Lonely Christmas Wish von Foresight ================================================================================ Kapitel 1: Lonely Christmas Wish -------------------------------- Mit einem in den Ohren schmerzenden Quietschen kam die Metro zum Stehen. Am Bahnsteig drängten sich bereits unzählige, in dicke Winterjacken gehüllte Pendler, die ungeduldig auf die Linie 9 gewartet hatten. Piepsend öffneten sich die Türen für kurze Zeit, während der sich die Passagiere ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen hinaus drängten und mit denen zusammen stießen, die versuchten, noch rechtzeitig den Sprung in die Metro zu schaffen, ehe diese die Türen schloss und zur nächsten Haltestelle davon rauschte. Zu dieser frühen Morgenstunde war dieses unruhige Getümmel nichts Ungewöhnliches, sondern für viele zum grauen Alltag geworden. Hier, wo Hektik, Stress und Zeitdruck vorherrschten, war vom Zauber der bevorstehenden Weihnacht nicht das Geringste zu spüren. Allison Carter zählte zu jenen, für die dieses hektische Treiben an der Tagesordnung war. Ein müdes Gähnen unterdrückend, versuchte sie – so gut es eben ging – den übel gelaunten, drängelnden Menschen um sich herum auszuweichen. Die stickige Wärme in der U-Bahn hatte sie schläfrig werden lassen und auch der Schlafmangel der letzten Nacht machte sich deutlich bemerkbar. Stundenlang hatte sie wach gelegen, sich von einer Seite auf die andere gewälzt und ihren Tränen freien Lauf gelassen. Erst in den frühen Morgenstunden war sie endlich erschöpft in einen traumlosen Schlaf gefallen, doch auch dieser war, zu ihrem Leidwesen, nicht von langer Dauer gewesen. Ally war nur wenige Stunden später unsanft von ihrem Radiowecker mit dem Refrain von Puff Daddy's „I'll be missing you“ aus dem Schlag gerissen worden Das Frühstück hatte sie ausfallen lassen, aus dem einfachen Grund, keinen Bissen hinunter würgen zu können. Stattdessen hatte sie umso mehr Tassen Kaffee getrunken. Schwarzen Kaffee – entgegen ihrer eigentlichen Angewohnheiten. Das schwarze Gold vermochte sie zwar innerlich mit Wärme zu erfüllen (die Zunge hatte sie sich natürlich auch noch verbrannt), die erwünschte Wirkung war bis jetzt jedoch ausgeblieben. Dafür knurrte ihre nun Magen laut und deutlich. Selbst die ausgiebige Dusche hatte Ally nicht wirklich aufbauen können und auch die dunklen Ringe unter den, wenigstens nicht mehr angeschwollenen, Augen erwiesen sich als äußerst hartnäckig, waren Make-up sei Dank aber gut verdeckt. Mit einem letzten Blick auf die Uhr hatte sie das kastanienbraune Haar rasch zu einem einfachen Zopf zusammengebunden und wäre trotz allem beinahe nicht mehr rechtzeitig an der Metrostation angekommen. Immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, wäre sie um Haaresbreite der Länge nach auf dem Boden aufgeschlagen, da auch ihr in großer Eile zu sein scheinender Hintermann Ally schlichtweg übersehen und sie fast über den Haufen gerannt hatte. Zum Glück hatte sie sich im letzten Moment am Geländer festhalten und das Schlimmste verhindern können. Seitdem meldete sich jedoch nahezu bei jedem Schritt ihr rechter Knöchel, der unsanft Bekanntschaft mit der Steinwand gemacht hatte. Von einem guten Start in den Tag konnte an diesem Dienstagmorgen keine Rede sein! Mürrisch stieß Ally die Luft aus, wirbelte dabei ein paar Ponysträhnen in die Luft, die ihr vorwitzig über die Augen gefallen waren. Schon jetzt bereute sie, an diesem Morgen überhaupt das Bett verlassen zu haben. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich einfach krank zu melden. Resigniert seufzend reihte sich Ally gemächlich in den Menschenstrom ein, der sich der frischen Luft entgegen die Treppe empor schob. Schon auf halber Strecke spürte sie die Kälte wie tausend kleine Nadelstiche auf ihrer Haut. Von oben wehte ihr ein eisiger Wind entgegen, strich mit kalten Fingern über ihre Wange und zerrte an ihrem kuschligen Schal. Reflexartig zog Ally den Kopf ein und vergrub ihre Hände noch tiefer in den Manteltaschen. Das kalte Wetter hielt Newcastle upon Tyne nun schon seit Tagen in seinen Fängen. Vielleicht war auch das einer der Gründe für die zunehmend gereizte Stimmung, die sich vielerorts breit machte. Aber darüber konnte man nur spekulieren. Ein älteres Pärchen, bepackt mit schweren Koffern und großen, mit einem bunten Blumenprint überzogenen Taschen, kam Ally auf der Treppe entgegen. Die Gesichter gerötet von Kälte und Anstrengung, versuchten sie sich eilig einen Weg zu bahnen. Immer wieder stießen sie ungeschickt mit anderen Passanten zusammen, entschuldigten sich dabei jedoch stets mehrfach und kamen somit aus dem Reden gar nicht mehr raus. Ally beachtete das Paar nicht weiter, wich ihnen lediglich aus, als sie sich nicht schnell genug an ihr vorbei schieben konnten. Trotzdem rempelte sie der Mann an und schubste sie und ein paar andere Passanten zur Seite. Seine gemurmelte Entschuldigung hörte sie jedoch nicht mehr, denn genau in diesem Moment trug ihr der Wind einen allzu vertrauten Geruch zu. Abrupt blieb sie stehen, ungeachtet der Menschen, die sich nun ärgerlich und unsanft an ihr vorbei schieben mussten. Für den Bruchteil einer Sekunde blendete Ally alles um sich herum aus. Die Menschen., die Farben, die Geräusche, die Kälte. Konnte das sein? Ihr Puls begann zu rasen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Mit einem mal hellwach, sah sie sich suchend um, doch sie sah nur fremde Gesichter um sich herum. Sie hatte sich getäuscht, ihre Wahrnehmung hatte ihr schlichtweg etwas vorgaukeln wollen. Er war nicht hier. Das Bild vor ihren Augen begann zu verschwimmen und nur ein einziges Gesicht nahm für wenige Sekunden Gestalt an. Sein Gesicht. Damien... Tränen sammelten sich in ihren Augen, rannen haltlos die blassen Wangen hinab und brannten heiß auf der kalten Haut. Tränen, die sich nicht mehr zu haben geglaubt hatte. Nicht nach der letzten Nacht. Sie versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken, hielt sich die Hand vor den Mund. Warum schmerzte es so sehr? Warum sie? Und warum gerade er? Wie oft hatte sie sich diese Fragen vergangene Nacht gestellt? Das Ergebnis blieb das gleiche – es gab keine Antwort. Aus tränenverschleierten Augen sah sich Ally erneut um. Die vorbei eilenden Menschen nahmen ebenso wenig Notiz von ihr, wie Ally von ihnen. Sie zwang sich tief durchzuatmen. Er war nicht hier. Es sollte nicht sein und es würde vermutlich nie so sein. Ein weiteres Mal atmete Allison tief durch. Sie musste sich ablenken. Rasch wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Bloß nicht darüber nachdenken, mahnte sie sich in Gedanken. Das würde es nur schlimmer und unerträglicher machen. Außerdem würde sie noch zu spät zur Arbeit kommen, wenn sie noch länger wie ein begossener Pudel hier herum stand. Entschlossen atmete sie ein letztes Mal tief durch und erklomm schließlich auch die letzten paar Treppenstufen. Die Realität hatte sie wieder. „Ach du heiliges Kanonenrohr, siehst du fertig aus! Allison, du alte Partyqueen, sag bloß, du hast letzte Nacht gefeiert bis der Arzt kommt und das ohne mich?!“ Die hohe, quietschende Stimme klingelte Ally leicht in den Ohren und schon jetzt seufzte sie resigniert. Wer sonst außer Julia war zur frühen Morgenstunde bereits bester Laune und in der Lage, solch charmante Begrüßungen zu äußern? Auf die Schelle fiel Allison niemand ein. Ihre Arbeitskollegin Julia Lansbury war eine Marke für sich und gehörte zu den ausgeflipptesten Menschen, die Ally kannte. „Vielen Dank. Dir auch einen guten Morgen Julia. Nein, ich war nicht feiern und um deine nächste Frage zu beantworten: Ich war zu Hause. Allein.“ Seufzend versuchte sich Allison an einem Lächeln, aber es wollte ihr nicht so richtig gelingen. Schief lächelnd schälte sie sich nun aus ihrem Mantel und trennte sich von ihrem warmen Schal, die sie beide in ihren Spind im Umkleideraum hing, ehe sie auch aus den warmen Stiefeln schlüpfte und die typische Dienstbekleidung des Royal Station Hotel Newcastle Upon Tyne anzog. Julias Blick, eine Mischung aus Skepsis und überragender Neugier, hatte sie dabei stets im Rücken. „Ja und was ist dann los?“, bohrte die Schwarzhaarige auch sogleich nach. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand sie zwischen Ally und der Tür zum Flur. Die Botschaft hinter dieser Geste war mehr als eindeutig. Wenn es nach Julia ginge – und es war wirklich besser, diese kleine 1,65m - Person nicht zu unterschätzen – würde Ally den Raum nicht eher verlassen, ehe sie eine zumindest halbwegs gute Erklärung abgab. „Ich hab einfach zu wenig geschlafen. Ich saß gestern noch ziemlich lange an meinem Projekt fürs Studium und hab darüber hinaus einfach die Zeit vergessen.“ Das war noch nicht einmal gelogen, lediglich die Halbwahrheit. Aber weder waren die beiden so gut befreundet, dass sich Allison ihr anvertrauen würde, noch stand ihr der Sinn danach, überhaupt darüber zu reden. Tatsächlich schien Julia noch einen kurzen Moment darüber nachzudenken, ob Allys Erklärung sinnig klang, sah sie schließlich aber betroffen an. „Verstehe, das ist natürlich was anderes. Bis wann musst den denn fertig sein?“ Ally wandte sich vom Spiegel ab, vor dem sie eben ihren Zopf noch einmal neu gebunden hatte, und gesellte sich zu ihrer Kollegin. „In zwei Tagen.“ Ally verzog das Gesicht, verschwieg jedoch, dass sie im Prinzip so gut wie fertig war. Es fehlten nur noch der letzte Feinschliff und dann konnte sie auch diesen Punkt auf ihrer Liste abhaken. „Aber los jetzt, wenn wir noch länger trödeln, kriegt die Chefin wieder einen ihrer Wutanfälle.“ Verschwörerisch zwinkerte sie Julia zu und zog sie kurzerhand mit auf den Flur in Richtung Rezeption. Diese stieg natürlich prompt auf Allisons Themenwechsel ein und plapperte sogleich wieder ohne Punkt und Komma. Ally seufzte innerlich. Das würde ein langer Tag an der Rezeption werden. Als Allison endlich in ihrer Wohnung ankam, war es bereits kurz vor Mitternacht, dabei hätte sie eigentlich schon seit vier Stunden Feierabend. Doch wie so oft, gab es viel zu viel zu tun. Ihre Ablösung hatte sich kurzfristig krank gemeldet und bis sich ein Ersatz gefunden hatte, dauerte es meistens doch noch ein wenig länger. Zudem hatte ihr Julia fast den ganzen Tag ein Ohr abgekaut und auch einige der Gäste waren mehr als nur unverschämt gewesen. Anscheinend hatte es sich der ein oder andere zum Hobby gemacht, die Angestellten des Hotels auf Trab zu halten. Die Zahl derer, denen man einfach nicht recht machen konnte, schien von Tag zu Tag zu steigen. Zum Glück hatten die Semesterferien bereits begonnen und sie musste lediglich ihr Projekt in zwei Tagen abgeben. Danach hatte sie noch zwei Arbeitstage vor sich, bevor endlich der heiß ersehnte Urlaub vor der Tür stand – und Weihnachten. Ally schnitt eine Grimasse bei dem Gedanken daran, noch nicht ein einziges Geschenk besorgt zu haben. Aber dafür hatte sie morgen einen ganzen Tag lang Zeit. Jetzt blieb ihr nur noch zu hoffen, dass sie auch wirklich für jeden das Passende finden würde. Jetzt wollte sie fürs erste nur noch ins Bett. Müde warf sie ihren Mantel zusammen mit dem Schal und ihrer Tasche aufs Sofa und schleppte sich direkt in ihr Zimmer, wo sie sogleich in ihr Nachthemd – eigentlich ein Männerhemd – schlüpfte. Auf dem Weg zum Bad streifte Allys Blick ihr Notebook, dessen schwarzes schimmerndes Gehäuse aus dem Chaos verschiedenster Zettel, Zeitschriften, Fotos und Büchern geradezu heraus zu stechen schien. Ally blieb stehen und starrte auf ihren Schreibtisch. Sollte sie vielleicht....? Nein, besser nicht. Ally seufzte und zwang sich regelrecht ihren Blick abzuwenden. Es wäre ein sinnloses Unterfangen, jetzt ihre Emails zu checken, ihr Postfach würde – bis auf eine paar unerwünschte Werbemails oder dergleichen – ohnehin leer sein. Der Duft von frisch gekochtem Kaffee kitzelte Ally in der Nase und ließ sie schließlich schläfrig die Augen öffnen. Sie brauchte ein paar Sekunde, um den Weg aus ihren wirren nächtlichen Träumen zurück in die Wirklichkeit zu finden und sich zu orientieren. Nun nahm sie auch das Klappern in der Küche wahr. War das eben der Toaster gewesen? Noch immer regungslos im Bett verharrend schielte sie rasch auf ihren Wecker, dessen Zeiger auf neun Uhr morgens standen. Seltsam. Für gewöhnlich war sie um diese Zeit allein. Irritiert schlug sie die Bettdecke zur Seite, schlüpfte in ihre Hausschuhe und folgte dem Kaffeeduft ins Wohnzimmer, das den zentralen Mittelpunkt der Wohnung bildete und alle anderen Räume miteinander verband. Mit der Wohnung, die sie nun seit fast einem Jahr bewohnte, hatte Allison eindeutig einen Glückstreffer gelandet. Die Wohnung lag recht zentral. Bis zur Metrostation waren es nur wenige Schritte und auch bis zur Einkaufspassage, und zur ihrer Uni war es nicht sehr weit. Zudem hatte man aus dem zehnten Stock eine herrliche Aussicht, die sich vor allem nachts besonders lohnte. In der Ferne konnte Ally von ihrem Balkon aus direkt zur Millenniumsbrücke und die Konzerthalle Theo Sage sehen. Es war eben durchaus praktisch, wenn der eigene Onkel über mehrere Wohnungen verfügte, die er vermietete und dieses kleine Goldstück war eine davon, die Allison sogar fast zu einem Spottpreis bekommen hatte. Die Vorhänge der Fensterfront im Wohnzimmer waren zur Seite gezogen und die Balkontür stand einen Spalt breit offen, durch den kalte Winterluft in den mit hellen, warmen Farben gestrichenen Raum strömte. Auf dem flachen Glastisch stand eine Vase mit zart violetten Rosen, Allys Lieblingsblumen, die am Abend zuvor sicher noch nicht dort gewesen war. Ihren Wintermantel und den Schal, die sie am Vorabend unliebsam über die Rückenlehne des schwarzen Sofas geworfen hatte, musste jemand aufgeräumt haben, denn lediglich ihre braune Tasche befand sich noch – nun ordentlich neben dem Sofa abgestellt – an Ort und Stelle. Nachdenklich runzelte Allison die Stirn. So langsam dämmerte es ihr, wer der morgendliche Besucher sein musste. Nun wesentlich entspannter, setze sie ihren Weg in die Küche fort, wo sie an den Holztürrahmen gelehnt stehen blieb und schmunzelnd den in der Küche herumwuselnden Besucher unbemerkt beobachtete. Der Tisch war bereits für zwei gedeckt und in der Mitte standen eine anscheinend schon gefüllte Kaffeekanne und ein Brotkorb mit mehreren Toastscheiben und ein paar Brötchen. Er selbst machte sich gerade am Kühlschrank zu schaffen oder hatte es zumindest vorgehabt, denn es war eher ein ratloses davor stehen und ungläubiges Kopfschütteln. „Mensch, da ist man mal ein paar Tage weg und schon herrscht im Kühlschrank gähnende Leere!“ Allys Schmunzeln wurde eine Spur breiter. „Entschuldige Hiro, ich musste die letzten beiden Tage länger arbeiten als geplant und kam nicht mehr zum Einkaufen.“ „Himmeldonnerwetter!“ Erschrocken fuhr der Schwarzhaarige herum und fasste sich theatralisch ans Herz. „Darling, wie kannst du mich nur so erschrecken?! Du weißt doch wie sensibel ich bin. Aber jetzt lass dich erstmal drücken!“ In einer fließenden Bewegung warf er die Kühlschranktür zu und breitet die Arme in ihre Richtung aus. Allison konnte sich ein schallendes Lachen nicht verkneifen, als sie ihn zur Begrüßung umarmt. „Schön dich zu sehen, mein kleines Angsthäschen.“ Als Antwort zwickte er sie beleidigt in die Seite, wuschelte ihr dann aber freundschaftlich durchs Haar, als er sie von sich schob und nun die Schränke nach Nutella und Erdbeermarmelade durchsuchte. Inzwischen hatte sie Ally am Tisch niedergelassen und sich eine Tasse Kaffee eingeschenkt, dessen Duft sie nun genüsslich einatmete. „Das sieht alles wunderbar lecker aus. Du bist ein Schatz!“ „Immer wieder gerne!“ Schmunzelnd stellte der Halbkoreaner das Nutellaglas mitten auf den Tisch und warf vorsichtshalber doch noch einen Blick in den Kühlschrank. „Wie kommt es eigentlich, dass du schon so früh zurück bist? Ich hatte dich eigentlich wesentlich später erwartet.“ Ein freches Grinsen zierte Hiros Lippen als er ihr gegenüber Platz nahm – und triumphierend noch ein Glas Erdbeermarmelade vor ihre Nase stellte. „Dass du das auch immer vor mir verstecken musst! Ich ess das mindestens genauso gern wie du.“ Anklagend sah er sie an, während Ally sich das Glas bereits grinsend unter den Nagel gerissen hatte und sich damit beschäftigte, eine Scheibe Toast damit zu beschmieren. Hiros Protest ignorierte sie einfach und er schien auch gar keine Antwort erwartet zu haben, denn er redete munter weiter. „Ich dachte mir schon, dass du ohne mich völlig aufgeschmissen sein würdest und hab mich deshalb schon früher auf den Heimweg gemacht. Man kann dich eben nicht alleine lassen. Was würdest du nur ohne mich machen?!“ Diese Frage stellte sich Ally in diesem Moment insgeheim auch. Sie kannte den Halbkoreaner nun seit der siebten Klasse. Er war damals mit seiner Familie neben ihnen eingezogen und hatte sich rasch mit ihr angefreundet. Aber im Gegensatz zu heute, war er damals richtig schüchtern gewesen und hatte nur schwer Freundschaften mit anderen schließen können. Ally war dieser Umstand anfangs ein Rätsel gewesen, da sie sich sehr schnell mit ihm hatte anfreunden können und er eigentlich richtig gesprächig war. Erst später hatte er ihr erzählt, dass es einfach an dem Umstand gelegen hatte, dass sie direkt auf ihn zugegangen war und ihn als ihren persönlichen Schützling erklärt hatte. Heute war es genau umgekehrt. Irgendwann war Ally zum Neidobjekt für viele Mädchen geworden, denn Hiro war rasch zum begehrtesten Jungen der Schule aufgestiegen und Ally aufgrund ihrer engen Freundschaft zu ihm vielen ein Dorn im Auge. Sicher, Hiro war inzwischen ein Bild von einem Mann. Er hatte von Natur aus einen dunkleren Teint, schöne braune Augen und eine stattliche und dennoch schlanke Figur. Das schwarze, glänzende Haar reichte ihm bis zu den Schultern und war meistens wie auch jetzt im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sein Kleidungsstil war eigentlich immer dem entsprechenden Anlass angepasst, beinhaltete aber fast ausschließlich enge Jeans und figurbetonte Kleidung. Menschlich war er einfach nur ein Engel auf Erden. Dazu noch einer, der himmlisch kochen konnte. Dass absolut nichts zwischen ihnen lief, wollte ihnen natürlich niemand so recht glauben. Über die Jahre hinweg war er zu einem der wichtigsten Menschen in ihrem Leben geworden. Zwischen ihnen war eine Freundschaft herangewachsen, die selbst dem stärksten Sturm standhalten würde. Aber mehr als das war es nicht und würde es auch definitiv nicht werden. „Vermutlich wochenlang nur von Kaffee und Fastfood leben“, witzelte Allison und biss genüsslich in ihr Marmeladentoast. „Danke übrigens für die Blumen.“ Hiro winkte grinsend ab. „ Lass gut sein und maufel erstmal deinen Toast fertig.“ Er nahm einen großen Schluck Kaffee und griff sich nun selbst nach einem Brötchen. „Jayden ist heute Morgen schon früh los, musste kurzfristig doch noch arbeiten und mir war es alleine zu langweilig. Er lässt dich lieb grüßen und ausrichten, dass er sich schon auf deinen Erdbeernachtisch freut, wenn er das nächste Mal hierher kommt. Also morgen Abend.“ „Wenn das so ist, werde ich nachher wohl sehen müssen, dass ich irgendwo tiefgekühlte Erdbeeren auftreiben kann.“ Nachdenklich nippte Ally an ihrem Kaffee. Einkaufen musste sie sowieso, es war lediglich ein kleiner Stichpunkt mehr auf ihrer Liste. „Die liegen schon im Gefrierfach. Jay hat sie mir extra noch in die Hand gedrückt, damit du keine mehr besorgen musst.“ Oder einfach damit sie sich nicht heraus reden konnte. Um den Nachtisch würde sie also nicht herum kommen. „Aber einkaufen müssen wir so oder so. Du hattest doch ohnehin vor, heute deine Weihnachtsshoppingtour zu starten oder? Da komm ich am besten mit. Ich brauch auch noch das ein oder andere und so ganz nebenbei...“ Hiro lehnte sich zurück und unterzog Ally einer skeptischen Musterung, die sie mit einem verärgerten, fragenden Gesichtsausdruck quittierte. „... gehen wir dir ein schickes frauliches und sexy Negligé kaufen. Dieses übergroße Männerhemd, das du da trägst, hat zwar auch einen gewissen Reiz, aber ich bin der festen Überzeugung, dass dir das einfach besser steht!“ Während Hiro seine Aussage durch ein Nicken für sich selbst noch einmal bestätigte, entgleisten Allisons Gesichtszüge vollkommen. Das Messer, mit dem sie gerade noch ihren zweiten Toast beschmieren wollte, schwebte in der Luft, während die Marmelade langsam auf ihren Teller hinunter tropfte. „Jetzt guck nicht so wie ein Kaninchen wenn's blitzt und donnert! Du bist eine attraktive Frau, also versteck dich nicht in Männerhemden! Das wird deinem Damien bestimmt gefallen.“ Wieder grinste er verschmitzt, doch als sich Allys Gesicht schlagartig verfinsterte und er die Traurigkeit deutlich in ihren Augen lesen konnte, griff er nach ihrer Hand. „Er hat sich immer noch nicht gemeldet, oder?“ Allison schüttelte stumm den Kopf. „Sei denn, er hat mir gestern oder heute Morgen geantwortet, aber ich gehe ehrlich gesagt nicht davon aus.“ Sie legte das Messer bei Seite und nahm stattdessen einen kräftigen Schluck Kaffee. „Lass und bitte später darüber reden, sonst lauf ich nachher die ganze Zeit mit schlechter Laune durch die Gegend, dabei kann ich dringend ein wenig Ablenkung gebrauchen.“ Ein schwaches Lächeln huschte über ihre Lippen, erreichte ihre Augen jedoch nicht. Hiro seufzte und bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. Auch wenn sie sich noch so sehr Mühe gab, möglichst ruhig zu bleiben, wusste er doch, wie aufgewühlt sie innerlich sein musste. Dafür kannte er sie einfach zu gut. „Also schön“, gab er schließlich nach und zauberte ein aufmunterndes Lächeln auf sein Gesicht, „dann gönnen wir uns heute einen richtig tollen und unvergesslichen Shoppingtag! Wäre doch gelacht, wenn wir dich nicht auf andere Gedanken bringen könnten und außerdem wollten wir dir doch etwas mehr Verführung in deinen Kleiderschrank bringen.“ Nun musste auch Allison schief grinsen und war in Versuchung, ihm ihr Marmeladentoast ins Gesicht zu klatschen. „Du bist ein Spinner!“ Hiro grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Ich weiß!“ „Na, das hat sich aber gelohnt!“ Völlig geschafft und so gut gelaunt wie seit Tagen nicht mehr, betrachtete Allison das Ergebnis ihres Shoppingmarathons. Unzählige Tüten stapelten sich auf dem Laminatfußboden vor ihrem Bett. Es war ihr tatsächlich gelungen, an einem einzigen Tag sämtliche Weihnachtsgeschenke zu besorgen – und noch mehr dazu. Dafür war aber auch ein gesamter Monatsgehalt ihrer Arbeit an der Rezeption im Royal Station Hotel drauf gegangen, aber auch das störte sie im Moment nicht im Geringsten. Aus der Küche hörte sie das leise Rascheln weiterer Einkaufstüten. Hiro musste wohl gerade damit beschäftigt sein, die Lebensmittel einzuräumen. Auch das gelegentliche Klappern von Töpfen und Pfannen mischte sich unter die Geräuschkulisse. Anscheinend machte sich ihr Mitbewohner schon am Abendessen zu schaffen, auch das war Allison nur Recht. Hiro konnte kochen wie kein anderer und nach den letzten paar Tagen kam ihr ein leckeres Abendessen wie gerufen. „Hiro? Ich bin erstmal im Bad“, rief Ally einmal quer durch die Wohnung, während sie rasch ihr Notebook anschaltete und sich frische Wäsche aus dem Schrank griff. Eine schöne warme Dusche war jetzt genau das Richtige! Kurz darauf war Ally auch schon im Bad verschwunden und Hiros „Aber trödel nicht schon wieder!“ kam gegen das rauschende Wasser der Dusche nicht mehr an. Der Halbkoreaner runzelte in der Küche nur kurz die Stirn, konzentrierte sich dann jedoch wieder voll und ganz aufs Kochen. Fast zwanzig Minuten später tauchte Ally, die Haare in ein großes Handtuch gewickelt und mit einem einfachen T-Shirt und einer kurzen Hose bekleidet, direkt hinter Hiro in der Küche auf. „Hmmm, das riecht gut!“ Neugierig wollte sie über seine Schulter hinweg in die Töpfe sehen, doch Hiro schob sie beleidigt bei Seite. „He, warte gefälligst bis ich fertig bin.“ Brummelnd zog Ally eine Schnute, ließ Hiro jedoch in Ruhe weiter kochen und deckte stattdessen den Tisch. Als sie fertig war, setzte sie sich an den Tisch und begnügte sich damit, ihrem besten Freund schweigend beim Kochen zuzusehen. „Du hast mich vorhin richtig neugierig gemacht. Was genau schenkst du Jayden jetzt eigentlich?“ Allison brach schließlich doch ihr Schweigen, die Neugier war einfach zu groß. Hiro sah sie verschwörerisch grinsend an. „Versprich mir hoch und heilig, dass du schweigst wie ein Grab.“ Auch Ally grinste und legte gleichzeitig die rechte Hand aufs Herz. „Indianerehrenwort!“ Immer noch grinsend stellte Hiro den Topf auf den Tisch. „Also“, fuhr er mit gesenkter Stimme fort, „Wir fahren nach Paris!“ „Im Ernst? Wie geil ist das denn?!“ Aufgrund Allys plötzlicher Stimmlautstärke, zuckte Hiro für einen kurzen Moment zusammen, grinste jedoch unbeirrt weiter. „Die Stadt der Liebe.... das freut mich für euch zwei! Dann habt ihr endlich mal jede Menge Zeit für euch alleine“, sinnierte Ally ganz in Gedanken weiter. „Du wirst also eine Woche lang ohne mich auskommen müssen. Kriegst du das hin?“ Fragend und mit einer skeptisch hochgezogenen Augenbraue musterte der Halbkoreaner seine Freundin, sie ihm auch schon frech die Zunge ausstreckte. „Natürlich! Da mach dir mal keine Gedanken! Wann geht’s denn los?“ „Naja....“ Hiros Gesichtsausdruck wechselte zu schuldbewussten Blick. „Schon am Abend vor Weihnachten. Wir werden dieses Jahr also leider nicht zusammen feiern können. Tut mir Leid.“ Betroffen sah er sie an. „Ich hab noch im Nachhinein versucht, den Urlaub um ein paar Tage zu verschieben, weil doch deine Familie auch noch kurzfristig und bis Weihnachten verreist sind, aber leider ging das nicht mehr.“ Allison machte eine wegwerfende Handbewegung. „Schon in Ordnung.“ Ein versöhnliches Lächeln zierte ihre Lippen. „Genießt euren Urlaub, ich weiß doch, wie wenig Zeit ihr oftmals miteinander habt. Außerdem kommt meine Familie am fünfundzwanzigsten morgens wieder und wir essen dann gemeinsam zu Abend.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich werde also schon in Gesellschaft sein.“ Hiro schien noch immer nicht recht überzeugt zu sein, nickte aber schließlich. Trotzdem plagte ihn sein schlechtes Gewissen ein wenig. Es war zwar keine wirkliche Entschädigung, aber dennoch übernahm er den Abwasch alleine, damit Ally einfach für den Rest des Abends die Beine hoch legen konnte. Müde rieb sich Ally die Augen und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Genau in diesem Moment sprang die Uhr ihres Notebooks auf Null Uhr um. Der Feinschliff ihrer Projektarbeit hatte letzten Endes doch länger gedauert als gedacht oder sie war im Bezug auf ihre Arbeit einfach zu perfektionistisch veranlagt. Das Flimmern des Fernsehers erhellte das Wohnzimmer noch zusätzlich und auch leise Stimmen drangen noch aus seiner Richtung. Hiro dagegen hatte sich schon vor einer Stunde aus dem Staub gemacht und war vermutlich längst in der Traumwelt unterwegs, träumte von Jayden und Weihnachten in Paris. Ein trauriges Lächeln fand den Weg auf ihre Lippen. Bisher hatte sie Weihnachten nie wirklich alleine verbringen müssen. Sie und Hiro trafen sich jedes Jahr schon am dreiundzwanzigsten Dezember oder feierten an Heiligabend zusammen, wenn Allys Familie verreist war und sie sich erst ein oder zwei Tage später sahen. Schon immer hatte sie die Advents – und Weihnachtszeit geliebt, weil sie in diesen Tagen viel Zeit mit all jenen Menschen verbringen konnte, die ihr wichtig waren und die sie von Herzen liebte. Doch dieses Jahr schien es für Allison ein sehr einsames Weihnachtsfest zu werden. Sie würde zwar ihre Freundinnen ein paar Tage vor und ihre Eltern einen Tag nach Weihnachten sehen, aber am Heiligabend würde sie alleine sein. Ally seufzte und loggte sich dabei routiniert in ihren Emailaccount ein. Natürlich freute sie sich für Hiro und Jayden, aber dennoch hätte sie in diesem Jahr gerne mit beiden gemeinsam gefeiert und dann war da immernoch Damien... Vier neue Emails waren im Eingang verzeichnet und alle vier waren lediglich Werbemails, die ihrer Stimmung einen weiteren Dämpfer verpassten. Es war nun fast zweieinhalb Wochen her, dass sie ihm geschrieben hatte und Monate, dass sie sich gesehen hatten. Sie wusste nicht, weshalb er sich noch immer nicht gemeldet hatte, konnte nur Vermutungen anstellen und die meisten davon bereiteten ihr Unbehagen. Vielleicht war die Erklärung auch ganz simpel und Damien hatte einfach zu viel um die Ohren, trotzdem wäre es ein Leichtes, sich zwischendurch mal kurz zu melden. Kurz entschlossen öffnete sie eine neue Mail. „N'Abend :) Wie geht’s dir, hast du viel um die Ohren? Man hört und sieht ja gar nichts mehr von dir. ;) Vor ein paar Tagen hab ich Cat und Steven in der Stadt getroffen, ich soll dich lieb von den beiden grüßen. Wusstest du, dass die beiden seit kurzem ein Paar sind? Aber das war ja ohnehin nur noch eine Frage der Zeit, bis die beiden endlich zusammen kommen. Jedenfalls lassen sie fragen, ob du über Weihnachten und Silvester in Newcastle bist. Steven plant ne große Silvesterparty, aber ich nehm an, dass er dich deswegen nochmal anrufen wird. Wenn er nicht sogar schon schneller war als ich. ;) Bei mir waren die letzten Tage ziemlich stressig durch die Arbeit. Heute und morgen hab ich zum Glück frei (und endlich alle Weihnachtsgeschenke besorgen können) und auch zwischen den Jahren ist Urlaub angesagt. Wenn du in dieser Zeit da bist, können wir ja mal wieder was unternehmen, immerhin haben wir uns ja schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr gesehen. ;) Ich würde mich jedenfalls freuen, also meld dich einfach. Du fehlst mir... Bis hoffentlich bald Ally“ Nach kurzem Zögern klickte sie schließlich auf 'senden' und fuhr ihr Notebook herunter. Nun blieb ihr nur noch zu hoffen, dass er dieses Mal antworten würde – und dass sie die Mail vielleicht nicht doch noch bereuen würde. Aber das würde sich noch zeigen. Das Notebook unter den Arm geklemmt, schaltete sie den Fernseher aus und verkrümelte sich in ihr Bett. Damiens Gesicht, war das Letzte, das sie vor ihrem inneren Auge sah, ehe sie sich ins Traumland schlummerte. Ein müdes Gähnen unterdrückend, drehte sie den Schlüssel im Schloss und stand kurz darauf im dunklen Flur ihrer Wohnung. Der schmale Lichtschein, der vom Hausflur herein drang, erlosch augenblicklich, als Allison die Tür hinter sich unsanft ins Schloss fallen ließ. Die wenigen Sekunden, die ihre Augen benötigten um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, verharrte Ally auf der Stelle. Erst als sie einigermaßen sehen konnte, entledigte sie sich ihres Wintermantels und des Schals, die sie beide an der Garderobe zurück ließ, ebenso wie die Winterstiefel. Natürlich hätte sie einfach das Licht anknipsen können, aber sie war für jede – ihrer Meinung nach überflüssige – Bewegung schlichtweg zu müde. Ich muss wohl vergessen haben, das gekippte Fenster zu schließen... So ein Mist! Fröstelnd durchquerte sie das Wohnzimmer um die Balkontür zu schließen und schaltete hier nun doch das Licht an, um nicht noch Gefahr zu laufen über den kleinen Weihnachtsbaum, den Hiro noch vor seiner Abreise und entgegen Allys Protest aufgestellt hatte, zu stolpern und sich der Länge nach inmitten von zerbrochenen Kugeln und Lichterketten wiederzufinden. Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, schaltete sie die Lichterkette ein, das Hauptlicht wieder aus und ließ sich schräg gegenüber dem Baum auf das große Sofa fallen. Wenn sie so darüber nachdachte, war der kleine Weihnachtsbaum doch ganz schön, wie er da so im Licht erstrahlte und bunter Farbenspiele durch die Glaskugeln an die Wände warf. Hiro hatte es ja nur gut gemeint und es sah wirklich schön aus. Nur schade, dass sie diesen Anblick mit niemandem teilen konnte. Für einen kurzen Moment schloss Ally die Augen und massierte sich mit zwei Fingern die Schläfe. Schon seit den Mittagstunden hatte sie Kopfschmerzen, die langsam aber beharrlich immer stärker geworden waren. Eigentlich hatte sie längst Urlaub. Eigentlich. Im Hotel waren mal wieder ein paar Angestellte ausgefallen, sodass Ally hatte einspringen müssen. Den Anruf hatte sie bereits um sechs Uhr morgens mit der Bitte sich dringend zu beeilen erhalten, nun war es elf Uhr abends. Der Magen hing ihr in den Kniekehlen, aber das war auch nicht weiter verwunderlich, wenn man so gut wie nichts gegessen hatte – dazu war einfach keine Zeit geblieben. Gerade am Tag vor Weihnachten war meistens die Hölle los und warum hätte der heutige Tag da eine Ausnahme sein sollen? Widerwillig erhob sich Allison und schlurfte in die Küche, wo sie sämtliche Schränke nach etwas Essbarem durchforstete, entschied sich letztendlich lediglich für ein paar Scheiben Toast mit Erdbeermarmelade und einem Apfeltee mit viel Honig. Mit beidem bepackt, fand sie sich kurz darauf erneut auf dem Sofa im Wohnzimmer wieder. Abermals blieb ihr Blick an der geschmückten Tanne hängen. Das Leuchten der Lichterkette schien mit einem Mal viel heller und kraftvoller zu sein, fast so als ob es Allison anstrahlen und ihr zurufen wolle, sie solle den Kopf nicht hängen lassen. Über sich selbst lachend schüttelte Ally den Kopf. Sie war eindeutig übermüdet und dennoch ließ sie der Gedanke nicht ganz los. Sie nahm einen kräftigen Schluck Tee und stellte den leeren Teller samt Tasse zurück auf den Tisch, ehe sie sich zurück lehnte und die Augen schloss. Nur ganz kurz, sagte sie sich in Gedanken, dann stehst du auf und gehst ins Bett. Vor ihrem inneren Auge wiederholte sich eine Szene vom Nachmittag. Ein kleines fünfjähriges Mädchen saß auf den edlen weißen Sofas im Eingangsbereich und wartete auf seine Mutter, die noch einmal ins Hotelzimmer zurück gegangen war um etwas zu holen. Sie hatte Ally und Julia darum gebeten ein Auge auf die Kleine zu haben. Julia hatte diese Aufgabe sofort Ally aufgebrummt und sich gleich vom nächsten Gast in ein Gespräch verwickeln lassen, also war Allison selbst zu dem Mädchen hinüber gegangen. Die Fünfjährige hatte sie neugierig aus großen blauen Augen angesehen und sich in ein Gespräch verwickeln lassen. „Newcastle ist toll!“, hatte die Kleine strahlend verkündet, „Und Weihnachten ist toll! Aber weiß du, was ich mir wünsche? Schnee! Zu Weihnachten gehört einfach Schnee. Da wo ich herkomme, scheint es im Winter ganz viel. Scheint es hier auch so oft?“ Ich hoffe es schneit!“ Schnee... In Newcastle upon Tyne schneite es selten. Viel zu selten. Das kleine Mädchen hatte eine alte Erinnerung in ihr hervorgerufen, denn auch für Allison hatten Schnee und Weihnachten zusammen gehört. Ob es dieses Jahr wohl endlich zu Weihnachten schneien würde? „Und was wünscht du dir von ganzem Herzen?“ Wieder erklang die Engelsstimme der Kleinen durch ihre Gedanken und genauso hatte sie auch ausgesehen, wie ein kleiner Engel. Auf ihre Frage hin hatte Ally tief in sich hinein gehorcht und schließlich verlegen gegrinst, als sie die Erkenntnis wie ein Schlag traf. „Dass ich den Menschen wieder sehe, an den ich mein Herz verloren habe“, war ihre simple Antwort gewesen. Die Kleine hatte sie bis über beide Ohren angestrahlt und ihre Hand gedrückt. „Ich bin mir ganz sicher, dass ihr euch bald wieder seht und dass es schneit!“ Das Mädchen hatte diesen Satz mit einer solchen Ernsthaftigkeit und fester Überzeugung gesagt, dass selbst Ally für einen Moment in Versuchung gekommen war, ihr das zu glauben. Dann war die kindliche Naivität zurückgekehrt und die Kleine war ihr winkend davon gelaufen, als sie ihre Mutter ausgemacht hatte. Das Bild wechselte und Damien stand direkt vor ihr. Er streckte ihr seine rechte Hand entgegen, lächelte sie an. „Komm“, sagte er und Allison ergriff die ihr dargebotene Hand, ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. Er führte sie hinaus in ein verschneites Newcastle upon Tyne und schlenderte gemütlich mit ihr über den Weihnachtsmarkt. Es begann zu schneien und obwohl die Temperaturen im Minusbereich angekommen waren, fror Ally kein bisschen. An einem Stand mit mit kandierten Äpfeln blieben sie stehen und Damien suchte sich einen von ihnen aus. Der mit leckerer Vollmilchschokolade überzogene Apfel begann zu vibrieren und klingel. Neugierig betrachtete Ally den Apfel. Sie fand es noch nicht einmal skurril, nur seltsam, dass er wie ihr Handy klingelte. Irritiert öffnete Ally die Augen und ihr Blick fand augenblicklich ihr Handy, das nun stumm auf dem Wohnzimmertisch lag. Sie ließ eine weitere Minute verstreichen, ehe sie danach griff und die SMS öffnete. Sie war von Hiro, der ihr mitteilte, sie seien längst gut angekommen und dass sie morgen dringend etwas für ihn erledigen müsse, weil er selbst es ganz vergessen hätte. „Um vier am Blinking Eye, der Typ trägt einen auffälligen roten Schal, du wirst ihn erkennen. Musst da nur was abholen. Und vergess es bitte nicht!“, stand dort geschrieben. Ohne der SMS weitere Beachtung zu schenken, verzog sich Allison in ihr Bett. Im Moment wollte sie einfach nur noch schlafen. Es war eiskalt. Einen leisen Fluch auf den Lippen, zog Ally den Kragen ihres Mantels höher und die Mütze weiter über die Ohren. Das lange kastanienbraune Haar hatte wie zu zwei lockeren Zöpfen geflochten, die ihren Ohren zusätzlich etwas Schutz vor der Kälte boten. Wieder warf sie einen raschen Blick auf ihre Uhr. Es war bereits Viertel nach vier. Wie lange sollte sie denn noch auf Hiros ominösen Kumpel warten?! Sie erhob sich von der Bank, um ihre Beine ein bisschen zu bewegen und sich so warm zu halten. Immer wieder ließ sie ihren Blick über die Tyne und die Gateshead Millenium Bridge wandern, die aufgrund ihrer Bauart von vielen auch das „Blinking Eye“ genannt wurde, denn genau daran fühlte man sich erinnert, wenn die Brücke hochgezogen wurde, an ein blinzelndes Auge. Genau diesen Ort hatte Hiro in seiner SMS als Treffpunkt angegeben, doch bisher hatte Ally vergeblich gewartet und so langsam verlor sie die Geduld. Es dämmerte bereits und durch die dicken grauen Wolken, die sich schon seit dem Morgen über den Himmel schoben, schien es schon viel dunkler zu sein. Die ersten Lichter erstrahlten bereits in der Stadt und verwandelnden sie in ein strahlendes, buntes Lichtermeer. Es war einer jener Anblicke, die Ally immer wieder aufs Neue genoss, doch im Moment konnte sie sich auch dafür nicht begeistern. Vielleicht sollte sie Hiro anrufen und fragen, wo denn der Fremde mit dem roten Schal blieb, der angeblich etwas unheimlich Wichtiges vorbei bringen sollte. Schon seltsam, dass er noch nicht einmal gesagt hatte, worum es sich überhaupt handelte. Verärgert sah sie erneut auf die Uhr. Sie wartete nun schon seit fünfundzwanzig Minuten. Ihre einsame aber vor allem warme Wohnung erschien ihr plötzlich unheimlich sympathisch. Ally seufzte genervt. Sie würde jetzt einfach gehen und Hiro eine SMS schreiben, dass sie nicht länger in der Kälte warten wollte. So wichtig konnte es nun auch wieder nicht sein – sonst hätte Hiro es nicht vergessen. Entschlossen machte sie auf dem Absatz kehrt und blieb auch prompt wie auf der Stelle festgefroren stehen. Mit zügigen, weit ausholenden Schritten näherte sich ihr ein schlanker, junger Mann, dessen knielanger schwarzer Mantel bei jedem seiner Schritte heftig wippte. Das dunkelblonde, kurze Haar war vom Wind zerzaust und selbst aus dieser Entfernung glaubte Ally mit Sicherheit sagen zu können, dass er sie fest aus dunklen Augen ansah. Um seinen Hals hatte er einen Schal gewickelt, dessen Enden aufgeregt bei jedem seiner Schritte hinter ihm herflatterten. Ein auffällig roter Schal. Während er seine Schritte noch einmal zu beschleunigen schien, konnte Allison nur wie erstarrt dastehen. Sie war sie nicht sicher, ob sie nicht doch nur wieder träumte, so wie schon vergangene Nacht. Doch als er nur noch wenige Meter von ihr entfernt war und sie sein Gesicht mehr als deutlich erkennen konnte, bewegte sich ihr Körper wie von selbst. Sie rannte ihm fast entgegen und ließ sich in die ihr entgegengestreckten Arme fallen. Er zog sie in eine feste Umarmung und küsste sie zärtlich auf die Stirn. „Es tut mir so Leid, dass ich mich nicht gemeldet hab. Ich war ein Idiot!“ Reue lag in seiner Stimme, doch Ally schüttelte nur den Kopf. „Nein, es ist nicht in Ordnung und es tut mir unendlich Leid!“ Wieder hauchte er ihr einen Kuss auf die Stirn, schob sie dann auf Armeslänge von sich. So zärtlich, als würde sie jeden Moment unter seiner Berührung zerbrechen können, wischte er ihr mit den Daumen die Tränen aus den Augenwinkeln. „Auf deine letzte Mail hab ich absichtlich nicht geantwortet, weil ich noch nicht wusste, wann ich nach Newcastle kommen würde und weil ich dich unbedingt überraschen wollte. Deswegen hab ich mit Hiro in Verbindung gesetzt und... ich hätte nicht... ich meine...“ Er brach ab, rang nach Worten. „Ich war einfach blind. Kannst du mir verzeihen?“ Ally musste unweigerlich lächeln. Wie er um Worte ringen und wie ein begossener Pudel vor ihr stand war einfach nur süß. Noch immer hatte er ihre Hände ergriffen und erfüllte sie mit einer innigen Wärme. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich in ihrem gesamten Körper aus und färbte ihre Wangen in einem zarten Roséton. „Schön, dass du hier bist, Damien.“ Sie schwieg einen Atemzug lang und als sie fortfuhr, war ihm die unendliche Erleichterung deutlich anzusehen. „Ich verzeihe dir, wie könnte ich auch nicht?“ Wieder schenkte sie ihm ein Lächeln, dass auch er glücklich erwiderte. Erneut zog Damien sie nah an sich heran und schloss sie in seine Arme. Seine erhitzte Stirn lehne er an ihre an und schloss für einen Moment die Augen, um ihre Nähe zu genießen. „Ich habe dich auch vermisst.“ Seine Stimme war nur noch ein atemloses Flüstern. „So sehr.“ Zärtlich strich er mit einem Finger über ihre zarten Lippen und Ally erschauerte unter der sanften Berührung, verlor sich in seinen dunklen Augen. Eine einzelne kleine Schneeflocke landete tanzend auf Allys Nase und zog für einen kurzen Moment die Aufmerksamkeit beider auf sich. Fast gleichzeitig hoben sie ihren Blick zum Himmel und tatsächlich folgten dem winzigen Eiskristallstern noch unzählige weitere und dickere Flocken, die sich schwanengleich der Erde näherte und alles unter einer weißen Decke versteckten. Was hatte die Kleine noch gleich gesagt? Sie würden sich wiedersehen und es würde schneien. Ally konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Dieses Jahr würde sie doch nicht alleine sein. Noch immer lächelnd legte sie Damien die Hände um den Hals und zog ihn zu sich hinunter. Noch bevor sich ihre Lippen trafen, hatte er ihr Vorhaben erkannt und sie fest an sich gezogen. An Weihnachten wurden eben doch Wünsche wahr. ----------------------------------- Endlich geschafft! :3 Mittlerweile ist es Viertel vor Eins (nachts wohl gemerkt), aber ich musste diesen One-Shot einfach noch fertig schreiben. Das Ende ist vielleicht ein bisschen kitschig, aber das ist im Moment genau das Richtige. :) Und jetzt geht's ab ins Bett, immerhin klingelt um sechs mein Wecker. :D Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)