dann … hätte ich nicht gehen können. Und das hätte mich unglücklich gemacht. Ich wollte nicht, dass du darunter leidest, wenn ich unglücklich wäre.« Was für eine Wohltat. Unter welchen Umständen hätte ich wohl mehr gelitten? Wenn meine Mutter mich verließ oder wenn sie da war? »Was soll das heißen, du hast es Dad erklärt?«, fragte ich nach und zog die Augenbrauen zusammen. Dad hatte immer gesagt, dass meine Mutter ohne ein Wort gegangen wäre. Sie sah mich an, als hielt sie meine Frage für einen Witz, bis etwas wie Erkenntnis ihr Gesicht erhellte. Sie beugte sich zu mir vor und legte eine ihrer Hände auf meine. Ich zog sie unwillkürlich zurück. »Hat er es dir etwa nie erzählt?«, wisperte sie fassungslos. Ich starrte sie verwirrt an. »Was erzählt?« »Ich hab Everett damals gesagt, dass ich wegen Jack gehe«, sagte sie langsam und sah dabei aus, als würde es ihr wahnsinnig wehtun, mit mir darüber zu reden. »Ich habe ihm erklärt, dass Jack mich glücklicher macht als … dein Vater. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht bleiben könnte, weil … weil unsere Familie daran zerbrochen wäre. Dein Vater wusste immerhin dadurch von Jacks Existenz. Es hätte ihn nicht glücklich gemacht, weil er wusste, dass ich Jack nachtrauerte; mich hätte es nicht glücklich gemacht, weil ich im Prinzip nicht das bekam, was ich mir wünschte; und du … du wärst von Eltern erzogen worden, die … die dir nicht das Gleichgewicht beigebracht hätten, das du bräuchtest, um ein guter Mensch zu werden. Ich habe ihn damals gebeten, es dir zu erklären und dir zu sagen, dass ich dich nicht völlig alleine lasse. Ich hatte nicht vor, dich aus meinem Leben zu streichen. Du bist mein Sohn, du bist der größte Schatz, den ich habe. Nur, weil ich zu Jack gegangen bin, hat das nicht bedeutet, dass ich dich nicht bei mir haben wollte. Hat … hat Everett dir das wirklich nie gesagt …?« Ich starrte sie an. Ich versuchte mich an ein solches Gespräch zwischen Dad und mir zu erinnern. Vielleicht hatte ich es einfach verdrängt. Vergessen hätte ich das nicht, immerhin … es war um meine Mutter gegangen, so eine Unterhaltung hätte ich nicht vergessen. Aber … Dad hatte mir nie etwas davon gesagt. Er hatte mir nie erzählt, warum meine Mutter gegangen war. Er hatte immer nur gesagt, sie wäre wortlos verschwunden. Wenn die Welt sich zuvor zu schnell gedreht hatte, dann blieb sie jetzt urplötzlich stehen. Ich hatte fast das Gefühl, dass mein ganzes Leben das reinste Chaos war, obwohl ich bisher immer gedacht hatte, es hätte seine … chaotische Ordnung. Es war so einfach gewesen bis jetzt. Dad und ich waren die Opfer, meine Mutter die Täterin, die sang- und klanglos ihre Sachen packte und in der Welt untertauchte. Aber jetzt … jetzt wurde alles auf den Kopf gestellt. Dad hatte die ganze Zeit gewusst, was losgewesen war, und er hatte es nie auch nur mit einer Silbe erwähnt. »Hast du meine Briefe nicht bekommen?«, unterbrach Mom mich in meinen Gedanken und schaute mich mit besorgt gerunzelter Stirn an. »Briefe?« Mich verwirrte das alles mehr und mehr. »Ich habe dir Briefe geschrieben. Karten zum Geburtstag und zu Weihnachten und … ich habe dich zu uns eingeladen. Du … hast sie nie bekommen …?« Dad hatte alles vor mir versteckt und verheimlicht. Die ganzen acht Jahre lang hatte ich in dem Glauben gelebt, dass meine Mutter mich nicht mehr in ihrem Leben haben wollte, dabei … war das nicht die Wahrheit gewesen. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte und was nicht. »Ethan«, sagte meine Mutter und setzte sich neben mich. Sie hob die Hände und wollte sie auf meine legen, aber ich wich wieder zurück. Egal, was ich gerade erfahren hatte, dafür war ich noch nicht bereit. »Ich war so überrascht, als ich erfuhr, dass du allein lebst und nicht mehr bei deinem Vater. Mom hatte mir deine Adresse gegeben, nachdem ich sie ewig angefleht habe. Dad war dagegen. Sie haben es nie befürwortet, dass ich euch verlassen habe, aber … Everett hat ihnen wohl auch nie die Wahrheit erzählt.« »Warum hast du sie ihnen nicht erzählt?«, fragte ich matt. »Wir haben seitdem nicht mehr geredet. Außer … wegen deiner Adresse. Aber sonst nicht. Wie gesagt, meine Eltern … waren nicht begeistert«, antwortete Mom leise. Zögernd hob sie die Hand und fuhr mit den Fingerspitzen durch meine Haare. Ich legte den Kopf zur Seite, um ihr auszuweichen, auch wenn ich wusste, dass sie es nur gut meinte. Acht Jahre hatte ich ein total falsches Bild der Ereignisse gehabt. Es war, als würde eine Welt über mir zusammenbrechen oder so. Ich wollte wütend sein, auf Mom … auf Dad … auf alle Beteiligten. Aber ich war im Moment einfach nur wahnsinnig verwirrt und geschockt und … ich wusste nicht, was ich denken sollte. »Es tut mir so leid, mein Schatz«, flüsterte sie. Ich warf ihr einen Blick zu. »Bitte«, meinte ich. »Nenn mich nicht so.« Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Ich dachte über Mom und ihre Familie nach, über meine beiden … Halbgeschwister, über Dad und die Lüge, in der er mich gelassen hatte, darüber, wie die letzten acht Jahre verlaufen waren und wie anders der Blickwinkel nach dem Gespräch mit meiner Mutter auf einmal war. Das war zu viel auf einmal. Ein Teil von mir wollte sofort zu Dad rennen und ihn zur Rede stellen, aber der größere Teil wollte einfach nur Ruhe von dem Drama, ein normales Leben und … zurück zu Bambi. Bambi war der einzige, der mich jetzt ein bisschen beruhigen konnte. Er war der einzige, von dem ich jetzt wollte, dass er mir durch die Haare strich, oder seine Hand auf meine legte oder … eben alles. Aber es wäre egoistisch, das an seinem Geburtstag von ihm zu verlangen. Langsam erhob ich mich. »Ich muss gehen.« Mom stand ebenfalls auf. Sie sah mich besorgt an, raufte mit den Händen den Rock, den sie trug, und ließ ihn wieder los. »Willst du nicht … bleiben?«, fragte sie zögerlich, aber hoffnungsvoll. Doch ich schüttelte den Kopf. Ich musste hier erst mal weg, sonst wäre ich durchgedreht. Ich musste etwas tun, was nicht mit meiner Familie zu tun hatte. »Ich kann nicht«, erwiderte ich nur. »Ich … muss weg. Ich brauche Ruhe, Zeit, Ablenkung …« Sie schwieg, als ich mich umdrehte und die Veranda und dann das Grundstück verließ. Ich eilte nach Hause. Mein Kopf war voll von konfusen Gedanken, die ich nicht ordnen konnte. Ich wollte wieder etwas kaputt machen, wollte um mich werfen mit irgendwelchen Dingen und schreien. Als ich mich entschieden hatte, mit meiner Mutter zu sprechen, war ich nie davon ausgegangen, dass es so enden würde. Ich dachte, dass es vielleicht helfen würde, aber jetzt war ich noch viel aufgewühlter und irritierter. Eigentlich hatte ich schon immer auf einem Seil zwischen Chaos und eigenwilliger Ordnung balanciert, aber gerade hatte ich einen Tritt Richtung Chaos bekommen. Ich hatte zwei Anrufe in Abwesenheit von Dion und sieben von Tess. Es war später Nachmittag, als ich mich auf den Weg zu Bambi machte, mit einem riesigen Bund bunter Luftballons. Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern, wo ich die herhatte, aber ich meinte, dass da ein Erinnerungsfetzen in meinem Hirn zeigte, wie ich den einem Clown in irgendeiner Shoppingpassage abkaufte, an der ich vorbeigelaufen war. Dion mochte Luftballons. Es begann zu dunkeln, als ich bei ihm ankam. Dabei hatte ich die ganze Zeit im Hinterkopf, dass meine Mutter nur eine Straße nebenan wohnte. Ich versuchte, den Gedanken möglichst zu verdrängen und zu lächeln. Es war Bambis Geburtstag und da wollte ich nicht wie ein Trauerkloß aussehen oder so. Abgesehen davon musste ich mich sowieso noch bei Dion entschuldigen. Samantha machte die Tür auf. Sie lächelte mich an. »Da bist du ja«, meinte sie. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht.« Ich brachte ein Lächeln zustande und hoffte, dass es überzeugend aussah. Sie duckte sich unter dem Haufen Luftballons, die durch die Tür rauschten, und betrachtete ihn beeindruckt. »Wo hast du die denn alle her?«, wollte Samantha wissen. »Ich glaube, ich habe sie einem Clown abgekauft … oder so«, antwortete ich, als ich mich am Hinterkopf kratzte. Sie grinste mich kopfschüttelnd an, dann sagte sie mir, dass die Party draußen stattfand. Ich marschierte durch das Wohnzimmer auf die Terrasse, lieferte mir noch einen Kleinkrieg mit den Luftballons, die ich durch die Glastür bugsierte, und schaute mich dann um. Die gesamte Volleyball AG war vertreten, ein paar andere Leute, die ich aus ein paar Kursen kannte, aber mit denen ich sonst nichts zu tun hatte, und ich sah Sally. Ein kleines Grinsen schlich sich auf meine Lippen. Sie hatte ja gesagt, wie würden uns wiedersehen. Abgesehen von ihr waren noch ein paar andere Leute da, die ich nicht persönlich kannte, die ich aber auf ein paar von Dions Fotos gesehen hatte. Es erstaunte mich, dass seine alten Freunde den weiten Weg für einen Tag auf sich genommen hatten. Doch dann erkannte ich jemanden, von dem ich nicht erwartet hätte, ihn je in natura zu sehen. Ich erkannte ihn sofort. Ich wusste nicht, was er hier zu suchen hatte, warum er überhaupt hier. Es besserte meine Laune nicht unbedingt, ihn zu sehen, aber — und das musste ich ihm irgendwie als Pluspunkt anrechnen — er lenkte mich von dem Chaos meines Familienlebens ab. Da stand Will neben Sally. Dions Exfreund Will. Und als er meinen Blick auffing, konnte ich sehen, dass er mich auch erkannte. ___ tbc. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)