Our Heartbeats von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 8: Derailment --------------------- DERAILMENT YOU'VE BEEN THE ONLY THING THAT'S RIGHT IN ALL I'VE DONE Ich blieb bis in die späten Abendstunden im Krankenhaus und wartete darauf, dass Dad aufwachte — doch das geschah nicht. Je länger er schlief, desto mehr Sorgen machte ich mir. Unruhig tigerte ich durch Dads Zimmer, fuhr mir durch die Haare, sah ihn an und versuchte, den Monitoren, an die er angeschlossen war, irgendeine Anomalie zu entnehmen. Doch sein Herzschlag war in Ordnung, soweit ich das beurteilen konnte, und von allen anderen Werten hatte ich keine Ahnung. Ich war drauf und dran gewesen, nach Dr. Baldwin rufen zu lassen, doch in dem Moment griff Dion nach meiner Hand und hielt mich fest. »Es ist nichts Ungewöhnliches, dass er so lange schläft«, beruhigte er mich. »Der Körper deines Dads muss sich nach all den Strapazen, die er vorher und während der OP durchlaufen hat, erholen. Das dauert ein bisschen. Mach dir keine Sorgen, er wird bald aufwachen.« Wahrscheinlich beruhigte mich seine alleinige Anwesenheit mehr als das, was er sagte. Obwohl Bambi kein Arzt war, glaubte ich ihm. Es klang immerhin nicht unlogisch. Er schaute mich an, dann strich er mir mit einer Hand durch die Haare. Die ganze Zeit war er hier geblieben, stundenlang, obwohl sich nichts getan hatte. Ich lehnte mich vor und gab ihm einen Kuss auf die Lippen, da mir kein besseres Dankeschön für seine Unterstützung einfiel. Er lächelte aufmunternd. »Lass uns nach Hause gehen«, schlug Dion vor und ich verzog das Gesicht, weil ich nicht gehen wollte. »Es ist schon spät. Wenn du morgen früh wieder herkommst, dann ist das okay. Du solltest dich selbst über all das nicht vergessen. Dein Dad ist hier gut aufgehoben und ihm wird nichts passieren, wenn du nach Hause fährst und schläfst. Du willst doch nicht, dass er sich nach dem Aufwachen direkt Sorgen um dich machen musst, weil du übermüdet aussiehst, oder?« Ich warf meinem Vater einen Blick zu. Auch wenn ich eigentlich nicht das Bedürfnis hatte, das Krankenhaus und Dad zu verlassen, musste ich mir eingestehen, dass Bambi Recht hatte. Dion drückte sanft meine Hand. Ich spürte, wie er beruhigend mit dem Daumen über meinen Handrücken strich. Während ich mir Sorgen um meinen Dad machte, gab es jemanden, der sich um mich sorgte: Dion. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, welche Auswirkungen die gesamte Situation auf ihn hatte. Schließlich willigte ich ein, dass er mich nach Hause brachte. Während wir zum Parkplatz gingen, wo Dion den Wagen abgestellt hatte, rief er Sally an, um ihr mitzuteilen, dass er heute Nacht bei mir bleiben würde. Es war süß von ihm, dass er nicht von meiner Seite weichen wollte und sogar Sally, die sonst nicht um ihn herum war, dafür vernachlässigte. Ich hatte ihn nicht einmal darum gebeten, bei mir zu bleiben. Bambi hatte sich aus freien Stücken dazu entschlossen und ich wusste das sehr zu schätzen. Wenn ich jetzt alleine gewesen wäre, dann wäre ich vermutlich durchgedreht. Vor allem, weil ich in den letzten Stunden angefangen hatte, an mir selbst zu zweifeln. Vielleicht trug sogar auch eine Teilschuld daran, dass Dad eine neue Leber gebraucht hatte. Ich hatte nicht oft genug, nicht nachdrücklich genug von ihm verlangt, einen Entzug zu machen. Ich hatte ihn einfach im Stich gelassen, als ich damals ausgezogen war, und hatte mich seitdem eigentlich auch nie weiter nach ihm erkundigt. Wenn ich geblieben wäre — stark genug gewesen wäre —, dann wäre es vielleicht gar nicht erst soweit gekommen. Dieser Gedanke nagte die ganze Zeit an mir und wollte sich auch nicht verdrängen lassen. Unterwegs zu mir holten wir uns noch etwas zu essen, da ich keine Lust hatte, noch irgendetwas zu kochen. Ansonsten verlief die Fahrt schweigend. Ich starrte teilnahmslos aus dem Fenster, während ich mich immer und immer wieder fragte, ob die ganze Sache anders verlaufen wäre, wenn ich vor vier Jahren bei meinem Dad geblieben wäre. Diese Frage bescherte mir fast Kopfschmerzen. Ich fuhr mir mit einer Hand übers Gesicht. Selbst das Essen verlief nahezu wortlos, was mich von meinen Selbstzweifeln löste und ich mir insgeheim versuchte vorzustellen, was wohl in Dion vorging. Ich musste wie ein Zombie oder so wirken, vielleicht dachte er auch, ich wollte ihn nicht dahaben, weil ich nicht mit ihm sprach. Doch er lächelte leicht, als er meinen Blick auffing. Bambi räumte das Geschirr in die Spüle, bevor er mir ins Schlafzimmer folgte. Ich hatte das Licht im Raum nicht angemacht. Das fahle Leuchten der Straßenlaterne erhellte das Zimmer schwach und warf die Schatten nackter Baumzweige an die Wände. Regen prasselte gegen das Fenster. Mir ging wieder durch den Kopf, wie klischeebelastet die Situation wieder wirkte — ich, das Wetter, die Tageszeit … verrückt. Ich lag rücklings auf dem Bett und starrte ins Nichts, bis ich hörte, wie Dion ins Zimmer kam. Die Matratze übertrug seine Bewegungen, als er sich neben mich legte. Er legte einen Arm um meine Schulter, als ich den Kopf an seine Schulter lehnte. Sein Duft stieg in meine Nase. Mir wurde wieder bewusst, dass er viel zu gut für mich war. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und atmete Bambis vertrauten Duft ein. Sein gleichmäßiger Atem ließ meine Gedanken sich etwas beruhigen. »Du bist so ruhig«, stellte Dion schließlich leise fest, während seine freie Hand nach meiner suchte. »Worüber denkst du nach?« Ich verschränkte meine Finger mit seinen, genoss die Wärme, die durch mich hindurchspülte wie Balsam. Woher nahm Bambi nur seine Stärke und sein Durchhaltevermögen? Womit hatte ich ihn überhaupt verdient? »Ich denke, es wäre nicht so weit gekommen, wenn ich damals bei ihm geblieben wäre, anstatt einfach abzuhauen«, weihte ich ihn in meine Gedanken ein. »Wenn ich ihn nicht im Stich gel—« »Du trägst keinerlei Schuld daran, dass dein Dad die neue Leber gebraucht hat«, unterbrach Dion mich. Er klang ziemlich ernst und fest entschlossen, als wäre es sein persönliches Ziel mich davon abzubringen, mir irgendwelche Schuldgefühle einzureden. »Du hast mir selbst gesagt, dass er sich nie bewusst war, was er tat. Was hätte es geändert, wenn du dich selbst wegen ihm aufgegeben hättest? Dann wäre dein Dad wahrscheinlich an seinem Leberversagen gestorben, weil er nie einen Entzug gemacht hätte und nicht auf die Warteliste gekommen wäre. Hat dieser Mitchell dir nicht gesagt, dass du mitunter der maßgebliche Grund gewesen bist, warum dein Dad erst aufgehört hat mit dem Trinken? Vielleicht wäre er sich der Situation gar nicht erst bewusst geworden, wenn du weiterhin bei ihm geblieben wärst. Manchmal müssen die Menschen erst etwas verlieren, bevor ihnen klar wird, dass sie etwas falsch machen. Ich denke nicht, dass es bemerkenswert anders gelaufen wäre. Es nicht deine Schuld. Du warst nie der Grund, warum dein Dad zur Flasche gegriffen hat. Du warst der Grund, warum er aufgehört hat. Daran solltest du denken. Daran und an nichts anderes.« Dion hätte Motivationstrainer oder so werden sollen. Seine kleine Ansprache ließ mich innehalten und nachdenken. Er hatte gar nicht so Unrecht mit dem, was er gesagt hatte, es war einleuchtend — und aufbauend. Ich hatte ihm davon berichtet, was Mitchell mir erzählt hatte. Irgendwie tat es gut, dass Bambi mich aus meinem Gedankensumpf holte. Es tat gut zu hören, dass ich mir nichts einreden sollte. Auch wenn er nicht alle Zweifel in mir beseitigt hatte, widersprach ich Dion nicht. Stattdessen genoss ich das angenehme Gefühl, dass er mir durch seine Zuneigung, seine Geduld und Unterstützung schenkte. Es gab niemanden, den ich in diesem Moment lieber bei mir gehabt hätte als Bambi. Ich fragte mich, was ich getan hätte, wenn er nicht bei mir gewesen wäre. Wahrscheinlich wäre ich in Depressionen verfallen, weil ich mir zu viele Gedanken darüber gemacht hätte, was gewesen wäre, wenn … Ohne, dass ich es richtig gemerkt hatte, war Bambi zu einem unersetzlichen Menschen für mich geworden. Ich konnte mir nicht mal mehr vorstellen, wie es ohne ihn wäre. Tess war meine beste Freundin, eine ungemein wichtige Person, aber Dion war der Mensch, den ich … Ich richtete mich auf und stützte mich mit einem Arm auf dem Bett ab, um ihn anschauen zu können. »Ich liebe dich, Dion«, sagte ich leise. Das Blut rauschte so laut durch meine Ohren, dass ich mich selbst kaum hören konnte. Ich konnte das Kribbeln in meinem Inneren fühlen, diese angenehme Aufregung, das Flirren meines Herzens. Es war nicht meine erste Beziehung zu jemandem, aber es war das erste Mal, dass ich jemandem diese drei Worte sagen konnte. Das erste Mal, dass ich es jemandem … verdient sagen konnte, ehrlich, aufrichtig … hingebungsvoll. Durch die Dunkelheit des Zimmers konnte ich Dions strahlendes Lächeln sehen. »Ich liebe dich auch«, erwiderte er. Es löste so ein Hochgefühl in mir aus, dass es sich anfühlte, dass mir nichts etwas anhaben könnte; als wäre ich unverwundbar, unbesiegbar, unübertroffen. Alles an und in mir sehnte sich nur nach diesem Jungen, der unter mir lag und mich anlächelte; der für mich da war, wenn ich ihn brauchte; der mehr Geduld mit mir hatte als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Dion war einfach zu gut, um wahr zu sein. Aber er war da und er gehörte zu mir. Ich beugte mich zu ihm, legte meine Lippen auf seine. Seine Hände fanden den Weg in meinen Nacken, zogen mich dichter zu ihm heran. Ich gab seinem Drängen nur zu gern nach. Wir küssten uns, als würde es keinen Morgen mehr geben; als wäre es unsere letzte Möglichkeit. Rastlos fuhren Dions Hände über meinen Rücken, meine Seiten, meine Schultern. Seine Nähe und die Intensität seines Kusses fegten meinen Kopf leer und zum ersten Mal seit einiger Zeit, machte ich mir keine Sorgen um irgendwas. Das einzige, was zählte, war, dass Dion hier bei mir war. Er setzte sich auf und ich hockte auf Knien über seinen Beinen. Unsere Lippen trennten sich für keinen Augenblick von einander. Meine Hände wühlten durch seinen Haarschopf, strichen über seine Wangen und über seinen Hals. Ich versuchte, so viel wie möglich von ihm zu halten, zu berühren, während Dions Hände sich unter meinen Pullover schoben. Als seine Finger meine Haut berührten, war es, als wäre an dieser Stelle ein Feuer entfacht worden, das sich überall dort ausbreitete, wo er mich berührte. Dion schob das Oberteil nach oben, führte seine Fingerspitzen sanft über meinen Bauch, bis er mir den Pullover schließlich ganz über den Kopf zog. Wir entkleideten uns gegenseitig, Stück für Stück, legten mehr und mehr Haut frei. Ich küsste jeden Zentimeter seiner nackten Haut, den ich erreichen konnte und sog dabei den Duft und den Geschmack von ihm ein. Dions Keuchen löste eine Welle der Hitze in mir aus, die sich in jedem Winkel meines Körpers breit machte und mich völlig in Beschlag nahm. Seine Hände umfassten mein Gesicht und zogen es wieder zu seinen Lippen. Draußen hätte es eine Sintflut geben können und ich hätte es nicht bemerkt, denn Dion und ich öffneten diese Nacht die Tür zu einem anderen Abschnitt unseres Zusammenseins. Ich hatte mir in den vergangenen Wochen oft vorgestellt, wie es wohl war mit Dion zu schlafen, aber nichts von dem, was sich in meinen Gedanken abgespielt hatte, kam der Realität nahe. Es gab keine Worte für das, was ich in dieser Nacht empfand, was ich spürte. In dieser Nacht definierte Dion den Begriff Liebe für mich völlig neu. I'VE GOT THE GUN, ALL I NEED IS TEN CENTS FOR THE BULLET Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie im Film Verwünscht, als wäre alles rosarot, als würden Vögel mit mir singen und Eichhörnchen mir beim Putzen helfen. Als ich aufwachte, schlief Dion noch und somit hatte ich Zeit, ihn zu betrachten. Seine Haare waren zerzaust und ich konnte einen dunklen Fleck an seinem Hals entdecken. Verwundert versuchte ich mich daran zu erinnern, wann ich das gemacht hatte. Eigentlich war es nie meine Absicht gewesen, ihm einen Knutschfleck zu machen — musste wohl im Affekt passiert sein. Vorsichtig schaute ich mich in meinem Zimmer um. Das Bett war komplett zerwühlt und unsere Klamotten lagen zerstreut herum. Bilder von letzter Nacht tanzten vor meinem inneren Auge vorbei. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht über das schlafende Rehkitz herzufallen. Offiziell hatte Dion den Bambistatus mir gegenüber vergangene Nacht verloren, aber inoffiziell würde er es weiterhin bleiben. Ich beugte mich zu ihm hinunter und gab ihm sachte einen Kuss auf die Wange, bevor ich die Bettdecke zurückschlug und nach meiner Unterwäsche suchte. Draußen war es immer noch regnerisch, die Tropfen liefen in Schlieren die Fensterscheibe zu meinem Zimmer hinab. Ich sammelte unsere Sachen auf, nachdem ich meine Boxershorts angezogen hatte. Dion regte sich, drehte sich aber nur auf die andere Seite und schlief weiter. Ich legte die Klamotten aufs Bett, nahm mir frische Sachen aus dem Schrank und zog mich hastig an. Leise schlich ich aus dem Raum, danach ging ich in die Küche. Ich pflügte mir mit den Fingern durchs Haar. Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zu meinem Dad, der immer noch im Krankenhaus lag. Ich fragte mich, ob er schon aufgewacht war. Eigentlich wäre ich gern ins Hospital gegangen, aber ich wollte Dion auch nicht einfach so allein lassen. Er war immerhin geblieben, um mich zu trösten — was ihm grandios gelungen war — und er wollte wieder mitkommen. Obwohl ich wieder anfing, mir Sorgen zu machen, fühlte ich mich ruhig und entspannt. Ich hatte keine Ahnung, wie Dion das angestellt hatte, aber es war gut. Nachdenklich holte ich eine Cornflakes-Packung von meinem Küchenschrank und eine Schüssel aus eben diesem. Als ich den Kühlschrank öffnete, stellte ich fest, dass ich keine Milch mehr hatte. Seufzend warf ich die Tür wieder zu und setzte mich an den Tisch, ehe ich begann, die Cornflakes trocken zu essen. Nicht das beste Frühstück, das ich je hatte, aber immer noch besser nichts. Ich blickte auf, als Dion verschlafen, mit kleinen Augen, zerbombten Haaren und nur in Unterwäsche in die Küche kam. Als ich ihn so sah, kam ich nicht umhin zu lächeln. Er kam zu mir hinüber, während er sich die Augen rieb, dann gähnte er herzhaft. Bambi trat hinter mich, legte die Arme um meine Schultern, bevor er seinen Kopf zu mir beugte, sodass ich seine Lippen an meiner Wange spürte. »Guten Morgen«, murmelte er. Sein Mund streifte meine Haut. Ich drehte meinen Kopf ein wenig, sodass sich unsere Lippen fast berührten. Dions braune Rehaugen betrachteten mich aufmerksam mit einem fröhlichen Glimmen darin. Er sah so unglaublich schön aus. Das Lächeln in seinem Gesicht bereitete mir gute Laune und ließ mich meine Sorgen vergessen. »Guten Morgen«, sagte ich, bevor ich Bambi sanft einen Kuss auf die Lippen drückte. »Hast du auch Lust auf trockene Cornflakes?« Er grinste, dann ließ er mich los und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Zusammen aßen wir die Cornflakes aus meiner Schüssel. Es war wieder einmal still zwischen uns, aber dieses Schweigen fühlte sich anders an als das von gestern Abend. Irgendwie war es angenehm, dass ich mit Dion zusammensitzen konnte, ohne mich die ganze Zeit mit ihm unterhalten zu müssen. Immer, wenn unsere Blicke sich begegneten, strahlten wir einander an. Schließlich räusperte er sich leise und senkte verlegen den Blick. »Das heute Nacht …« »Das war schön …«, beendete ich und senkte ebenfalls kurz den Blick. Als ich Dion wieder ansah, konnte ich sehen, dass er glücklich lächelte. »Ja«, stimmte er zu. Damit war alles gesagt, was gesagt werden musste. Nachdem wir gegessen hatten, zog Dion sich an und wir fuhren wieder ins Krankenhaus. Beim Fahren hielt ich seine rechte Hand, während Bambi mit der linken das Auto lenkte. Hin und wieder warfen wir einander kurze Blicke zu. Ich lächelte die ganze Zeit. Als wir im Krankenhaus ankamen, war dort bereits viel los. In den Fluren tummelten sich Ärzte und Schwestern, Patienten und Angehörige. Wir steuerten das Zimmer meines Vaters an. Die Blenden zu seinem Raum waren nicht geschlossen, die Assistenzärztin von gestern war ebenfalls dort und hatte einen Ordner in der Hand. Ich öffnete die Tür und ich hörte eine männliche Stimme. Alle meine Befürchtungen und Sorgen waren auf einen Schlag verschwunden. Als die Ärztin sich zu mir umdrehte, gab sie dabei den Blick auf meinen Vater frei, der mehr oder minder aufrecht im Bett saß und Frühstück aß. Er verstummte, als er mich sah. Ein eigenartiger Ausdruck trat auf sein Gesicht. Nur nebenbei bekam ich mit, dass die Frau das Zimmer wieder verließ. Mein Vater sah den Umständen entsprechend gesund aus. Seine Haut hatte nicht mehr diesen seltsam fahlen Ton und er sah insgesamt nicht mehr so krank aus. Die Gerätschaften um ihn herum waren weniger geworden, aber er hing immer noch an ein, zwei Tröpfen. Doch da war etwas in seinen Augen, etwas so Lebendiges … dieses Leuchten hatte ich seit mehr als vier Jahren nicht mehr bei ihm gesehen. Ich fühlte mein Herz gegen meine Brust hämmern, als ich um das Bett herum ging. Langsam ließ ich mich auf den Bettrand nieder, während ich mit blankem Kopf Dad anstarrte als wäre er nichts weiter als ein Geist. Noch bevor ich etwas sagen konnte, legte Dad eine seiner Hände auf meine. Er hatte Tränen in den Augen. »Ethan«, sagte er. Seine Stimme klang brüchig, kratzig; so, als hätte er sie lange Zeit nicht gebraucht. Die Art, wie er meinen Namen sagte, ließ mich erschauern. Ich war es mal gewohnt gewesen, dass man mich so nannte, und wenn ich Dad so hörte, dann schwemmten so viele Erinnerungen in mir hoch, dass ich fast vergaß, wo ich war und was los war. Es war diese vertraute, liebevolle Weise, mit der er mich ansprach. Ich fühlte die vergangenen vier Jahre in mir hochkommen, alle Gedanken und Erinnerungen, die ich verdrängt und versteckt hatte, spülten über mich hinweg, weil ich sie einfach nicht mehr zurückhalten konnte. Mühevoll blinzelte ich die Tränen aus meinen Augen, die drohten mir die klare Sicht auf Dad zu nehmen. Ich beugte mich instinktiv vor und schlang meine Arme um ihn. Seine Hände legten sich auf meinen Rücken. Es war nicht sehr einfach, die Tränen zurückzuhalten, die Fassung irgendwie zu wahren oder zumindest nicht völlig zu verlieren. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen oder denken sollte. Diese Situation riss mich von den Socken, als wäre ich von einer Abrissbirne getroffen worden. Ich hörte Dad stockend einatmen, so, als stünde er kurz davor, ebenfalls in Tränen auszubrechen. »Geht’s dir gut?«, fragte ich mit zittriger Stimme, bevor ich ihn langsam wieder losließ. Seine hellen, blaugrauen Augen sahen mich an. Meine Augen. »Ja«, antwortete er nickend. Es klang tonlos, aber es erleichterte mich ziemlich. Es ging ihm gut. Das war alles, was zählte. Die nächsten Minuten verliefen in Schweigen, während mein Vater und ich uns anstarrten. Mir war immer noch nicht eingefallen, was ich hätte sagen können. Ich dachte, mir würde so viel einfallen und ich würde so viel zu sagen haben, doch in diesem Moment war ich so sprachlos wie lange nicht mehr. »Du … du bist so groß geworden«, murmelte Dad schließlich. Er wirkte fast ein wenig verlegen. Ich versuchte, mich zu erinnern, wann ich ihn das letzte Mal so deutlich hatte sprechen hören. Es lag zu weit zurück, als dass ich es konkret hätte sagen können. Dad schaffte ein schwaches Lächeln. Ich ebenfalls. »Ja … kann man so sagen«, erwiderte ich. Man hätte meinen können, wir wären zwei völlig Fremde. Ich sah ihn an. »Es tut mir l—«, setzte er an, doch ich schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht, Dad«, unterbrach ich ihn. »Ich weiß. Aber … nicht jetzt.« Entschuldigungen wollte ich einfach nicht hören. Ich wusste, dass es ihm leid tat. Aber ich war nicht hier, um ihm zuzuhören, wie er sich entschuldigte. Dad nickte nur stumm, sah aber aus, als würde er gleich wieder anfangen, mich um Verzeihung zu bitten. Das hatte ich schon. Wie konnte ich denn sauer sein, wenn ich wusste, dass es ihm jetzt gut ging? Er war wieder da. Er war okay. Ich hatte ihn zurück. Dad wandte den Blick langsam nach rechts. Dion hatte sich auf einen Stuhl an der Wand gesetzt und hatte kein Wort von sich gegeben, während mein Vater und ich die paar Floskeln gewechselt hatten. Er schaute Dad an, Dad sah Bambi an. Als mit vierzehn ausgezogen war, hatte ich selbst noch nicht gewusst, dass ich bisexuell bin. Ich wusste nicht, ob es gut war, Dad in seinem Zustand jetzt zu sagen, dass ich mit Dion zusammen war, aber ich wollte ihn auch nicht anlügen. »Dad, das ist Dion … mein Freund«, sagte ich langsam. Mein Vater warf mir einen Blick zu. Er sah so aus, als würde er glauben, dass Bambi einfach nur ein guter Freund war, der mir Beistand leistete. Ich seufzte leise. »Wir sind … ein Paar.« Dads Augen huschten von mir zu Dion, der immer noch schweigend zu uns hinüber sah. Dann schaute er mich wieder an. Ich fragte mich, ob er mich jetzt verstoßen würde oder darüber nachdachte, ob der Gedanke, dass sein Sohn mit einem anderen Kerl zusammen war, Grund genug war, wieder zur Flasche zu greifen. Keiner von uns sagte etwas und außer dem Piepen des EKGs war nichts zu hören. Ich dachte schon, alle Hoffnung auf Akzeptanz wäre verloren, doch dann streckte Dad eine Hand nach Dion aus. »Everett«, stellte er sich vor. Dion stand auf und kam herüber zu uns, griff nach Dads Hand und schüttelte sie. »Sir«, meinte Dion leise. »Es ist schön, dass es Ihnen wieder besser geht.« Dad nickte kurz, dann lächelte er Dion zu. Ich war erleichtert und Bambi offensichtlich auch. Dion wandte sich kurz an mich und sagte, er würde gehen und uns Zeit lassen, bevor er sich verabschiedete. Leise verließ er den Raum. Dass Dad und ich allein waren, machte die Situation nicht besser. Wir schwiegen uns weiterhin an, sprachen einige Male ein paar Worte miteinander, nur um dann wieder in Stille zu verharren. So hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt, aber ein Gespräch mit jemandem aufzubauen, mit dem man vier Jahre lang keinen Kontakt hatte, war schwerer, als ich gedacht hatte. Aber nach vier Jahren, da gab es so viel, was es zu erzählen gab, doch nichts von dem, was ich hätte sagen können, kam über meine Lippen. Stunden verbrachten wir so. In Stunden sprachen wir — wenn es hochkam — hundert Worte. Bis Dad sich offenbar irgendwann traute, nach Dion zu fragen. »Wie lange bist du schon mit ihm zusammen?«, wollte er wissen. Sein Ton klang vorsichtig. Ich schaute ihn an. Für einen Moment fragte mich, ob er sich wirklich dafür interessierte, oder ob er nur fragte, weil ihm sonst nichts einfiel. Aber ich meinte, etwas wie Neugier in seinen Augen erkennen zu können. »Noch nicht sehr lange. Seit Januar«, antwortete ich und senkte dabei den Blick auf meine Hände. Kurz, nachdem bei Dad die Diagnose gestellt worden war. Ich sah ihn wieder an. »Und wie lange kennt ihr euch schon?«, fragte er weiter. Da hatten wir ein Thema, weit weg von unserer Familiengeschichte, über das wir — mehr oder minder — unverfänglich reden konnten. Ich war froh darüber, dass es Dad tatsächlich zu interessieren schien, was Bambi und mich betraf. Er verurteilte mich nicht. Er stieß mich nicht von sich. Er wollte mehr über Dion und mich erfahren. Darüber war ich glücklich. »Ich hab ihn vergangenen September kennengelernt. Er ist von Peoria hierher gezogen. Seine Eltern arbeiten beide hier im Krankenhaus«, teilte ich Dad mit. »Aber … bis ich mich auf ihn einlassen konnte, sind einige Monate vergangen. Ich hab mich ziemlich bescheuert verhalten, aber … Dion hat sich nicht einfach vergraulen lassen, weißt du. Er hat ziemlich viel Geduld … und ’ne Menge Durchhaltevermögen und eigentlich … habe ich ihn gar nicht verdient.« »Was hast du denn getan, dass du ihn eigentlich nicht verdienst?« Dad begriff schnell. Ich seufzte und fuhr mir mit beiden Händen über das Gesicht. »Ich hab mich wie ein Arschloch aufgeführt. Ich hab ihn schlecht behandelt. Hab ihn abgewiesen. War schroff. Unfreundlich. Gemein. Ich hab ihm wehgetan. Physisch … und psychisch. Aber er … ich weiß nicht, warum er mir das alles verziehen hat. Ich weiß nicht, warum er nicht aufgegeben hat. Er ist bei mir, er war bei mir. Die ganze Zeit. Und ich brauchte erst eine Menge Schuldgefühle und eine Ohrfeige von meiner besten Freundin, um zu begreifen. Dass Dion mir das alles verziehen hat, ist ziemlich … unfassbar. Wie ich schon sagte … eigentlich habe ich ihn nicht verdient.« Mein Vater legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich sagte ihm nicht, warum ich mich Dion gegenüber so verhalten hatte. Diesen Teil ließ ich aus. Vielleicht hatte er es verdient, dass ich es ihm sagte, um zu erfahren, wie groß die Auswirkungen unserer Familientragödie auf mich gewesen waren, aber … er hatte ebenfalls viel durchmachen müssen. »Das muss es ihm wert gewesen sein«, meinte Dad lächelnd. »Sonst hätte er aufgegeben.« Ich erwiderte sein Lächeln. Ich verließ das Krankenhaus am späten Nachmittag wieder. Eine der Schwestern hatte mich mehr oder minder nach Hause gescheucht, denn Dad sollte seine Ruhe haben und Zeit, um sich zu erholen. Unterwegs nach Hause kaufte ich noch Milch und einige andere Sachen, die sich heute Morgen nicht im Kühlschrank befunden hatten. Das Wetter war noch immer trüb, doch im Moment regnete es glücklicherweise nicht. Ich wollte Dion anrufen, allerdings war der Akku meines Handys alle, daher fiel der Plan ins Wasser. Zu Hause war es ungewöhnlich still. Ich stellte die Einkäufe ab, machte mir einen Tee und ging in mein Zimmer. Im Türrahmen blieb ich stehen, um das Bett zu betrachten. Es war nicht gemacht und in demselben Zustand, in dem ich es heute früh verlassen hatte. Unweigerlich breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus, als sich wieder Bilder von letzter Nacht vor mein inneres Auge drängten. Ich wandte den Blick über die Schulter, als es auf einmal an der Tür klingelte. Dann drehte ich mich um, stellte die Teetasse im Wohnzimmer auf dem Tisch ab und ging in den Flur, um die Tür zu öffnen. Doch als ich öffnete und den unerwarteten wie unwillkommenen Besuch sah, der dort stand, wünschte ich mir, ich hätte das Läuten einfach ignoriert. ___ tbc. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)